Neues Wohnen in Alter Heimat „Il faut tuer la rue - corridor!“
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Neues Wohnen in Alter Heimat „Il faut tuer la rue-corridor!“
Masterarbeit Sommersemester 2022 Hochschule für angewandte Wissenschaften München Fakultät 01 Architektur Verfasser: Adrian Hölzel, 13523618 Betreuer: Prof. Nicolas Kretschmann Jury: Prof. Sandra Bartoli, Prof. Dr. Andrea Benze, Prof. Frederik Künzel, Prof. Thomas Neumann
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Kürzlich sanierte Fassaden in der Siedlung Alte Heimat.
Inhalt WOHNEN IM DEUTSCHLAND DER NACHKRIEGSZEIT
WOHNIDEE
WOHNUNGSBAUBESTAND DER NACHKRIEGSZEIT UND SEINE PERSPEKTIVE
66 68 74 78 80 84
13 Methode, Vorgehensweise und Ziel
KATALOGISIEREN
WOHNUNGSBAU UND -WIRTSCHAFT VON 1950 BIS 1970
92 Abrissgebäude 93 Regionaltypische Baustoffe 94 Bauteile und Gestaltungselemente 98 Fassadenkonzept 100 Bauteilaufbau und Konstruktion 102 Bauhütte
6 Fragestellung 9 Leistungsumfang
15 Not und Zwangswirtschaft 19 Leitbilder und Gebäudetypen / Normung und Typung 23 Das Erbe der sozialistischen Wohnungswirtschaft in der DDR DIE KOLLEKTIVIERUNG DES WOHNENS 28 Phalanstère und Familistère 32 Neue Ansprüche an das Wohnen 35 Teilhabe und Teilnahme
Haltung und Motivation Motiv Vestibül / Salle Intérieure Motiv Familistère Die Zwischenschicht Programmatische und qualitative Erweiterung Schnittstellen
DICHTE RAUMFOLGEN 104 106 108 112 118 121
Situationsplan Programm Struktur und Durchwegung Neues räumliches Angebot Bauteile und Gestaltungselemente II „Il faut tuer la rue - corridor!“
NEUES WOHNEN IN ALTER HEIMAT VERZEICHNIS 37 Stärken und Schwächen der Quartiere heute 38 Notwendigkeiten und mögliche Handlungsoptionen
125 Literatur 126 Abbildungen Eigenständigkeitserklärung
40 Mit neuen Ansprüchen vereinbar?
BESTANDSAUFNAHME 43 44 46 55 58
Einführung Verortung Rundgang Kontext und Daten Programm
STRUKTUR UND INFRASTRUKTUR 61 Strangschema und räumliche Syntax 64 Erweiterungsmöglichkeiten
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Das Thomas-Wimmer-Haus in Laim soll abgerissen werden. Seit 2015 diskutiert, soll es nun feststehen. Das Appartementhaus mit 100 Wohneinheiten wird durch einen Neubau ersetzt und die am Existenzminimum lebenden, meist älteren Bewohner:innen müssen ausziehen. Der Prozess wird, so wie die Veränderungen in der angrenzenden Stiftungssiedlung „Alte Heimat“ von Sozialarbeiter:innen begleitet um die Veränderung möglichst angenehm zu gestalten. Doch trotzdem stellt sich die Frage, ob ein Abriss wirklich notwendig ist. Kann Abriss zur Flächenoptimierung und Baurecht durch Neubau noch die Strategie sein, nach der zur heutigen Zeit gebaut, geplant und schließlich gelebt werden sollte? Das Thomas-Wimmer-Haus ist ein Beispiel für die derzeitige Neigung hin zum Abriss von Gebäuden aus der Nachkriegszeit. Wirtschaftlichkeit ist hier stets der ausschlaggebende Faktor. Im Projekt soll ein Konzept entwickelt werden, dass die besonderen Qualitäten des Bestands analysiert, aufnimmt und weiterentwickelt. Der Anspruch ist künftig Wohneinheiten anbieten zu können, die unterhalb des örtlichen Mietspiegels liegen und eine Erweiterung des Bestands umzusetzen, die möglichst die Anforderungen der Stadt an einen Neubau erfüllen. Das Gebäude soll in einem umfassenden Stadtentwicklungskonzept in die Umgebung und die zu erwartenden Veränderungen durch Umbau und Nachverdichtung eingegliedert werden. Um den Beweis antreten zu können, dass Gebäude aus der oben genannten Zeit nicht nur für eine weitere Nutzung geeignet sind, sondern darüber hinaus bereits innovative Ansätze und Qualitäten beherbergen, muss sich typologisch und entwerferisch mit den Wohnungen und Nutzungen auseinandergesetzt werden. Die baulichen Maßnahmen sollen in Einvernehmen mit der aktuellen Bewohner:innenschaft geschehen. Diese soll auch weiterhin das bestimmende Klientel im Gebäude bleiben. Ferner soll die Siedlung Alte Heimat, die zur Zeit bereits eine Weiterentwicklung auf heutige Standards erfährt, unter den Themen der notwendigen innerstädtischen Dichte, Körnung und Flexibilität beim Wohnungsangebot untersucht und in ein neues Konzept eingegliedert werden. Dieses muss ebenfalls die weitere Entwicklung des Standorts in Laim und womöglich notwendige gemeinschaftliche Funktionen in Neubauten einbeziehen. Das Quartier soll ein wichtiger Baustein und Bindeglied im öffentlichen Leben im Viertel werden und eine Diversifizierung anregen und möglich machen.
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In der theoretischen Vertiefung soll darauf eingegangen werden, wie ein Umbau sowie Erweiterungen im Bestand möglich sind. Anhand einer Analyse der Wohnungswirtschaft zur Nachkriegszeit sollen Rückschlüsse formuliert werden, wie Siedlungen ursprünglich konzeptioniert wurden, welche Wohnformen schon damals aufgrund welcher Umstände entwickelt wurden und inwiefern diese neu interpretiert und hinsichtlich veränderter Lebensformen experimentell weiterentwickelt werden können. Wie wurde bauzeitlich mit der Wohnungsnot umgegangen? Welche Arten der Kollektivierung von Wohnen gab es bereits und wie wurden sie baulich ausformuliert? Was bedeutet das für den heutigen Umgang mit dem Bestand?
Wohnen im Deutschland der Nachkriegszeit
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Abriss und anschließender Neubau beherrscht den Umgang mit prekärem Wohnungsbaubestand.
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Leistungsumfang PLANMATERIAL Schwarzplan Städtebaulicher Lageplan
1:5000 1:2000
Erdgeschoss mit Umgriff Grundrisse Schnitte Ansichten
1:500 1:200 1:200 1:200
Fassadenschnitt
1:20
Axonometrische Darstellungen Konzeptdiagramme und Schemata Visualisierung Modellphotos MODELL Städtebauliches Umgebungsmodell Arbeitsmodelle Entwurfsmodell
1:1000 1:50 1:100
THEORIE Wohnungswirtschaft in der Nachkriegszeit und ihre Perspektive
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Venturi, Robert: “Learning from Las Vegas”. Cambridge, London: The MIT Press, 1972. S.3
“Learning from the existing landscape is a way of being revolutionary for an architect. Not the obvious way, which is to tear down Paris and begin again, as Le Corbusier suggested in the 1920s, but another, more tolerant way; that is how we look at things. […] Modern architecture has been anything but permissive: Architects have preferred to change the existing environment rather than enhance what is there. […] We look backward at history and tradition to go forward; we can also look downward to go upward. And withholding judgement may be used as a tool to make later judgement more sensitive.”
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Hamburg 1946: Vor den Ruinen ausgebombter Wohnhäuser stehen Behelfsheime, sog. Nissenhütten.
vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.29 1
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Wohnungsbau bestand der Nachkriegszeit und seine Perspektive Trümmer, Gestein und Schutt. 70 Prozent der Innenstädte deutscher Großstädte werden durch den Gegenluftangriff der Alliierten im zweiten Weltkrieg zerstört. Jede:r dritte Deutsche ist obdachlos und neuer Wohnraum ist so notwendig wie noch nie. Hoffnung liegt auf den folgenden Jahrzehnten - sie sollen den Menschen wieder ein sicheres Zuhause geben. Heute stehen die Wohnquartiere der 50er bis 70er Jahre an einem entscheidenden Wendepunkt: Modernisierung oder Abriss und Neubau. In schnell entwickelten und homogen umgesetzten Quartieren prägen sich einzelne Nutzungszyklen stark aus. Nach Realisierung und Erstbezug, Stagnation, Alterung und Abnutzung folgt die Ausdünnung am Ende eines Zyklus.1 In dieser kritischen Phase befinden sich die Siedlungen aus der Zeit nach Beendung des Kriegs, welche einen großen Anteil des heutigen Wohnungsbaubestands in Deutschland ausmachen. Viel zu oft fällt aus ökonomischen Gründen die Wahl auf Abriss und Neubau. Doch hier stellt sich die Frage, ob dieser Abriss wirklich notwendig ist. Welche Potenziale liegen im Bestand? Kann das Schaffen von Wohnraum lediglich durch Abriss zur Flächenoptimierung und mehr Baurecht durch Neubau passieren? Unter heutigen Umständen sollte diese Strategie kritisch hinterfragt und überprüft werden, ob mit dem Gebäude nicht auch Chancen, verborgene Qualitäten und vor allem wichtiges Wohnbauerbe mit persönlichen Geschichten abgerissen werden. Sollten wir den Gebäuden nicht nur ihre Quadratmeter anrechnen, sondern auch das Leben was sie auf diesen
Quadratmetern ermöglichen? Diese Arbeit soll sich mit dem Wohnungsbaubestand im Deutschland der Nachkriegszeit beschäftigen. Über eine Betrachtung der damaligen Ausgangslage und politischen Hintergründe, sowie Leitbildern und Struktur der Gebäude sollen Rückschlüsse ermöglicht werden, inwiefern der beschriebene Bestand eine Übersetzung in die Zukunft zulässt oder sogar fordert. Wie hat sich zudem das Wohnen seit der industriellen Revolution entwickelt? Auf welche Art des Zusammenwohnens muss eine Neukonzeption des Bestands überhaupt antworten? Diese Analyse soll Grundlage sein, um Handlungsoptionen und mögliche bauliche Maßnahmen an Siedlungen der 50er bis 70er Jahre ableiten zu können und Formen des neuen, bezahlbaren und kollektiven Wohnens zu ermöglichen.
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vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.22 3 vgl. Von Beyme, Klaus, 1999, S.90 - 91 4 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 19 5 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 20 - 21 6 Krause, Leo, 1991, S. 20 7 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 19 2
Wohnungsbau und -wirtschaft in Deutschland von 1950 bis 1970 In den 1950er Jahren ist eines der zentralen politischen Anliegen der enormen Wohnungsnot in Nachkriegsdeutschland entgegenzuwirken. Unter von Mangel geprägten Bedingungen müssen enorme Mühen getätigt werden um die zerstörten Städte wiederaufzubauen, Wohnraum zu schaffen und bewohnbar zu machen.2 Der Deutsche Städtetag veröffentlicht nach Kriegsende den Bedarf an fünf Millionen Wohnungen, da von 18,3 Millionen Wohnungen im Reich ca. 4,8 Millionen zerstört oder mit der Landabtretung im Osten nicht verfügbar waren. Der Bedarf verschärft sich weiter durch den Zuzug von Vertriebenen und eine laufende Verkleinerung der Familien mit einer steigenden Anzahl an Privathaushalten. Ein Wiederaufbau in Tradition der Vorkriegszeit (220.000 Wohneinheiten pro Jahr) hätte 22 Jahre gedauert.3 NOT UND ZWANGSWIRTSCHAFT In München wurde am Tag der Zählung am 09.09.1945 festgestellt, dass 31% des Gesamtwohnungsbestandes nicht nutzbar seien, dies entspricht einer Anzahl von rund 80.000 Wohneinheiten. Insbesondere die räumlich kompakteren “Stockwerkswohnungen” werden durch den intensiveren Beschuss der Innenstadtbereiche im Gegensatz zu den niedriger bebauten Randgebieten verloren.4 Wesentlich schneller als die baulichen Maßnahmen wirken könnten, wächst nach Kriegsende die Bevölkerungsanzahl und trotz verhängter Rückzugssperren erreicht diese bereits 1952 ein Vorkriegsniveau von 885.000 Einwohnenden. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt rund 45.000 Wohneinheiten in München neu errichtet oder instandgesetzt werden konnten, fehlen noch einmal doppelt so viele um dem Bedarf gerecht zu werden.5
Wie auch im Rest des Landes entsteht dieses Missverhältnis wie schon erwähnt durch den extremen Verlust von Wohnraum durch Kriegsschäden, eine steigende Anzahl an Haushaltsgründungen und dem Zuzug von “ortsfremden” und heimatlos gewordenen Personen, die sich auch durch die vielen Firmenansiedlungen in München und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung eine Perspektive erhoffen. Hinzu kommt ein “Überhang an Wohnungsfehlbestand”6, was bedeutet, dass der vorhandene Wohnraum zwar bewohnbar, jedoch für eine breite Masse der Bevölkerung nicht bezahlbar ist und oftmals eine kostenintensive Unterstützung durch den Staat notwendig macht.7 Leo Krause zeigt in seiner Arbeit zum Wohnungsbau in der Bundesrepublik Deutschland mit Augenmerk auf “Münchner Geschosssiedlungen der 50er Jahre”, dass vor allem in der “numerische[n] Diskrepanz zwischen den
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zur Verfügung stehenden Wohnungen und der Anzahl der beim Münchner Wohnungsamt gemeldeten Wohnungssuchenden” ein eindrucksvoller Indikator für die außerordentliche Wohnungsnot der damaligen Zeit liegt.8 Mit Bezugnahme auf Angaben des Wiederaufbaureferenten und Stadtrats Helmut Fischers (bis 1962 im Amt) wird deutlich, dass tatsächlich die “breite Masse” der Gesellschaft, in unterschiedlichem Ausmaß auch unabhängig des Brutto-Einkommens betroffen war. 25% der Bevölkerung waren an Wohnungsvormerkfällen beteiligt, die Hälfte dieser Anzahl (rund 110.000 Personen) mit der höchsten Dringlichkeitsstufe I: “[…] immerhin eine Bewohnerzahl, die einer Großstadt entsprach – was bedeutete, sie waren in Lagern, Notunterkünften, provisorischen Behausungen, überfüllten bzw. viel zu kleinen oder bereits kurzfristig für sie nicht mehr zu bezahlenden Wohnungen oder Wohnungsteilen untergebracht oder sie warteten als Evakuierte mit geringen Lebensunterhaltsmitteln in anderen Orten auf Rückkehrmöglichkeit in ihre Heimatstadt.”9 Die Übersicht veranschaulicht die beim Wohnungsamt München vorgemerkten Wohnungssuchenden Anfang 1954 bezogen auf ihr Brutto-Einkommen. Der geringe Anteil an Vormerkungen bei höherer Einkommensstufe spiegelt die verhältnismäßig schnelle Bereitstellung von “passendem” Wohnraum für diesen Bevölkerungskreis wider. Dies gilt nicht für die restlichen Einkommensstufen: Es ist deutlich, dass nicht nur einkommensschwache Personen Schwierigkeiten bei der Wohnraumsuche hatten, sondern sich dieses Problem bis in die gesamte Arbeiter:innen-, Angestellten- und auch Beamt:innenschaft zog - unabhängig ob berufstätig oder im Ruhestand.10 In der fortlaufenden Nachkriegszeit wird ein politisches Umdenken von Nöten und zeigt sich durch das mit großer Mehrheit im Bundestag am 24.04.1950 verabschiedete Erste Wohnungsbaugesetz. Es konsolidiert die auf Staats-, Länder- und Kommunalebene übereinstimmende Haltung, dass die Lösung des nationalen Wohnraummangels nicht den “sozialunverträglichen marktwirtschaftlichen ‘Selbstregulierungskräften’” anvertraut werden sollte.11 Diese seien, nach Meinung des WARef Fischer, sowieso nicht gewillt oder in der Lage, kurzfristig preisgünstigen Wohnraum im notwendigen Umfang bereitzustellen. Hier fehle das entsprechende Kapital, aber auch der
ökonomische und sozialverantwortliche Druck, um ”die notwendige Senkung der Gestehungskosten zu dem Zwecke vornehmen zu wollen, um die dadurch entstandenen Einsparungen an die darauf angewiesenen Verbraucher in Form niedriger Mieten bzw. Lasten weiterzugeben.12 Die Politik sieht sich hier in der Pflicht langfristige Regelungen und Anstöße zu geben und mit Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen die Schaffung von Wohnraum zu beeinflussen. Dies betrifft vor allem die in §1 und §2 festgelegte gezielte Förderung von Wohnungsbau, der für die ”breiten Schichten des Volkes bestimmt und geeignet” sein muss. Strenge Regularien betreffen in erster Linie den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau (gegenüber dem steuerbegünstigten oder frei finanzierten). Hier wird die Bewilligung öffentlicher Mittel von Mietpreis- und Mieterschutzbindung, festgesetzten Wohnungsgrößen13, Pflichtnormen für bestimmte Bauteile und eingeschätzter Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Bauherren abhängig gemacht. Darüber hinaus sind Wohnungsämter ab dem 1. Juli 1953 durch das Inkrafttreten des Wohnraumbewirtschaftungsgesetz laut §10 befugt, Wohnungssuchende leerstehenden oder unterbelegten Wohnungen zuzuweisen. So steht der gesamte Wohnraum ausgenommen öffentlich geförderter Wohnungen der Bundesrepublik Deutschland zur Zwangsbewirtschaftung zur Verfügung, was einen weiteren Anreiz zur Umsetzung von gefördertem Wohnraum darstellte.14 Im ersten Wohnungsbaugesetz sind vorerst jedoch noch keine Bestimmungen zu städtebaulichen oder architektonischen Anforderungen zu finden. Genauso wie die Einbindung einer qualifizierten Fachkraft zur Umsetzung einer sorgfältigen “städtebauliche[n] Planung [und] [...] einwandfreie[n] Gestaltung der Bauten und Außenanlagen”15 werden diese erst in der Novellierung des Gesetzes 1953 sowie im zweiten Wohnungsbaugesetz, welches 1956 verabschiedet wird, erwähnt. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass erstmals in einem Bundesgesetz eine “gesunde städtebauliche Gestaltung und Auflockerung“16 gefordert wird und damit eine der zentralen Leitbilder der Stadtplanung der damaligen Zeit bedient.
18,7 % 30,3 % 27,9 % 16,4 % 6,7 %
unter zwischen zwischen zwischen über
200,300,400,-
und und und
200,- DM 300,- DM 400,- DM 600,- DM 600,- DM
Monatliches Brutto-Haushaltseinkommen der rund 63.200 beim Wohnungsamt München vorgemerkten Wohnungssuchenden Anfang 1954. A4
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-
vgl. Krause, Leo, 1991, S. 23 - 25 9 Krause, Leo, 1991, S. 24 10 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 24 11 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 30 12 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 31 13 Größen zwischen 32 und 65 Quadratmetern, nach Novellierung zwischen 40 und 80 Quadratmetern zulässig. 14 vgl. Heinelt, Hubert / Egner, Björn: ”Wohnungspolitik – von der Wohnraumzwangsbewirtschaftung zur Wohnungsmarktpolitik.“ In: Schmidt, Manfred / Zohlhöfer, Reimut (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. S. 203 –220. 15 Novellierung 1. WobauG, Teil II, Punkt 13, Abs. 1 16 Novellierung 1. WobauG, §19, Abs.4 8
Werbung für die Forderungen aus der Charta von Athen in Mainz 1947. A5
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Idealvorstellung einer neuen weiträumig angelegten Stadtstruktur nach Walter Schwagenscheidts Raumstadt.
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LEITBILDER UND GEBÄUDETYPEN NORMUNG UND TYPUNG Die Haltung der Menschen im Deutschland der Nachkriegszeit war natürlich noch stark geprägt vom unmittelbar erfahrenen Grauen des Krieges. Somit formuliert sich die Hoffnung, dass der Wiederaufbau der Städte nicht in der verdichteten Form der Gründerzeit passieren dürfe, “die für Hunderttausende von Menschen zum brennenden Grab geworden war”17. Stattdessen erhärtet die Forderung nach ”weiträumig aufgelockerten, in überschaubare Nachbarschaften gegliederten und mit Gärten durchsetzten Stadtlandschaften“18. Nach der aufwendigen Beseitigung von Trümmern und Schutt (und deren partieller Wiederverwendung) stellt sich das Planungskollektiv um Hans Scharoun für Berlin die Umsetzung einer Stadt aus Bändern und Streifen zum Wohnen vor, die von Gebäuden mit öffentlichen Funktionen verbunden und sich gemeinsam in die Landschaft einfügen sollten.19 Mit internationalen Verweisen auf Le Corbusier wird für den Kollektivplan geworben.
lichkeiten für verschiedene architektonische Ausformungen. Abhängig von der lokalen und politischen Ausgangslage konnte sich sowohl historisierende Rekonstruktion als auch radikaler Modernisierungswille durchsetzen.21 Über kommunaler Ebene hinweg entwerfen eingesetzte Planungsstäbe vor allem in der französischen Besatzungszone nach den im Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 als Charta von Athen formulierten Regeln des modernen Städtebaus. Mit der Verschränkung von Wohn- und Freiraum, vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten und Potenzial zur Weiterentwicklung sollte das Gefühl von “Eingesperrtsein” verhindert werden.22 Schönheit solle dem Wohnen inne sein und befreites Wohnen ermöglichen:
“Schön ist ein Haus, das unserem Lebensgefühl entspricht. Dieses verlangt: Licht, Luft, Bewegung, Öffnung. Schön ist ein Haus, das leicht aufruht und allen Bedingungen des Terrains sich anpassen kann. Schön ist ein Haus, das gestattet, in Berührung mit Himmel und Baumkronen zu leben.”23
Dieser wird jedoch vom Westen als sozialistische Utopie und im Osten nach Gründung der DDR und dem einhergehenden Richtungswechsel in der Baupolitik als ”Ausdruck bürgerlicher Dekadenz und Willkür”20 abgelehnt.
Durth, Werner, 1999, S.26 Durth, Werner, 1999, S.43 19 Durth, Werner, 1999, S.44 20 Durth, Werner, 1999, S.46 21 Durth, Werner, 1999, S.47 - 53 22 Die Studie ”Raumstadt” von 1949 des Stadtplaners Walter Schwagenscheidt, der mit Ernst May in Frankfurt am Main arbeitete, gilt als Referenz für die Umsetzung der beschriebenen Haltung. 23 Giedion, Siegfried: Befreites Wohnen. Zürich, Leipzig: Orell Füssli Verlag, 1929. S.5. 17 18
Obwohl zwar viele Wohnquartiere auf Grundlage eines zusammenhängenden Bebauungskonzeptes entstehen, sind Unterschiede zwischen den Besatzungszonen der alliierten Mächte zu erkennen. Während sich in der sowjetischen Besatzungszone in erster Linie darauf besinnt wird, die Bodenreform mit Aufhebung und Neuordnung bisher geltender Eigentumsrechte voranzubringen, wird in der Amerikanischen und Englischen das Augenmerk auf Instandsetzung der verbliebenen Substanz gelegt. Das Leitbild der Nachbarschaften schafft mit einer Stärkung kommunaler Planungsbefugnisse und Überarbeitung der überholten Eigentums- und Parzellenstrukturen Mög-
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Siedlungen unterschiedlicher Epochen und deren Typologien reihen sich in Nürnberg aneinander und bestimmen das Stadtbild. A7
Dem Leitbild steht das spätere Erscheinungsbild gegenüber, das von einer starken Rationalisierung des Bauens bestimmt wird. Die Gestaltung der in der Regel drei- bis fünfgeschossigen Zeilenbauten, sowie ersten Wohnhochhäusern, hängt von verschiedenen Faktoren ab, am stärksten fällt jedoch die Notwendigkeit einer ökonomischen Optimierung ins Gewicht. Die Einführung von Standardmaßen bei Bauteilen oder Grundraster und Richtmaßen im Rohbau hat marktwirtschaftliche Vorteile (Einsparung von Arbeitszeit, Arbeitskräften und Material), auch wenn dieser Impuls nicht vom “freien Markt” initiiert wird, sondern die Einsparung vom Gesetzgeber vorgesehen und notwendig erscheint, um auch langfristig günstigen Wohnraum mit niedrigeren Herstellungskosten errichten zu können.24 Mit einem Übertrag der Normung auch auf gestaltungsrelevante Themen wie Geschosshöhen oder Rohbau-Richtmaße für Türen und Fenster, ist eine ästhetische Vereinheitlichung unumgänglich, da vor allem Höhe-Breite-Proportionen angeglichen werden. Nun lässt sich argumentieren, dass sich das Einhalten der Normen lediglich auf Bauten des öffentlich geförderten Wohnungsbaus
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beschränkt, dieser machte jedoch in der Nachkriegszeit einen so hohen Anteil am gesamten Bauvolumen aus, sodass ihre auch heute noch stadtbildprägende Rolle und die Bedeutung der zuvor beschriebenen, zugrundeliegenden Wohnungsbaugesetze nicht ignoriert werden kann.25 Mit einem Anstieg der technischen Möglichkeiten sowie der Forderung nach mehr Dichte und besserer Verkehrsanbindung wächst die Planung von großmaßstäblichen Siedlungen in den 1960er und 1970er Jahren immer weiter an. Satelliten- und Trabantenstädte mit einer guten Anbindung an die nun “autogerechte Stadt” entstehen im Massenwohnungsbau. Diese homogenen Wohnviertel, sogenannte “Wohnmaschinen”, stellen das negativ konnotierte Bild des Wohnungsbaus der Nachkriegszeit dar. Die Trennung der Funktionen (die auch schon in der Charta von Athen gefordert wird) und die Ansiedlung von lediglich Einrichtungen der Daseinsvorsorge in Wohnungsnähe haben in Verbindung mit der exklusiven Lage am Stadtrand, im Gegensatz zu vielen Siedlungen der 1950er Jahre, eine fehlende Integration in das gesamtstädtische Gefüge zur Folge.26
Die Wohnung der Nachkriegszeit war auf die Bedürfnisse der Kleinfamilie ausgerichtet. Sie ist kleinteilig organisiert und besteht aus Küche und Bad in Mindestmaßen sowie zwei bis drei Zimmern in geringfügiger räumlicher Hierarchisierung. Erschließungsflächen sollten gesetzlich vorgeschrieben geringgehalten werden. Zwei- bis Dreispänner teilen sich so ein meist unattraktives Treppenhaus, konnten aber über eine sinnvolle Ausrichtung gut belichtet und quergelüftet werden. Häufig findet man an Gebäuden, die nicht über Loggien verfügen, nachträglich angebrachte Balkone. Weitere grundlegende Eigenschaften können zusammenfassend der Übersicht entnommen werden: EIGENSCHAFTEN VON QUARTIEREN UND GEBÄUDEN DER 1950ER JAHRE (IM GESCHOSSWOHNUNGSBAU, IM STÄDTISCHEN KONTEXT) -
Städtebauliche Prinzipien der gegliederten, aufgelockerten Stadt als Gegenentwurf zur dichten, Missständen geprägten Gründerzeitstadt Meist drei- bis fünfgeschossige Zeilen, erste Hochhäuser Knapp bemessene Grundrisse und einfache Ausstattungsqualitäten Einfache Materialqualität und Bauweisen, Schlichtwohnungsbau / zu geringe Dimensionierung, schlechter Schallschutz Großzügige, straßenlose Freiräume, Wohnwege / Parkierungsprobleme Keine Fassung der Straßenräume durch die Zeilengebäude Meist in guten, integrierten Lagen im Siedlungsgefüge Häufig Finanzierung im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus (Wohnungsstandards gemäß Förderrichtlinien) Geringe Bebauungsdichte Monofunktionale, reine Wohngebiete / “Siedlungscharakter” Gleichförmiges Wohnungsgemenge (überwiegend Familienwohnungen) Heute nur noch wenige Erstbezieher:innen in den Beständen Wohnungen meist nicht barrierefrei Standardwohnung mit zwei bis drei Zimmern plus Bad mit WC, kleine Küche, oft kein Balkon, 45 – 60 Quadratmeter Wohnfläche
EIGENSCHAFTEN VON QUARTIEREN UND GEBÄUDEN DER 1960ER UND 1970ER JAHRE (IM GESCHOSSWOHNUNGSBAU, IM STÄDTISCHEN KONTEXT) -
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vgl. Krause, Leo, 1991, S. 47 vgl. Krause, Leo, 1991, S. 43 26 vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.23 - 24
Meist größere Wohnflächen als in den 1950er Jahren (steigende Anforderungen an das Wohnen) Großmaßstäbliche, massivere Strukturen (zunehmend Hochhäuser, gruppierte Wohnblöcke, komplexe Raumstrukturen) Oft bessere Bausubstanz als in den 1950er Jahren, ab den 1970er Jahren auch verbesserter Wärmeschutz / allerdings oft Beton-Fertigteilbauweisen und Flachdachkonstruktionen mit bald auftretenden Baumängeln Großzügige Freiräume Zunehmende Bedeutung des Automobils / oft überdimensionierte Straßenräume Stärkere Ausdifferenzierung des Wohnungsgemenges Noch viele Erstbezieher:innen in den Quartieren / aktuell Eintreten des Generationenwechsels Hochhäuser mit Aufzügen / vermehrt Wohnungen mit Balkonen
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Ein Spaziergang im Volkspark Prenzlauer Berg, Berlin 1978.
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EXKURS – das Erbe sozialistischer Wohnungswirtschaft in der DDR Die viereinhalb Jahrzehnte andauernde Umstrukturierung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik ist keinesfalls als in sich geschlossener Abschnitt deutscher Wohnungsbaugeschichte zu sehen. Das bauliche und ideologische Erbe der DDR bestimmt bis heute die Wohnmöglichkeiten und –formen in diesen Teilen Deutschlands. Die zuvor erwähnte Bodenreform nimmt hier erhebliche Einflüsse: als Teil des Wohnungsbauprogramms der regierenden Kommunistischen Partei von 1946, und damit wesentlich früher als das erste Wohnungsbaugesetz der BRD, soll so die langfristig angedachte Umgestaltung Fuß fassen. Bisherige Eigentumsverhältnisse seien unvereinbar mit den Wiederaufbauplänen der Partei und “alle Hemmungen durch private Willkür im Interesse der Allgemeinheit”27 könnten vermieden werden.
Toppstedt, Thomas, 1999, S.425 28 Nachträgliche Entschädigungen werden erst ab den 1960er Jahren gezahlt. 29 Arlt, Rainer / Rohde, Günther (Hg.): Bodenrecht. Ein Grundriß. Berlin: Staatsverlag der DDR, 1967. S. 181 - 185. 30 vgl. Toppstedt, Thomas, 1999, S.426 - 428 27
Das neue Bodenrecht basiert auf einer Trennung von privatem Hauseigentum und volkseigenem Grundstückseigentum. Zwar wird der private Besitz von Boden, nicht wie in der UdSSR, nicht vollständig abgeschafft, er obliegt aber behördlicher Leitung und Kontrolle. Umgestellte Genehmigungsverfahren und staatliches Vorkaufsrecht verhindern die Entwicklung eines freien Grundstücks- und Wohnungsmarktes nahezu komplett. Zum wirkungsvollsten Werkzeug zur Umsetzung neuer Eigentumsverhältnisse wird die entschädigungslose Enteignung28. Mit dem Aufbaugesetz von 1950 konnten über die unbeschränkte staatliche Verfügbarkeit von
Land zusammenhängende Gebiete enteignet und zu Aufbaugebieten erklärt werden. Die staatlich kontrollierte Industrie und Agrarwirtschaft, vertreten durch Landwirtschaftliche Produktionsgesellschaften (LPG) und Produktionsgesellschaften des Handwerks (PGH), haben so die Möglichkeit den ständig wachsenden Baulandbedarf durch Enteignung zu stillen. Es kommt vorerst zu einem verschwenderischen Umgang mit Boden, da dieser im Rechtsverständnis der DDR lange Zeit kaum Wert genießt und ”nicht Produkt der Arbeit, sondern Voraussetzung der produktiven Tätigkeit”29 darstellt. Thomas Toppstedt beschreibt in seinem Text zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen in der DDR das Volkseigentum an den Produktionsmitteln als höchste Form des sozialistischen und Grundlage des persönlichen Eigentums. So ist auch die Wohnung kein Konsumgut, sondern eine soziale Leistung, die der Staat über z.B. subventionierte niedrige Mieten sicherstellen muss.30
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Der von Arbeiterwohnungsgenossenschaften (AWG) initiierte genossenschaftliche Wohnungsbau gilt neben dem staatlichen Wohnungsbau als Eckpfeiler der Wohnungsversorgung in der DDR. Auch sie hatten Anspruch auf Bauland und konnten Aufbaugebiete zur Umsetzung von mehrgeschossigem Mietshausneubau nutzen. Da der private Mietshausbau systematisch unterbunden und der Eigenheimbau stark reglementiert wird, bilden sich im städtischen Umfeld anstatt weitläufiger Einfamilienhaussiedlungen kompakte Wohnkomplexe und später große Wohngebiete in industriell vorgefertigter Großplattenbauweise. Diese bestimmen mit dem nach Kriegsbeschädigung oder Abrisskampagnen noch erhaltenen Altbaubestand bis heute das Bild vieler Städte. Die generelle Zielrichtung des Wiederaufbaus soll eine funktionelle Verbesserung der Stadtstrukturen sein. Die frühere PalastfassadenArchitektur habe ihre Berechtigung verloren, Gebäude sollen wieder Ausdruck der Möglichkeiten sein. Dabei soll nicht nur Auflockerung der Bebauung geschehen und Freiräume etabliert werden, sondern ein planvolles Ordnen menschlicher Bedürfnisse genauso wie der Ausdruck des politischen Lebens umgesetzt werden. Dies solle landschaftlich gebunden passieren, aber weniger durch reine Erhöhung des Grünanteils sondern mehr über eine sinnvolle Grünverbindung zwischen bestehenden Grünflächen: “Die Spannung zwischen Natur und Bauwerk schafft das beglückende Erlebnis von Stadt. […]”31. Diese Leitbilder werden 1950 offiziell in den Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus festgehalten.32 Der Wohnkomplex soll die Aufgabe übernehmen das gesellschaftliche Leben zu fördern und mit dem Familienleben in eine richtige Beziehung zu setzen. Das Zugehörigkeitsgefühl solle gestärkt und materielle, kulturelle und soziale Bedürfnisse gestillt werden, um den Wohnkomplex mit allen Einrichtungen des öffentlichen Lebens (wie z.B. Einzelhandel, Gastronomie oder Bildungsstätten) zu einer gesellschaftlichen Einheit zu entwickeln. Es solle keine selbstgenügsame Wohnoase sein, was der kapitalistischen Nachbarschaftseinheit unterstellt wird. Hervorzuheben ist, dass die staatliche Vergabe (notfalls über Zwangsmietverträge) und das unifizierte Angebot von Wohnraum die soziale Durchmischung der Wohngebiete enorm fördern, da keine sozioökonomische Differenzierung und soziale
Segregation stattfinden kann. Die soziale Mischung von Personen verschiedener Einkommensstufen passiert automatisch, eine Ghettoisierung oder Kohortenbildung wird vermieden.33 Das homogene Wohnraumangebot in der DDR resultiert baulich an der Erarbeitung und jährlichen Veröffentlichung verbindlicher Wohnungstypen durch das Aufbauministerium. Aller sozialer Heterogenität in den Wohnkomplexen zum Trotz sind diese auf die klassische Kernfamilie ausgelegt. Während zuerst lediglich Grundrisse und die geometrischen Voraussetzungen der Konstruktion bearbeitet werden, kommt es in den Folgejahren zur Ausdifferenzierung genormter Bauteile und Wohntypen (mit etwas geräumigeren Küchen und Schlafzimmern und der zentralen Erschließung der Räume über einen Flur) und im Jahr 1954 zur ersten umsetzungsfähigen Typenserie, die eine Kombination verschiedener Grundrisslösungen und Segmente sowie einen ausgereifteren Katalog an Konstruktions- und Fassadendetails in Aussicht stellt. Vergleichbar zur Entwicklung in Westdeutschland beschleunigt steigender finanzieller Druck die Normung und damit die Möglichkeit zur industriellen Vorfertigung.34
Wohnungen 1 - Raum 2 - Raum 3 - Raum 4 - Raum 5 - Raum
1950
1951
1952
1953
1954
29,70 35,44
20,03 28,06 40,84
19,07 29,79 43,99 58,68 73,97
22,41 31,84 44,30 57,31 73,30
26,52 32,13 45,07 58,27 70,58
A4 Wohnfläche der Typengrundrisse 1950 bis 1954 in m2.
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Postkarte aus Hoyerswerda-Neustadt.
Lingner, Reinhold: ”Die Stadtlandschaft.” In: Neue Bauwelt, Heft 6 (1948). S. 86. 32 Toppstedt, Thomas, 1999, S.453 - 454 und S.463 33 vgl. Toppstedt, Thomas, 1999, S.422 - 423 34 vgl. Toppstedt, Thomas, 1999, S.478 - 481 31
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„Plan du Phalanstère“.
Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.19 - 22 35
Kollektivierung des Wohnens Klar erkennbar bleibt die Tatsache, dass sich im Wohnungsbau der Nachkriegszeit die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit widergespiegelt. Die Rückbesinnung auf das Wohnen innerhalb der Kernfamilie zeigt aufgrund des immensen staatlichen Eingriffs in den Wohnungsbau in Deutschland auch die Tragweite dieses Gefühls auf politischer Ebene. Im Wohnen und den verschiedenen Wohnformen liegen daher immer auch Hinweise auf die politische und gesellschaftliche Ordnung der jeweiligen Zeit. In Europa haben sich vor allem seit der Industrialisierung neue Wohnmodelle entwickelt. Susanne Schmid, Dietmar Eberle und Margrit Hugentobler beobachten in ihrer Arbeit Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens, dass vor allem kollektives Wohnen je nach Epoche unterschiedlich umgesetzt wurde. Daher sind, vor allem nach der Auflösung jahrhundertealter Formen des Wohnens und Wirtschaftens zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Rückschlüsse auf das jeweilige “Verständnis der Lebensweise [und] Art des Zusammenwohnens”, aber auch Erziehung, Haushaltsführung und “Einbindung der Lohnarbeit ins Wohnumfeld” möglich.35
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PHALANSTÈRE UND FAMILISTÈRE In der Vormoderne gilt das kollektive Zusammenwohnen als vorherrschende Organisationsstruktur. Es bildet sich eine lose soziale Einheit aus Verwandten und Nicht-Verwandten (z.B. Angestellte, Dienende, Gesinde), die durch feudalistische Abhängigkeit und Ständezugehörigkeit aber auch gesellschaftliche Werte und Normen verbunden, als örtliche Einheit zusammen wohnen, hauswirtschaften und arbeiten.36 Seit der ersten industriellen Revolution um 1800 sind die Organisationstrukturen im Wohnen ständig im Wandel: Neue industrielle Produktionsstandorte entstehen im stadtnahen Gebiet. Durch den Wechsel von einer feudalistisch-agrarisch-handwerklichen Ständegesellschaft zu einer bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft kommt es zu einem Herauslösen der Nicht-Verwandten aus der örtlichen und sozialen Einheit. Diese sind nun auf Lohnarbeit angewiesen und fallen aus dem Schutz des Ganzen Hauses als Selbstversorgungseinheit. Die Abwanderung in die Städte zu den neuen Arbeitsmöglichkeiten beschleunigt die Verstädterung sowie die Proletarisierung der Lohnarbeitenden. Erstmals wird die Arbeit aus dem Wohnumfeld ausgelagert und dieses damit radikal privatisiert. Der Wohnraum wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu einem Ort der Erholung, Erziehung und Reproduktion.37 Mit der Lohn- oder Erwerbsarbeit an einem anderen Ort, wird die weibliche hauswirtschaftliche Tätigkeit innerhalb des Wohnumfelds als Nicht-Arbeit definiert. Diese Entwicklung trägt sich in weiteren Gebieten wie Pflege- oder Erziehungsarbeit bis heute. Aufgrund der neuen Sozialstruktur und der rasch voranschreitenden Verstädterung fehlt es an Wohnraum und führt zu einer außerordentlichen Überbelegung der Mietskasernen mit katastrophalen hygienischen Zuständen. In diese Zeit des strukturellen Wandels fällt auch die Forderung der neuen städtischen Gesellschaft nach Teilhabe am Profit der neuen Industrie sowie politischer Rechte, Mitbestimmung und Meinungsfreiheit.38
Die Wohneinheiten der Frühsozialisten vereinen diese ideologische Forderung und repräsentieren auch baulich die neu gedachte Sozialordnung: “Die Großwohneinheiten griffen tief in die damaligen Strukturen des Staates […] und der Haushaltsformen ein, waren fürsorglich paternalistisch organisiert und zielten weithin auf die arbeitende Klasse. Sie sollten, als Alternative zu den engen, überfüllten und unhygienischen Bebauungen […] [ein] Architekturmodell mit diversen ergänzenden Nutzungen und gemeinschaftlichen Folgeeinrichtungen bilden.”39
Neben Robert Owen, einem schottischen Fabrikanten und Sozialreformer, ist es vor allem Charles Fourier und dessen Entwurf einer Phalanstère 1829, die das reformatorische Konzept der sozialistischen Bewegung herausarbeiten und widerspiegeln. Fourier gehört zu den wichtigsten Gesellschaftstheoretikern der neueren Geschichte. Er behandelt in seinen Arbeiten und Konzepten Themen wie z.B. die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, fairer Entlohnung, Erneuerung bei Erziehung und Bildung (vor allem der Arbeiter:innenschaft) und Gleichberechtigung der Geschlechter mit der Absicht einer idealen gesellschaftlichen Ordnung.40 Fourier ist der Meinung, dass der soziale Bezugskreis nicht allein aus der Kernfamilie bestehen könne. Diese sei alleine nicht gesellschaftsbildend, denn von einer Gesellschaft könne erst dann die Rede sein, wenn Individuen mit mehr Eigenschaften als die des Vaters, der Mutter oder des Kindes zusammenkommen. So sieht Fourier in seinem Konzept keine Privaträume für die Familie vor, sondern stellt stattdessen eine Auswahl verschiedener Wohnungsgrößen und Preisklassen, die von einem Kern aus verschiedenen Familien bewohnt werden können. Eine Phalanstère bietet Platz für 1620 Personen und alle Wohnräume sowie die Haushaltsführung sollen im Kollektiv organisiert sein. Das Erd- und Mezzaningeschoss ist für ältere Menschen und Kinder angedacht, die oberen Geschosse für die erwerbstätigen Bewohner:innen vorgesehen. Hervorzuheben in der baulichen Ausgestaltung sind die kollektiven Erschließungsflächen: überdachte Hofgalerien, sogenannte rue-galeries (8), verbinden die Gebäudeteile und bilden neben der komfortablen Erschließung auch Raum für Austausch und Kommunikation.41 Schematischer Schnitt durch ein Wohngebäude. A11
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Skizze einer Phalanstère nach der Vorstellung Fouriers.
vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.28 37 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.29 - 31 38 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.41 - 45 39 Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.44 40 vgl. Bertels, Lothar: Gemeinschaftsformen in der modernen Stadt. Obladen: Leske Verlag, 1990. S.31, S.44. 41 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.49 36
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Versammlung der Bewohnenden der Familistère Godin a Guise.
vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.52 42
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Dieses Motiv übernimmt auch Jean-Baptiste Godin bei der Umsetzung der als erfolgreichste angesehenen, sozialistisch organisierten Großwohneinheit: der Familistère. Diese unterscheidet sich von ihrem eben beschriebenen Vorbild im Wesentlichen durch das Zulassen von familiären Strukturen, die wiederum mit gemeinschaftlichen Wohnflächen und Folgeeinrichtungen gestützt wurden. Die Familie bewohnt eigene Privaträume individuelle Nasszellen oder Küchen gibt es jedoch nicht. Die Versorgung übernimmt eine Großküche mit Angestellten, auch die Hauswirtschaft, Pflege, Erziehung und Bildung sind in Einrichtungen zentralisiert um die Arbeitskraft der Frauen nicht auf diese Bereiche zu beschränken. Im Gegensatz zu dem als mittellos geltenden Fourier kann Godin seine Idee für ca. 2000 Arbeitende umsetzen. Wie bereits erwähnt
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können sich diese, ähnlich zu den rue-galeries, in überdachten Innenhöfen mit Laubengängen zur Erschließung der Privaträume aufhalten und nicht nur bei Veranstaltungen dort versammeln. Diese sind jedoch als noch stärkeres räumliches Element wahrzunehmen, welches der dort wohnenden Arbeiter:innenschaft eine Plattform bietet und gleichzeitig die erwünschte Neuordnung hin zu einer heterogenen, mündigen Gesellschaft repräsentiert.42
Die Privaträume grenzen in 2 Raumschichten an den Innenhof und werden durch ein Vestibül erschlossen.
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NEUE ANSPRÜCHE AN DAS WOHNEN “Gemeinschaftliche Räume sind Möglichkeitsräume für kollektive Praktiken […]”43. Schmid, Eberle und Hugentobler benennen hier drei mögliche Intentionen die einen Wunsch oder eine Notwendigkeit für diese kollektiven Praktiken ausdrücken.44 Gemeinschaftliches Wohnen entwickelt sich in Europa, wie zuvor besprochen, aus einer ökonomischen und humanistischen Notlage für eine breite Bevölkerung. Diese ökonomische Intention zeigt sich auch in späteren Wohnmodellen, wie z.B. den Einküchenhäusern, Ledigenheimen oder Boarding-Häusern Anfang des 20. Jahrhunderts, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Problemlagen Zugang zu Wohnraum verschaffen sollen. Miteinhergehend ist hier aber auch eine Reaktion auf sich verändernde gesellschaftliche Ordnungen, die vor allem der Frau eine gesellschaftliche Entlastung und angleichende Chancen bei der Erwerbstätigkeit einräumen sollen. Der zweite Weltkrieg ist auch in der Geschichte des Wohnens als deutlicher Einschnitt wahrzunehmen. Nach der auch baulich spürbaren Rückbesinnung auf die Kernfamilie kommt es erst in den 1970er und 1980er Jahren zu einem nächsten Umschwung in Deutschland. Wohnkooperationen streben über partizipative Konzepte (mit Einbezug von Fachplaner:innen) ein Mitspracherecht beim Umsetzen von Wohnbauten an. Hier stehen nach Schmid, Eberle und Hugentobler in erster Linie keine ökonomischen Gründe im Vordergrund, sondern die Anpassung des Wohnraums an die erstarkende Emanzipation der Frau, die Verbesserung des menschlichen Austauschs und wohnliche Geborgenheit. Es soll zu einer klaren Beendung von paternalistisch organisiertem Wohnen hin zu einer Selbstorganisation kommen.45 Auch hier ist die Gestaltung der kollektiven Erschließungsflächen das zentrale Motiv: Als eine abstrahierte Form der öffentlichen Erschließung der Gemeinschaftssiedlungen aus der Nachkriegszeit werden diese nun als Stockwerkshallen oder rue-interieur ausformuliert. So ist den privaten Einheiten der Familie eine gemeinschaftliche Zone vorgeschaltet, die zwar keine funktionale Einrichtung beinhaltet, aber Aufenthaltscharakter besitzt und Möglichkeitsraum zum Austausch darstellt. Das Teilen der täglichen Aufgaben und gegenseitige Hilfestellungen unter Menschen in ähnlichen Lebenssituationen erleichtern das eigene Leben. Diese Kooperationen ebnen
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den Weg auch für spätere Modelle von Wohngemeinschaften mit Öffnung der Familie hin zur Gemeinschaft und dem Zusammentun von Gleichgesinnten zur Verbesserung des eigenen Wohnkomforts und der sozialen Interaktion beim Wohnen. Der ökonomischen Intention wird eine politische sowie noch weiter erstarkende soziale Intention hinzugefügt.
Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.114 44 Diese können sich nach Schmid, Eberle und Hugentobler auch überschneiden und kombinieren und sind zeitlich nicht klar abzugrenzen. Vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.20 45 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.166 43
Das weiße Zimmer im House for Seven People in Tokyo als gemeinschaftlich genutzte Fläche mit gemeinschaftlich genutzter Haushaltsausstattung. A15
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TEILHABE UND TEILNAHME Selbstorganisation und Selbstverwaltung gründen wie die Organisation von Genossenschaften auf dem Willen zur Teilhabe mit Teilbesitz an Gütern und Dienstleistungen (im genossenschaftlichen Rahmen meist als offizielle Rechtsform definiert). Eigene Strukturen sollen geschaffen und selbstständig aktiviert werden. Die Bewohner:innenschaft ist zur Verantwortung gezogen aber genießt auch die Vorteile. Diese Vorteile erstrecken sich auf die vielfältigsten Bereiche. Bewohner:innen möchten das eigene Wohnen allumfassend an die heutigen Umstände bezüglich Wohnraumknappheit, Wirtschaftskrisen, Klimawandel und Ressourcenschonung anpassen. In jüngeren Wohnformen wie Großhaushalten, Clusterwohnen oder auch Co-Living kommt ein noch viel diverseres Wohnpublikum zusammen. Es ist digital global vernetzt, möchte die Diversität der Bewohner:innenschaft zelebrieren, den Bedarf an Wohnraum pro Kopf minimieren und trotzdem auf ein breites Angebot zugreifen, welches sich über die Gemeinschaft einfacher generieren lässt.46
vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.192 47 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.232 - 233 48 Diese sind im Gegensatz zu kollektiven Räumen gemeinsam genutzte Räume, die nicht zu jeder Zeit dem gesamten Kollektiv zur Verfügung stehen, sondern ihren Status von öffentlich zu privat immer wieder wechseln können. 49 vgl. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.193 50 Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.272 51 Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.), 2019, S.194 46
angeeignet werden können.48 So kann auf den je nach Lebensphase zu- oder abnehmenden Platzbedarf eingegangen werden.49 Um den individuellen Raum gering zu halten, tageszeitabhängiges Brachliegen von Raum zu vermeiden und geteilte Funktionen kollektiv nutzbar zu machen, kommt es zu einer beschleunigten Funktionsauslagerung. Das zuvor beschriebene Raumangebot kann daher auch dezentral organisiert in anderen Gebäuden zu finden sein. Dies muss nicht nur bei neu geplanten Quartieren der Fall sein, sondern kann auch im Bestand umgesetzt werden.50 Anknüpfend an eine Dezentralisierung auf städtebaulicher Ebene durch ein Verteilen von Kinderpflegeeinrichtungen, Wasch- und Kulturzentren in den Gemeinschaftssiedlungen der Nachkriegszeit, wird das dezentrale Wohnen nun kleinteiliger, da die ausgelagerten Funktionen spezifischer differenziert werden. Dies führt aber nicht nur zu einem erweiterten Angebot für die direkte Bewohner:innenschaft und einer Aufwertung der Wohnobjekte, da das gesamte Quartier von diesen meist fußläufig zu erreichenden Nutzungen und gesellschaftlichen Austauschbezügen51 profitiert.
Das Teilen verschiebt sich in der Folge von haushaltsbezogen auf vermehrt ausstattungsbezogen. Teilen bezieht sich weniger auf Besitz und mehr auf Konsum, bzw. das Mitbenutzen von Gütern und Dienstleistungen. Anders ausgedrückt wird der Besitz nicht wie zuvor kollektiviert, sondern das Teilen ökonomisiert. Schmid, Eberle und Hugentobler sprechen hier von einer Sharing Economy oder Renting Economy.47 Funktionsbereiche zur Haushaltsführung und Versorgung werden größer dimensioniert, private Bereiche sind zwar voll ausgestattet aber auf ein Minimum reduziert. Sie können erst mit den erweiternden kollektiven Räumen funktionieren. Kollektive Räume sind von den Bewohner:innen gleichzeitig genutzte Räume wie z.B. Koch-, Ess- und Aufenthaltsbereiche in denen die Grundfunktionen des Wohnens stattfinden. Das Angebot wird dann durch kulturelle Einrichtungen und Räume mit zugeordneter Funktion, wie z.B. Veranstaltungsräume, Werkräume, Musikzimmer, Fitnessräume oder Fotolabore erweitert. Die Wohngemeinschaft kann aber auch auf Dienstleistungen wie ein geteiltes Mobilitätsangebot oder Co-Working Arbeitsplätze (als Antwort auf die vermehrt digital auszuführende Arbeit) zugreifen. Erstmals werden auch weiße Zimmer, d.h. nutzungsneutrale Räume vorgesehen, die sich nutzungsspezifisch und zeitlich flexibel angemietet und
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vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.27 53 vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.28 - 29 52
Neues Wohnen in Alter Heimat STÄRKEN UND SCHWÄCHEN DER QUARTIERE HEUTE Nach Kriegsende stehen die Quartiere der 50er bis 70er Jahre für Aufbruch, Neuerung und modernes Wohnen. Die Generation der Erstbezieher:innen verspürt eine feste Verbundenheit mit den Siedlungen als Wohn- und Lebensort. Die kurzen Wege und gute infrastrukturelle Anbindung an Einrichtungen des öffentlichen Lebens sowie Innenstadt oder Stadtteilzentren und die intensive Durchgrünung der Quartiere sind offensichtliche Stärken der Quartiere. Mit dem Baumbestand ist oftmals auch die Bewohner:innenstruktur gewachsen und es lassen sich funktionierende, homogene Nachbarschaften feststellen, die sich um das Angebot an Wohnraum für die mittlere Einkommensschicht entwickelt haben und bis heute vom günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis profitieren.52 Homogenität in der Sozialstruktur kann aber auch zu einem Kohorteneffekt und zunehmender Überalterung führen. Dies kann Sanierungsstau, Infrastrukturmangel, nachlassende Kaufkraft und ein fehlendes Angebot für ein anderes Milieu (z.B. Familien oder junge Erwachsene) zur Folge haben. Mit der Abnahme der Erstbezieher:innen tritt Fluktuation, Kurzmieterschaft und Anonymität ein – die Verbundenheit zum Bestand und eine mögliche Wertschätzung dieses fehlen. Oben genannte Punkte können Gründe für ein schlechtes Quartiersimage und schließlich Leerstand sein, da die Siedlungen nach heutigem Empfinden nicht marktgerecht oder attraktiv seien: großmaßstäblich, wenig nutzbare Freiflächen und ein ungepflegtes, gestaltungsarmes Erscheinungsbild.53
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NOTWENDIGKEITEN UND MÖGLICHE HANDLUNGSOPTIONEN Mit einer durchdachten Neukonzeption und richtigen Entscheidungen bietet die Anpassung und Weiterentwicklung der bestehenden Quartiere Potenzial die hohe Wohnzufriedenheit beizubehalten und den Bestand für neue Nutzende attraktiver zu machen. Weiter könnte die Erschließung von Neubauquartieren (mit Folgekosten zur Errichtung von Infrastruktur) verhindert und eine damit einhergehende Flächeninanspruchnahme reduziert werden. Um ein Überangebot an Wohnraum durch Neubau trotz Leerstand im Bestand zu vermeiden, muss nach Hopfner, Simon-Philipp der Wohnbaubestand genauer aufgenommen werden. Im Austausch von Daten, ermittelt im Zuge eines Monitorings von zur Verfügung stehendem Wohnraum, liegt ein erfolgsversprechender Ansatz für eine Zusammenarbeit von Städten bzw. Kommunen und Wohnungswirtschaft.54 So könnte die Datenqualität bezüglich Gebäudebestand, -zustand, -belegung und Mietpreise verbessert, auf strukturelle Veränderungen eingegangen und die Wohnungswirtschaft bei Investitionsentscheidungen ermutigt werden. Neben dieser quantitativen Analyse des Bestands fordern die Autorinnen auch Befragungen der Bewohner:innen zu Zustand, Wohnzufriedenheit und Perspektiven, um damit qualitative Aspekte zu beleuchten. Diese Vorgänge müssen vermehrt auf kommunaler Ebene stattfinden. Viel zu selten werden hier Stadtentwicklungskonzepte erarbeitet, die eine informelle Zielsetzung zur Zukunft des Wohnraums formulieren und auf diesen Monitorings basieren könnten.55 Formelle Instrumente der Städte und Kommunen können die Analyse und Änderung von Bebauungsplänen sein sowie das Vermeiden der Ausweisung von Neubauflächen um den Fokus auf den Bestand und dessen Möglichkeiten zu lenken. Diese Möglichkeiten müssen selbstverständlich über das vereinfachte Schaffen von Baurecht im Bestand zugänglich sein. Die öffentliche Hand kann und sollte hier ihre Planungshoheit nutzen um neue Standards in der Entwicklung von Wohnraum einzufordern.56 Weiter sollte die sich gerade entwickelnde Debatte zum Denkmalschutz von Bauten aus dieser Zeit von Ikonen der 50er bis 70er Jahre auch auf den Wohnungsbestand ausweiten. Hier ist der Begriff des Denkmals womöglich
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eher im Ensemble und nach divers konzipierter Analyse der Gebäude zu verwenden. Dem Gedanken zum Erhalt der Quartiere und deren faktischer Substanz würde zum Beispiel die Anpassung der Erhaltungssatzung der Stadt München näherkommen. Hier würde die Stadt zum Mitspracherecht bei geplanten Nutzungsänderungen über dem ortsüblichen Maßstab auch rechtliche Mittel besitzen um gegen Abriss von Siedlungsbestand vorzugehen. Nachdem die meisten Siedlungen als Gesamtplanung konzipiert und von Wohnungsunternehmen (und vereinzelt Wohnungseigentümergesellschaften) getragen werden, setzt mit der Zeit eine fortschreitende Parzellierung und Aufteilung von Gebäuden und Wohnungen in Privateigentum ein. Die unterschiedlichen Zielsetzungen und finanziellen Mittel der Eigentümer:innen gestalten es schwierig das Quartier als Gesamtheit zu entwickeln. Das gilt auch für das zögerliche Investitionsverhalten konservativer Wohnungsunternehmen. Auch hier lassen sich bereits Pilotprojekte finden, die als Vorbilder im Umgang der Eigentumsstruktur herangezogen werden können. Baugemeinschaften oder Genossenschaften schaffen es meist besser, auf lokalem Maßstab anzusetzen und eine soziale Ebene zu etablieren, die das materielle Wohnobjekt mit einer emotionalen Verantwortung der Bewohner:innen verknüpft und somit die vorhin angesprochene Wertschätzung für den Bestand und die Pflegebereitschaft erhöht.
Bauliche Maßnahmen lassen sich schwer verallgemeinern. Bekannt sind die notwendigen Verbesserungen an der Bausubstanz, wie z.B. Ertüchtigung der Dämmung und Beheben von Feuchteschäden sowie die Angleichung der Gebäudetechnik an heutige energetische Standards. Auf städtebaulicher Ebene laden die gering verdichteten Flächen der aufgelockerten Siedlungen der 50er Jahre zu einer Weiterentwicklung der Bebauungsstruktur regelrecht ein. Zwar sollte die Erhaltung der Grünflächen Vorrang genießen, doch würde ein behutsames Addieren von Baukörpern, die mit kollektiven Nutzungen versehen eine Organisation und Ausrichtung der großzügigen Freiflächen im Sinne Hans Scharouns übernehmen, die fehlende Raumbildung beheben. Das Abstandsgrün ist nicht mehr nur schön anzusehen, sondern auch nutzbar. Die Dichte kann weiter auf einen greifbaren menschlichen Maßstab erhöht und spannende Raumfolgen
mit einer Spannung zwischen Natur und Bauwerk57 erzeugt werden. Lange Fluchten entlang der Zeilenbauten werden gebrochen. Das kleinteilig angelegte Wohnraumangebot, zwar für die Kernfamilie entworfen, könnte aufgrund des heutigen Flächenanspruchs einem breiteren Publikum angeboten werden. Durch punktuelle Erweiterungen der Struktur, d.h. Ergänzen einer neuen Raumschicht, oder der baulichen Verbindung mit den Erweiterungsbauten werden zusätzlich neue bedarfsgerechte Wohnangebote geschaffen, die zudem neue räumliche Qualitäten (höhere Geschosshöhen, größere Belichtungsflächen) beinhalten können und aufgrund ihrer Stellung als Appendix zum Bestand minimal installiert sein müssen. Kluge Umwidmungen von Wohntypen machen so auch die einfache Einrichtung von barrierefreien oder altersgerechten Einheiten, z.B. im Erdgeschoss, möglich.
vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.192 55 vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.195 56 vgl. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin, 2013, S.194 57 Lingner, Reinhold,1948, S. 86 54
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MIT NEUEN ANSPRÜCHEN VEREINBAR? Die Siedlungen der Nachkriegszeit haben eine Perspektive für die Zukunft des Wohnens und meiner Meinung nach muss diese Perspektive auch möglich gemacht werden. Durch die zugrundeliegende ökonomische Optimierung der Siedlungen und die Standardisierung ihrer Bestandteile ist es leicht, auf diese einzugehen und den Katalog entsprechend heutiger Anforderungen und Wünsche zu erweitern. Mit der Aufnahme einiger weniger Grundsätze wie z.B. Proportionen und Raster, lässt sich nicht nur ein architektonisch wertvolles, zusammenhängendes Konzept aus Bestand und optionaler Erweiterung erarbeiten, sondern ebenfalls Bauelemente aus dem Bestand im Neubau wiederverwenden. Siedlungen können somit untereinander zu Ersatzteillagern werden und einzelne Elemente entsprechend ihres jeweiligen Lebenszyklus eingesetzt werden. Wie zuvor beschrieben basieren die Ansprüche an heutiges Wohnen zusammengefasst auf Bezahlbarkeit des Wohnraums, den aktuellen Vorstellungen entsprechenden Grundriss- und Nutzungsangeboten sowie sozialer Teilhabe und Austausch. Reduzierte, gut gesetzte und gestaltete Erweiterungen können die bestehenden meist monofunktionalen Siedlungen auf nahezu allen Ebenen für diese Ansprüche vorbereiten, und zugleich die vorhandenen Qualitäten hervorheben und den gewachsenen Bestand respektieren. Funktionierende Nachbarschaften benötigen Flächen und Orte für den Austausch, zur kollektiven Repräsentation und emotionalen Bezugnahme. Nicht funktionierende Nachbarschaften benötigen diese umso mehr. Nicht nur kollektive Nutzungsangebote, dezentral verteilt auf die verschiedenen Einzelgebäude, und somit auch für die umliegenden Viertel nutzbar, sondern auch die städtebauliche Setzung der neuen Baukörper und deren Typologie können das Quartier bereichern. Man denke hier an die Innenhöfe der Familistére als Plattformen des Austauschs oder die gemeinschaftlich genutzten, den Wohnungen vorgeschalteten Zonen, die rue-interieur. Das sich wiederholende Motiv der ausgestalteten, kollektiven Erschließungsflächen im Innenund Außenraum zeigen deren enorme Wichtigkeit. Zum einen sind sie die sichtbare Verbindung einzelner Privaträume und Rückzugsorte, zum anderen können sie wesentlich mehr Qualität und Funktionen aufnehmen, als sie es bisher tun. Das Potenzial dieser Flächen spart an anderer Stelle unnötig zu bezahlende und besser nutzbare Quadratmeter ein.
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Da aufgrund der städtebaulichen Typologie der Siedlungen der 50er bis 70er Jahre extrem viel Erschließungsfläche notwendig war, liegen hier die Möglichkeiten konzeptionell und baulich anzuknüpfen und diese Flächen zu nutzen:
Zum Reparieren des Fahrrads. Zum Vorbereiten des nächsten Uni-Seminars. Zur Betreuung der Kinder des Hauses. Zum Austausch mit neuen oder alten Nachbar:innen. Zur Organisation des nächsten Quartierstreffen. Zum Teilen der täglichen Aufgaben, auch im Alter.
Es festigt sich die Annahme, dass die Stärkung des beschriebenen Siedlungsbestands vor allem über die gemeinschaftliche Nutzung der vorhandenen Strukturen geschehen kann. Die Teilnahme an gemeinschaftlichem Wohnen kommt als aktives Element aus einem Bedürfnis des Befürwortens dieser Wohnform mit einer bewussten Entscheidung zur Reduktion des eigenen Flächenverbrauchs. Kollektive Ergänzungsnutzungen im Quartier und jegliche Verdichtungsbemühungen in europäischen Städten bleiben in Zukunft wirkungslos, wenn sich die durchschnittliche Haushaltsgröße nicht weiter verkleinert. Letztendlich sollte die Entscheidung zur Wahl der eigenen Wohnform frei bleiben, doch an dieser Stelle müssen architektonische und soziale Konzepte greifen, die dynamischer auf den steten strukturellen Wandel reagieren können.
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Neu angelegte Eingangsbereiche und Ersatzpflanzungen im umliegenden Quartier.
Bestandsaufnahme Siedlung Alte Heimat und Thomas-WimmerHaus Die Siedlung Alte Heimat bietet seit ihrer Fertigstellung 1963 bedürftigen Menschen ein Zuhause. Speziell zu diesem Zweck vor 60 Jahren erbaut, ist Wohnungsnot und die Notwendigkeit von bezahlbarem Wohnraum in München aktueller denn je. Heute leben in der Stiftungssiedlung Menschen, die mehrheitlich über 50 sind, etliche mit körperlichen und geistigen Einschränkungen, und rund 100 junge Menschen mit Fluchthintergrund, die meisten mit einem sehr geringen Einkommen. Viele seien tief verunsichert, weil sie nicht verstehen und nicht verstanden werden. Sie wussten nicht, wie es mit ihrem alten oder neuen Zuhause weitergehen würde, ob sie weiter hier wohnen könnten. Der Jane Addams Zentrum e.V. intiierte eine Mitbestimmungsmöglichkeit für die Bewohner:innen und befähigte sie zur Teilhabe am öffentlichen Diskurs über ihr Zuhause. Ganz nach dem solidarischen Grundgedanken der Siedlung. Doch was hat das mit Architektur zu tun? Menschen brauchen Solidarität und Mitbestimmungsmöglichkeiten um sich eine Heimat und einen Platz in der Gesellschaft aufbauen zu können. Ob dieses Bedürfnis verwirklicht werden kann, hängt häufig vom Bildungsgrad,
dem Sprachniveau, dem Einkommen oder der Gesundheit ab. Der Zugang zu Räumen, die diese Prozesse tragen können und darüber hinaus erst möglich machen, muss schwellenfrei und offen für Alle sein. Einmal mehr ist die Notwendigkeit nach diesen Räumen vor allem für Bedürftige sehr hoch. Es gilt Menschen in verschiedenen Lebenslagen, mit verschiedenen Anforderungen und Hintergründen gerecht zu werden. Dabei soll zwar akute Hilfe getan werden, aber sich gleichzeitig ein Ort für das Jahrhundert entwickeln können. Es gilt zukunftsfähige, bezahlbare Konzepte zu entwickeln, natürlich für die die das nächste Jahrhundert miterleben - aber vor allem auch für die die das letzte bereits erlebt haben. Das Thomas-Wimmer-Haus soll auch in Zukunft bedürftigen Menschen aus München oder denjenigen, die hierher vertrieben werden ein Zuhause geben können.
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VERORTUNG Die Stiftungssiedlung Alte Heimat befindet sich im Stadtbezirk 25 Laim westlich des Münchner Ringgebiets. Es grenzt im Norden an Neuhausen-Nymphenburg, im Osten an die Schwanthalerhöhe, im Südosten an Sendling-Westpark, im Südwesten an Hadern und im Westen an Pasing-Obermenzing. Laim ist 5,29 Quadratkilometer groß. 66,1% davon werden als Wohnflächen verwendet, 28,3% sind Verkehrsflächen. Nur 0,1 Prozent sind Betriebsflächen. Laim wurde zwar früher geschichtlich erwähnt, jedoch 1900 eingemeindet und seit 1996 eigenständiger Stadtbezirk und strukturell sehr geprägt durch den Rangier- und Güterbahnhof, welcher lange Zeit einer der Hauptversorgungspunkte für interregionale Importe nach München darstellte. Er prägte vor allem die jüngere Geschichte Laims und ist hauptverantwortlich für die heutige Struktur des Viertels. Zu erkennen sind städtebaulichen Wohnbauentwicklungsphasen, die engmaschig mit Erweiterungen des Bahnhofs zusammenhängen. Als ehemaliges Arbeitendenviertel findet man heute Wohnbauten niederen bis mittleren Standards - Theodor Fischers Staffelbauplan von 1904 regelt bis heute die Höhenentwicklung und Akzentuierung innerhalb der Quartiere. Der Bezirk ist strukturell um zwei bis drei mehrspurige Autostraßen organisiert. Um diese für die Stadt München wichtige Verkehrsadern ist hauptsächlich das öffentliche Leben organisiert. Hier ist die infrastrukturelle Dichte sehr hoch, wohingegen die umliegenden Blöcke rein der Wohnnutzung dienen. Anstehende städtebauliche Entwicklungspläne (z.b. MVG-Areal Zschokkestrasse/Westendstrasse) werden auf den Standort und somit die Siedlung Alte Heimat einen enormen Einfluss nehmen.
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An die Siedlung angrenzende Struktur sowie Stadtbezirke.
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EIN RUNDGANG
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Blick entlang der Fürstenrieder Straße stadtauswärts.
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Blick entlang der Zschokkestraße stadteinwärts.
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Charakteristische Wohnstraße um das Gebiet der Siedlung Alte Heimat und Zufahrt zur Burgkmairstraße.
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Straßenquerschnitt und Eingang zum TWH.
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SIEDLUNG ALTE HEIMAT 1959 - 1963 25.000 m2 BGF 19 Gebäude 505 Wohneinheiten (Ein-Zimmer-Appartements, Zweieinhalb-Zimmer-Appartements) Selbst 13 Jahre nach Kriegsende hatte sich an dieser Situation wenig verändert, sodass bis 1958 nur ca. 50 Personen im Jahr nach München zurückkehren konnten. Der daraufhin gegründete Verein „800-JahrSpende der Münchner Bürgerschaft zur Rückführung bedürftiger Münchner in ihre Vaterstadt“ ermöglichte zusammen mit der Stadtverwaltung die Finanzierung einer neuen Siedlung in Laim zur Unterbringung von 1000 Menschen.
Die Architektur der Siedlung zeichnet sich durch die großzügigen Abstände der Gebäude zueinander aus. Es entsteht eine räumliche Abwechslung durch verschiedene Geschossigkeiten und einem Wechsel zwischen Zeilen- und Punkthäusern. Die Balkone, Terrassen, die den Wohnungen im Erdgeschoss angrenzenden Gärten und die weitflächige Anlage mit Parkcharakter bieten hohe Erholungs- und Aufenthaltsqualitäten. Nicht nur baulich bildet das Alten- und Service-Zentrum die Mitte des Quartiers. Offene Monatstreffen, Kurse und Versammlungen finden hier statt.
Den Architektenwettbewerb gewann Sepp Pogadl, der zusammen mit Franz Ruf die Planung der Siedlung übernahm. Die Wohnanlage Alte Heimat wird im Norden durch die Zschokkestraße, im Osten und Süden durch die Hans-Thonauer-Straße und im Westen durch die Burgkmairstraße begrenzt. Das Zentrum bildet der Kiem-Pauli-Weg.
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Holprig definierter Übergang der öffentlichen zu privaten Außenbereichen mit Abstandsgrün.
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Durch- und Zugänge zu den einzelnen Höfen.
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Großzügige Freiräume zwischen den Zeilen mit hochgewachsenem Baumbestand.
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EIN RUNDGANG
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Quartiersstraße Kiem-Pauli-Weg.
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Trotz Umbau bleiben Resträume ungenutzt.
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Die städtebauliche Setzung der Baukörper erlaubt interessante Blickwinkel und mögliche neue Wegeführungen.
Charakteristische vorgesetzte Leichtbauteile werden wie die Fassaden erneuert und ausgetauscht. Mehr Potenzial? A25
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EIN RUNDGANG
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A26
Die äußere Erscheinung gibt Aufschluss über den Zustand innen.
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Ansicht von Osten. Das Gebäude verschwindet nahezu gänzlich hinter dem Baumbestand.
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Über eine Mittelgangerschließung gelangen die Bewohner:innen in ihre Appartements.
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Kleiner abgetrennter Freibereich hinter dem Haus.
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Ansicht von Westen. Haupteingang mit nachträglich vorgesetztem Aufzug.
THOMAS-WIMMER-HAUS 1965 - 1966 5600 m2 BGF 8 Stockwerke 700 m2 GF 98 Wohneinheiten (91 Ein-Zimmer-Appartements, 7 Zwei-Zimmer-Appartements) Senior:innen - Tagespflege Gemeinschaftsbad im EG Der damalige Oberbürgermeister Thomas Wimmer war maßgebend an der Durchführung des Vorhabens beteiligt. Nach dessen Tod 1964 wurde das im dritten Bauabschnitt realisierte und 1966 bezugsfertige Gebäude an der Burgkmaierstraße 9 nach ihm benannt. Das Gebäude wurde von dem Architekten Fritz Vocke als Altenwohnheim konzipiert. Der Bau besteht aus Einzelappartements mit größtenteils einem Zimmer. Die Einheiten sind lediglich mit einer kleinen Kochstelle und einem WC ausgestattet. Die Bewohner:innen teilen sich sonstige sanitäre Anlagen im Erdgeschoss. Diesen sehr interessanten aber problematischen Umstand gilt es bei einer Neukonzeption des Gebäudes zu beachten. Des Weiteren wird im Haus eine psychosoziale Betreuung der Arbeiterwohlfahrt AWO München sowie eine Tagespflege angeboten. Seit 2015 verfügt das Gebäude über einen Außenaufzug und ist seitdem barrierefrei zugänglich. Unklar ist ob dieser Aufzug für knapp 800.000€ im Neubau oder im städtischen Kontext wiederverwendet werden kann. Im zu planenden Neubau soll das Baurecht voll ausgenutzt und etwa 60 Wohneinheiten mehr entstehen. Dieses erweiterte Angebot soll unter Anderem Pflegepersonal mit niedrigem Einkommen zugutekommen. Die Kosten werden derzeit auf 50 Millionen Euro geschätzt.
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Erdgeschoss
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Obergeschoss
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PROGRAMM Wohnen: Anforderung der Stadt an Neubau
154 WE
NRF ca. 8000 m2
Umnutzung Bestand Neubau / Erweiterung
70 WE 85 WE
NRF ca. 4000 m2 NRF ca. 4000 m2
Psychosoziale Beratung: s. KR - Nutzerbedarfsprogramm S.4 ff. Eingangsbereich 2 Büros Beratungsraum Gruppenraum Küche, Vorrat, AR Toiletten
140 qm 10 28 14 45 14 15
qm qm qm qm qm qm
Tagesaltenpflege „Herbstlaube“: Gymnastikraum Serviceräume (Friseur, Fußpflege, etc.) Büro
85 50 20 15
qm qm qm qm
Gemeinschaftsküche, Vorrat Abstellraum Speiseraum
30 qm 10 qm 40 qm
Multifunktionsraum
50 qm
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Struktur
Struktur
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Konstanten
Potenzial
und Infrastruktur
STRANGSCHEMA Der Aufbau des Gebäudes erlaubt bei einer Neukonzeption die Nutzung der bestehenden Schächte für neue Installationen. So können diese (z.B. Sanitärausstattung oder neues Heizsystem) innerhalb des Bestands ausgeführt werden und räumliche Erweiterung somit flexibel und minimal installiert bleiben.
Das Gebäude sowie die gesamte Siedlung sind bereits an das Fernwärmesystem angeschlossen. Ausgetauscht werden die Heizungsanlage und -leitungen und neue Heizkörper in der Raummitte installiert. So bleibt die Grundrissaufteilung nach außen hin flexibel. Die Installation auf der Bestandsdecke ist mit Kompakt-Dämmhülsen im Estrich auszuführen.
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RÄUMLICHE SYNTAX Jedes Gebäude beruht auf einem gewissen räumlichen Zusammenhang. Das Sichtbarmachen dieser Zusammenhänge in einem Schaltplan vereinfacht den Umgang mit dem Bestand, da die Umwidmung eines bestehenden sowie das Ergänzen eines neuen Raums
Bestand
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immer auch Einfluss auf das räumiche System, d.h. das Links und das Rechts hat. Das Appartementgebäude beruht auf einer introvertierten Struktur mit Mittelgangerschließung. Sichtbar wird die lange Etschließungsfläche an die die einzelnen Appartements geschaltet sind.
Nun kann schematisch erprobt werden, wie das Einfügen von Privat- und Kollektivräumen das gefüge beeinflusst. Vor allem die Erschließung der einzelnen Räume kann aufgebrochen, Erschließungsflächen verkürzt und nutzbar gemacht werden. Einzelne Privaträume können in Zonen aneinandergeschaltet oder um einen Kern gruppiert werden.
Privatraum, Bestand
Wohnergänzungsraum, Bestand
Privatraum, Neubau / Umwidmung Wohnergänzungsraum, Neubau / Umwidmung
Kollektivraum, Neubau / Umwidmung Kollektiver Wohnergänzungsraum, Neubau / Umwidmung Vertikale Freiraum
Vertikale Erschließung
Typologie 1
Typologie 2
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ERWEITERUNGSMÖGLICHKEITEN Aus der räumlichen Syntax lassen sich mehrere Möglichkeiten zur Erweiterung des Bestands ableiten und im städtebaulichen Kontext prüfen. Zum einen Variante 1, welche sich egozentrisch aus dem Bestand heraus entwickelt und dessen Außenhaut lediglich um eine Raumschicht nach Außen verlegt.
Typologie 1
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Variante 2 nimmt auf den Straßenraum und die direkte Umgebung Bezug, indem es Proportionen, Gebäudehöhen und -tiefen der Nachbarbebauung spiegelt und so den Maßstab des Bestandsgebäude bricht. Typologie 2
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Wohnidee HALTUNG UND MOTIVATION Die Wohnidee basiert grundlegend auf dem Gedanken, den Flächenbedarf der einzelnen Person zu reduzieren. Alle potenziell kollektiven Nutzungen sollen geteilt - private Räume noch radikaler privatisiert werden. Alle Flächen innerhalb des Gebäudes werden hinterfragt um sie noch effizienter zu nutzen.
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Blick auf das innenliegende Vestibül, welches nur mit künstlichem Licht beleuchtet nur einige Funktionen aufnehmen kann. Zu finden in einem Appartement in der Rue Raynouard, Paris, entworfen von Auguste Perret. A38
MOTIV VESTIBÜL / SALLE INTÉRIEURE Die Aufdoppelung der Gebäudetiefe hat logischerweise eine Häufung an unbelichteten Flächen in der Mitte des Gebäudes zur Folge. Diese dunkleren Zonen müssen nicht unbedingt, wie es sonst im Geschosswohnungsbau üblich ist, mit dienenden Räumen versehen werden. Es ist wichtig zu verstehen, dass genau diese Räume Qualitäten beherbergen, die vor allem einem kollektiven Wohnverhalten zu gute kommen. Sie stellen Puffer, Rückzugsorte und Nischen dar, die sich neben dem privaten Raum angeeignet werden können. Dieses Motiv soll nicht nur bei der Umwidmung der innenliegenden Erschließung, sondern auch in einem neuen Zwischenraum etabliert werden, der zwischen der neuen Raumschicht und dem Bestand liegt. Dieser ist zwar als Verteilerschicht zu verstehen, kann aber darüber hinaus Grundfunktionen des Wohnens übernehmen.
Obergeschoss Typologie 1
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Erweiterung
Bestand
Auswirkung
flexible Nutzungskombination
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Erweiterung
Auswirkung
Umwidmung
flexible Nutzungskombination
Privaträume
Kollektive und gemeinschaftliche Räume
Die erweiternde Raumschicht wird die neuen weißen Räume aufnehmen, welche als private Räume zu verstehen sind. Der Zwischenraum ermöglicht aber, dass diese Räume auch über Geschosse hinweg gemeinschaftlich genutzt, oder zu anderen Einheiten zugeordnet werden können. So entsteht ein offenes Gefüge mit flexiblen Nutzungskombinationen. Das Konzept sieht vor, dass sich maximal drei
Räumliche Überlagerung durch das Nutzungsverhalten der Bewohnenden
Personen eine sanitäre Zelle teilen. Zudem können einzelne Einheiten auch konservativ und voll ausgestattet genutzt werden. Alle direkt notwendigen Funktionen sollen auf dem selben Geschoss liegen, wie ein zusätzliches Bad mit rollstuhlgerechter Dusche und Badewanne - Funktionen wie Betreuung, Arbeitsund Werkräume oder buchbare Gästezimmer können über das Gebäude verteilt sein.
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Ausschnitt eines Obergeschosses mit exemplarischer Nutzungsverteilung.
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Zentraler Innenhof der Familistère Godin a Guise mit Balkonen zur Erschließung der Einheiten sowie visuellem Kontakt über das gesamte Gebäude und damit nahezu allen Bewohnenden. A43
MOTIV FAMILISTÈRE Das Motiv des Innenhofs ist dagegen viel offensichtlicher mit gemeinschaftlichem Potenzial versehen. Das zuvor linear organisierte Bestandsgebäude wird zu einer neuen Typologie transformiert, welche ein anderes Wohnen aber auch einen anderen Austausch untereinander ermöglicht. Der Innenhof bildet einen Bezugspunkt um den sich die kollektiven Flächen und Nutzungen organisieren. Im neu vorgesetzten Gebäudeteil kann die Wohnidee noch konsequenter umgesetzt werden. Die Erschließungsflächen sind auf ein Minimum reduziert. Infrastrukturell müssen jedoch neue Schächte sowie eine neue Treppe als zweiter Rettungsweg mitgedacht werden. Aufgrund der noch effektiver nutzbaren Fläche kann die Erweiterung auf vier Geschosse, entsprechend der gegenüberliegenden Bebauung, reduziert werden.
Obergeschoss Typologie 2
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Erweiterung
Bestand
Auswirkung
flexible Nutzungskombination
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Auswirkung
Umwidmung
Privaträume
Kollektive und gemeinschaftliche Räume
Räumliche Überlagerung durch das Nutzungsverhalten der Bewohnenden
Der Zwischenraum bleibt auch in dieser Variante ein zentraler Baustein im räumlichen Gefüge, da sie die verbindende Zone der beiden Gebäudeteile nutzbar macht. Des weiteren strukturiert sie den Neubau und verbindet die hierarchisierten Räume.
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ZWISCHENRAUM Der neu definierte Zwischenraum hat entgegen seiner tatsächlichen Größe eine immense bedeutung zum Funktionieren der Wohnidee inne. Nur durch das Abrücken der Tragkonstruktion der Erweiterung von der Bestandswand entsteht ein neues Potenzial ohne Mehraufwand.
Ausformulierung des Zwischenraums
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Neben dem reinen Flächengewinn ist auch die räumliche Qualität und Spannung zu benennen, die vor allem aus dem Zusammenhang von Neu und Alt entsteht: Ehemals Außenraum, Loggia oder Balkon, nun Rückzugsort und Nische oder beginnender und empfangender Teil einer der Wohnhallen.
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PROGRAMMATISCHE UND QUALITATIVE ERWEITERUNG Die Neukonzeption des Thomas-WimmerHauses hat neben dem neu zu etablierenden Programm einen weiteren essentiellen Gesichtspunkt: Einer der Gründe für eine Entscheidung hin zum Abriss ist zum einen die Problematik der Neuinstallation der Haustechnik und zum anderen die daraus resultierenden neuen Bauteilaufbauten. Die lichte Raumhöhe, durch Geschosshöhen in der Nachkriegszeit zwischen 2,25 m und 3,00 m geplant, wird immer geringer und die Wohn- sowie Aufenthaltsqualität ist Bewohnenden oft nicht mehr zuzumuten. Die programmatische Gruppierung von installationsaufwendigen Bereichen ist ein Anfang um in anderen Flächen z.B. die Bodenaufbauten geringer zu halten. Hier kann jeder Zentimeter über den Erhalt oder Abriss eines Gebäudes entscheiden. Zudem kann wie zuvor schon erwähnt eine räumliche Erweiterung installationsärmer und somit einfacher und günstiger umgesetzt werden. Um dieser Problematik entgegenzutreten sieht das Konzept vor, die Erweiterung nicht nur programmatisch zu definieren sondern dieser auch neue räumliche Qualitäten zu geben. Das heißt, dass in der neuen Raumschicht bzw. dem neuen Gebäudeteil andere Geschosshöhen, größere Räume und Raumzusammenhänge den Bewohnenden die Möglichkeit geben, neben ihrem kompakten Privatraum in direktem bezug auch an großzügiger gestaltete Räume nutzen zu können. Damit werden geringere Geschosshöhen in Bereichen mit geringerer Aufenthaltsdauer vertretbar.
Zusammenspiel der Fassade, Außen- und Innenraum
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A51
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Studien zu Raumtiefen, Mehrgeschossigkeit in Bezug auf Raumzusammenhänge, Licht und Schatten.
A52
A53
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A55
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SCHNITTSTELLEN Das Erdgeschoss dient als Übergang zwischen Gebäude und Außenraum, privaten Geschossen und öffentlichem Freiraum. Es bietet zum einen, in Anlehnung an das einstige Badehaus, gemeinschaftliche Flächen, wie Gymnastiksäle und Gemeinschaftsküche, sowie zum anderen anmietbare Flächen für Büros und Ateliers sowie Servicefunktionen wie Haarsalons, Fußpflege und Massageeinrichtungen. Die psychosoziale Betreuung befindet sich mit einem separaten Eingang im Süden des Gebäudes, die Tagespflege mit Großküche, Multifunktionssaal und angrenzendem Café öffnet sich zum Quartier. Die Flächen um das Gebäude herum können sich bis in den Straßenraum hinein angeeignet werden. Der Straßenraum an sich wird über eine Neugestaltung bewusst entschleunigt, Fahrrad- und Langsamverkehr sowie neue Mobilitätsformen erhalten Einzug und Repräsentation
Querschnitt und Erdgeschoss Typologie 1
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Querschnitt und Erdgeschoss Typologie 2
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A60
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Der Innenhof als zentraler Begegnungsort mit der Spannung von Alt und Neu.
Katalogisieren Aufnehmen und Erweitern In der theoretischen Vertiefung wurde bereits beschrieben, dass die Siedlungen und Gebäude der Nachkriegszeit auf einem ökonomisierten Katalog basieren, welcher feste Raster und Größen vorgibt. Nachdem das jeweilige System des Bestandsgebäudes analysiert wurde, ist es ein leichtes auf dieses einzugehen und in dieser Logik eine Erweiterung auszuführen. Hier muss zudem auf die aktuelle Situation um Klimaveränderung und Ressourcenverbrauch im Baugewerbe aufmerksam gemacht werden. Es sind bereits viele Methoden erprobt, Bauteile und Baustoffe effektiv und günstig wiederzuverwenden. Die nächsten Seiten zeigen eine Auswahl an Themen, die auf diesem Gedanken basieren und den Entwurf mitbestimmt haben.
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ABGERISSENE GEBÄUDE UND IHR VERLORENES POTENZIAL In den letzten Jahren ist die Anzahl an abgerissenen Gebäude und damit die Masse an verschwendetem und nicht ordnungsgemäß recyceltem Material noch einmal deutlich gestiegen. Nicht nur Gebäude vermeintlich geringerer Bedeutung sondern auch Ikonen der zu behandelnden Zeit sind verlorengegangen. Mit ihnen wertvolles Material und messbarer Energieaufwand sowie erhöhter CO2-Verbrauch, zum einen durch den Abriss und Rückbau, zum anderen durch notwendige Produktion von neuem Material. Die Übersicht zeigt 3 Beispiele und eine Auswahl recyclingfähiger und potenziell wiederverwendbarer Bauteile. Hätte man z.B. nur ein Drittel der Stahlbetonkonstruktion wiederverwendet, wären 5 Neubauten in der Dimension des neuen Thomas-Wimmer-Hauses umsetzbar.
Empfangshalle Hbf München 1953 - 2019 BGF ca. 18.000 m2 Stahlbetondecke und -stützen Stahlskelett in Obergeschossen Fassadenausfachungen Leichtbau A61
OSRAM Zentralverwaltung 1965 - 2018 BGF ca. 22.260 m2 Stahlbetondecke und -stützen Leichtbau-Metallfassade Isolierfestverglasung
A62
Holiday Inn Schwabing 1971 - 2012 BGF ca. 20.800 m2 Stahlbetondecke und -stützen Fassadenausfachungen Leichtbau Isolierverglasung A63
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REGIONALTYPISCHE BAUSTOFFE BAYERN Bimshohlblocksteine
1949 - 1978 massiv, monolithisch (Konstruktion) 240, 300, 380 (Stärke in mm) 1400 (Rohdichte in kg/m3) Verbreitungsgrad 3 (von 5)
Vollziegel
1949 - 1968 massiv, monolithisch 240, 300 1800 Verbreitungsgrad 4
Hochlochziegel
1949 - 1978 massiv, monolithisch 240, 300, 360 1400 Verbreitungsgrad 4
Porosierter Hochlochziegel
1949 - 1978 massiv, monolithisch 300, 360 1200 Verbreitungsgrad 2
Holzspansteine
1949 - 1968 massiv, monolithisch k.A. 1000 Verbreitungsgrad 2
Stahlbeton
1949 - 1968 massiv (Kellerdecke) 150, 180 2000 Verbreitungsgrad 4
Holzbalkendecke
1949 - 1968 Holzkonstruktion (Geschossdecke) 230 k.A. Verbreitungsgrad 2
Stahlbeton
1949 - 1968 massiv (Geschossdecke, Flachdach) 130, 150 2000 Verbreitungsgrad 3
Ziegel auf Lattung
1949 - 1978 Holzkonstruktion (Steildach) 220 k.A. Verbreitungsgrad 4
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BAUTEILE UND GESTALTUNGSELEMENTE Zu sehen ist eine Übersicht an typischen Gestaltungselementen an Gebäuden der 50er bis 70er Jahre. Neben einer Auswahl an festgelegten Fenster- und Türgrößen sind es vor allem Fassadenelemente die die Gebäude nach Außen hin schmücken. Balkongeländer und verschiedene Fassadenmalereien und Putztechniken, wie z.B. Sgraffito und Putzschnitte, in den Obergeschossen und Vordächer, sowie Beschilderungen und große Schaufensterelemente in den Erdgeschossen.
Bauteil- und Gestaltungselementübersicht
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Fassadengestaltung mit hervortretendem Erker in der Amalienstraße 14-16, Maxvorstadt. A65
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Feine Details im Putz und an Geländern offenbaren sich bei genaueren Betrachtung der sonst einfachen Architektur des Wiederaufbaus. Ainmillerstraße 31, Schwabing. A66
Das Verhältnis von offen und geschlossen sowie die feine Struktur machen das Wohngebäude von Sep Ruf zu einem Vorzeigeobjekt. Höher, leichter, offener, grüner. Theresienstraße Ecke Türkenstraße, Maxvorstadt. A67
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geschlossen / offen
flexible Tragstruktur
massiv / leicht
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FASSADENKONZEPT Das Fassadenkonzept leitet sich ebenfalls aus der Logik des Betsands ab. Die geschlossenen Mauerwerksausfachungen zwischen den Wohnungstrennwänden und Loggien zur Seite sowie Stahlbetonunterzug und -decke nach oben und unten, werden in der ergänzten Tragstruktur neu interpretiert. Das Tragwerk aus Holzstützen und -unterzügen, die die recycelten Stahlbetonplatten tragen und ertüchtigen, kann so entweder geschlossene Felder im Mauerwekrsraster oder offenere Felder im Leichtbau- bzw. Holzbauraster aufnehmen. Zuvor ausgebaute Fenster aus dem Bestand, können in der Außenhaut der neuen Raumschicht wieder eingebaut werden. So entsteht ein Spiel aus Neu und Alt, offen und geschlossen sowie massiv und leicht. Hervortretende Bauteile wie z.B. Erker tragen gemeinschaftlich genutzte Flächen nach außen. verschieden große Putzflächen brechen den Maßstab der Geschosse zudem und signalisieren die Doppel- und Mehrgeschossigkeit der Erweiterung.
Fassadenkonzept
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BAUTEILAUFBAU UND KONSTRUKTION Dach: Begrünung / Substrat Vlies Schutzschicht Zweilagige Dachhaut Gefälledämmung Bauteilabdichtung Holzfaserdämmung Stahlbetonplatte, recycelt Träger Vollholz / Brettschichtholz Außenwand: Außenputz Holzfaserdämmplatte Stützen Vollholz / Brettschichtholz Mauerwerk oder: Konstruktionsvollholz Holzfaserdämmung Grobspanplatte Querlattung Holzfaserdämmung 2 x Rigipsplatte Innenputz Innenwand: Innenputz Rigipsplatte Konstruktionsvollholz Holzfaserdämmung Rigipsplatte Innenputz Geschossdecke: Bodenbelag Trittschalldämmung Estrich inkl. Heizungsrohre in Kompakt-Dämmhülsen Stahlbetonplatte, Bestand oder recycelt Träger Vollholz / Brettschichtholz Innenputz
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120 10 10 60 - 140 3,5 120 200 200 x 200
10 60 240
120 x 60 15 40 25 10
10 12,5 80 x 60 12,5 10
35 20 45 200 200 10
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BAUHÜTTE Als Werkstattverband von Steinmetzen und anderen Gewerken aus dem romanischen und später gotischen Kirchenbau gegründet, war die Bauhütte auch Lagerstelle, Werkstatt und Ausbildungsort d.h. sozialer Ort. Die Bauhütte zu heutiger Zeit kann also ein Ort der Begegnung und des Lernens sein. Zurückgebaute Baustoffe und -teile aus der Siedlung können hier gelagert und aufgearbeitet werden, bevor sie an anderer Stelle wieder zum Einsatz kommen. Fachkräfte können Bewohnende in den Prozess der Wiederverwertung einbinden. Einbezug und Verantwortlichkeit der Bewohnenden stärkt neben dem Gefühl der Teilnahme und Identifikation mit der Siedlung und dem Geschaffenen auch das Pflichtbewusstsein bzgl. der Pflege des Bestands.
A70
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Werkplatz mit aufgebänkten Werksteinen in Frankreich um 1770.
Abläufe in der Laimer Bauhütte
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Situationsplan
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Dichte Raumfolgen
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PROGRAMM Das Konzept und die Haltung für das neue Thomas-Wimmer-Haus sollen auch für die SIedlung Alte Heimat gelten. Die Siedlung soll durch Neubauten und Erweiterungen vor allem strukturiert und die großzügigen Grünabstände nutzbar gemacht werden. Die baulichen Erweiterungen stehen in direkt Kontakt zu den Bestandsgebäuden, sind parkseitig räumliche Erweiterungen und quartiersseitig vor allem nutzungsneutrale weiße Häuser. Diese können ein erweitertes Wohnangebot beinhalten, welche der Bestand trotz Sanierung nicht anbieten kann, sowie (simultan zum Thomas-Wimmer-Haus) öffentliche Nutzungen wie Cafés, Versammlungs-, Quartiers- oder Seminarräume, Hofläden und Kiosks, Werkräume, Werkstätten, Fotolabore, Ateliers, Musik- und Lernzimmer und Fitnessund Gymnastikräume.
Gesamtansicht der Siedlung Alte Heimat
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Flächenzuweisung Neubau
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STRUKTUR UND DURCHWEGUNG Für die Neubauten sollen Flächen im Quartier vorgschlagen und festgelegt werden, die die Setzung des Bestands respektieren aber neue und dichtere Raumfolgen generieren. Unter Respekt des Baumbestands wird jedoch nur dort ein Neubau entstehen, wo kein erhaltenswerter Baum steht. So entwickelt sich eine Spannung zwischen Bestandsgebäuden, erweiternden Gebäuden und Baumbestand.
Die Schaffung von zwei neuen Querverbindungen entlang der Siedlungsaußenkante soll veränderungen im Umfeld und einen erhöhten Personenverkehr aufnehmen und gezielt ins Quartier lenken. Das Thomas-Wimmer-Haus wird stärker eingebunden, die künftigen Nutzungen präsenter für die umliegende Nachbarschaft.
Infrastruktur Neue Mobilität Flächen für mögliche geteilte Tiefgaragen zur Ordnung des ruhenden Verkehr
Anbindung Öffentlicher Nahverkehr U-Bahn, Straßenbahn Park and Ride Fahrradstation
Anbindung Neue Mobilität Radschnellverbindung München
Infrastruktur Neue Mobilität Park and Ride Fahrradstation und PKW - Ladestationen
Anbindung Öffentlicher Nahverkehr Bus Park and Ride Fahrradstation
Raumbildung und Mobiltät
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Der Raum unter Bäumen ist ein athmosphärischer Ort. Eine schützende Krone, ein massiver Stamm. Oben dicht und verschlossen, unten weitläufig und offen. Bezugsorte und Treffpunkte.
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A76
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NEUES RÄUMLICHES ANGEBOT Die Erweiterungsbauten in der Siedlung sollen im Erdgeschoss den Charakter der bestehenden Situation erhalten. Sie sind offen gestaltte und ermöglichen den Sichtkontakt durch das Grün hindurch. Lediglich Baumstämme, Holzstützen oder Pavillions verdecken die Sicht.
Städtebauliche Entwicklung
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Die Obergeschosse sind weitestgehend an die bestehenden Treppenhäuser über Brücken angeschlossen. So wird die Hausgemeinschaft direkt mit dem neuen Angebot verlinkt. Die städtebauliche Setzung verringert die Abstände zwischen den Gebäuden um ein gesundes Maß. Zwischenräume zur bewussten Nutzung entstehen.
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Querschnitt rückwärtiger Quartiersteil
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Querschnitt repräsentativerer Quartiersteil
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BAUTEILE UND GESTALTUNGSELEMENTE II Die Bauhütte liegt in unmittelbarer Umgebung zum Thomas-Wimmer-Haus, hat aber eine größere Strahlkraft. In verschiedenen Teilen des Quartiers können erste Lager und Aufenthaltsorte entstehen, diese können sich etablieren und zu festen Treffpunkten im Quartier werden. Zur Unterstützung muss es räumlich strukturierende Elemente geben, die diesen Prozess gestalten. In verschiedenen Maßstäben greifen verschiedene Elemente. Jeder Sprung in einen neuen Maßstab spiegelt das voranschreitende Etablieren des Ortes im kollektiven verständnis wider.
Gestaltungselementübersicht
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Das neue Wohnen in Alter Heimat zeigt sich durch die Rücksichtnahme der vor Ort eingelebten Bewohner:innenschaft und den Einbezug einer neuen Generation wohnender Menschen mit neuen Ansprüchen an ihre direkte Umgebung. Abwechslung, Identifikation und Teilhabe im Einklang mit dem Gebäude- sowie Baumbestand sollen den Weg ebnen für das nächste halbe Jahrhundert.
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A85
Le Corbusier hat 1946 diesen Vorschlag zur Erneuerung der Städte in 4 Phasen gemacht. Auf radikale Art und Weise möchte er das gründerzeitliche Stadtgefüge und seine Korridorstraßen abreißen und ein aufgelockertes, offenes Stadtbild entstehen lassen. Zwar nicht durch Abriss, sondern durch Krieg kam es zu einem großflächigen Verlust an gründerzeitlicher Substanz und in der Folge
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wurde nach dem beschriebenen Leitbild viele Städte und deren Siedlungen konzipiert. Ich schlage nun eine fünfte Phase vor, die den neuen Bestand aufnimmt, diesen an die heute notwendige Dichte und Körnung anpasst und Gebäude durch kollektive Nutzungen ergänzt und sie dem öffentlichen Leben wie dem menschlichen Maßstab zurückgibt.
Neues Wohnen in Alter Heimat „Il faut tuer la rue - corri dor!“
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Verzeichnis LITERATUR Butterfield, Hester / Pereira, Bettina (Hg.): Neue Alte Heimat: Porträt einer sozialen Siedlung. München: Books On Demand, 2017. Durth, Werner: „Vom Überleben. Zwischen Totalem Krieg und Währungsreform“ In: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens 5. Von 1945 bis heute. Aufbau - Neubau - Umbau. Ludwigsburg, Stuttgart: Wüstenrot Stiftung und Deutsche Verlags-Anstalt, 1999. S. 17 - 80. Giedion, Siegfried: Befreites Wohnen. Zürich, Leipzig: Orell Füssli Verlag, 1929. Heinelt, Hubert / Egner, Björn: Wohnungspolitik – von der Wohnraumzwangsbewirtschaftung zur Wohnungsmarktpolitik. In: Schmidt, Manfred / Zohlhöfer, Reimut (Hg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. S. 203– 220. Krause, Leo (Hg.): Münchner Geschosssiedlungen der 50er Jahre. Ein Forschungsbeitrag zum Wohnungsbau in der Bundesrepublik Deutschland. München: Uni-Dr. [in Komm.], 1991. Lepik, Andres / Strobl, Hilde (Hg.): Die Neue Heimat. (1950-1982): eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten. München: DETAIL Business Information GmbH, 2019. Nägeli, Walter / Tajeri, Niloufar (Hg.): Kleine Eingriffe: Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne. Basel: Birkhäuser, 2016. Petsch, Joachim: „Zum Wohnungsbau der 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschand“ In: Hochschule Weimar (Hg.). Wissenschaftliche Zeitschrift. Weimar: 1983. S. 394 - 399. Schmid, Susanne / Eberle, Dietmar / Hugentobler, Margrit (Hg.): Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens: Modelle des Zusammenlebens. Basel: Birkhäuser, 2019. Schröteler-von-Brandt, Hildegard: „Städtebau und Wohnungsbau der Nachkriegszeit (19451960)“ In: Schröteler-von-Brandt, Hildegard (Hg.). Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2014. Simon-Philipp, Christina / Hopfner, Karin (Hg.): Das Wohnungsbauerbe der 1950er bis 1970er Jahre. Perspektiven und Handlungsoptionen für Wohnquartiere. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung, 2013. Toppstedt, Thomas: „Wohnen und Städtebau in der DDR“ In: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens 5. Von 1945 bis heute. Aufbau - Neubau - Umbau. Ludwigsburg, Stuttgart: Wüstenrot Stiftung und Deutsche Verlags-Anstalt, 1999. S. 419 - 562. Von Beyme, Klaus: „Wohnen und Politik“ In: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens 5. Von 1945 bis heute. Aufbau - Neubau - Umbau. Ludwigsburg, Stuttgart: Wüstenrot Stiftung und Deutsche Verlags-Anstalt, 1999. S. 81 - 152.
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ABBILDUNGEN A1 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 A10 A11 A12 A13 A14 A15 A16 A38 A43 A61 A62 A63 A65 A66 A67 A70 A85
Leppert, Quirin: o.T., Siedlung Alte Heimat, 2018. N.N.: Nissenhütten in Hamburg, 1946. Krause, Leo: Monatliches Brutto-Haushaltseinkommen, 1991. Section du Plan: Werbung für die Forderungen der Charta von Athen, 1947. Schwagenscheidt, Walter: Die Raumstadt, 1949. N.N.: Wohnungsbausiedlungen in Nürnberg, 1966. Bergemann, Sibylle: Spaziergang im Volkspark Prenzlauer Berg, Berlin, 1978. N.N.: Ungelaufene Postkarte von Hoyerswerda-Neustadt, Wohnkomplex 8, 1977. Fourier, Charles: Plan du Phalanstère, 1829. N.N.: o.T., schematische Schnittzeichnung, 1829. Fourier, Charles: o.T., Skizze der Phalanstère, 1829. Godin, Jean Baptiste André: Innenhof der Familistère de Guise, um 1860. N.N.: schematische Schnittzeichnung des Hauptgebäudes mit Innenhof, o.J. Hotta, Sadao / Yasuaki, Morinaka: o.T., House For Seven People, 2013. Leppert, Quirin: o.T., Siedlung Alte Heimat, 2018. Zwarts, Kim: o.T., Appartement Rue Raynouard - Auguste Perret, 2019. s. A13 Fuchsberger, D.: Hauptbahnhof München, 1960. Heidersberger, Heinrich: o.T., Außenansicht Osram Zentralverwaltung, 1965. N.N.: o.T,, Außenansicht Holiday Inn Schwabing, o.J. Heissner, Oliver: Amalienstraße 14 - 16, 2017. Heissner, Oliver: Ainmillerstraße 31, 2017. Heissner, Oliver: Theresienstraße Ecke Türkenstraße, 2017. Diderot / d‘Alembert: Werkplatz mit aufgebänkten Werksteinen in Frankreich, um 1770. Le Corbusier: A process of urban renewal in four stages, 1946.
Alle weiteren Abbildungen Hölzel, Adrian: Titel nach Bildunterschrift, 2022.
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EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit eigenständig verfasst, keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen verwendet und diese nicht bereits für anderweitige Prüfungszwecke vorgelegt habe.
Adrian Hölzel München, den 04.07.2022