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Von wegen hohl und faul
1966 standen die Sägen parat. Dass der prächtige Kastanienbaum an der Sarner Poststrasse trotzdem noch blüht, ist der Dorfschaftsgemeinde und Oberförster Lienert zu verdanken.
Jeweils im Frühherbst stellt das «Kaffee 13/15» an der Sarner Poststrasse den Gästen, die draussen sitzen, Helme zur Verfügung Der eine oder andere Pechvogel hat schon schmerzhaft festgestellt, dass der stolze Kastanienbaum gelegentlich fiese Geschosse auf Passanten fallen lässt Dabei müsste der Baum eigentlich dankbar sein, dass er überhaupt noch steht In den 1960er-Jahren wäre es nämlich fast um ihn geschehen Was war passiert?
Im April 1964 kaufte die Terrinvest AG mit Sitz in Hergiswil das Grundstück (Parzelle 64) an der Poststrasse 4 Einige Zeit später entschied sie sich, den Baum zu fällen, weil er «viele nachteilige Einwirkungen» auf das Haus habe, wie sie schrieb Im Januar 1966 ging man frisch ans Werk Doch Dorfschaftspräsident Karl Röthlin und Oberförster Leo Lienert machten diesen Plänen in letzter Sekunde einen Strich durch die Rechnung, wie aus verschiedenen Akten im Staatsarchiv hervorgeht Via polizeilicher Verfügung wurde der Terrinvest AG untersagt, den Baum zu fällen Diese wandte sich daraufhin erbost an die Regierung und stellte ein «Gesuch um Bewilligung für das Schlagen eines Baumes» Die Terrinvest verurteilte Röthlins und Lienerts Einschreiten mit dem Hinweis, dass der Kastanienbaum nicht unter Denkmalschutz stehe und dass es auch sonst keine rechtliche Grundlage gebe, das Fällen des Baums zu verhindern
Aus dem Schreiben der Terrinvest AG an den Regierungsrat (15. Februar 1966):
«Der Baum gibt zufolge seiner grossen Dimension zuviel Schatten und verhindert gänzlich, dass direkt dahinter liegende Zimmer genügend Licht erhalten, oder soweit möglich, von einer Besonnung profitieren
Durch die sehr starke Schatteneinwirkung und auch wegen des sehr starken Blätterwuchs des Baumes bleiben bedeutende Teile der beiden Hausdächer, zum Teil auch Hauswände, ständig feucht Entsprechend nachteiliger Einfluss entsteht auch für die naheliegenden Wohnzimmer
Der Wurzelwuchs schädigt die Kanalisation.
Der in unmittelbarer Nähe der Baumwurzel eingegrabene Benzintank (Esso-Ausschankstation) muss bis [unlesbares Datum, Anm. d. Red.] entfernt werden. Dadurch wird der Baum in seinem Wurzelhalt ohnehin stark geschmälert werden und bei starkem Föhn wahrscheinlich sogar zur Gefahr für Haus und Mensch werden
Die Sanierung dieser Ecke (die ohnehin kein anmutiges Bild bietet!) wird erst nach Beseitigung dieses Baumes möglich werden
Durch die grosse Vogelschar, die jeweils diesen Baum bevölkert, werden Autos (und auch Menschen) stark beschmutzt, was nicht selten zu Klagen und Ansprüchen führt »
Der Kastanienbaum auf dem Grundstück der Poststrasse 4 in Sarnen (Bild: ve)
In ihrem Brief führte die Grundstücksbesitzerin verschiedene Gründe an, weshalb der Kastanienbaum aus ihrer Sicht entfernt werden müsse (siehe Kasten linke Seite)
Karl Röthlin interveniert
Dorfschaftspräsident Karl Röthlin wandte sich ebenfalls mit einem Schreiben an den Kanton und schilderte die Vorkommnisse:
«Im Moment, als Gärtnermeister Bättig mit dem Umlegen des oben erwähnten Kastanienbaums beginnen wollte, wurde ich von verschiedenen Anstössern bestürmt, der Baum möge als einziges grünes Objekt und Abdeckung der bedenklichen Fassaden der beiden nebenstehenden Objekte der Terrinvest erhalten bleiben » Zwar stehe der Baum nicht unter Denkmalschutz Es sei aber, wie ihm Oberförster Lienert versichert habe, Aufgabe des Heimatschutzes, sich «mit aller Entschiedenheit» für die Erhaltung des Baums einzusetzen
Der Zwist zog sich – begleitet von mehreren Schriftwechseln – über ein Jahr hin Erst am 26 Juni 1967 rang sich der Regierungsrat zu einem Entscheid durch und bewilligte die Beseitigung des Baums Massgebend dafür war die Feststellung, «dass der Baum in den Wurzeln bereits angefault und im Stamm ausgehöhlt» sei und er «in wenigen Jahren sowieso abgetan» werden müsse Diese Begründung hatte allerdings einen kleinen Makel: Sie stimmte nicht Darauf wies auch die kantonale Natur- und Hei- matschutzkommission hin: Der Baum sei kerngesund Nicht einmal die «Injektionen von Schwefelsäure seitens der Grundeigentümerin» habe ihm etwas anhaben können Wie weiter? Die Regierung entschied, den Zustand des Kastanienbaums durch einen externen Gutachter aus Luzern überprüfen zu lassen. Tatsächlich kam auch dieser zum Schluss: Dem Baum geht es tipptopp In der Folge musste der Regierungsrat seinen Entscheid revidieren: Durch die Expertise könne es «als erwiesen betrachtet werden, dass der Baum [ ] gesund und lebensfähig ist», wie es im Beschluss vom 2 Januar 1968 heisst Man habe «bei der jetzigen Sachlage keine Veranlassung mehr, die Beseitigung des Baumes der Grundeigentümerin zu gestatten». Und so war der Kastanienbaum, der heute als Naturobjekt geschützt ist, endgültig gerettet (ve)
Baumspezialist Wipfli kümmert sich um den Kastanienbaum
Die Gemeinde Sarnen hat im Zuge der Sanierung und Neugestaltung der Poststrasse den Urner Baumexperten Walter Wipfli (55) engagiert In seinem Fokus steht der prächtige Kastanienbaum. Wipfli sorgt dafür, dass die wichtigsten Wurzeln des Baumes beim Abbruch des Asphalts und während der Pflästerung der Strasse unversehrt bleiben Zu diesem Zweck hat er rund um den Baum verschiedene «Sondierbohrungen» mit einem Metallstab gemacht (rechts auf dem Bild) «Am wichtigsten ist es, dass die statischen Wurzeln nicht beschädigt werden», erklärt Wipfli Deshalb steckt er rund um die Rosskastanie einen Bereich ab, der dem Baum «gehört» und nicht gepflästert werden darf Das ist auch deshalb wichtig, damit die Wurzeln des Baumes nicht in einigen Jahren die Pflastersteine aus dem Boden drücken Interessant: Bei den Bauarbeiten rund um die Ross- kastanie hat man in einer alten unterirdischen Leitung ein Leck entdeckt «Dadurch stand dem Baum viel Wasser zur Verfügung», erklärt Walter Wipfli Da der Kastanienbaum aber ohnehin regelmässig wegen der engen Platzverhältnisse zurückgeschnitten werden muss, sollte er künftig auch ohne dieses «Bonuswasser» auskommen können «Ich vermute, dass dieser Baum schon einige Widrigkeiten überlebt hat »
Walter Wipfli schätzt das Alter der Rosskastanie auf rund 150 Jahre «Das ist aber immer sehr schwer zu sagen » Doch der Baumexperte könnte mit dieser Schätzung recht gut liegen Die Kastanienbaum-Allee beim Frauenkloster beispielsweise wurde in den 1860er-Jahren gepflanzt In einer alten Ausgabe des «Volksfreund» findet sich zudem ein Hinweis, dass im Jahr 1872 beim Sarner Dorfplatz ein Kastanienbaum gepflanzt wurde (ve)
Baumexperte Walter Wipfli begleitet die Bauarbeiten beim Kastanienbaum an der Poststrasse (Bild: ve)