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Steffen Mau – Lütten Klein
literatur
Steffen Mau
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Lütten Klein
Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Auszug aus dem bei Suhrkamp erschienenen Buch

Lokale Jugendkultur
Mit dem Heranwachsen der Lütten Kleiner Kinder und Jugendlichen änderte sich das Straßenbild. Ende der siebziger Jahre wurde die Jugendkultur der DDR sichtbarer. Es bildeten sich die Szenen der Blueser, Popper und Punker, die auffielen und etwas Abwechslung brachten. In Lütten Klein gab es mit dem „Riga“ und dem „Szczecin“ zwei Orte, die tagsüber Schülerspeisesäle waren und sich am Freitag und Samstag in überregional bekannte Livekonzerthallen verwandelten, die selbst von eigens aus Berlin anreisenden Besuchern frequentiert wurden. Wo sonst Hackbraten mit Mischgemüse auf Schülerteller geschaufelt wurde, gingen nun die Cola- Wodkas über den Tresen. Hier traf man Leute, die lange Haare, Bluejeans und Parka trugen und sich für Jimi Hendrix oder Bob Dylan interessierten. Nicht alle waren unangepasst und rebellisch, aber viele identifizierten sich mit einem unabhängigeren und authentischeren Lebensstil, der nur noch wenig mit dem offiziellen Bild der sozialistischen Persönlichkeit zu tun hatte. Eine zweite Szenegruppe waren die Rocker mit Jeans und nietenbesetzter Lederkluft. Handgemachte Musik – teils Coverversionen, teils eigene Songs mit ehrlichen Texten – wurde gespielt, damit brachten die Rocker eine aggressive Grundstimmung in die Konzerte, so dass es besser war, Rempeleien auszuweichen und direkten Blickkontakt zu vermeiden. Die Szene, die an den Wochenendabenden Lütten Klein bevölkerte und mitunter grölend durch die Straßen lief, fand man in der gesamten DDR auf Zeltplätzen, bei Volksfesten oder beim Motocross-Rennen in Teterow, wo sich jedes Jahr zu Pfingsten mehrere zehntausend Jugendliche trafen und ganz und gar unsozialistisch feierten. In Lütten Klein schüttelten zwar viele Ältere den Kopf über die „Penner“, man ließ sie aber gewähren, so dass das Hippie- und Rockertum irgendwann ganz selbstverständlich zum Plattenbau dazugehörte. In einer Studie, die das Zentralinstitut für Jugendforschung 1985 zur Wehrbereitschaft durchführte, zeigte sich unter den Jugendlichen eine große Toleranz gegenüber dieser Art von Nonkonformismus. Etwas umständlich und verklausuliert wurde dort gefragt: „Man kann junge Leute sehen, die sich besonders frisieren oder sonstwie ›zurechtmachen‹. Was halten Sie davon?“ Knapp 19 Prozent der Befragten sagten, dafür hätten sie vollkommenes Verständnis, 63 Prozent äußerten Verständnis mit gewissen Einschränkungen, nur 18 Prozent gaben an, sie hätten kaum oder gar kein Verständnis.
Insgesamt blieben die Unterschiede zwischen den Milieus jedoch überschaubar. Lebensstilkonflikte gab es nur zwischen den Jugendszenen, sonst eigentlich kaum. Das Gleichheitsprimat der DDR-Gesellschaft wurde zwar nie vollständig eingelöst und durch ein starkes politisches Machtgefälle konterkariert, doch die sozioökonomischen und kulturellen Ungleichheiten blieben alles in allem gering. Vorhandene Unterschiede in Bildungsgrad, Beruf oder Einkommen eröffneten kaum Spielräume zur Ausbildung eines Schichtungssystems mit distinkten Formen der Lebensführung und der kulturellen Reproduktion. Die von vielen ehemaligen DDR- Bürgern betonte „Kuscheligkeit“ – angesichts der repressiven Züge des Regimes sicher eine überraschende Einschätzung – hatte neben der überschaubaren Größe des Landes sicher auch mit der durch die geringe Differenzierung hergestellten sozialen Nähe zu tun.
13.09.2019 · 19.30 Uhr · Kunsthalle Rostock
Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

Steffen Mau
Suhrkamp
Steffen Mau wächst in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. Als die Mauer fällt, ist er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. Währenddessen kämpft seine Heimat mit den Schattenseiten der Wiedervereinigung: Statt blühender Landschaften prägen verrostende Industrieruinen die Szenerie. Mit der neuen Freiheit und dem Massenkonsum kommen Erfahrungen sozialer Deklassierung. 30 Jahre nach 1989 zieht Mau mit dem ebenso scharfen wie empathischen Blick eines Lütten Kleiner Soziologen Bilanz. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, er schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Wie veränderte sich die Sozialstruktur, wie die Mentalitäten? Was sind die Ursachen für Unzufriedenheit und politische Entfremdung in den neuen Ländern? Wie wurde aus der Stadt, in der er gemeinsam mit Kindern aller Schichten seine Jugend verbrachte, ein Ort sozialer Spaltung? Viele der Spannungen, so sein Fazit, die sich in Ostdeutschland beobachten lassen, haben ihren Ursprung in der DDR-Zeit. Doch wurden sie durch die Transformation nicht aufgehoben. Vielmehr verschärften sie sich zu gesellschaftlichen Frakturen, die unser Land bis heute prägen.
Foto: Hubert Link/Bundesarchiv
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