Meret Oppenheim

Page 1


Inhaltsverzeichnis

S. 7

Einleitung

S. 13

«Wer riskierts, wer probierts noch mal!» Von der Kindheit bis zum roten Hasen

S. 33

Pariser Freundschaften Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

S. 53

«Das Paradies ist unter der Erde» Krise und Neuanfang

S. 73

Thomas Hirschhorn Meret Oppenheim-Kiosk

S. 89

«Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich» Text-Bild-Verhältnisse in den Werken von Meret Oppenheim

S. 109

«C’est pour la nouvelle magie» Naturbezüge im Werk von Meret Oppenheim

S. 129

«Pelz, oder sonst ein bauschiges, dunkles Gespinst» Meret Oppenheims Reisen in die angewandte Kunst

S. 149

«Die Idee erscheint schon im Kleide ihrer Form» Meret Oppenheims Verwendung von Materialien

S. 169

«Ich muß die schwarzen Worte der Schwäne aufschreiben» Vögel und Vogelflug in Bildern und Texten von Meret Oppenheim

S. 189

Geheimnisse Einige Gedankenfäden zum Weiterspinnen

S. 209

Meret Oppenheim (1913–1985)

S. 221

Literaturempfehlungen Namensregister Impressum, Bildnachweis, Dank


Inhaltsverzeichnis

S. 7

Einleitung

S. 13

«Wer riskierts, wer probierts noch mal!» Von der Kindheit bis zum roten Hasen

S. 33

Pariser Freundschaften Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

S. 53

«Das Paradies ist unter der Erde» Krise und Neuanfang

S. 73

Thomas Hirschhorn Meret Oppenheim-Kiosk

S. 89

«Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich» Text-Bild-Verhältnisse in den Werken von Meret Oppenheim

S. 109

«C’est pour la nouvelle magie» Naturbezüge im Werk von Meret Oppenheim

S. 129

«Pelz, oder sonst ein bauschiges, dunkles Gespinst» Meret Oppenheims Reisen in die angewandte Kunst

S. 149

«Die Idee erscheint schon im Kleide ihrer Form» Meret Oppenheims Verwendung von Materialien

S. 169

«Ich muß die schwarzen Worte der Schwäne aufschreiben» Vögel und Vogelflug in Bildern und Texten von Meret Oppenheim

S. 189

Geheimnisse Einige Gedankenfäden zum Weiterspinnen

S. 209

Meret Oppenheim (1913–1985)

S. 221

Literaturempfehlungen Namensregister Impressum, Bildnachweis, Dank


Einleitung

1913 war ein ereignisreiches Jahr, in dem sich ein «Moment höchster Blüte und zugleich ein Hochamt des Untergangs»1 unvergleichlich miteinander vereinten. Im Herbst, der dem Sommer des Jahrhunderts, so der Untertitel von Florian Illies’ Bestseller 1913, folgte, genauer am 6. Oktober, kam Meret Oppenheim in Charlottenburg bei Berlin zur Welt. Schon kurz darauf wurde Europa vom grossen Sterben erfasst und geriet 20 Jahre später vollends aus den Fugen. Auch Meret Oppenheim sollte in Paris schmerzlich erfahren, wie sich die alte Ordnung auflöste und etwas Unwiederbringliches verloren ging. Ihre künstlerischen Anfänge waren geprägt von diesem Umbruch, und in ihrem Gesamtwerk zeigt sich jene Verwandlung, die das eben erwachsen gewordene 20. Jahrhundert unfreiwillig durchmachte. Die junge Meret Oppenheim tobte sich aus, tat, was sie wollte, verkehrte in der mondänen Welt der Pariser Cafés, traf sich mit Künstlern, Musikern und Autoren und unterhielt zahlreiche Liebschaften. Die berühmten Fotos, die Man Ray von ihr an der Druckerpresse machte, wirken wie eine Befreiung von starren Konventionen. «Für dich – wider dich / Wirf alle Steine hinter dich / Und lass die Wände los. […] ICH weide meine Pilze aus / ICH bin der erste Gast im Haus / Und lass die Wände los»2 heisst es in einem Gedicht von 1934, das zeigt, wie selbstbestimmt sie bereits mit 21 Jahren agierte. Meret Oppenheim revolutionierte die Kunst. Sie spielte mit allem, was ihr zufiel, brachte Dinge zusammen, die zwar an die Readymades Marcel Duchamps erinnern, doch ihren Gebrauchscharakter durch absurde Kombinationen obsolet werden lassen: Zwei Stöckelschuhe wurden in Ma gouvernante – My Nurse – Mein Kindermädchen zusammengebunden auf einem Silbertablett serviert, zwei Schnürstiefel an ihren Spitzen zusammengeklebt und eine Kaffeetasse, ein Teller und ein Löffel mit dem Fell einer chinesischen Gazelle umwickelt. Dass Meret Oppenheim so zu einer Ikone des Surrealismus wurde und 1936 mit der Pelztasse ihr bekanntestes Objekt schuf, war ihr zu diesem Zeitpunkt vollkommen gleichgültig. Einige Monate später war sie zurück in Basel. Ihre erste Einzelausstellung in einer Basler Galerie hatte

6|7


Einleitung

1913 war ein ereignisreiches Jahr, in dem sich ein «Moment höchster Blüte und zugleich ein Hochamt des Untergangs»1 unvergleichlich miteinander vereinten. Im Herbst, der dem Sommer des Jahrhunderts, so der Untertitel von Florian Illies’ Bestseller 1913, folgte, genauer am 6. Oktober, kam Meret Oppenheim in Charlottenburg bei Berlin zur Welt. Schon kurz darauf wurde Europa vom grossen Sterben erfasst und geriet 20 Jahre später vollends aus den Fugen. Auch Meret Oppenheim sollte in Paris schmerzlich erfahren, wie sich die alte Ordnung auflöste und etwas Unwiederbringliches verloren ging. Ihre künstlerischen Anfänge waren geprägt von diesem Umbruch, und in ihrem Gesamtwerk zeigt sich jene Verwandlung, die das eben erwachsen gewordene 20. Jahrhundert unfreiwillig durchmachte. Die junge Meret Oppenheim tobte sich aus, tat, was sie wollte, verkehrte in der mondänen Welt der Pariser Cafés, traf sich mit Künstlern, Musikern und Autoren und unterhielt zahlreiche Liebschaften. Die berühmten Fotos, die Man Ray von ihr an der Druckerpresse machte, wirken wie eine Befreiung von starren Konventionen. «Für dich – wider dich / Wirf alle Steine hinter dich / Und lass die Wände los. […] ICH weide meine Pilze aus / ICH bin der erste Gast im Haus / Und lass die Wände los»2 heisst es in einem Gedicht von 1934, das zeigt, wie selbstbestimmt sie bereits mit 21 Jahren agierte. Meret Oppenheim revolutionierte die Kunst. Sie spielte mit allem, was ihr zufiel, brachte Dinge zusammen, die zwar an die Readymades Marcel Duchamps erinnern, doch ihren Gebrauchscharakter durch absurde Kombinationen obsolet werden lassen: Zwei Stöckelschuhe wurden in Ma gouvernante – My Nurse – Mein Kindermädchen zusammengebunden auf einem Silbertablett serviert, zwei Schnürstiefel an ihren Spitzen zusammengeklebt und eine Kaffeetasse, ein Teller und ein Löffel mit dem Fell einer chinesischen Gazelle umwickelt. Dass Meret Oppenheim so zu einer Ikone des Surrealismus wurde und 1936 mit der Pelztasse ihr bekanntestes Objekt schuf, war ihr zu diesem Zeitpunkt vollkommen gleichgültig. Einige Monate später war sie zurück in Basel. Ihre erste Einzelausstellung in einer Basler Galerie hatte

6|7


«Wer riskierts, wer probierts noch mal!»1 Von der Kindheit bis zum roten Hasen

«Ich halte einen grossen blauen Enzian gegen die untergehende Sonne. Die Blume verwandelt sich in ein Glas mit rotem Wein und strahlt wunderbar.» Meret Oppenheim, Traumnotiz, 19292 Vieles von dem, was Meret Oppenheim später in Kunst verwandeln sollte, war in ihrer Kindheit und Jugend bereits angelegt. Während ihr Grossvater Theo Wenger als Messerfabrikant in Delémont arbeitete, war ihre Grossmutter Lisa Wenger eine Künstlerin und Autorin. Sie nahm bei Hans Sandreuter, einem Schweizer Maler des Symbolismus und des Fin de Siècle, in Basel Malunterricht und absolvierte später ein Kunststudium in Paris und Florenz sowie an der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre zahlreichen Kinderbücher, die sie mit eigenen Illustrationen versah — 1908 erschien Joggeli söll ga Birli schüttle!, das bis heute immer wieder neu aufgelegt wird —, zeigen eine eigenständige Variante des Jugendstils, in den sie folkloristische Elemente integrierte (Abb. 1). Ihre Illustrationen erinnern zudem an den Pionier des Künstlerkinderbuchs Ernst Kreidolf und stehen ihm in der verknüpfenden Darstellung 1

14 | 15


«Wer riskierts, wer probierts noch mal!»1 Von der Kindheit bis zum roten Hasen

«Ich halte einen grossen blauen Enzian gegen die untergehende Sonne. Die Blume verwandelt sich in ein Glas mit rotem Wein und strahlt wunderbar.» Meret Oppenheim, Traumnotiz, 19292 Vieles von dem, was Meret Oppenheim später in Kunst verwandeln sollte, war in ihrer Kindheit und Jugend bereits angelegt. Während ihr Grossvater Theo Wenger als Messerfabrikant in Delémont arbeitete, war ihre Grossmutter Lisa Wenger eine Künstlerin und Autorin. Sie nahm bei Hans Sandreuter, einem Schweizer Maler des Symbolismus und des Fin de Siècle, in Basel Malunterricht und absolvierte später ein Kunststudium in Paris und Florenz sowie an der Kunstakademie Düsseldorf. Ihre zahlreichen Kinderbücher, die sie mit eigenen Illustrationen versah — 1908 erschien Joggeli söll ga Birli schüttle!, das bis heute immer wieder neu aufgelegt wird —, zeigen eine eigenständige Variante des Jugendstils, in den sie folkloristische Elemente integrierte (Abb. 1). Ihre Illustrationen erinnern zudem an den Pionier des Künstlerkinderbuchs Ernst Kreidolf und stehen ihm in der verknüpfenden Darstellung 1

14 | 15


Von der Kindheit bis zum roten Hasen

2 3

Der Vater schob vorsichtig einen der Vorhänge beiseite, das bleiche Licht des Regentages kam herein, und Pierre versuchte aufzusitzen und Bilder anzusehen. Es schien ihm keine Schmerzen zu machen, aufmerksam betrachtete er mehrere Blätter und begrüßte die lieben Bilder mit kleinen Ausrufen der Freude. [...] Er ließ sich zurücklegen und bat den Papa, ihm ein paar von den Versen vorzulesen, vor allem von dem kriechenden Günsel, der zum Apotheker Gundermann kommt: ‹O Apotheker Gundermann, O helft mir doch mit Salben! Ihr seht, wie schlecht ich gehen kann, Es reißt mich allenthalben!›»3

1 2 3

Illustration aus Lisa Wengers Buch Joggeli söll ga Birli schüttle!, Muri bei Bern: Cosmos Verlag, o. J. [1908] Lisa Wenger, Ohne Titel (Blumen), o. J., Aquarell, 34 × 25 cm Lisa Wenger, Ohne Titel (Blumen), o. J., Aquarell, 34 × 25 cm

1. Kapitel

menschlicher Handlungen mit der Welt der Fantasie in nichts nach. Dass Ernst Kreidolf ein akribischer Beobachter der Natur war, illustrieren seine Gemälde und Märchenbilder. Auch Lisa Wenger orientierte sich an der Realität, wie ihre Blumenaquarelle zeigen, die bis heute weitgehend unbekannt sind (Abb. 2, 3). Man kann davon ausgehen, dass sich Lisa Wenger und Ernst Kreidolf kannten. Vermutlich kamen sie über den Schriftsteller und Journalisten Joseph Victor Widmann in Kontakt, der wie Ernst Kreidolf in Albert Weltis Haus in Melchenbühl bei Bern verkehrte und mit dem Lisa Wenger korrespondierte. Joseph Victor Widmann, der bereits 1884 das Frauenstimmrecht in der Schweiz propagierte, ist heute vor allem wegen seiner Feuilletons bekannt. 1897 erschien seine Maikäfer-Komödie, die den Märchenbüchern Ernst Kreidolfs durchaus verwandt ist und sich ähnlich wie Maurice Maeterlincks vier Jahre später erschienenes Buch über Bienen und Bienenzucht La vie des abeilles mit dem tieferen Sinn des Gemeinwesens und seinen Gesetzen befasst. Vielleicht stellte auch Hermann Hesse den Kontakt her. Bereits 1908 hatte er Ernst Kreidolfs Kinderbücher in der Neuen Zürcher Zeitung besprochen und erwies ihm 1914 in seinem Roman Rosshalde eine besondere Reverenz. In einer Szene mit dem kranken Sohn Pierre zitiert er Ernst Kreidolf in Bild und Text: «Dann verlangte er nach seinem Lieblingsbilderbuch.

«Wer riskierts, wer probierts noch mal!»

Ein Sommermärchen Um 1918 revanchierte sich Ernst Kreidolf und machte Hermann Hesse im Tessin mit der Aquarellmalerei bekannt. Zur selben Zeit verbrachte die Familie Wenger den Sommer in der Casa Costanza, dem 1917 erworbenen Sommersitz in Carona, ganz in der Nähe von Hermann Hesses damaligem Wohnort.4 Lisa und Theo Wenger führten hier ein offenes Haus, in dem Künstler und Schriftsteller wie Paul Basilius Barth, Cuno Amiet, Lisa Tetzner und ihr Mann Kurt Held, Hugo Ball, Emmy Hennings und Hermann Hesse verkehrten. Letzterer war einige Jahre, bis 1927, mit Meret Oppenheims Tante Ruth verheiratet. Ernst Kreidolfs Kontakt zu Lisa Wenger erscheint deshalb als so wichtig, weil er sich nachhaltig auf ihre Enkelin Meret Oppenheim auswirkte. Das spiegelt sich in zahlreichen Werken wider, beispielsweise in Hornisse und Hummel (Abb. 4). Meret Oppenheim schreibt dazu: «Dieses Bild hatte ich für Wolfgang gemacht. Er sagte von mir, ich sei eine böse Hornisse, die nur ans Essen denke, er hingegen sei eine liebe Hummel!»5 Vermenschlichte Tierfiguren finden sich auch in der Edition der Parapapillonneries, die sechs lithografierte Blätter und Texte von André Pieyre de Mandiargues enthält, der mit Meret Oppenheim befreundet war (Abb. 5). Ihm schickte sie am 3. Oktober 1957 eine Postkarte, auf der rückseitig Ernst Kreidolfs Aufforderung zum Tanz abgebildet ist. Ernst Kreidolfs Märchen können also ebenso als Inspirationsquelle gedient haben wie die zwischen 1756 und 1760 von

16 | 17


Von der Kindheit bis zum roten Hasen

2 3

Der Vater schob vorsichtig einen der Vorhänge beiseite, das bleiche Licht des Regentages kam herein, und Pierre versuchte aufzusitzen und Bilder anzusehen. Es schien ihm keine Schmerzen zu machen, aufmerksam betrachtete er mehrere Blätter und begrüßte die lieben Bilder mit kleinen Ausrufen der Freude. [...] Er ließ sich zurücklegen und bat den Papa, ihm ein paar von den Versen vorzulesen, vor allem von dem kriechenden Günsel, der zum Apotheker Gundermann kommt: ‹O Apotheker Gundermann, O helft mir doch mit Salben! Ihr seht, wie schlecht ich gehen kann, Es reißt mich allenthalben!›»3

1 2 3

Illustration aus Lisa Wengers Buch Joggeli söll ga Birli schüttle!, Muri bei Bern: Cosmos Verlag, o. J. [1908] Lisa Wenger, Ohne Titel (Blumen), o. J., Aquarell, 34 × 25 cm Lisa Wenger, Ohne Titel (Blumen), o. J., Aquarell, 34 × 25 cm

1. Kapitel

menschlicher Handlungen mit der Welt der Fantasie in nichts nach. Dass Ernst Kreidolf ein akribischer Beobachter der Natur war, illustrieren seine Gemälde und Märchenbilder. Auch Lisa Wenger orientierte sich an der Realität, wie ihre Blumenaquarelle zeigen, die bis heute weitgehend unbekannt sind (Abb. 2, 3). Man kann davon ausgehen, dass sich Lisa Wenger und Ernst Kreidolf kannten. Vermutlich kamen sie über den Schriftsteller und Journalisten Joseph Victor Widmann in Kontakt, der wie Ernst Kreidolf in Albert Weltis Haus in Melchenbühl bei Bern verkehrte und mit dem Lisa Wenger korrespondierte. Joseph Victor Widmann, der bereits 1884 das Frauenstimmrecht in der Schweiz propagierte, ist heute vor allem wegen seiner Feuilletons bekannt. 1897 erschien seine Maikäfer-Komödie, die den Märchenbüchern Ernst Kreidolfs durchaus verwandt ist und sich ähnlich wie Maurice Maeterlincks vier Jahre später erschienenes Buch über Bienen und Bienenzucht La vie des abeilles mit dem tieferen Sinn des Gemeinwesens und seinen Gesetzen befasst. Vielleicht stellte auch Hermann Hesse den Kontakt her. Bereits 1908 hatte er Ernst Kreidolfs Kinderbücher in der Neuen Zürcher Zeitung besprochen und erwies ihm 1914 in seinem Roman Rosshalde eine besondere Reverenz. In einer Szene mit dem kranken Sohn Pierre zitiert er Ernst Kreidolf in Bild und Text: «Dann verlangte er nach seinem Lieblingsbilderbuch.

«Wer riskierts, wer probierts noch mal!»

Ein Sommermärchen Um 1918 revanchierte sich Ernst Kreidolf und machte Hermann Hesse im Tessin mit der Aquarellmalerei bekannt. Zur selben Zeit verbrachte die Familie Wenger den Sommer in der Casa Costanza, dem 1917 erworbenen Sommersitz in Carona, ganz in der Nähe von Hermann Hesses damaligem Wohnort.4 Lisa und Theo Wenger führten hier ein offenes Haus, in dem Künstler und Schriftsteller wie Paul Basilius Barth, Cuno Amiet, Lisa Tetzner und ihr Mann Kurt Held, Hugo Ball, Emmy Hennings und Hermann Hesse verkehrten. Letzterer war einige Jahre, bis 1927, mit Meret Oppenheims Tante Ruth verheiratet. Ernst Kreidolfs Kontakt zu Lisa Wenger erscheint deshalb als so wichtig, weil er sich nachhaltig auf ihre Enkelin Meret Oppenheim auswirkte. Das spiegelt sich in zahlreichen Werken wider, beispielsweise in Hornisse und Hummel (Abb. 4). Meret Oppenheim schreibt dazu: «Dieses Bild hatte ich für Wolfgang gemacht. Er sagte von mir, ich sei eine böse Hornisse, die nur ans Essen denke, er hingegen sei eine liebe Hummel!»5 Vermenschlichte Tierfiguren finden sich auch in der Edition der Parapapillonneries, die sechs lithografierte Blätter und Texte von André Pieyre de Mandiargues enthält, der mit Meret Oppenheim befreundet war (Abb. 5). Ihm schickte sie am 3. Oktober 1957 eine Postkarte, auf der rückseitig Ernst Kreidolfs Aufforderung zum Tanz abgebildet ist. Ernst Kreidolfs Märchen können also ebenso als Inspirationsquelle gedient haben wie die zwischen 1756 und 1760 von

16 | 17


Pariser Freundschaften Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

Mit ihrer Freundin Irène Zurkinden reiste Meret Oppenheim im Frühjahr 1932 zum ersten Mal nach Paris. Auf der Bahnfahrt sollen sie sich, so die Legende, einen Pernod-Rausch angetrunken haben, und kaum angekommen gingen sie sofort ins Café du Dôme, das damals ein wichtiger Künstlertreffpunkt war. Sporadisch besuchte Meret Oppenheim die Académie de la Grande Chaumière, zog es aber vor, zuhause und in den Kaffeehäusern zu arbeiten. Dort entstanden auch erste Gedichte. Hier eines ihrer schönsten: «Für dich – wider dich Wirf alle Steine hinter dich Und lass die Wände los. An dich – auf dich Für hundert Sänger über sich Die Hufe reissen los. ICH weide meine Pilze aus ICH bin der erste Gast im Haus Und lass die Wände los.»1 Von Ferne klingt darin noch Rainer Maria Rilkes Herbsttag nach. Vermutlich wusste Meret Oppenheim von ihren Basler Künstlerfreunden, dass dieser 1920 im Atelier von Niklaus Stoecklin in Kleinbasel, nur wenige Schritte vom Haus ihrer Grossmutter entfernt, aus seinen Texten gelesen und anschliessend mit einigen Eingeweihten das «Tischleinrücken» versucht hatte.2

34 | 35


Pariser Freundschaften Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

Mit ihrer Freundin Irène Zurkinden reiste Meret Oppenheim im Frühjahr 1932 zum ersten Mal nach Paris. Auf der Bahnfahrt sollen sie sich, so die Legende, einen Pernod-Rausch angetrunken haben, und kaum angekommen gingen sie sofort ins Café du Dôme, das damals ein wichtiger Künstlertreffpunkt war. Sporadisch besuchte Meret Oppenheim die Académie de la Grande Chaumière, zog es aber vor, zuhause und in den Kaffeehäusern zu arbeiten. Dort entstanden auch erste Gedichte. Hier eines ihrer schönsten: «Für dich – wider dich Wirf alle Steine hinter dich Und lass die Wände los. An dich – auf dich Für hundert Sänger über sich Die Hufe reissen los. ICH weide meine Pilze aus ICH bin der erste Gast im Haus Und lass die Wände los.»1 Von Ferne klingt darin noch Rainer Maria Rilkes Herbsttag nach. Vermutlich wusste Meret Oppenheim von ihren Basler Künstlerfreunden, dass dieser 1920 im Atelier von Niklaus Stoecklin in Kleinbasel, nur wenige Schritte vom Haus ihrer Grossmutter entfernt, aus seinen Texten gelesen und anschliessend mit einigen Eingeweihten das «Tischleinrücken» versucht hatte.2

34 | 35


Einen ersten Kontakt hatte die junge Künstlerin in Paris zu Alberto Giacometti, als dieser an seinen surrealistischen Objekten arbeitete. Meret Oppenheim suchte ihn hin und wieder im Atelier auf, wo sie stundenlang blieb und eines Tages Das Ohr von Giacometti zeichnete.3 Seine Arbeiten beeindruckten sie sehr, und ihrer Mutter schrieb sie vielsagend: «Ich habe ein Modell für ein Haus (und, mit einem Hof innen, alle Zimmer nach innen, u. eine Mauer drum) gemacht u. ein Ohr in Wachs geschnitten, so etwa. Jetzt geht wie [sic!] mir in jeder Beziehung wieder besser.»4 Am rechten Rand des Briefes findet sich eine kleine Skizze dieses Hauses (Abb. 13). Der Grundriss erinnert an Alberto Giacomettis Projet pour un passage (modèle) von 1930/31 (Abb. 14).

Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

Alberto Giacometti

Pariser Freundschaften

13

2. Kapitel

14

13 14

Ausschnitt aus einem Brief von Meret Oppenheim an Eva Oppenheim, 7. März 1933, mit einer Skizze des Modells für ein Haus Alberto Giacometti, Projet pour un passage (modèle), 1930/31, Gips, 16 × 126 × 42 cm, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, 1965

Beide Modelle zeigen eine introvertierte Architektur. Bei Alberto Giacometti ist es eine Passage, die je nach eingeschlagener Richtung in einer Röhre oder einem Innenhof endet, bei Meret Oppenheim ein Innenhof mit Überraschungen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Überhaupt schuf Meret Oppenheim in dieser Zeit zahlreiche Objekte, aber auch Gemälde, die an die frühe Bildsprache Alberto Giacomettis erinnern. Verwiesen sei auf Grundriss für «Urzeit-Venus» (Abb. 15) und Modell für «Urzeit-Venus» (Abb. 16), an Kopf eines Ertrunkenen, dritter Zustand (Abb. 17) oder die Collage Spaziergänger hinter Zaun (Abb. 18). Bei den letzten beiden Werken lässt sich auch eine Verwandtschaft zu Arbeiten von Hans Arp ausmachen (Abb. 19). Es handelt sich dabei um Verwandtschaften in Geist und Form, wobei aber zu bezweifeln ist, dass Meret Oppenheim sich wesentlich von den Werken ihrer Freunde beeinflussen liess, wie bereits Bice Curiger festgestellt hat: «Mit schöpferischer Verspieltheit gewinnt die junge Meret Oppenheim schon damals grösstmögliche Unabhängigkeit. Die hochkarätigen Impulse, die ihr in dieser Zeit zuteil werden, nimmt sie in einer ganz spezifischen Weise auf. Wer aber aus den Daten der Biographie Meret Oppenheims entnehmen will, wohin und zu wem die Kontakte sie in dieser Zeit führen, und wer dies gleichsetzt mit einer prägenden Einflussnahme, verkennt einen Grundzug ihrer Kreativität. Denn Meret Oppenheim erfährt in dieser Pariser Zeit künstlerische Beeinflussung vor allem in Form einer Bestätigung ihrer Lebenshaltung.»5 Gleichwohl traten Zeichnung und Malerei zugunsten der Plastik in den Hintergrund, so als habe sie im Atelier von Alberto Giacometti neue künstlerische Mittel entdeckt. Es entstanden in dieser Zeit zwar Zeichnungen, doch lassen sich in ihnen eher Ideenskizzen für Objekte erkennen. Die konzeptionelle Zäsur zwischen den unterschiedlichen Medien ermöglichte es Meret Oppenheim, Abstand zu gewinnen und eine bewusste Differenz zwischen einer Idee und der Ausführung, zwischen einem Gedanken und einer Form, zwischen Traum und Wirklichkeit, die sie nie als widerstreitende Kräfte empfand, zu markieren und dabei weder literarisch noch traumillustrativ zu werden. Ihren Werken gemeinsam sind ihre sinnliche Direktheit und emotionale Struktur. Das unterscheidet sie auch von ihren Freunden der Pariser Zeit. Stilfragen standen nicht im Vordergrund, sie interessierten sie kaum. Wesentlicher ist: «Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form. Ich realisiere die Ideen, wie sie mir in den Kopf kommen. Man weiss nicht, woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit

36 | 37


Einen ersten Kontakt hatte die junge Künstlerin in Paris zu Alberto Giacometti, als dieser an seinen surrealistischen Objekten arbeitete. Meret Oppenheim suchte ihn hin und wieder im Atelier auf, wo sie stundenlang blieb und eines Tages Das Ohr von Giacometti zeichnete.3 Seine Arbeiten beeindruckten sie sehr, und ihrer Mutter schrieb sie vielsagend: «Ich habe ein Modell für ein Haus (und, mit einem Hof innen, alle Zimmer nach innen, u. eine Mauer drum) gemacht u. ein Ohr in Wachs geschnitten, so etwa. Jetzt geht wie [sic!] mir in jeder Beziehung wieder besser.»4 Am rechten Rand des Briefes findet sich eine kleine Skizze dieses Hauses (Abb. 13). Der Grundriss erinnert an Alberto Giacomettis Projet pour un passage (modèle) von 1930/31 (Abb. 14).

Meret Oppenheims Kontakte zu den Surrealisten

Alberto Giacometti

Pariser Freundschaften

13

2. Kapitel

14

13 14

Ausschnitt aus einem Brief von Meret Oppenheim an Eva Oppenheim, 7. März 1933, mit einer Skizze des Modells für ein Haus Alberto Giacometti, Projet pour un passage (modèle), 1930/31, Gips, 16 × 126 × 42 cm, Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, 1965

Beide Modelle zeigen eine introvertierte Architektur. Bei Alberto Giacometti ist es eine Passage, die je nach eingeschlagener Richtung in einer Röhre oder einem Innenhof endet, bei Meret Oppenheim ein Innenhof mit Überraschungen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Überhaupt schuf Meret Oppenheim in dieser Zeit zahlreiche Objekte, aber auch Gemälde, die an die frühe Bildsprache Alberto Giacomettis erinnern. Verwiesen sei auf Grundriss für «Urzeit-Venus» (Abb. 15) und Modell für «Urzeit-Venus» (Abb. 16), an Kopf eines Ertrunkenen, dritter Zustand (Abb. 17) oder die Collage Spaziergänger hinter Zaun (Abb. 18). Bei den letzten beiden Werken lässt sich auch eine Verwandtschaft zu Arbeiten von Hans Arp ausmachen (Abb. 19). Es handelt sich dabei um Verwandtschaften in Geist und Form, wobei aber zu bezweifeln ist, dass Meret Oppenheim sich wesentlich von den Werken ihrer Freunde beeinflussen liess, wie bereits Bice Curiger festgestellt hat: «Mit schöpferischer Verspieltheit gewinnt die junge Meret Oppenheim schon damals grösstmögliche Unabhängigkeit. Die hochkarätigen Impulse, die ihr in dieser Zeit zuteil werden, nimmt sie in einer ganz spezifischen Weise auf. Wer aber aus den Daten der Biographie Meret Oppenheims entnehmen will, wohin und zu wem die Kontakte sie in dieser Zeit führen, und wer dies gleichsetzt mit einer prägenden Einflussnahme, verkennt einen Grundzug ihrer Kreativität. Denn Meret Oppenheim erfährt in dieser Pariser Zeit künstlerische Beeinflussung vor allem in Form einer Bestätigung ihrer Lebenshaltung.»5 Gleichwohl traten Zeichnung und Malerei zugunsten der Plastik in den Hintergrund, so als habe sie im Atelier von Alberto Giacometti neue künstlerische Mittel entdeckt. Es entstanden in dieser Zeit zwar Zeichnungen, doch lassen sich in ihnen eher Ideenskizzen für Objekte erkennen. Die konzeptionelle Zäsur zwischen den unterschiedlichen Medien ermöglichte es Meret Oppenheim, Abstand zu gewinnen und eine bewusste Differenz zwischen einer Idee und der Ausführung, zwischen einem Gedanken und einer Form, zwischen Traum und Wirklichkeit, die sie nie als widerstreitende Kräfte empfand, zu markieren und dabei weder literarisch noch traumillustrativ zu werden. Ihren Werken gemeinsam sind ihre sinnliche Direktheit und emotionale Struktur. Das unterscheidet sie auch von ihren Freunden der Pariser Zeit. Stilfragen standen nicht im Vordergrund, sie interessierten sie kaum. Wesentlicher ist: «Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form. Ich realisiere die Ideen, wie sie mir in den Kopf kommen. Man weiss nicht, woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit

36 | 37


36

Krise und Neuanfang

Aus dem Pelztassen-Erlebnis der Pariser Jahre hatte Meret Oppenheim ihre Lehren gezogen. Sie verschloss sich, so wie es Max Ernst auf der Einladungskarte der Galerie Maison Schulthess prophezeite, «vornehm in eine Luftspalte und verschluckt den Schlüssel. Nach vierzigtägigem Fasten bricht sie plötzlich aus und spielt seitdem gerne – warum wohl? – mit den Griffelfortsätzen der Küstenländer und Vorgebirge»7 (Abb. 35). Trotz ihrer Krise arbeitete sie weiter, und es entstanden wichtige Arbeiten, die etwas Neuartiges zeigen. Max Ernst hatte auf der erwähnten Einladungskarte eine entsprechende Andeutung gemacht: «Ihre Farbgebung dagegen ist voller Pflanzen- und Tierreste. Darum verwahren sich ihre Bilder am besten in bleiernen Dosen und steinernen Brücken.»8 Tatsächlich veränderte sich ihr Werk in den Jahren ihrer Krise drastisch. Zuerst nur zögerlich, doch nach und nach gelang es ihr, «alle Steine hinter sich zu werfen». Sie schreibt im Album Von der Kindheit bis 1943: «Bei diesem ‹neuen Stil›, seit 1939, war es mir schon lange nicht mehr wohl, obwohl ich gerade damit ‹Publikumserfolg› hatte. Das letzte Bild, das man unter dieser ‹Imagerie› zählen kann, ist unvollendet, ‹Apoll u. Daphnë› Im obigen Bild (Abb. 37), was in der gleichen Zeit ‹entstand›, ist dieser Versuch der Loslösung schon etwas zu spüren.»9 (Abb. 36)

38 39

3. Kapitel

37

36 37 38 39 40 41

Meret Oppenheim, Daphne und Apoll, 1943, Öl auf Leinwand, 140 × 80 cm Meret Oppenheim, Geflügeltes Einhorn mit Tänzerin, 1943, Öl auf Malkarton, ca. 30 × 70 cm, zerstört durch Brand Meret Oppenheim, Die Hand der Melancholie, 1943, Bleistift, 30.5 × 22 cm Meret Oppenheim, Schwalben, 1944, Kohle, 19.5 × 31.5 cm Meret Oppenheim, Sanfter Stern, 1944, Öl auf Pavatex, 22.5 × 25,5 cm, Kunstmuseum Basel Meret Oppenheim, Das Tragikomische, 1944, Öl auf Pavatex, 39 × 70 cm

War ihre Kunst bis dahin vor allem von gegenständlich dargestellten, narrativen Themen bestimmt gewesen, so machte sich nun der Einfluss Paul Klees bemerkbar, dessen Werke sie 1929 in der BauhausAusstellung in der Kunsthalle Basel gesehen hatte, wobei die Titel unter seinen nicht naturalistischen Darstellungen ihr Verständnis für abstrakte Kunst geweckt hatten. Zwar blieben auch in dieser Zeit noch einige ihrer Arbeiten der Gegenständlichkeit verpflichtet, andere hingegen – wie etwa die Zeichnungen Die Hand der Melancholie von 1943 (Abb. 38) und Schwalben (Abb. 39) oder Sanfter Stern (Abb. 40) und Das Tragikomische (Abb. 41), alle 1944 entstanden – zeigen erste Schritte hin zu einer zweifachen Abstraktion. Einerseits orientieren sich die

«Das Paradies ist unter der Erde»

Neue Kunst

40

Themen an inneren Welten, andererseits sind die Kompositionen und die Bildtitel nicht mehr nach logischen Regeln aufeinander abgestimmt. So ähnlich hatte sie es vermutlich bei Paul Klees Werken erlebt. Christiane Meyer-Thoss hat darauf verwiesen, dass «so ein Werk nur in grösster Abgeschiedenheit und Einsamkeit entstanden sein [kann ...]. Es gibt so ein starkes Innenleben. Jedes Bild ist anders, jedes Bild […] probiert, improvisiert einen anderen Stil, probiert ihn aus. Ist vielleicht gar nicht ihr eigener. Ist ihr auch vollkommen egal, ob das zu ihr passt. Sie hatte Interesse an der Oberfläche, auch von Stilen, die

62 | 63


36

Krise und Neuanfang

Aus dem Pelztassen-Erlebnis der Pariser Jahre hatte Meret Oppenheim ihre Lehren gezogen. Sie verschloss sich, so wie es Max Ernst auf der Einladungskarte der Galerie Maison Schulthess prophezeite, «vornehm in eine Luftspalte und verschluckt den Schlüssel. Nach vierzigtägigem Fasten bricht sie plötzlich aus und spielt seitdem gerne – warum wohl? – mit den Griffelfortsätzen der Küstenländer und Vorgebirge»7 (Abb. 35). Trotz ihrer Krise arbeitete sie weiter, und es entstanden wichtige Arbeiten, die etwas Neuartiges zeigen. Max Ernst hatte auf der erwähnten Einladungskarte eine entsprechende Andeutung gemacht: «Ihre Farbgebung dagegen ist voller Pflanzen- und Tierreste. Darum verwahren sich ihre Bilder am besten in bleiernen Dosen und steinernen Brücken.»8 Tatsächlich veränderte sich ihr Werk in den Jahren ihrer Krise drastisch. Zuerst nur zögerlich, doch nach und nach gelang es ihr, «alle Steine hinter sich zu werfen». Sie schreibt im Album Von der Kindheit bis 1943: «Bei diesem ‹neuen Stil›, seit 1939, war es mir schon lange nicht mehr wohl, obwohl ich gerade damit ‹Publikumserfolg› hatte. Das letzte Bild, das man unter dieser ‹Imagerie› zählen kann, ist unvollendet, ‹Apoll u. Daphnë› Im obigen Bild (Abb. 37), was in der gleichen Zeit ‹entstand›, ist dieser Versuch der Loslösung schon etwas zu spüren.»9 (Abb. 36)

38 39

3. Kapitel

37

36 37 38 39 40 41

Meret Oppenheim, Daphne und Apoll, 1943, Öl auf Leinwand, 140 × 80 cm Meret Oppenheim, Geflügeltes Einhorn mit Tänzerin, 1943, Öl auf Malkarton, ca. 30 × 70 cm, zerstört durch Brand Meret Oppenheim, Die Hand der Melancholie, 1943, Bleistift, 30.5 × 22 cm Meret Oppenheim, Schwalben, 1944, Kohle, 19.5 × 31.5 cm Meret Oppenheim, Sanfter Stern, 1944, Öl auf Pavatex, 22.5 × 25,5 cm, Kunstmuseum Basel Meret Oppenheim, Das Tragikomische, 1944, Öl auf Pavatex, 39 × 70 cm

War ihre Kunst bis dahin vor allem von gegenständlich dargestellten, narrativen Themen bestimmt gewesen, so machte sich nun der Einfluss Paul Klees bemerkbar, dessen Werke sie 1929 in der BauhausAusstellung in der Kunsthalle Basel gesehen hatte, wobei die Titel unter seinen nicht naturalistischen Darstellungen ihr Verständnis für abstrakte Kunst geweckt hatten. Zwar blieben auch in dieser Zeit noch einige ihrer Arbeiten der Gegenständlichkeit verpflichtet, andere hingegen – wie etwa die Zeichnungen Die Hand der Melancholie von 1943 (Abb. 38) und Schwalben (Abb. 39) oder Sanfter Stern (Abb. 40) und Das Tragikomische (Abb. 41), alle 1944 entstanden – zeigen erste Schritte hin zu einer zweifachen Abstraktion. Einerseits orientieren sich die

«Das Paradies ist unter der Erde»

Neue Kunst

40

Themen an inneren Welten, andererseits sind die Kompositionen und die Bildtitel nicht mehr nach logischen Regeln aufeinander abgestimmt. So ähnlich hatte sie es vermutlich bei Paul Klees Werken erlebt. Christiane Meyer-Thoss hat darauf verwiesen, dass «so ein Werk nur in grösster Abgeschiedenheit und Einsamkeit entstanden sein [kann ...]. Es gibt so ein starkes Innenleben. Jedes Bild ist anders, jedes Bild […] probiert, improvisiert einen anderen Stil, probiert ihn aus. Ist vielleicht gar nicht ihr eigener. Ist ihr auch vollkommen egal, ob das zu ihr passt. Sie hatte Interesse an der Oberfläche, auch von Stilen, die

62 | 63


41


41


Meret Oppenheims Skulptur Genoveva weist abgebrochene Holzstangen als Arme auf und einen hölzernen Körper. Die Materialwahl erscheint schlüssig, lebte Genoveva doch jahrelang im Wald (Abb. 109). Dem Sujet entsprechend schnitt Meret Oppenheim Baumstrunk vor Waldhintergrund in eine Holzplatte, und die drei Steine, die sie mit drei Schlangengedichten in einer Mappe vereinte, wurden als Lithografien gedruckt. Doch nicht immer kleidete sie ihre Ideen in ein derart eng anliegendes Gewand. Bei Insekt auf siebeneckigem Stein (Abb. 110) und Drache auf fünfeckigem Stein handelt es sich um Holzschnitte; Abdruck meiner linken Hand, 1984 und Gedicht von 1935 – eine Art Hommage an Man Rays Fotos, die sie an der Druckerpresse zeigen – wiederum ist eine Radierung, in Analogie zur schwarzen Radierpresse auf dem Foto (Abb. 111).

Meret Oppenheims Verwendung von Materialien

Einheit von Material und Aussage

109 110 111 112 113

Meret Oppenheim, Genoveva, 1971, Holz, 127 × 74 × 123 cm, mumok – museum moderner kunst stiftung ludwig wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung, seit 1983 Meret Oppenheim, Insekt auf siebeneckigem Stein, 1958, Holzschnitt auf chinesischem Papier, 13 × 18 cm und 13 × 20 cm Meret Oppenheim, Abdruck meiner linken Hand, 1984 und Gedicht von 1935, 1984, Radierung auf weichem Grund auf Arches, 30 × 21 cm Meret Oppenheim, Le cocon (il vit). Objet-porte-bonheur, 1974, Holzkästchen mit Plexiglasdeckel, Satinkissen mit Quecksilber-Einlage, Zweige, Laub, 9.5 × 16 × 13 cm Meret Oppenheim, Der grüne Zuschauer, 1959, Lindenholz, Ölfarbe, Kupferblech, 172 × 52 × 50 cm, Kunstmuseum Bern

112

7. Kapitel

Hatte Meret Oppenheim Schiefer oder Alpenkalkstein zur Hand, so führte das zu Motiven wie Toter Falter, zum Nymphen-Brunnen, zur Mit Wasserblasen spielenden Nymphe oder zum Baum, wobei sie Letzteren wie eine Versteinerung in Stein ritzte. Dass sie anorganisches Material mit dem Tod verknüpfte, erscheint naheliegend, doch verband sie dieses auch mit Lebendem, wie beispielsweise in Le cocon (il vit). Objet porte-bonheur, das aus einem kleinen weissen Objekt mit flüssigem Quecksilber besteht, das in einem Laubbett liegt (Abb. 112). Meret Oppenheim trat nach ihrer Rückkehr aus Paris in die Basler Gewerbeschule ein und erlernte später das Restaurieren von Gemälden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Restaurator Willy Stebler bestätigte mir vor Jahren, dass sie zwar unkonventionell, teils auch mit Nagellack restaurierte, dass ihr Vorgehen aber bis heute nicht nur gültig, sondern auch vorbildlich sei. Die Technik der Materialimitation, die sie sich im Laufe der Zeit selbst aneignete, setzte sie Ende der 1950er und in den 1960er Jahren vermehrt auch in ihrer eigenen

113

«Die Idee erscheint schon im Kleide ihrer Form»

109 110 111

Kunst ein. Am Beispiel der Steindarstellung in der farbig gefassten Lindenholzplastik Der grüne Zuschauer (Abb. 113) ist dies besonders schön zu sehen. Die Restauratorin Nathalie Bäschlin schreibt dazu: «Meret Oppenheim entschied sich für einen dreischichtigen Fassungsaufbau. Auf die Grundierung legte sie mit einem Pinsel einen hellen Grundton, darauf stupfte sie – vermutlich vorwiegend mit dem Pinsel – eine hellgrüne Ölfarbe. Die dunkelgrünen Farbakzente applizierte sie nicht mit einem Spritzpinsel, sondern mit Moos, das ein wenig wie Farn aussieht. [...] Der hier beschriebene Aufbau entspricht der Darstellung eines Granitsteins und ist im Bereich der Innenausstattung weit verbreitet. Die Künstlerin erwähnt, dass sie schon vor der Entstehung der Holzplastik an eine sehr viel grössere Ausführung in grünem Marmor oder Serpentin mit Goldblech gedacht habe, und sie war sehr erfreut, dass 1978 eine Realisierung mit diesen Materialien in Duisburg möglich wurde. Mit der Steinfassung der Holzplastik bezweckte Meret Oppenheim offensichtlich nicht die Imitation eines Serpentins. Dazu hätte sie einen dunkelgrünen Grundton legen und darauf eine hellere Textur anbringen müssen.»5

156 | 157


Meret Oppenheims Skulptur Genoveva weist abgebrochene Holzstangen als Arme auf und einen hölzernen Körper. Die Materialwahl erscheint schlüssig, lebte Genoveva doch jahrelang im Wald (Abb. 109). Dem Sujet entsprechend schnitt Meret Oppenheim Baumstrunk vor Waldhintergrund in eine Holzplatte, und die drei Steine, die sie mit drei Schlangengedichten in einer Mappe vereinte, wurden als Lithografien gedruckt. Doch nicht immer kleidete sie ihre Ideen in ein derart eng anliegendes Gewand. Bei Insekt auf siebeneckigem Stein (Abb. 110) und Drache auf fünfeckigem Stein handelt es sich um Holzschnitte; Abdruck meiner linken Hand, 1984 und Gedicht von 1935 – eine Art Hommage an Man Rays Fotos, die sie an der Druckerpresse zeigen – wiederum ist eine Radierung, in Analogie zur schwarzen Radierpresse auf dem Foto (Abb. 111).

Meret Oppenheims Verwendung von Materialien

Einheit von Material und Aussage

109 110 111 112 113

Meret Oppenheim, Genoveva, 1971, Holz, 127 × 74 × 123 cm, mumok – museum moderner kunst stiftung ludwig wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung, seit 1983 Meret Oppenheim, Insekt auf siebeneckigem Stein, 1958, Holzschnitt auf chinesischem Papier, 13 × 18 cm und 13 × 20 cm Meret Oppenheim, Abdruck meiner linken Hand, 1984 und Gedicht von 1935, 1984, Radierung auf weichem Grund auf Arches, 30 × 21 cm Meret Oppenheim, Le cocon (il vit). Objet-porte-bonheur, 1974, Holzkästchen mit Plexiglasdeckel, Satinkissen mit Quecksilber-Einlage, Zweige, Laub, 9.5 × 16 × 13 cm Meret Oppenheim, Der grüne Zuschauer, 1959, Lindenholz, Ölfarbe, Kupferblech, 172 × 52 × 50 cm, Kunstmuseum Bern

112

7. Kapitel

Hatte Meret Oppenheim Schiefer oder Alpenkalkstein zur Hand, so führte das zu Motiven wie Toter Falter, zum Nymphen-Brunnen, zur Mit Wasserblasen spielenden Nymphe oder zum Baum, wobei sie Letzteren wie eine Versteinerung in Stein ritzte. Dass sie anorganisches Material mit dem Tod verknüpfte, erscheint naheliegend, doch verband sie dieses auch mit Lebendem, wie beispielsweise in Le cocon (il vit). Objet porte-bonheur, das aus einem kleinen weissen Objekt mit flüssigem Quecksilber besteht, das in einem Laubbett liegt (Abb. 112). Meret Oppenheim trat nach ihrer Rückkehr aus Paris in die Basler Gewerbeschule ein und erlernte später das Restaurieren von Gemälden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Restaurator Willy Stebler bestätigte mir vor Jahren, dass sie zwar unkonventionell, teils auch mit Nagellack restaurierte, dass ihr Vorgehen aber bis heute nicht nur gültig, sondern auch vorbildlich sei. Die Technik der Materialimitation, die sie sich im Laufe der Zeit selbst aneignete, setzte sie Ende der 1950er und in den 1960er Jahren vermehrt auch in ihrer eigenen

113

«Die Idee erscheint schon im Kleide ihrer Form»

109 110 111

Kunst ein. Am Beispiel der Steindarstellung in der farbig gefassten Lindenholzplastik Der grüne Zuschauer (Abb. 113) ist dies besonders schön zu sehen. Die Restauratorin Nathalie Bäschlin schreibt dazu: «Meret Oppenheim entschied sich für einen dreischichtigen Fassungsaufbau. Auf die Grundierung legte sie mit einem Pinsel einen hellen Grundton, darauf stupfte sie – vermutlich vorwiegend mit dem Pinsel – eine hellgrüne Ölfarbe. Die dunkelgrünen Farbakzente applizierte sie nicht mit einem Spritzpinsel, sondern mit Moos, das ein wenig wie Farn aussieht. [...] Der hier beschriebene Aufbau entspricht der Darstellung eines Granitsteins und ist im Bereich der Innenausstattung weit verbreitet. Die Künstlerin erwähnt, dass sie schon vor der Entstehung der Holzplastik an eine sehr viel grössere Ausführung in grünem Marmor oder Serpentin mit Goldblech gedacht habe, und sie war sehr erfreut, dass 1978 eine Realisierung mit diesen Materialien in Duisburg möglich wurde. Mit der Steinfassung der Holzplastik bezweckte Meret Oppenheim offensichtlich nicht die Imitation eines Serpentins. Dazu hätte sie einen dunkelgrünen Grundton legen und darauf eine hellere Textur anbringen müssen.»5

156 | 157


114


114


Dank Ein grosser Dank geht an den Verleger Thomas Kramer für seinen Auftrag zu diesem Buch und für den ideellen «Traubenzucker» in regelmässigen Abständen. Silvia Buol und Lisa Wenger danke ich für den inspirierenden Gedankenaustausch, der mir zahlreiche Anregungen zu diesem Buch gegeben hat, aber auch für ihre unermüdliche Unterstützung bei Fragen und Unklarheiten. Ein grosser Dank geht auch an Thomas Hirschhorn für sein Insert. Seine Verehrung für Meret Oppenheim zeigt, wie wichtig die Künstlerin nach wie vor auch für das aktuelle Kunstschaffen ist. Nevin Goetschmann und Jiri Oplatek danke ich für die seit Jahren bewährte Zusammenarbeit, aus der auch die Gestaltung dieses Buches resultierte, die Text und Bild eine optimale Plattform bietet. Anja Breloh danke ich für ein kritisches Lektorat und Anna Sophia Herfert für die präzise Durchsicht der Druckfahnen, Daniel Spehr für eine solide Bildbearbeitung und der DZA Druckerei zu Altenburg GmbH für den Druck und die Bindung dieses Buches. Ein grosser Dank geht an ProLitteris und alle Vertreter der Bildrechte sowie für die grosszügige finanzielle Unterstützung an die Hans und Renée Müller-Meylan Stiftung, Willy A. und Hedwig Bachofen-Henn-Stiftung, Swisslos Basel-Stadt, Lina Karolina Stiftung, Alexander Sarasin und an die nomadisierenden veranstalter, die dieses Buch ermöglicht haben. Allen nachfolgenden Personen danke ich für Hilfe und Unterstützung bei der Bild- und Literaturbeschaffung, für Ideen, neue Wege und das Umschiffen von möglichen Klippen: Rainer Baum, Margrit Baumann, Stefanie Baur, Florian Blumer, Valeria Bonin, Lea Brun, Martin A. Bühler, Martin P. Bühler, Silvia Bühler, Jacqueline Burckhardt, Léa Burger, Anna Bürkli, Philippe Büttner, Robin Byland, Franca Candrian, Maja Egli, Stephan E. Hauser, Kaspar Hiltbrand, Medea Hoch, Sandra Kaba, Bettina Kaufmann, Carlo Knoell, Thomas Knoell, Rea Köppel, Frances de Kruijf, Bettina Kubli, Thomas Lévy, Marleen-Christine Linke, Iris Müller, Maja Oeri, Bernadette Petitpierre Widmer, Rudolf Probst, Katharina Rosenstingl, Thomas Rusterholtz, Peter Röllin, Maja Samimi, Yvonne Sandoz, René Schraner, Markus Schürpf, Lotti Schumacher, Barbara Stark, Nicole Stotzer, Daniel Thierstein, Verein Ernst Kreidolf, Christoph Vögele, Vojin Saša Vukadinović, Sibylle Walther, Birgit Wenger, Magnus Wieland, Livia Wyler, Isabel Zürcher und Nicolas Zurkinden. Simon Baur

die nomadisierenden veranstalter


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.