Die lustvolle Eroberung der Straße
Die temporäre Erfindung eigener Identität
Die gelebte Demokratie
Künstlerische Leitung: ADRIANA SCHNEIDER ALCURE und ALEX MELLO
„Der Karneval ist ein subversives kollektives Ritual, das die Zeit für einige Tage außer Kraft setzt und die normative Logik umkehrt.“
ADRIANA SCHNEIDER ALCURE, Co-Kuratorin des Karnevals-Projektes
„Der Karneval ist tief mit sozio-politischen Erzählungen, kulturellen Ausdrucksformen und wirtschaftlichen Dynamiken verwoben.“
ALA YOUNIS, künstlerische Leiterin ADKDW
„Karneval ist ein überaus spannendes Thema, sowohl historisch als auch zeitgenössisch.“
NANETTE SNOEP, Direktorin Rautenstrauch-Joest-Museum Köln, Mitglied ADKDW und Projektpartnerin
„Der Karneval ist die Stimme von Minderheiten, die sich in Kunst verwandelt.“
ALEX MELLO, Co-Kurator des Karnevals-Projektes
Das komplette Veranstaltungsprogramm des Karnevalsprojektes finden Sie auf Seite 14–16
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Liebe Leser*innen, liebe Freund*innen der ADKDW, liebe Karnevalist*innen,
der Karneval mit seinen pulsierenden Feierlichkeiten und seiner ausgelassenen Stimmung wird seit langem in den verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt gefeiert. Doch jenseits ihrer vordergründigen Fröhlichkeit sind Karnevalsfeste tief mit sozio-politischen Erzählungen, kulturellen Ausdrucksformen und wirtschaftlichen Dynamiken verwoben. Das Projekt kaɦ.na.v ˈ aw ist eine eindrucksvolle Erforschung der vielfältigen Dimensionen des Karnevals mit besonderem Augenmerk auf seine Verbindungen zu Spiritualität, Wirtschaft und Politik. Dieses ehrgeizige Projekt, das auf Recherchen und Produktionen in Rio de Janeiro und Köln basiert, zielt darauf ab, unser Verständnis für die Bedeutung des Karnevals zu vertiefen – und gleichzeitig seine Essenz auf die Straßen und in die Herzen der Menschen zu tragen.
Im Zentrum des Engagements der Akademie stehen die Förderung von Freundschaften und das Ziel, einen Raum für den Austausch von Ideen zu kreieren. Durch die Kultivierung von Offenheit und die Forcierung von Kooperationen ebnet die Akademie den Weg für inklusive Lesarten sowie flexible Veranstaltungsformen. kaɦ.na.v ˈ aw ist ein Ausdruck dieser Vision, da es darauf abzielt, Menschen anzusprechen, die nicht zu den regelmäßigen Besucher*innen unserer Veranstaltungen zählen. Mit dieser Initiative möchte die ADKDW allen Interessierten eine Plattform bieten, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen und aktiv am kreativen Prozess des Karnevals mitzuwirken.
kaɦ.na.v ˈ aw zielt nicht nur auf die Inszenierung eines Events ab. Es konzentriert sich auf die Erkundung von und die Interventionen in Infrastrukturen. Während des mehrmonatigen Projekts entfaltet sich ein intensiver Prozess der Recherche, Erforschung, Koproduktion und Performance, der in der Entwicklung neuer Strategien für zukünftige Karnevalsereignisse gipfelt. kaɦ.na.v ˈ aw ist ein Ausdruck der nachhaltigen Kraft des Karnevals, verschiedene Gesellschaftsgruppen zu vereinen, das kulturelle Erbe zu feiern und Grenzen zu überwinden.
Die ADKDW wird gefördert durch
Ala Younis
Künstlerische Leiterin ADKDW
Die Akademie der Künste der Welt (ADKDW) ist eine internationale Plattform für zeitgenössische Kunst und öffentlichen Diskurs in Köln. Die Akademiemitglieder – ein globales Kollektiv aus Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden – prägen die ADKDW und ihr Programm durch ihre interdisziplinären Perspektiven und künstlerischen Praktiken.
Im ADKDW-Studio finden regelmäßig Veranstaltungen verschiedener künstlerischer und diskursiver Sparten statt. Außerdem veranstaltet die ADKWD mit unterschiedlichen Partner*innen Konzerte, Lesungen, Vorträge und Workshops an verschiedenen Orten der Stadt. Damit schafft sie ein Laboratorium künstlerischer und politischer Fragestellungen in Köln und macht das Potenzial einer transkulturellen urbanen Gesellschaft sichtbar.
Der Karneval wird seit langem in den verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt gefeiert und ist zugleich auch ein wichtiges sozialpolitisches Ereignis. Das Projekt kaɦ.na.v ˈ aw, so der portugiesische Begriff in Lautschrift, erforscht anhand von Workshops und künstlerischen Präsentationen in Rio de Janeiro und Köln die vielfältigen Dimensionen des Karnevals mit besonderem Augenmerk auf seine Verbindungen zu Spiritualität, Wirtschaft und Politik. Wir befragten dazu Adriana Schneider Alcure, Künstlerin, Forscherin, Schauspielerin und Theaterregisseurin, Professorin an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro – UFRJ, ADKDWMitglied und Co-Kuratorin des Projektes kaɦ.na.v ˈ aw.
Welche Rolle spielt der Karneval heute in Rio de Janeiro – jenseits der schillernden Körper und Kostüme, Paraden und Partys? Ist er Teil der Identität der Stadtgesellschaft – in ihrer sicherlich komplexen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation? Gibt es dort auch Parallelgesellschaften?
Der Karneval ist das bedeutendste Volksfest in Brasilien. Die Qualität des musikalischen Reichtums ist eine der Stärken des brasilianischen Karnevals und beeinflusst seit mehr als einem Jahrhundert das gesamte Musik- und Kulturschaffen Brasiliens. Was wir als MPB – Música Popular Brasileira (brasilianische Volksmusik) – bezeichnen, wurzelt direkt in der Kultur des Karnevals. Es gibt Maxixes, Chorinhos, Sambas, Maracatus, Afoxés – ein unendlicher Reichtum an Rhythmen, die sich mit der afrikanischen Präsenz in Brasilien entwickelten. Brasilien ist, das sei betont, das Land mit der größten Schwarzen Bevölkerung außerhalb Afrikas.
Wie lässt sich der Karneval als soziales Phänomen genau definieren?
Der Karneval ist weitaus mehr als ein Volksfest, er ist ein subversives kollektives Ritual, das die Zeit für einige Tage außer Kraft setzt und die normative Logik umkehrt, indem es die Widersprüche und sozialen Spannungen, die kolonialen Wunden und Hinterlassenschaften sowie den strukturellen Rassismus Brasiliens offenlegt. Der brasilianische Karneval ist die vitale Kraft der Freude, die eine Art von kollektiver Reinigung, die unterschiedlichen Formen und Widerstandsstrategien ermöglicht. Da es sich um ein riesiges Volksfest handelt, bewegt der Karneval die Wirtschaft des Landes und hat direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Einnahmen der Regierung wie die Gewinne der Unternehmen durch den Karneval sind angesichts deren geringer Investitionen in den Karneval, in seine Macher*innen – von den Künstler*innen, Tänzer*innen, Musiker*innen bis zu den Kostüm- und Bühnenbildner*innen – geradezu skandalös.
„Der Karneval ist weitaus mehr als ein Volksfest.“
Gibt es im brasilianischen Karneval denn auch so etwas wie einen Anti-Karneval gegen den etablierten, heute meist wirtschaftlich orientierten Karneval?
Der Karneval in Rio de Janeiro und in ganz Brasilien ist ein privatwirtschaftlich finanziertes Fest. Die öffentliche Hand kontrolliert diese empörende Diskrepanz zwischen Investitionen und Gewinn dieser Unternehmen durch den Karneval nicht. Im Gegenteil: Die Regierung privatisiert das Festival einfach. Da ist viel Korruption im Spiel und seit einigen Jahren haben sich einige progressive politische Lager in Brasilien organisiert, um all das anzuprangern. Wir können daher von einer „AntiKarnevals“-Mobilisierung sprechen, die in Brasilien stattgefunden hat.
Welche Rolle spielt dabei die von Ihnen gegründete Bewegung des Cordão do Boitatá?
Cordão do Boitatá ist einer der wichtigsten Karnevalsorganisationen, die über Diskussionen hinaus Aktionen für mehr Autonomie und Unabhängigkeit in Bezug auf dieses politische Spiel vorschlägt. Cordão war in den Aktivitäten stets unabhängig. In der 28-jährigen Geschichte hat es nie staatliche Unterstützung für Veranstaltungen mit den Umzügen und dem multikulturellen Ball gegeben. Seit 2018 wird der Karneval von Cordão do Boitatá vollständig von seinem Netzwerk der Freunde und Mitfeiernden durch Crowdfunding finanziert. Was Boitatá auch forderte, ist die partielle Investition
„Auch im rheinländischen Karneval ist die Bedeutung der Migration stark.“© Cordão do Boitatá
dieser enormen Mittel in konkrete Aktionen in den sozial und wirtschaftlich schwachen Communities der Stadt, durch Bildungsprojekte und die Einbeziehung sowie Stärkung von lokalen Kulturgruppen.
Wo sehen Sie die Hauptunterschiede zwischen dem brasilianischen und dem rheinischen Karneval?
Der brasilianische Karneval hat sich im Laufe der Zeit durch intensive kulturelle Prozesse gewandelt, die sich aus den Auswirkungen der Sklaverei ergaben und Formen annahmen, wie wir sie heute kennen. Brasilien war das letzte Land der Welt, das die Sklaverei abgeschafft hat – erst 1888. Der sogenannte „entrudo-Karneval“, von den Portugiesen ins Land eingeführt, wurde afrikani siert. Der Historiker Luiz Antonio Simas hat anhand von historischen Dokumenten aus dem 17. und 18. Jahrhundert nachgewiesen, wie portugiesische Karneval von der afrikanischen Musikalität des Kongo und Angolas beeinflusst wurde. Diese Einflüsse sind sicherlich einmalig.
In Brasilien ist, wie Sie sagen, Migration ein wesentlicher Faktor für den Karneval. Wie sieht es hierzulande aus?
Meiner Meinung nach ist es wichtig, auch im rheinländischen Karneval die Bedeu tung der Migration für die Entwicklung und Ausbreitung des Festes in den letzten Jahren zu verfolgen und zu stärken. Denn Vielfalt und Heterogenität geben der transformierenden und pulsierenden Dimension des Karnevals den Sinn, der sich positiv auf die kollektive Gesundheit der Gesellschaft auswirken kann. Der Karneval ermöglicht es uns, wie durch ein Vergrößerungsglas die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme zu sehen, die wir im normalen Alltag zu verbergen suchen. Traditionen anderer Länder stimmen da mit dem deutschen Karneval überein, den Reichtum von der Vielfalt und Stärke der Völker zu feiern. Es ist notwendig, die Politisierung des Karnevals durch die in Deutschland lebenden Migrant*innengemeinschaften noch stärker wahrzunehmen und die Bedeutung dieser Kraft auch für die Entwicklung des Festes noch mehr zu berücksichtigen.
Was genau hat die Initiative Cordão do Boitatá im Programm der Akademie der Künste der Welt vorgesehen?
Für das Projekt in der Akademie der Künste der Welt wird Cordão do Boitatá eine Klanginstallation präsentieren, die die Vielfalt und den musikalischen Reichtum des brasilianischen Karnevals spiegelt. Und dies, ohne dabei die sozialen Spannungen, die inhärente Gewalt und die spirituellen Aspekte, die das Fest ausmachen, zu vernachlässigen. Außerdem werden die in Rio de Janeiro kreierten Fahnen, Banner, Requisiten und animierten Objekte in den von mir und Alex Mello geleiteten Performances mit künstlerischen Gruppen wie Panamérica Transatlântica sowie sozialen Projekten in Köln zum Einsatz kommen.
Dank zahlreichen Mitwirkenden aus vielen Ländern brachte das Kunst- und Karnevalskollektiv Panamérica Transatlântica im Karneval von Rio bereits große Menschenmengen auf die Straße. Anlässlich der Fête de la Musique in Paris veranstaltete das Kollektiv eine Parade, die mehr als zehn Stunden dauerte und etwa drei Kilometer zurücklegte. Für kaɦ.na.v ˈ aw kollaboriert das Kollektiv mit den lokalen Initiativen iJula, Lusotaque, Coral Vozes do Brasil sowie Maracatu Colônia und gestaltet Kostüme und Bühnenbild für die Performance WOY, die am 25. November ein Highlight des Kölner Karnevalsprojekts bildet
Karneval ist nicht nur weltweit ein beliebter Anlass zum Feiern. Anhand der Geschichte des Karnevals lassen sich auch fundamentale Entwicklungen sozialer und politischer Natur herauslesen. In Rio de Janeiro, Partnerstadt von Köln, ist in Bezug auf den Karneval besonders der Zusammenhang zwischen den Ebenen der Spiritualität, Ökonomie und Politik von Interesse.
SPIRITUALITÄT . Der brasilianische und der karibische Karneval allgemein, insbesondere aber der Karneval in Rio de Janeiro sind stark geprägt von afrodiasporischen, religiösen und kulturellen Ausdrucksformen. Jahrhundertelang war Rio de Janeiro der wichtigste Hafen des globalen Sklavenhandels und als Hauptstadt Brasiliens (von 1822 bis 1960) ein zentraler Ort des politischen Geschehens. In diesem Kontext hat sich der Karneval zum wichtigen Szenario des Dialogs und der Verhandlung verschiedener Kulturen und Lebensrealitäten entwickelt. Die Wurzeln von Samba-Musik und Tanz reichen weit in afrodiasporische Traditionen zurück. Sie enthalten die Erinnerungskultur der Überquerung des Atlantiks, des Lebens in Gefangenschaft auf den Plantagen und der Befreiung sowie Elemente afrobrasilianischer Religionen, insbesondere derer aus der Yorùbá-Kultur aus Westafrika.
ÖKONOMIE . In Rio de Janeiro stellt Karneval heute nicht nur ein international beachtetes kulturelles Spektakel dar, sondern konstituiert auch die wichtigste Ökonomie der Stadt. Das finanzielle Überleben von Millionen von Personen und Familien wird durch den Karneval gesichert. Interessant an diesem Phänomen ist, dass verschiedene Formen der Ökonomie an den Karneval anschließen: formale (Medien, Spektakel, Events), symbolische, aber auch informelle und kommunale. Diese singuläre Position macht aus dem bedeutendsten kulturellen Geschehen in der Stadt das wichtigste und vielleicht auch komplexeste ökonomische Ereignis.
POLITIK . Die Geschichte des Karnevals ist von der Geschichte der Forderungen nach gleichen Rechten in einem von struktureller Ungleichheit geprägten Land nicht zu trennen. Als distinguierte Plattform der Sichtbarkeit und als Fest „des einfachen Volkes“ ist der Karneval über die Jahre auch Schauplatz diverser politischer Forderungen, insbesondere im Bereich der Menschenrechte, des Rechts auf Religionsfreiheit, Freiheit und Gleichheit geworden. Nicht zuletzt ist der Karneval in Rio – genauso wie der Karneval in Köln – ein beliebtes Forum der politischen Debatte wie auch der politischen Satire, das auf dem demokratischen
Liebe Ala Younis, Sie sind seit Mai künstlerische Leiterin der ADKDW. Das Karnevalsprojekt ist eines der ersten in ihrer Zeit als Leiterin. Inwieweit passt das Thema zur Konzeption und zum Selbstverständnis der Akademie?
ALA YOUNIS : Die Akademie ist ein Gebilde, das durch Freundschaften eine solide Grundlage schafft, um die Ideen der anderen zu verstehen. Sie kultiviert Offenheit und erweitertes Verständnis durch ein Kontinuum von Kollaborationen und Gesprächen, flexiblen Veranstaltungsstrukturen und Angeboten zum gemeinsamen Lernen. In meiner Amtszeit als Künstlerische Leiterin werde ich mich darum bemühen, die Projekte der Akademie den Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Möglichkeiten noch näher zu bringen.
Und was bedeutet das für das Karnevalsprojekt?
AY: Das Karnevalsprojekt ist ein hervorragendes Format, um damit zu beginnen. Denn das Projekt untersucht die Politik und die Ökonomie, es versucht, marginalisierte Stimmen auf der Straße in der Öffentlichkeit präsent zu machen. In Gesprächen mit den Kurator*innen und Teilnehmer*innen des Karnevalsprojekts verstehen wir, wie sie einen Platz für sich schaffen und gleichzeitig ihre Existenz schützen können. Zum einen, indem sie die Infrastrukturen, die einen Raum des Karnevals definieren, sorgfältig reflektieren. Und zum anderen, indem sie zu verstehen suchen, welche politischen und ökonomischen Ziele bei der Durchführung eines Karnevals ins Spiel kommen.
Was heißt das genau?
AY: Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen für eine kreative Präsenz in einem definierten städtischen Terrain, indem sie dessen Kommunikation, Projektionen und Dynamiken ständig neu erfinden. Kurz gesagt: Dieses Projekt ermöglicht es uns, den Karneval politisch und wirtschaftlich zu betrachten und zu analysieren – aber ohne dabei die kreative Essenz unseres Tuns zu vernachlässigen.
Nanette Snoep, Sie sind seit neuestem weiteres Mitglied der Akademie. Sie leben und arbeiten seit 2019 in Köln. Welches Verhältnis haben Sie zum Karneval und zum Projekt – professionell wie persönlich?
NANETTE SNOEP : Zunächst einmal freut es mich sehr, als neues Mitglied in die ADKW berufen worden zu sein. Einer Institution, die eine große internationale Strahlkraft in zeitgenössischen künstlerischen Praktiken aus dem Globalen Süden aufweist. Darüber hinaus freue ich mich sehr auf die institutionelle Kooperation zwischen der ADKDW und dem Rautenstrauch-Joest-Museum.
Und – sind Sie auch „Karnevalistin“?
NaS: Als Niederländerin, die die meiste Zeit ihres Lebens in Paris gelebt hat, habe ich zwar keine wirklich persönliche Verbindung zum Karneval. Aber als studierte Kulturanthropologin ist Karneval natürlich ein überaus spannendes Thema, sowohl historisch als auch zeitgenössisch. In meiner Ausstellung „Maîtres du Désordre“ (Die Meister der Unordnung), die ich 2012 für Paris kuratiert und die danach auch in der Bonner Kunsthalle gezeigt wurde – mit dem bezeichnenden Titel „Lob der Torheit. Narren, Künstler und Heilige“ –, spielten karnevalesque Rituale und Exzesse in Italien, Haiti, Indien oder anderswo eine wichtige Rolle. Und bei meinem Amtsantritt hatte ich sogar angekündigt, etwas zum Karneval zu machen. Deswegen hat es so perfekt gepasst, als die ADKDW mit dem Thema auf uns zukam.
Karneval –zwischen demokratischer Tendenz und touristischer Vermarktung
Wird sich der Karneval verändern, wie sieht seine Zukunft aus – von demokratischer Tendenz als Fest für alle bis hin zur kommerziellen und touristischen Vermarktung…
AY: Der Karneval – ebenso wie unser Karnevalsprojekt – ist nicht einfach nur eine Veranstaltung, sondern eher eine Intervention in eine bestehende Infrastruktur hinein. Ein Großteil der Arbeit,
Forschung, Untersuchung, Ko-Produktion, Performance und Diskussion, die im Laufe unseres mehrmonatigen Karnevalsprojektes stattfindet, beschäftigt sich mit der Vorbereitung der teilnehmenden Gruppen für ihren Auftritt im Karneval in Rio de Janeiro im nächsten Jahr und die Entwicklung ihrer individuellen Strategien.
NaS: Ich wünsche mir, dass unser Museum Raum schafft für unterschiedliche kulturelle Praktiken –sowie für die lokale wie für die internationale Kunstszene. Das Museum ist auch ein Ort für künstlerische Produktion und schafft Räume für marginalisierte Stimmen, die bisher in Museen noch wenig gehört werden. ■
Die Künstlerin und Kuratorin ALA YOUNIS arbeitet an Film- und Verlagsprojekten und ist Research Scholar am al Mawrid Arab Center for the Study of Art an der New York University Abu Dhabi. Sie ist Mitbegründerin der Verlagsinitiative Kayfa ta. Younis hat seit 2021 außerdem die Co-Leitung der Ausstellungs- und Filmprogramme für die Sektion Forum Expanded der Berlinale inne. Als Co-Künstlerische Leiterin von Natasha, der Singapur Biennale 2022, initiierte Ala Younis verschiedene Ausstellungen. Seit 2018 ist Younis Mitglied der Akademie der Künste der Welt / Köln, wo sie 2021 die Ausstellung HANDS: an art campaign co-kuratierte.
NANETTE SNOEP, geboren 1971 in Utrecht, ist eine niederländische Anthropologin und Kulturmanagerin, die nach ihrem Studium in Paris an verschiedenen europäischen Museen arbeitete. Vor ihrer Ernennung zur Direktorin des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln im Jahr 2019 war sie etwa am Aufbau des Pariser Musée du Quai Branly beteiligt. Davor leitete sie die Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens in Leipzig, Dresden und Herrnhut.
Beim Karnevalsprogramm der ADKDW, das Alex Mello gemeinsam mit Adriana Schneider Alcure kuratiert, will der in Köln lebende Brasilianer die Straße zur Bühne machen.
Der Herbst ist – beginnende – Karnevalszeit im Rheinland. Vor allem auch in der ADKDW. Erläutern Sie uns doch bitte Ihre Pläne für das Programm: Es geht da um Partizipation, um offene Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen…
Das Karneval-Projekt soll als kulturelle, soziale und politische Plattform fungieren. Verschiedene künstlerische Ausdrucksformen werden integriert im Dialog mit der Karnevalskultur und in gewisser Weise auch als Reflexion des ökonomischen, politischen wie des spirituellen Charakters des Karnevals. Ein Schwerpunkt des Programms ist es, Menschen mit verschiedenen Hintergründen, mit unterschiedlichen Lebens- und Kunsterfahrungen Sichtbarkeit zu verleihen, die Straße zu ihrer Bühne, ihrer Inspirationsquelle, vor allem zur Plattform ihrer Existenz und Zugehörigkeit zu machen.
Sie
selbst sind in Brasilien geboren. Dort ist die Migrationsgesellschaft seit den Anfängen integrativer Bestandteil des Karnevals. Wie demokratisch und integrativ ist der Karneval hierzulande?
Ich sehe den europäischen Karneval zugleich als ein allegorisches wie auch ein demokratisches Fest, bei dem die Euphorie der Gesellschaft Gestalt annimmt, um die Straßen, Kneipen und Clubs zu besetzen – getrieben von dem revolutionären Wunsch nach Freiheit, ja um sich dem Glücklichsein zu widmen. In diesem Kontext verlieren Themen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Klassismus ihre Macht. Auf der
©CordãodoBoitatá
anderen Seite wird die Gesellschaft offener für die multikulturellen Erfahrungen, die eine bunte Feier bietet. Aber inmitten all der Schönheit der Feste ist es immer noch möglich, Diskriminierung zu sehen und zu erleben. Das „Black Facing“ gehört dazu.
In Köln leitet das Dreigestirn „Prinz, Bauer und Jungfrau“ den Karneval, wobei interessanterweise ein Mann die Jungfrau darstellt. Welche Regenten haben im brasilianischen Karneval die Macht?
Hat der Karneval in Brasilien auch Einfluss auf die Hochkultur – oder ist er bereits Hochkultur?
Der Karneval in Brasilien hat viele Merkmale, die sich von Region zu Region unterscheiden. Er ist zweifellos der wichtigste kulturelle Ausdruck des Landes. Das „Prädikat“ Hochkultur wird seitens des Publikums, durch die sogenannten Carnivalesques sozusagen ausgestellt. In der von Oscar Niemeyer in Rio speziell für die Samba-Paraden erbauten Tribünenstraße, dem Sambódromo, treten die Escolas de Samba auf. Die Primaballerina des Stadttheaters von Rio de Janeiro choreographiert diese Sambaschulen. Die auf den Karneval bezogene Kunst von Arthur Bispo do Rosário vertrat Brasilien 2013 auf der Biennale von Venedig. Und Marcel Camus’ hochgelobter Film „Orfeu Negro“ gewann 1959 in Frankreich die Goldene Palme. Der Karneval beschäftigt weiterhin Bühnen, Leinwände wie auch die Kunst im Allgemeinen. Der Karneval ist die Stimme von Minderheiten, die sich in Kunst verwandelt.
In Rio de Janeiro, wo ich geboren wurde, gibt es einen Karnevalshof, der aus dem König Momo, der Königin und den Prinzessinnen des Karnevals besteht. Sie alle werden in einem von der Stadt organisierten Wettbewerb ausgewählt. Ort des Geschehens ist die „Cidade do Samba / Samba City“, wo die Karnevalswagen und Kostüme der Sambaschulen hergestellt werden. Der Wettbewerb ist eine stadtweite Veranstaltung. Am Karnevalsfreitag übergibt der Bürgermeister in einer Zeremonie symbolisch die Schlüssel der Stadt –und damit die Macht – an König Momo, womit die Feierlichkeiten dann beginnen.
Wie sieht das Programm konkret aus?
Um den Karneval der Städte Köln und Rio de Janeiro zu würdigen, haben wir eine „Sambópera“ in unserem Programm, bei der wir den deutschen Dramenklassiker „Woyzeck“ von Georg Büchner neu lesen, ihn „karnevalisieren“ werden. Dazu werden wir WOY, eine Person unserer Zeit, mit unseren gegenwärtigen Fragen konfrontiert auf die Bühne stellen. In einer Reihe von vier Workshops werden wir unter verschiedenen Themengesichtspunkten – zum Beispiel geht es um Körperausdruck für queere BI*PoC – unser Vorhaben gemeinsam mit Interessierten vorbereiten. Hier bringen wir also Oper und Samba zusammen, um die Reise von nicht nur einer, sondern von vielen Stimmen zu präsentieren. Die Aufführung ist von Karnevalsparaden inspiriert, feiert das Kollektiv und denkt dieses Fest als rituelle, erzählerische und allegorische Erfahrung. ■
„Der Karneval ist der wichtigste kulturelle Ausdruck des Landes.“
Alle aktuellen und ausführlichen Infos zum Programm bis Dezember 2023 hier auf der Website: www.adkdw.org
Eine Ticketbuchung ist nicht notwendig, für alle Veranstaltungen gilt freier Eintritt.
Soundinstallation
Fr 30 09 – So 17 12 2023
Öffnungszeiten bis 17 11: Fr 14:00–19:00 Uhr, ab Dezember:
Sa & So 14:00–19:00 Uhr
ADKDW Studio
KAꞪ.NA.VˈAW.
SPIRITUALITÄT, ÖKONOMIE
UND POLITIK
Kuratiert von ADRIANA SCHNEIDER ALCURE, KIKO HORTA, Mitarbeit: ALEX MELLO
Mit der Soundinstallation kaɦ.na.v ˈ aw tauchen wir durch Musik und Videobeiträge in die Dimensionen der Politik, der Ökonomie und der Spiritualität des Karnevals von Rio de Janeiro ein. Musikalische, bildnerische und künstlerische Elemente des Karnevals wie Banner, Kostüme und Puppen werden miteinander verwoben.
RAHMENPROGRAMM ZUR SOUNDINSTALLATION
ADKDW Studio
Round Table
Fr 17 11 2023 / 17:00–19:00 Uhr
SPIRITUALITÄT, ÖKONOMIE
UND POLITIK IM KARNEVAL
Mit ADRIANA SCHNEIDER ALCURE, KIKO HORTA, YÁ WANDA ARAUJO, FLAVIA BERTON
Die politischen, ökonomischen und spirituellen Dimensionen des Karnevals in Rio de Janeiro werden am Beispiel der Karnevalsvereinigung Cordão do Boitatá aufgezeigt. Alle Gäste sind eingeladen, sich aus der Sicht und Erfahrung des Kölner Karnevals an der Diskussion zu beteiligen.
Listening Sessions
Sa 18 11 2023 / 17:00–19:00 Uhr
CORDÃO DO BOITATÁ
Mit ADRIANA SCHNEIDER ALCURE, KIKO HORTA, YÁ WANDA ARAUJO, FLAVIA BERTON
Der von Musiker*innen organisierte Kulturverein Cordão do Boitatá spielt eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung des Straßenkarnevals in Rio de Janeiro und wurde 2022 als Immaterielles Kulturerbe der Stadt Rio de Janeiro anerkannt. Die Veranstaltung ist eine Einladung zum gemeinsamen Hören des kulturell vielfältigen Repertoires aus 25 Jahren Geschichte der Vereinigung.
So 19 11 2023 / 17:00–19:00 Uhr
ORIN DUDU
Mit ADRIANA SCHNEIDER ALCURE, KIKO HORTA, YÁ WANDA ARAUJO, FLAVIA BERTON
Candomblé ist eine afrobrasilianische Religion. Das Projekt Orin Dudu besuchte anderthalb Jahre lang sieben CandombléTempel (Terreiros), die wichtige Wurzeln dieser Tradition in Rio de Janeiro darstellen. In jedem Terreiro entstand eine Audiound Videoaufzeichnung der gesamten Geschichte und von charakteristischen Liedern und Gebeten.