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Adrian Kech Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss


MÜNCHNER VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR MUSIKGESCHICHTE Begründet 1959 von Thrasybulos G. Georgiades Fortgeführt 1977 von Theodor Göllner Herausgegeben seit 2006 von Hartmut Schick

Band 74

Adrian Kech Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss

Adrian Kech studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Europarecht an der LudwigMaximilians-Universität in München. Im Sommer 2013 erfolgte seine Promotion mit vorliegender Arbeit, die von der Studienstiftung des deutschen Volkes durch ein Stipendium gefördert wurde. Von Oktober 2009 bis Dezember 2012 war Adrian Kech als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Richard-Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen tätig. Im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Richard-Strauss-Quellenverzeichnis (RSQV) war er dort an der Erstellung der RSQV-Datenbank beteiligt, die seit Oktober 2011 unter www.rsi-rsqv.de online frei zugänglich ist. Anschließend arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Musikwissenschaft der LMU, bevor er im Juli 2015 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Kritischen Richard-Strauss-Werkausgabe wechselte.


Adrian Kech

Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss


Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de Autor und Verlag haben sich bis zur Drucklegung intensiv bemüht, alle Publikationsrechte einzuholen. Sollten dennoch Urheberrechte verletzt worden sein, bitten wir die betroffenen Personen und Institutionen, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs-und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.

Oktober 2015 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2015 Buch&media GmbH, München Printed in Europe isbn print 978-3-86906-788-9 isbn pdf 978-3-86906-789-6


VORWORT Das gemeinsame Opernschaffen von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss umfasst folgende Werke: Elektra, Der Rosenkavalier, Ariadne auf Naxos (Erst- und Zweitfassung), Die Frau ohne Schatten, Die ägyptische Helena und Arabella. Viel ist schon geschrieben worden über die Zusammenarbeit der beiden Künstlerpersönlichkeiten, „ohne die das Musiktheater des 20. Jahrhunderts sehr viel ärmer dastehen würde“1. Warum also diese Studie über Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss? Ganz einfach: Weil das, worum es dem Komponisten in diesen Werken ging, immer noch viel zu selten profund thematisiert worden ist: seine Musik. Die Beschreibung des Musikalischen knüpft dabei nicht von ungefähr an die stets bedeutsame Idee der Verwandlung in Hofmannsthals Operndichtungen an. Als besonders musikgerechtes Sujet ist die Verwandlungsthematik geradezu prädestiniert für ein solche Vorhaben – umso mehr, als ihre kompositorische Umsetzung durch Strauss bisher noch nirgends ausführlich dargestellt wurde. Der Komponist selbst hat einmal geäußert, dass nur musikalische Fachleute „meiner Architektonik, meiner Instrumentation, meiner Harmonik erschöpfend gerecht werden“2 könnten. Herausgefordert durch diesen hohen Anspruch, wendet sich vorliegende Untersuchung an alle wahrhaft Musikinteressierten, denen lediglich Biographisches und Anekdotisches zu Strauss zu wenig ist. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Ohne die breite Unterstützung, die ich von vielen Seiten erhalten habe, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. An erster Stelle danke ich herzlich meinem Doktorvater Prof. Dr. Hartmut Schick von der Ludwig-Maximilians-Universität München für die umsichtige Betreuung meines Dissertationsprojekts. Er gab mir wichtige Impulse sowohl im persönlichen Gespräch als auch im Rahmen des von ihm geleiteten Doktoranden-Kolloquiums, wo ich wiederholt Teile meiner Arbeit präsentieren durfte. Auch den anderen Gutachtern und Mitgliedern der Prüfungskommission Prof. Dr. Wolfgang Rathert, Prof. Dr. Jürgen Schläder und Prof. Dr. Alfons Reckermann sei hiermit freundlich gedankt. Außerdem danke ich Prof. Dr. Walter Werbeck von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald für seine weiterführenden Anregungen zu verschiedenen Bereichen rund um mein Dissertationsthema. Ein eingehender Dank richtet sich an die Richard-Strauss-Arbeitsgruppe. Von ihrem Geist – dem ehrlichen Bemühen um das Strauss’sche Werk, gepaart mit wissenschaftlicher Weitsicht – hat diese Studie immens profitiert. Stellvertretend für viele sind hier zu nennen: der Begründer der Arbeitsgruppe Dr. Reinhold Schlötterer, seine Frau Dr. Roswitha Schlötterer-Traimer (†) sowie vor allem der aktuelle Leiter Dr. Bernd Edelmann, der mich im Studium an Strauss’ Musik herangeführt und seitdem mit allzeit fachkundigem und freundschaftlichem Rat begleitet hat.

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Schlötterer, Moderne, S. 28. Strauss/Gregor, Briefwechsel, S. 153. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Thomas, Strauss, S. 359.


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VORWORT

Ebenfalls herzlich danke ich Dr. Christian Wolf und Dr. Jürgen May sowie Adelgunde Jaschinski vom Richard-Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen. Die Verbindungen zum Richard-Strauss-Institut waren für meine Arbeit in vielerlei Hinsicht äußerst fruchtbringend: angefangen von den dort veranstalteten Blockseminaren der Richard-Strauss-Arbeitsgruppe über zahlreiche private Forschungsaufenthalte bis hin zu meiner Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Richard-Strauss-Quellenverzeichnis (RSQV) von Oktober 2009 bis Dezember 2012. Gerade durch das Nebeneinander von RSQV-Tätigkeit und Doktorarbeit haben sich unschätzbare Synergieeffekte ergeben. Hier danke ich insbesondere auch meiner Kollegin Dr. Claudia Heine sowie unserer Wissenschaftlichen Hilfskraft Anita Bauer M. A. Ein herzlicher Dank gilt darüber hinaus allen Personen und Institutionen, die mir die Einsichtnahme in die einschlägigen Quellendokumente ermöglicht haben, sei es im Original, sei es in Form von hauseigenen Reproduktionen, die großzügig zur Verfügung gestellt wurden. An erster Stelle zu nennen ist die Familie Strauss, namentlich Dr. Christian Strauss und Gabriele Strauss, die zudem so freundlich war, mir für autographe Quellenmaterialien eine entsprechende Publikationsgenehmigung zu erteilen. Ferner danke ich (gemäß der Abfolge der konsultierten Quellen im Verzeichnisteil): den Verantwortlichen der Kunstsammlungen der Veste Coburg sowie der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen, Dr. Konrad Heumann, Dr. Katja Kaluga und Bettina Zimmermann M. A. vom Freien Deutschen Hochstift Frankfurt (Main), Dr. Christian Wolf und Dr. Jürgen May vom RichardStrauss-Institut Garmisch-Partenkirchen, Prof. Dr. Hartmut Schick als Leiter der Kritischen Richard-Strauss-Ausgabe in München, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (Neckar), den Verantwortlichen der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, insbesondere Dr. Veronika Giglberger und Dr. Uta Schaumberg, dem Münchner Literaturarchiv Monacensia sowie der Juilliard School Library und der Morgan Library in New York, Prof. Dr. Dr. h.c. Otto Biba und Dr. Ingrid Fuchs sowie Ilse Kosz von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Dr. Silvia Kargl und Prof. Wolfram Görner vom Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker, Dr. Thomas Leibnitz und Dr. Andrea Harrandt von der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, ebenso den Verantwortlichen der dortigen Sammlung von Handschriften und alten Drucken, sowie Dr. Christiane Mühlegger-Henhapel und Dr. Kurt Ifkovits vom Österreichischen Theatermuseum in Wien. Das Zustandekommen dieser Arbeit wurde von verschiedener Seite generös gefördert. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes für die ideelle und materielle Unterstützung besonders in der Anfangsphase meines Dissertationsprojekts sowie der VG Wort für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, der das Erscheinen dieses Bandes erst möglich gemacht hat. Überdies danke ich dem SchottVerlag Mainz (als Rechtsnachfolger des Fürstner-Verlags) und der Universal Edition Wien für ihr Entgegenkommen, das Notenbild ihrer Drucke für meine Notenbei-


VORWORT

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spiele verwenden zu dürfen. Prof. Dr. Bryan Gilliam von der Duke University in Durham, NC hat mir freundlicherweise den Abdruck von Abbildungen aus seiner Elektra-Publikation gestattet, wofür ihm ebenfalls verbindlich gedankt sei. Abschließend richtet sich ein besonderer Dank an diejenigen, die mir bei der Redaktion mit Rat und Tat zur Seite standen. Ich danke herzlich Monika Kech und Nadja Kraft für ihr stets bedachtes und kritisch-produktives Lektorat, Dr. Andreas Pernpeintner und Dr. Stefan Schenk von der Richard-Strauss-Ausgabe in München für Ihre Unterstützung bei Formatierung und Bildbearbeitung sowie Alexander Strathern und dem Allitera-Verlag für die Schlusskontrolle des Texts und für die Einrichtung des Drucks. München, im Mai 2015 Adrian Kech



INHALTSÜBERSICHT EINLEITUNG ...................................................................................................................... 1 KAPITEL 1: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL I DIE HOHEN PAARE ...................................................................................................... 25 KAPITEL 2: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL II INNERER ZWIESPALT ALS TONALE OPPOSITION ...................................... 103 KAPITEL 3: ELEKTRA UND DER ROSENKAVALIER ZUR SKIZZIERSTRATEGIE BEI RICHARD STRAUSS .................................... 205 KAPITEL 4: DIE ÄGYPTISCHE HELENA UND ARABELLA VERWANDLUNG IN ZWEI ANLÄUFEN – DAS PRINZIP DER DOPPELTEN LÖSUNG ..................................................................................... 321 KAPITEL 5: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL III DIE „NEBENHANDLUNGEN“ ................................................................................ 429 KAPITEL 6: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL IV FINALKONZEPTE ........................................................................................................ 483 SCHLUSS ............................................................................................................................ 563 VERZEICHNISSE ........................................................................................................... 577 ANHANG .......................................................................................................................... 631



INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ...................................................................................................................... 1 A) Zum Thema der Verwandlung ....................................................................... 1 B) Zur Fragestellung und zur Vorgehensweise ............................................... 12 C) Zur Literatur und zu den Quellen ............................................................... 20 KAPITEL 1: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL I DIE HOHEN PAARE ...................................................................................................... 25 1.1 ASPEKTE MOTIVISCHER VERWANDLUNG ......................................................... 25 1.1.1 Vorbemerkungen zum Begriff des Leitmotivs .......................................... 25 1.1.2 Ariadne und Bacchus in Ariadne auf Naxos ................................................. 28 1.1.3 Kaiser und Kaiserin in Die Frau ohne Schatten ............................................. 34 1.2 TONALE OPPOSITIONSMODELLE, TEIL I .......................................................... 51 1.2.1 Ariadne und Bacchus – „Totenreich-Atmosphäre“ und „Orientalisch-Märchenhafte[s]“ ........................................................... 53 1.2.2 Kaiser und Kaiserin – ein provisorisch verbundenes Kontrastpaar ...... 59 1.2.2.1 In den ersten Szenen „auf das Allerwesentlichste“ beschränkt ...... 59 1.2.2.2 Die vorläufige Verbindung des Kaiserpaars ...................................... 68 1.3 TONALE OPPOSITIONSMODELLE, TEIL II ........................................................ 72 1.3.1 Die Parallelität der „seelischen Motive“ in Ariadne auf Naxos ................. 72 1.3.2 Komponierte Konfliktverschärfung in Die Frau ohne Schatten ................. 84 1.3.2.1 Indirekte Begegnung – die Falknerhaus-Szene des Kaisers im II. Akt ............................................................................ 85 1.3.2.2 Direkte Begegnung – die Tempelszene der Kaiserin im III. Akt ......................................................................... 94 KAPITEL 2: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL II INNERER ZWIESPALT ALS TONALE OPPOSITION ...................................... 103 2.1 GEGENSÄTZLICHE WELTEN I: DER COMPONIST ALS „ANTITHESE DES GANZEN SPIELS“ .......................................................... 107 2.1.1 „no sharps, no flats, no nonsense“? – der funktionale Status des Vorspiels in Ariadne auf Naxos ............................................................. 107


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INHALTSVERZEICHNIS

2.1.2 Das Componisten-Motiv als Knotenpunkt der Vorspiel-Konstruktion .......................................................................... 111 2.1.3 Der Skizzenhintergrund des Componisten-Motivs ................................ 118 2.2 GEGENSÄTZLICHE WELTEN II: GEISTER- UND MENSCHENWELT IN DIE FRAU OHNE SCHATTEN ......................................................................... 128 2.2.1 Kaiserin und Amme – die as/D-Konstellation in Halbakt Ia ............... 130 2.2.2 Zu einigen Entwürfen im Typoskript Hs-25476 ..................................... 140 2.2.3 Die as/D-Auswirkungen auf Halbakt Ib .................................................. 2.2.3.1 Keikobad und die Wächter ................................................................. 2.2.3.2 Die Färberhaus-Szene in der Aktarchitektur ................................... 2.2.3.3 Baraks As/D-Knotenpunkt als Antwort auf die Amme ................

147 147 148 154

2.3 WIDERSTREITENDE GEFÜHLE I: DIE ROLLE DER ZERBINETTA IN ARIADNE AUF NAXOS ................................................................................... 158 2.3.1 Zwischen Treue und Ausschweifung – die Des/E-Konstellation ....... 160 2.3.2 Die Des/E-Auswirkungen auf das Vorspiel und auf das Seria-Finale der Oper ............................................................. 168 2.3.2.1 Der temporäre Sinneswandel des Componisten ............................. 168 2.3.2.2 Die Kernzone der Seria-Verwandlung in der Oper ........................ 173 2.3.3 Die Folgen der Ariadne-Neufassung für Zerbinetta – ein Fazit ............ 177 2.4 WIDERSTREITENDE GEFÜHLE II: DAS DILEMMA DER KAISERIN IN DER TRAUMSZENE .......................................................................................... 179 2.4.1 Das Szenenzentrum – der Eintritt des Kaisers in Keikobads Geisterreich ........................................................................... 182 2.4.2 Die Rahmenteile der Traumszene – der Gefühlskonflikt der Kaiserin als poetischer Kontrapunkt .................................................. 189 2.4.3 Verwandlung als tonale Komplementärentwicklung – die Kaiserin-Musik im Werkverlauf ........................................................... 199 KAPITEL 3: ELEKTRA UND DER ROSENKAVALIER ZUR SKIZZIERSTRATEGIE BEI RICHARD STRAUSS .................................... 205 3.1 EINGANGSÜBERLEGUNGEN .............................................................................. 205 3.1.1 „der symphonischen Einheit wegen der Reihe nach komponieren“ .................................................................... 205 3.1.2 Gegenläufiges Füllen von Skizzenbüchern .............................................. 211


INHALTSVERZEICHNIS

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3.2 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN ELEKTRA ............................................... 222 3.2.1 Wer ist Elektra? – Aspekte einer musikalischen Identität ..................... 222 3.2.2 Elektras Tod oder: vom Scheitern und Gelingen einer Verwandlung ........................................................................................ 235 3.3 QUELLENTEIL I: ELEKTRA ................................................................................ 246 3.3.1 Das Finale vom Ende her konzipiert? ...................................................... 248 3.3.2 Experimentieren mit Elektras Ich-Akkorden .......................................... 253 3.3.3 Die Lösung eines alten Problems .............................................................. 257 3.4 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN DER ROSENKAVALIER ....................... 264 3.4.1 Verschiedene Verwandlungsaspekte ......................................................... 264 3.4.2 Die Abschiedsszene Marschallin/Octavian im I. Akt ............................ 270 3.5 QUELLENTEIL II: DER ROSENKAVALIER ....................................................... 283 3.5.1 Zur Genese des Finalaktes .......................................................................... 284 3.5.1.1 Das Schlussterzett vorab komponiert? ............................................. 285 3.5.1.2 Das Typoskript TrV_227_q13407 im Entwurfskontext ............... 293 3.5.2 Die Quellenlage beim I. Akt ....................................................................... 297 3.5.2.1 Zur Entstehung des Zeit-Monologs .................................................. 301 3.5.2.2 Die Umstellung ..................................................................................... 307 3.6 NUR „SAUCE ÜBER DEN BRATEN“? – EIN FAZIT ............................................ 314 KAPITEL 4: DIE ÄGYPTISCHE HELENA UND ARABELLA VERWANDLUNG IN ZWEI ANLÄUFEN – DAS PRINZIP DER DOPPELTEN LÖSUNG ..................................................................................... 321 4.1 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN DIE ÄGYPTISCHE HELENA ................ 324 4.1.1 Die Verwandlung Helenas als Projektion des Menelas .......................... 324 4.1.2 „beide zu einer nun dich vereinest“ – Verwandlung motivisch ........... 330 4.1.3 Die Scheinlösung im Finale I ...................................................................... 346 4.1.3.1 Menelas als gebrochener Held ............................................................ 346 4.1.3.2 Das E-Dur-Finale als schmerzlindernder Selbstbetrug .................. 353 4.1.4 Die komplexe Lösung im Finale II ............................................................ 4.1.4.1 Die Spiegelstruktur ............................................................................... 4.1.4.2 Die chiastische Struktur ....................................................................... 4.1.4.3 Die Überwindung des Lamento .........................................................

356 357 362 365


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INHALTSVERZEICHNIS

4.2 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN ARABELLA ........................................... 372 4.2.1 Arabella eine Operette? ................................................................................ 372 4.2.2 Arabellas Sehnsucht ..................................................................................... 378 4.2.3 „Das ist ja der reine Marlittheld!“ – die Rolle des Mandryka ................ 392 4.2.4 Die Scheinlösung des Verlobungsduetts .................................................. 400 4.2.5 Die komplexe Lösung der Versöhnungsszene ........................................ 412 4.2.6 Die „Lyrische Komödie“ Arabella ............................................................. 423 KAPITEL 5: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL III DIE „NEBENHANDLUNGEN“ ................................................................................ 429 5.1 DISTANZ UND NÄHE ........................................................................................... 433 5.1.1 Limitierte Vermittler – die Buffoni in Ariadne auf Naxos ....................... 433 5.1.2 Konflikt und Verwandlung des Färberpaars in Die Frau ohne Schatten ................................................................................ 438 5.1.2.1 Der Konflikt des Schattenverkaufs oder: E-Dur contra b-Moll ................................................................. 438 5.1.2.2 Die gegenseitige Verwandlung des Färberpaars .............................. 444 5.2 FINALVORGRIFFE ................................................................................................. 449 5.2.1 Das Commedia-Spiel „Die ungetreue Zerbinetta und ihre vier Liebhaber“ ............................................................................. 449 5.2.2 Die Verklärung der Färberin als Präformierung des Werkfinales ........ 459 5.2.2.1 Die verklärte Färberin als Frauenbild ................................................ 459 5.2.2.2 Das präformierte Werkfinale .............................................................. 468 5.2.3 Die Färberin im Spiegelverhältnis zur Kaiserin ....................................... 473 KAPITEL 6: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL IV FINALKONZEPTE ........................................................................................................ 483 6.1 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN ARIADNE AUF NAXOS ....................... 489 6.1.1 Die Seria-Verwandlung als wechselseitige Verschränkung .................... 490 6.1.2 Ariadne, Götterdämmerung und Daphne ......................................................... 501 6.1.3 „Fluch allen Umarbeitungen!“ – Ariadne I und Ariadne II ..................... 506


INHALTSVERZEICHNIS

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6.2 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL I ........................................................... 513 6.2.1 Parallel und doch komplementär – die As/as–D/d-Konstellation von Kaiserin und Amme im III. Akt ......................................................... 517 6.2.2 Die Kaiser-Verwandlung vorweggenommen – die A/a–es/Es-Konstellation ..................................................................... 526 6.2.3 Keikobad als Regisseur – die Tritonusverhältnisse verzahnt ................ 531 6.3 MUSIKALISCHE VERWANDLUNG IN DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL II ......................................................... 539 6.3.1 Das Werkfinale .............................................................................................. 6.3.1.1 Die Funktion der Ungeborenen ......................................................... 6.3.1.2 Die letzte Verwandlungsmusik ........................................................... 6.3.1.3 Das Fächermodell des erweiterten Finales .......................................

540 540 545 548

6.3.2 Die Frau ohne Schatten und Gustav Mahlers Achte Symphonie .............. 553 6.3.2.1 Gemeinsamkeiten „in setting and conception“ ............................... 553 6.3.2.2 Unterschiede – Irdisches und Metaphysisches musikalisch .......... 558 SCHLUSS ............................................................................................................................ 563 VERZEICHNISSE ........................................................................................................... 577 A) Notenausgaben ............................................................................................. 577 B) Primärliteratur, Textbuch- und Briefausgaben ........................................ 582 C) Sekundärliteratur, Nachschlagewerke, sonstige Nachweise .................. 587 D) Konsultierte Quellen .................................................................................... 622 ANHANG .......................................................................................................................... 631 A) Skizzenbuchinventarien ............................................................................... 631 B) Faksimile von D-Ff: Operntext Hs-25476 (= RSQV q13330): Die Frau ohne Schatten, I. Akt, erste Hälfte ................................................. 635 C) Faksimile eines Skizzenblattes aus Privatbesitz (= RSQV q00606): Ariadne auf Naxos (II), Vorspiel .................................................................. 659



EINLEITUNG A) Zum Thema der Verwandlung „Verwandlung, Metamorphose, Selbstüberwindung – in nahezu allen Werken von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss steht dieses Thema im Mittelpunkt.“1 Mit dieser Feststellung leitete Anette Unger ihren Beitrag zum Programmbuch der Frau ohne Schatten ein, das 1993 anlässlich einer deutsch-japanischen Koproduktion2 der Märchenoper an der Bayerischen Staatsoper herauskam. Gezielte Stichproben in der kaum mehr zu überschauenden Literatur zu Hofmannsthal und Strauss machen schnell klar: Ungers Sichtweise ist alles andere als eine Einzelmeinung. Viel eher scheint sie von einem Konsens getragen, der so allgemein ist, dass die Verwandlungsthematik bislang gar nicht grundsätzlich zur Debatte stand.3 In seinem Aufsatz über Strauss’ Antikenrezeption stellt Walter Werbeck mit Blick auf Hofmannsthal und dessen Mythos-Verständnis4 wie selbstverständlich fest, dass „alle seine Opern durch zahlreiche Fäden miteinander verknüpft“5 seien: „Fest und Verwandlung erleben Ariadne und Bacchus ebenso wie Barak und seine Frau, die Kaiserin und der Kaiser, Helena und Menelas, Arabella und Mandryka, vielleicht auch Octavian und Sophie. Gegensätze wie zwischen Elektra und Chrysothemis begegnen in ironischer Brechung wieder zwischen Ochs und Octavian, zwischen Zerbinetta und Ariadne.“6 Wenn aber die Verwandlung bei Hofmannsthal und Strauss derart omnipräsent ist, weshalb ist das so zentrale Thema im Opernwerk des Autorenduos dann bislang nirgendwo grundlegend behandelt worden? – Die vorliegende Arbeit soll, zumindest soweit es Strauss’ Musik betrifft, diese Lücke schließen. Unger, Verwandlung, S. 8. Vgl. Lesnig, Aufführungen, Bd. 1, S. 182 i.V.m. S. 203. Vgl. dazu die DVD-Produktion der Bayerischen Staatsoper von den Live-Mitschnitten am 8. und 11. November 1992 im Aichi Prefectural Art Theater in Nagoya, Japan (Staatsoper, Frau ohne Schatten [1992]). Zum japanischen Kabuki-Theater, an das diese Inszenierung der Frau ohne Schatten angelehnt war, vgl. z.B. Harris, Theatre, bes. S. 155ff., Ortolani, Kabukitheater, oder allgemein einführend Leims, Kabuki. 3 So häufig die Verwandlungsthematik in der Literatur gestreift wird, so überschaubar sind die Beiträge zum Thema selbst. Aus dem Bereich der Literaturwissenschaft vgl. Masson, Métamorphose, und Thomasberger, Verwandlungen, wobei Letzterer sich auf die Verwandlungen in Hofmannsthals Lyrik konzentriert. Dagegen wurde wiederholt nach den Einflüssen des (französischen) Symbolismus bei Hofmannsthal gefragt: Sondrup, Tradition, Kovach, Symbolism, und Vilain, Poetry, daneben grundlegend zu Hofmannsthal: Kovach, Companion, und Bennett, Hofmannsthal. Aus dem Bereich der Musikwissenschaft vgl. insbesondere Unger, Verwandlung, und Gilliam, Verwandlung. Auf diese wie auf weitere Beiträge wird an Ort und Stelle gesondert verwiesen. 4 Vgl. hierzu Näheres in Kapitel 4.1.2. 5 Werbeck, Antike, S. 18. 6 Ebd. 1 2


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EINLEITUNG

Verwandlung ist nicht gleich Entwicklung oder Veränderung. In seiner Studie über Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten7 nennt Andreas Dorschel konkretere Bestimmungsmerkmale, wofür ihm der erste Satz von Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung als Exempel dient: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren [sic] Ungeziefer verwandelt.“8 Dorschel stellt dazu fest: „Verwandlung macht man nicht, sie widerfährt einem; Gregor Samsa ‚fand [...] sich‘ verwandelt. Verwandlung ist ein Vorgang in der Zeit: er teilt diese in ein Vorher und ein Nachher – auch wenn das Partizipialadjektiv ‚verwandelt‘ das Ergebnis des Vorgangs bezeichnet, nicht diesen selbst. Verwandlung verleiht eine neue Gestalt. Wo Verwandlung ihren Namen verdient, ist sie Wirklichkeit: Gregor Samsa ist nicht wie ein Ungeziefer – er ist eines. Verwandlung betrifft den Körper, doch sie wirft – in Träumen etwa – Schatten ins Bewußtsein. Verwandlung hält es mit der Nacht, aber am Tag treten ihre Ergebnisse ans Licht.“9 Dorschel beschreibt Verwandlung als ein Phänomen, das sich auf den Betroffenen in seiner Lebenswirklichkeit denkbar direkt und unmittelbar auswirke, dessen Ungeheuerlichkeit sich aber dem analytischen Zugriff entziehe. „Das geheure Gegenstück zur Verwandlung ist die bloße Veränderung. In ihr bleibt das Wesen bestehen, und es ändern sich lediglich seine Attribute [...]. Es ist, nach einer bezeichnenden Metapher, ‚Träger‘ seiner Eigenschaften.“10 Weder sei ausgemacht, dass Verwandlung einen Täter brauche, noch, dass der Verwandlungsvorgang Eindeutigkeit zum Ziel haben müsse. Im Gegenteil: „Unschärfe und Zweideutigkeit gehören im Fall von Verwandlung zur Sache selbst. Sie sind keine bedauerlichen Defekte, die mit logischen Basteleien zu beheben wären, sondern ein Grund historischer Wirksamkeit der Idee.“11

7 Dorschel, Verwandlung. Dorschels Studie will „kein Beitrag zur Bioethik, sondern ein Versuch in komparativer Metamorphotik“ sein: „Vergleichen nämlich setzt imstande, im Fremden das Vertraute zu sehen und vom Vertrauten sich befremden zu lassen, ohne dem zu entnehmen, alles sei dasselbe.“ (Ebd., S. 15). Dabei werden vier Versuche, „Verwandeln zu denken“, vorgestellt: „Ovidische Metamorphose (Kap. 1), christliche Transfiguration (Kap. 2), alchimische Transmutation (Kap. 3), genetische Transformation (Kap. 4).“ (Ebd., S. 17). 8 Kafka, Verwandlung, S. 115. 9 Dorschel, Verwandlung, S. 9. 10 Ebd., S. 10. Dorschel dazu weiter: „Je nach Zeit und Kultur fallen die Empfindlichkeiten auf Schmerz, Krankheit und Alter [...] verschieden aus; immer aber gibt es somatische Empfindlichkeiten. In solcher Schwäche gründet eine Faszination von Verwandlung, vielleicht die Faszination von Verwandlung. Denn diese verspricht, grundlegend mit der hinfälligen Beschaffenheit aufzuräumen. Sie verheißt Abstand von etwas, dem man sonst ausgeliefert war. Verwandlung eines Wesens bedeutet, daß sich nicht lediglich etwas an ihm ändert, sondern es selbst.“ (Ebd., S. 12–13). 11 Ebd., S. 16.


EINLEITUNG

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Dies auf der Bühne überzeugend darzustellen, legt von vornherein die Verwendung von Musik nahe, nicht nur, weil sie über die Fähigkeit zur simultanen bzw. mehrdimensionalen Darstellung verfügt,12 sondern auch, weil sie als das Medium in der Zeit par excellence „der Übergänge, bis an die Grenze des Unmerklichen, zwischen Tonhöhen, Klangfarben, Graden der Lautstärke fähig ist“13: „Verwandlung kann kontinuierlich oder diskontinuierlich geschehen; zu etwas wachsen, in etwas umschlagen sind ihre extremen Möglichkeiten. Jener Fall ist für ihre Darstellung der schwierigere. Denn Kontraste sind allemal leicht zu haben. Die kontinuierliche Veränderung hingegen verlangt Grade und Schattierungen; [...]. So scheint unter den Künsten wie keine andere die Musik zum Medium der Verwandlung prädestiniert.“14 Obwohl Verwandlung also von bloßer Entwicklung oder Veränderung zu unterscheiden ist, kann ihre Umsetzung auf musikalisch-technischer Ebene sehr wohl Entwicklung oder Veränderung implizieren, etwa in Form von Motivtransformationen, Variantenbildungen oder Variationsverfahren. Aber Verwandlung ist auch nicht gleich Verwandlung, wenigstens nicht in Bezug auf Hofmannsthal. Für ihn taugen Dorschels Kriterien nur partiell. Dass Verwandlung ein wundersamer, rational kaum zu fassender Vorgang ist, gilt sicher auch bei Hofmannsthal, und ebenso, dass sie nichts Akzidentielles ist, sondern etwas, das die volle Lebenswirklichkeit seiner Bühnenfiguren betrifft. Doch anders als bei Kafkas Gregor Samsa, für dessen Verwandlung das Moment des äußerlich Sichtbaren essentiell ist, geht es in Hofmannsthals Werken in erster Linie um innere Verwandlung. Mehr noch: In der Frau ohne Schatten ist die äußere Verwandlung das negative Komplement dazu, denn für die Kaiserin beginnt der „Weg in die menschlich-irdische Existenz, ihre innere Wandlung“ erst dann, „wenn die Fähigkeit zur äußeren Verwandlung nicht mehr möglich ist: wenn sie in der Begegnung mit dem Kaiser die Gazellengestalt verliert und darüber hinaus [...] zu den Menschen hinabsteigt, um bei ihnen Sorge und Respekt, Schuld und Hingabe, Trauer, Mitleid und Tod – kurz: um die Gesetze des Lebens einschließlich ihrer Schattenseiten zu erlernen“15. Die große Szene der Kaiserin im II. Akt sei laut Hofmannsthal „nur eine Projektion dessen, was im Innern der Kaiserin“16 vorgehe: „Wie denn überhaupt das Dichterische erst dann realisiert ist, wenn alles Äußere verinnerlicht und alles Innere veräußerlicht wird.“17

12 Vgl. hierzu Hofmannsthals Brief an Strauss vom 18. Januar 1924: „Die Dichtung muß alles im Nacheinander bringen, wo der Musik ein gewisses Nebeneinander, ja Ineinander gewährt ist.“ (Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 510). Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Unger, Verwandlung, S. 16. 13 Dorschel, Idee, S. 36. 14 Ebd. 15 Unger, Verwandlung, S. 10. 16 Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 285. 17 Ebd.


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EINLEITUNG

Erst in einem zweiten Schritt wirkt sich die innere Verwandlung der Kaiserin auch auf ihren Körper aus, allerdings nicht wie bei Kafka im Sinne einer tierhaften Entstellung, sondern genau im Gegenteil in Form der Vermenschlichung im emphatischen Sinn: „La notion de métamorphose chez Hofmannsthal inverse le schéma traditionnel: alors que la logique de la métamorphose est d’annihiler l’humain en animal ou en végétal, ou, pour un dieu, de contrefaire l’humain sans cesser d’être lui-même, de manière purement trompeuse, ici c’est l’humanité qui constitue le terme de la métamorphose.“18 Indem die Kaiserin menschliches Mitleid fühlen lernt, verwandelt sie sich zuletzt von einem lichtdurchfluteten Feenwesen in einen echten Menschen aus Fleisch und Blut, der einen Schatten wirft: innere Verwandlung als szenisch sichtbar gemachter Erwerb von Humanität. Hofmannsthals vielleicht pointierteste Einlassung zur Verwandlungsthematik findet sich im sogenannten Ariadne-Brief, der ursprünglich nur dem Komponisten Strauss den Stoff und seine Motive näher bringen sollte, später jedoch in modifizierter und erweiterter Form veröffentlicht wurde.19 So erläutert Hofmannsthal Mitte Juli 1911 gegenüber Strauss seine Ariadne-Dichtung: „Es handelt sich um ein simples und ungeheueres [sic] Lebensproblem: das der Treue. An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken.“20 Diese im Engeren auf Ariadne auf Naxos bezogene Erläuterung lässt sich entsprechend abgewandelt auf die anderen Hofmannsthal/Strauss-Opern übertragen – umso mehr, als die 1912 publizierte Textform des Briefs das Verhältnis zwischen Ariadne auf Naxos und Elektra herausstellt: „So steht hier [in Ariadne auf Naxos, Anm. d. Verf.] aufs neue Ariadne gegen Zerbinetta, wie schon einmal Elektra gegen Chrysothemis stand. Chrysothemis wollte leben, weiter nichts; und sie wußte, daß, wer leben will, vergessen muß. Elektra vergißt nicht. Wie hätten sich die beiden Schwestern verstehen können?“21

Masson, Métamorphose, S. 58. Vgl. Hofmannsthal, Ariadne-Brief. Der überarbeitete Ariadne-Brief wurde publiziert im Almanach für die Musikalische Welt 1912/1913, S. 92–96. Vgl. dazu die Wiedergabe des Briefs in HSW, Bd. 24, S. 204–207. 20 Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 134. 21 Hofmannsthal, Ariadne-Brief, S. 92–93. Vgl. dazu Konrad, Studien, S. 122: „Die Konstellation konträrer Frauenfiguren, wie sie bei Elektra vs. Chrysothemis und Ariadne vs. Zerbinetta vorliegt und auf die 18 19


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Hofmannsthals ergänzende Erläuterungen zu Elektra machen klar, dass Verwandlung immer auch die Möglichkeit ihrer Negation in sich birgt. Auch dezidierte NichtVerwandlung, die Unfähigkeit, sich zu verwandeln, kann Thema sein. Das gilt sowohl für Elektra, die „sich selbst gleichsam aus dem Lebenskreis“22 auslöscht, als auch für die Amme in der Frau ohne Schatten. Wie Anette Unger hervorhebt, wird die Amme zwar „ihre Fähigkeit, andere zu verwandeln – und hier ist Verwandlung im Sinne von Hexerei gemeint –, in der ganzen Oper nicht verlieren“23. Das aber sei nur die Kehrseite des eigenen Unvermögens: „Zu einer eigenen, inneren Wandlung ist die Amme unfähig, sie scheitert [...] an der Wandlung der anderen.“24 Mit dem Gegensatz zwischen eigener Verwandlung und der Verwandlung des Gegenübers gerät ein weiteres zentrales Moment ins Blickfeld. In keiner Hofmannsthal/Strauss-Oper ist Verwandlung ästhetischer Selbstzweck, sondern charakterisiert eine Wandlungsform, die Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen des Ad me ipsum den „Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst“25 genannt hat. Hierzu grenzt Bryan Gilliam am Beispiel von Ariadne auf Naxos das Hofmannsthal’sche Verwandlungskonzept von dem des späteren Strauss-Librettisten Joseph Gregor ab. Zwar gehe es auch in der Strauss/Gregor-Oper Daphne um Verwandlung: „Yet for Hofmannsthal, the librettist for Ariadne, transformation meant something quite different from what Joseph Gregor intended for his Daphne text. In the former, Verwandlung was a process of becoming at one with the social, with civilization and the community of humanity, assuring the continuity of life. For the latter, transformation involved the very act of leaving the human community, joining nature, and becoming divine.“26 Mit der Verwandlung durch andere wird zudem ein weiteres Kriterium von Dorschel hinfällig: das des unbekannten Verursachers. Hofmannsthals Verwandlungen kennen ihre Verursacher sehr wohl, und zwar im Sinne eines Gegenübers, das die Verwandlung auslöst. In Ariadne auf Naxos ist die Verwandlung sogar gegenseitig – Ariadne verwandelt Bacchus und umgekehrt. Übertroffen wird dies nur noch von der Frau Hofmannsthal im sogenannten ‚Ariadne-Brief‘ an Strauss (1912) hinweist [...], wird auch in der ‚Frau ohne Schatten‘: Kaiserin–Färberin und in ‚Arabella‘ (1927–29): Arabella–Zdenka aufgegriffen, [...].“ 22 Konrad, Studien, S. 118. Vgl. in diesem Sinn auch Unger, Verwandlung, S. 10: „An Elektra [sic], die den ‚Schritt des Lebens‘ nicht vollziehen konnte, hatte Hofmannsthal [...] noch die Unfähigkeit zur Verwandlung demonstriert. Sie war am Leben gescheitert, hatte die Erstarrung, das Verharren in der Vergangenheit, das Nicht-Vergessen-Wollen gegen die Verwandlung gesetzt.“ 23 Unger, Verwandlung, S. 10. 24 Ebd. 25 HGW, Bd. 10, S. 602. 26 Gilliam, Verwandlung, S. 67. Gilliam weiter: „For Hofmannsthal, the Austrian, transformation is an allomatic or mutual act (such as between Ariadne and Bacchus), leading [...] to the community of human beings, to real life. In Daphne, Strauss, acting on his pre-Hofmannsthal instincts, sees transformation as an act of an individual leaving the social, joining nature, becoming divine in a German-Romantic sense of the term.“ (Ebd., S. 81). Vgl. dazu Lütteken, Moderne, S. 172–196 (Kapitel VIII: „Das ‚erreichte Soziale‘: Strauss und Hofmannsthal“).


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ohne Schatten, „in der Hofmannsthal die Verknüpfung mit der Welt durch die ‚Verknüpfung zweier Individuen‘[27] zum zentralen Thema überhaupt“28 macht. Dass der Verwandlungsakt dadurch rationaler, berechenbarer, konkreter würde, ist damit allerdings nicht gesagt. Denn selbst die direkte, personenbezogene Verwandlung bleibt etwas, das sich der unmittelbaren Darstellung entzieht, weshalb etwa Die ägyptische Helena auf Zaubertränke zurückgreift, die im Anschluss an Wagner29 äußeres Sinnbild für innere Seelenvorgänge sind. Ausgehend von Hofmannsthals Mythos-Verständnis als einer Vereinigung von antinomischen Prinzipien auf höherer Ebene,30 fasst Walter Werbeck dieses Verwandlungskonzept folgendermaßen zusammen: „Immer zielt der Dichter auf die Befreiung vom gemeinen Leben hin zu tieferer, eben mythischer Wahrheit, entwirft er Utopien einer Sozietät von Menschen, die sich selbst in ihren Widersprüchen erkennen und erst so zu wirklicher Gemeinschaft fähig sind.“31 Werbecks Verwandlungsdefinition (die sich vonseiten der Literaturwissenschaft sicher noch vertiefen ließe) wird für diese Arbeit leitend sein. Sie ist einerseits spezifisch genug, um die Verwandlung bei Hofmannsthal zureichend zu charakterisieren, andererseits aber auch wieder so allgemein, um auf alle Spielarten anwendbar zu sein. Bei Ariadne auf Naxos und bei der Frau ohne Schatten steht die Bedeutung der Verwandlungsthematik außer Frage, ebenso bei Elektra und bei der Ägyptischen Helena. Beim Rosenkavalier und bei Arabella dagegen ist die Verwandlung stärker von anderen Werkaspekten überlagert, wenngleich sie auch dort nachweisbar und – wie zu zeigen sein wird – alles andere als akzidentiell ist. Im Mittelpunkt stehen regelmäßig die bei Hofmannsthal oft besonders konzentrierten Theatermomente, wenn sich die betreffenden Figuren zum ersten Mal auf der Bühne begegnen bzw. wenn sie ihr Gegenüber erstmals (wirklich) erkennen und in der Begegnung bzw. durch das Erkennen selbst innerlich verwandelt werden.32 Zugleich ist damit die Abgrenzung zu dem gegeben, was diese Arbeit nicht behandeln wird. Die Fokussierung auf das Verwandlungskonzept in den Hofmannsthal-Opern schließt – nicht zuletzt aus Gründen des Umfangs – die grundlegende Erörterung anderer von Strauss komponierter Verwandlungen aus, sei es im Instrumentalwerk, sei es im Opernwerk wie etwa in der Liebe der Danae, deren Operntext 27 Vgl. den betreffenden Passus im Ad me ipsum: „mit dem Sich-verwandeln das Verwandeln eines Andern[,] Verknüpfung mit der Welt durch Verknüpfung zweier Individuen“ (HGW, Bd. 10, S. 607). 28 Unger, Verwandlung, S. 10. 29 Vgl. hierzu Borchmeyer, Wagner, bes. S. 346–347. 30 Vgl. hierzu in Hofmannsthals Buch der Freunde: „Mythisch ist alles Erdichtete, woran du als Lebender Anteil hast. Im Mythischen ist jedes Ding durch einen Doppelsinn, der sein Gegensinn ist, getragen: Tod = Leben, Schlangenkampf = Liebesumarmung. Darum ist im Mythischen alles im Gleichgewicht.“ (HGW, Bd. 10, S. 257–258). Vgl. die entsprechenden Hinweise bei Schlötterer, Moderne, S. 18, Fußnote 11, und bei Hottmann, Historismus, S. 529. 31 Werbeck, Antike, S. 18. 32 Vgl. hierzu Homoki, Fremdheit, bes. S. 204–205.


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von Joseph Gregor (und Richard Strauss?)33 auf ein Hofmannsthal’sches Szenarium34 zurückgeht. Dabei versteht es sich von selbst, dass Werktitel wie Tod und Verklärung oder die Metamorphosen geradezu dazu herausfordern, in weiterführenden Studien zu prüfen, wie sich die musikalische Verwandlung in den HofmannsthalOpern zu anderen Verwandlungskonzepten verhält, die Strauss kompositorisch realisiert hat. Für das Ariadne-Finale immerhin bietet sich ein vergleichender Seitenblick auf die musikalische Verwandlung in Daphne an, deren Struktur Bryan Gilliam35 und im Anschluss an ihn Rebekka Sandmeier36 beschrieben haben. Die durch Verwandlung erworbene Fähigkeit „zu wirklicher Gemeinschaft“ mündet in den Hofmannsthal/Strauss-Opern in verschiedene Formen von Ehekonzepten, die ab der Frau ohne Schatten deutlich Gewicht bekommen: „Sind im Rosenkavalier Ehe und Treue komödiantisch-sentimental, in Ariadne ironisch behandelt, so tritt von nun an der volle Ernst im gemeinschaftlichen Schaffen in diesen Themen in den Vordergrund. Die Ehe wird nun tatsächlich zum höchsten Desiderat, zu einem summum bonum (wie ja auch bei Strauss selbst in seiner Sinfonia domestica und dem späteren Intermezzo) [...].“37 In der Tat geht es in der Frau ohne Schatten „um eine vollgültige sittliche Verbindung zwischen Mann und Frau, wie sie am Ende des ersten Aktes [...] von den Wächtern postuliert und schließlich von den bereits vermählten, aber erst in ‚prüfenden Flammen gestählt[en]‘ Paaren vollzogen wird“38. Die Frau ohne Schatten eröffnet damit eine Reihe von Eheopern, in die Strauss’ Intermezzo ebenso gehört wie Die ägyptische Helena.39 Als Antwort auf den Zeitgeist der Weimarer Republik versucht Hofmannsthal darin dichterisch, die Ehe des mythologischen Paares Helena/Menelas vor dem Hintergrund des Trojanischen Kriegs als integer zu beweisen. Selbst die letzte gemeinsame Oper des Autorenduos, Arabella, lässt sich noch in diese Reihe stellen. Statt in mythisch-historischem nun im Wiener Ambiente der 1860er-Jahre angesiedelt, thematisiert sie die Verwicklungen um „eine Verlobungsangelegenheit“40. Besonders faszinierend war bei Hofmannsthal schon immer der Begriff des Allomatischen. Kaum jemand versäumt es, im Rahmen der Verwandlungsthematik auf Hofmannsthals Notizen im Ad me ipsum hinzuweisen, in dem der Werktitel der Frau ohne Schatten und Bacchus als der männliche Protagonist in Ariadne auf Naxos stichpunktartig mit dem entsprechenden Vokabular assoziiert sind: Vgl. hierzu Schlötterer, Danae. Vgl. hierzu Mueller von Asow, Strauss-Verzeichnis, Bd. 3, S. 1445, i.V.m. HSW, Bd. 25.1, S. 725–764. 35 Vgl. Gilliam, Transformation, und Gilliam, Verwandlung. Die entsprechenden Quellengrundlagen dafür hat Gilliam selbst 1984 gelegt (vgl. Gilliam, Daphne). 36 Vgl. Sandmeier, Daphne, bes. S. 112ff. 37 Dürhammer, Ehe, S. 236. 38 Konrad, Studien, S. 116. 39 Vgl. hierzu Gilliam, Operas, bes. S. 126–129. 40 Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 668. 33 34


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„Der schicksalvolle Bräutigam: Bacchus. Kreuzung mythischer Motive. Die gegenseitige Verwandlung. Das allomatische Element. ‚Die Frau ohne Schatten‘: Triumph des Allomatischen. Allegorie des Sozialen.“41 Dabei ist die Begriffslage alles andere als eindeutig. Nach gängiger Auffassung meint Allomatik bei Hofmannsthal ein Prinzip „des gegenseitigen Sich-Verwandelns“42. Problematisch wird es allerdings, wenn man dem Begriff „allomatisch“ von literaturwissenschaftlicher Seite her auf den Grund geht.43 Manfred Papes Aufsatz44 über die konzeptionellen Hintergründe von Hofmannsthals Romanfragment Andreas hat bereits 1975 gezeigt, dass der vom Dichter nicht eben häufig45 verwendete Begriff dem 1912 erschienenen Buch von Ferdinand Maack Zweimal gestorben! Die Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem XVIII. Jahrhundert46 entnommen ist. Hierbei handelt es sich um eine philosophisch-spiritistisch-alchemistische Schrift, die Hofmannsthal nachweislich gelesen und mit eigenen Eintragungen versehen hat.47 Maack beruft sich auf die Ansichten der „alchemistischen, gold- und rosenkreuzerischen Naturphilosophen“, die den kosmischen Zusammenhang allen Seins „als die ‚goldene Kette Homers‘ (aurea catena Homeri) oder den ‚Ring des Plato‘ (annulus Platonis)“48 bezeichneten. Daran anknüpfend, formuliert er recht abenteuerliche Prämissen:

HGW, Bd. 10, S. 603. Unger, Verwandlung, S. 10. In ähnlichem Sinn bei Gilliam, Verwandlung, S. 81: „For Hofmannsthal, the Austrian, transformation is an allomatic or mutual act [...].“ Oder bei Bottenberg, Collaboration, S. 120: „‚das Allomatische,‘ meaning the reciprocal transformation of characters“. 43 Im Folgenden stütze ich mich auf den Vortrag von Norbert Christian Wolf (vgl. Wolf, Allomatik), dem ich den Anstoß zur kritischen Revision meiner bis dato erzielten Ergebnisse (vgl. Kech, Prinzip, bes. S. 29–30) verdanke. 44 Vgl. Pape, Catena. 45 Vgl. hierzu Bennett, Hofmannsthal. Zu Beginn seines Kapitels „The Allomatic“ (ebd., S. 252–268) stellt Bennett fest, dass der Begriff in sämtlichen bis dahin (1988) veröffentlichten Hofmannsthal-Schriften insgesamt nur fünfmal vorkomme: „twice close together in ‚Ad me ipsum‘ [...], twice in the notes to Andreas [...], and once in connection with another narrative project“ (ebd., S. 252). Eine Stichwortsuche über die Hathi Trust Digital Library, in der die allermeisten der bislang erschienenen Bände der Hofmannsthal-Gesamtausgabe per verdeckter Volltextrecherche durchsucht werden können, ergab für das Begriffsfeld der Allomatik insgesamt 25 Treffer (http://catalog.hathitrust.org/Record/000193326, letzte Abfrage: 31. Dezember 2014, durchsuchte Bände: 1–31, Suchbegriffe: „Allomatik“, „allomatisch“, „allomatische“, „allomatischem“, „allomatischen“, „allomatischer“, „allomatisches“). Nur acht dieser Treffer gehen auf Hofmannsthal direkt zurück: zwei davon auf die angeführte Textpassage im Ad me ipsum, einer auf Notiz N 7 zu Erinnerung schöner Tage (vgl. HSW, Bd. 28, S. 232), einer auf Notiz N 5 zu Siebenbrüder (vgl. HSW, Bd. 29, S. 195), drei auf die Notizen N 68, N 72 und N 70a zu Andreas (vgl. HSW, Bd. 30, S. 102, 105 und 352) und einer auf Notiz N 4 zu Die Gespräche der Tänzerin (vgl. HSW, Bd. 31, S. 175– 176). Claudia Konrads Einschätzung, wonach Hofmannsthal sich „intensiv seit 1912“ (Konrad, Studien, S. 115) mit dem Begriff des Allomatischen beschäftigt habe, ist daher bis auf Weiteres zu relativieren. 46 Vgl. Maack, Rosenkreuzer. 47 Vgl. hierzu HSW, Bd. 40, S. 444–448, Nr. 1763. 48 Maack, Rosenkreuzer, S. 11. 41 42


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„Es gibt unter Atomen keine ‚Autome‘ (autos = selbst); es gibt nur ‚Allome‘ (allos = der andere). Was immer ein sog. Selbst besitzt, hat es Anderem zu verdanken. Alles kommt von außen, in letzter Linie. [...] Alles verwandelt sich, aber nichts verwandelt und verändert sich ‚aus sich selbst‘. Zu jeder Veränderung ist ein Zweites erforderlich. Jede Transformation ist eine allomatische.“49 Wie überzeugend dieser Ansatz ist, steht dahin. Pape schreibt, mit den „drei Gesetzen der Periodizität, Polarität und Dualität, ausgehend von der Unität“, habe sich Maack „die Bausteine ersonnen für jene Formel ‚Allomatik,‘ mit der er in einem Begriff das Grundprinzip der Rosenkreuzerlehre glaubt fassen zu können, daß alles in Veränderung und Umwandlung begriffen und dabei das eine stets vom andern abhängig sei“50. Maack selbst spitzt den Gedanken folgendermaßen zu: „Das Rosenkreuzer-Prinzip ist ein allomatisches: ‚Philosophie des Andern‘.“51 Im Unterschied zum Buddhismus als einer „‚Philosophie des Selbst‘“52 zeichne sich die allomatische Weltanschauung dadurch aus, dass sie kein Ich kenne; stattdessen sei sie ganz auf das Du gerichtet und daher „eo ipso ethisch“53. Unabhängig davon, wie schlüssig und konsistent Maacks Ausführungen in sich sind, wurde (und wird) diskutiert, in welchem Sinn Hofmannsthal den von Maack übernommenen Begriff der Allomatik verwendete und wie demnach seine Notizen im Ad me ipsum zu verstehen seien. Während Richard Alewyn die Begriffe „gegenseitig“ und „allomatisch“ mehr oder weniger synonym auffasst,54 warnt Benjamin Bennett vor einer umstandslosen Gleichsetzung.55 Treffender sei es, Allomatik bei Hofmannsthal als „‚natural environment[ ]‘“ für die gegenseitige Verwandlung zu sehen,

Maack, Rosenkreuzer, S. 14–15. Denselben Passus zitiert auch Pape, Catena, S. 684. Pape, Catena, S. 684. 51 Maack, Rosenkreuzer, S. 16. 52 Ebd., S. 18. 53 Ebd., S. 16. 54 Vgl. Alewyn, Hofmannsthal. In Bezug auf den Andreas-Roman schreibt Alewyn: „So trennt sich Sacramozos Weg von dem des Paares Andreas und Maria-Mariquita. Er schlägt den einsamen Pfad der Introversion [...] ein, während die Liebenden den allomatischen [...] Weg der gegenseitigen Verwandlung gehen [...].“ (Ebd., S. 129). Oder noch deutlicher: „Die Figur des magischen Quadrats, wie sie sich im Andreas zum ersten Male ausbildet, ist die äußere Gestalt jenes sittlichen Vorgangs der gegenseitigen Verwandlung, den Hofmannsthal in der Geheimsprache des Ad me ipsum als die allomatische Lösung bezeichnete, und der am Schluß der Frau ohne Schatten, in der er seine reinste Verwirklichung gefunden hat, gepriesen wird als das ewige Geheimnis der Verkettung alles Irdischen.“ (Ebd., S. 138–139). Problematisch ist hier der Begriff der „allomatische[n] Lösung“, denn nach Lage der Dinge stammt dieser nicht von Hofmannsthal, sondern vermutlich von Alewyn selbst. Im Ad me ipsum, das Alewyn als Quelle nennt, ist die Formulierung nicht auffindbar, und zwar weder in der bislang bekannten Textform (vgl. HGW, Bd. 10, S. 597–627) noch in der projektierten Edition des Textes in Band 37 der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe. Für letztere Information danke ich herzlich Dr. Katja Kaluga vom Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt (Main). Die Formulierung „das ewige Geheimnis der Verkettung alles Irdischen“ findet sich im letzten Satz der Erzählung Die Frau ohne Schatten (vgl. HSW, Bd. 28, S. 196). 55 Vgl. Bennett, Hofmannsthal, S. 254: „If ‚mutual‘ and ‚allomatic‘ mean practically the same thing, then why is a new concept necessary, how is the thought different from that of Der Tor und der Tod, ‚We bind and are bound‘?“ 49 50


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„as water is the element of the fish“56: „‚Das allomatische Element‘ would then be the enveloping medium in which it is possible for a person to exercise an active influence upon others, such a medium as would be necessary for any ‚mutual transformation.‘“57 In Bennetts Verständnis ist die Hofmannsthal’sche Allomatik das Vehikel, um zum Sozialen zu gelangen, allerdings nur der Möglichkeit nach. Voraussetzung, um echte Sozietät zu erreichen, sei der aktive Wille dazu. Deshalb gelte: „The allomatic itself may be defined as the pre-social or proto-social, which in the ‚attained‘ social, by means of our transformation of the given fact into a conscious act of will, arrives at its own highest potency or ‚triumph.‘“58 Eben der bewusste Akt, (sich) binden zu wollen, anstatt nur passiv gebunden zu werden bzw. zu sein, fehle der gegenseitigen Verwandlung von Ariadne und Bacchus, während er dem Handeln der Kaiserin inhärent sei.59 Deswegen könne Hofmannsthal mit Blick auf das Finale der Frau ohne Schatten vom „Triumph des Allomatischen“ reden, wohingegen sich die Verwandlung in Ariadne auf Naxos lediglich im „allomatische[n] Element“ vollziehe. Bennett antwortet damit auch auf Judith Ryan, die die „‚allomatische Lösung‘“60 als eine literarisch-poetisch dargestellte Form der Identitätsfindung zu bestimmen sucht: „Erst wenn er im anderen die unbewußt gebliebene Seite der eigenen Persönlichkeit erkannt hat, vermag der Mensch die Vieldeutigkeit seines Verhältnisses zur Welt und zur Gesellschaft aufzulösen und sich für eine bestimmte ‚Identität‘ zu entscheiden. So sind gespaltene Person und allomatische Lösung stets aufeinander bezogen.“61 Bennett stimmt im Grundsatz zu. Nur in einem wesentlichen Punkt sei Ryans Ansatz zu korrigieren, dass nämlich in Hofmannsthals Auffassung nicht Selbsterkenntnis am Anfang stehe, aus der dann eine Tat resultiere, sondern dass die Tat das Primäre sei, durch die das Individuum sein Verhältnis zur Welt erst erkenne.62 Die Autoren bewegen sich freilich auf recht dünnem Eis. Weder gibt es bislang belastbare Anhaltspunkte dafür, inwieweit Hofmannsthal die Termini „gegenseitig“ und „allomatisch“ für austauschbar hielt, noch dafür, dass er den mystisch angehauchten Begriff Maacks tatsächlich in Bennetts und/oder Ryans Sinn verstanden Vgl. Bennett, Hofmannsthal, S. 255. Ebd. 58 Vgl. ebd., S. 257. Vgl. dazu auch Pape, Catena, S. 693: „Die Allomatik darf als Alchemie des Sozialen gelten.“ Zum Begriff des Bewussten („conscious“) vgl. Bennett, Hofmannsthal, S. 262–265. 59 Vgl. Bennett, Hofmannsthal, S. 258–259. 60 Ryan, Persönlichkeit, S. 187. Ryan setzt die Formulierung „allomatische Lösung“ in einfache Anführungszeichen, ohne dazu eine Fundstelle in der Literatur anzugeben. Zur Problematik des Begriffs vgl. hier Seite 9, Fußnote 54. 61 Ryan, Persönlichkeit, S. 193. 62 Vgl. Bennett, Hofmannsthal, S. 262–263. 56 57


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hat. Fraglich ist insbesondere, ob es, wie Bennett meint, ein richtiggehendes Konzept des Allomatischen gegeben hat. Alles, was wir bislang haben, ist eine kleine Handvoll interner Notizen, die bestenfalls lose kontextualisiert sind. Am plausibelsten wäre – im Anschluss an Maack – noch Papes bzw. Konrads Verständnis des Allomatischen als einer „Verwandlung durch einen Anderen“63 bzw. als „Wandlung durch die Einwirkung eines anderen Menschen“64. Folgt man dagegen Bennetts Theorie von Allomatik als Begriff für das Prä- oder Protosoziale und kombiniert diese Lesart versuchsweise mit Werbecks Auffassung, wonach Verwandlung bei Hofmannsthal regelmäßig darauf gerichtet ist, „Utopien einer Sozietät von Menschen“ zu erschaffen, „die sich selbst in ihren Widersprüchen erkennen und erst so zu wirklicher Gemeinschaft fähig sind“65, dann wären schlicht alle Hofmannsthal’schen Opern-Verwandlungen allomatisch, nicht nur die gegenseitigen in Ariadne auf Naxos und der Frau ohne Schatten. Zu klären bliebe dann noch, ob die an der Verwandlung beteiligten Figuren das Potential des allomatischen Mediums durch das Maß an eigener Aktivität voll ausschöpften. – Kein Wunder, dass Norbert Christian Wolf angesichts der großen begrifflichen Unsicherheit zuletzt dafür plädiert hat, den Terminus der Allomatik bei Hofmannsthal, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht zu verwenden.66 Inwieweit der Komponist Strauss von Hofmannsthals Allomatik wusste, entzieht sich unserer Kenntnis. Außer dem, was der zu komponierende Text ihm vermittelt hat, dürften viele konzeptionelle Fragen in persönlichen, nicht näher dokumentierten Gesprächen zwischen Dichter und Komponist erörtert worden sein. In der gemeinsamen Korrespondenz67 findet sich jedenfalls kein Hinweis auf die Allomatik. Insbesondere der Ariadne-Brief scheidet als Quelle aus. Mitte Juli 1911 verfasst,68 entstand er im Jahr vor der Publikation von Maacks Buch über die Rosenkreuzerlehre, dem der Begriff offenkundig entstammt.

Pape, Catena, S. 680. Konrad, Studien, S. 115. 65 Werbeck, Antike, S. 18. 66 Vgl. Wolf, Allomatik. 67 Vgl. Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel. 68 Vgl. ebd., S. 132–135. Die überarbeitete und 1912 publizierte Textform des Ariadne-Briefs erwähnt die Allomatik ebenfalls nicht (vgl. Hofmannsthal, Ariadne-Brief, i.V.m. HSW, Bd. 24, S. 204–207). 63 64


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B) Zur Fragestellung und zur Vorgehensweise Die Werkeinheit der Hofmannsthal/Strauss-Opern, das symbiotische Zusammenwirken von Text und Musik, ist oft gepriesen worden, und doch ist fraglich, wie zwingend diese Symbiose tatsächlich ist. In gewisser Weise trügt die weit verbreitete Vorstellung, dass nach dem Ausnahmefall der Elektra, in dem durch Strauss’ Adaption aus Hofmannsthals Schauspiel die gleichnamige Oper hervorgegangen ist,69 alle weiteren Werke Produkte eines Autorenduos seien, in denen Text und Musik untrennbar zu homogenen Entitäten zusammengeflossen sind. Sie verkennt nämlich, dass vor allem der Dichter bestrebt war, in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten ein gewisses Maß an künstlerischer Autonomie zu wahren. So sehr seine Operndichtungen Musik forderten, verstand Hofmannsthal sie doch als Texte eigenen Rechts, die im Prinzip auch losgelöst von ihrer Vertonung Bestand haben sollten.70 Gelegentlich anders lautende Bekundungen, beispielsweise im Ungeschriebene[n] Nachwort zum „Rosenkavalier“, stehen dem nur vordergründig entgegen.71 Der beste Beleg dafür ist die Publikationspraxis der Autoren. Generell sind bei den gemeinsamen Opern nach Elektra einige, zum Teil erhebliche Abweichungen zwischen Hofmannsthals Textbuch und der von Strauss vertonten Textgestalt in der Partitur zu verzeichnen.72 Beim Rosenkavalier etwa veröffentlichte man verschiedene Textversionen mit demselben „Autorisationsgrad“73: Textbuch (Hofmannsthal) im Fischer-Verlag sowie Partitur (Strauss) und Libretto (im Wesentlichen nach Strauss’ Partitur) im Fürstner-Verlag.74 Ähnliches wiederholte sich im Falle der Ägyptischen 69 Vgl. hierzu Hofmannsthals Schauspieltext (HSW, Bd. 7, S. 61–110) mit Strauss’ adaptiertem Text (RSE, Bd. 4, i.V.m. HSW, Bd. 7, S. 111–151). 70 Zur ähnlichen Situation bei Richard Wagner vgl. Voss, Nachwort [zum Tristan-Textbuch], S. 133: „Eine Wiedergabe des Textes nach dem Wortlaut der Partitur geht [...] nicht nur deshalb fehl, weil sie wesentliche Dimensionen des Textes in dessen Vertonung unterschlagen muss; sie ignoriert auch, dass das Textbuch eine eigene Spezies darstellt, ein selbständiges Genre, das als poetisch-literarische Gattung seine eigene Bedeutung hat. Wagner selbst verstand seine Textbücher in diesem Sinne und nannte sie daher ‚Dichtungen‘. [...] Die selbständige Veröffentlichung, also unabhängig von der Komposition, lässt keinen Zweifel daran, welchen Rang Wagner dem Textbuch als solchem beimaß.“ Im Kern lässt sich dasselbe auch von Hofmannsthals Operndichtungen für Strauss behaupten. 71 Vgl. hierzu Kapitel 3.6. 72 Vgl. hierzu die Textversionen von Hofmannsthal (HSW, Bd. 17 [Ariadne auf Naxos (I)], Bd. 23 [Der Rosenkavalier], Bd. 24 [Ariadne auf Naxos (II)], Bd. 25.1 [Die Frau ohne Schatten], Bd. 25.2 [Die ägyptische Helena] und Bd. 26 [Arabella]) mit den Textversionen von Strauss (RSE, Bd. 5 [Der Rosenkavalier], Bd. 6 [Ariadne auf Naxos (II)], Bd. 9 [Die Frau ohne Schatten], Bd. 12 [Die ägyptische Helena] und Bd. 13 [Arabella] sowie Strauss, Ariadne auf Naxos [I] [Partitur]). Zur Ariadne-Erstfassung vgl. die mit Strauss’ Eintragungen versehene Druckfahne der Oper in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (D-Mbs: Partitur Mus.ms. 21392 [= RSQV q00597]). Zur wissenschaftlichen Herausforderung einer überzeugenden Kritischen Edition der Ariadne-Fassungen op. 60 (I) und op. 60 (II) sowie des Bürger als Edelmann op. 60 (III) vgl. Konrad, Editionsprobleme. 73 Hoffmann, Textverständnis, S. 136. 74 Vgl. HSW, Bd. 23, S. 151, Stadium 85 (Textbuch), S. 152–153, Stadien 86 und 88 (Partitur und Libretto).


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Helena, bei der keineswegs von vornherein feststand, wie diese gestaltet werden sollte. Bis Anfang 1923 war Hofmannsthal unschlüssig, ob sich der Stoff überhaupt für eine Vertonung eigne.75 Zwar fiel die Entscheidung schließlich zugunsten der Oper, doch wurde der Helena-Text zuletzt ebenfalls in unterschiedlichen Versionen gedruckt: Das vom Insel-Verlag besorgte Lyrische Drama bietet Hofmannsthals Fassung, während das Libretto, bei Fürstner verlegt, im Prinzip der Strauss’schen Partitur folgt.76 Möglicherweise wäre man auch bei Arabella in dieser Weise verfahren. Als Grundlage für den Operntext dienten Hofmannsthal zwei Stoffe, die er ursprünglich als Erzählung ausgeführt und szenisch als Komödie in Betracht gezogen (Lucidor) bzw. als Lustspiel konzipiert, aber nicht vollendet hatte (Der Fiaker als Graf).77 Offen bleiben muss freilich, wie seine definitive Arabella-Version in diesem Fall ausgesehen hätte: Bis zu seinem plötzlichen Tod am 15. Juli 1929 hatte der Dichter das Werk nur in Grundzügen abschließen können.78 In der Kollaboration mit Strauss blieb Hofmannsthals Verbindung zum Sprechtheater an vielen Stellen und in verschiedenen Ausprägungen sichtbar. Joanna Bottenberg vertritt hierzu die bedenkenswerte Ansicht, dass sein erster genuiner Operntext eigentlich Die Frau ohne Schatten gewesen sei: „This is the first libretto in which he [Hofmannsthal, Anm. d. Verf.] did not depend to some extent on the spoken theater. Elektra was a stage play adapted for opera; Molière’s plays influenced Der Rosenkavalier, which Hofmannsthal wanted to be performable also as a play; Ariadne auf Naxos was, in its first version, a short chamber opera within a Molière play he adapted.“79 Sieht man von marginalen Ausnahmen ab, verzichtete Hofmannsthal bei der Frau ohne Schatten tatsächlich auf eine eigene, von der Partitur abweichende Textversion. Dafür waren seine Autonomiebestrebungen anderer Art. Parallel zum Textbuch für Strauss verfasste er die Erzählung gleichen Titels,80 die zwar „im Stoff völlig mit der Oper“ übereinstimme, „aber, als die strengere Form, ganz andere TiefenausmessunVgl. HSW, Bd. 25.2, S. 164–166. Vgl. ebd., S. 183–184. Die Kritische Hofmannsthal-Ausgabe stellt demgemäß beide Versionen nebeneinander (vgl. ebd., S. 7–73 und S. 75–135). 77 Vgl. HSW, Bd. 26, S. 167–199 (zur Entstehung von Arabella), bes. S. 167–169 i.V.m. S. 309–315 (zu Lucidor) und S. 325–331 (zu Der Fiaker als Graf). 78 Vgl. ebd., S. 189–190. 79 Bottenberg, Collaboration, S. 123. Stephan Kohler erkennt dagegen schon in Ariadne „das erste wirkliche Libretto nach strukturell dem Sprechtheater verwandten Texten wie Elektra und Der Rosenkavalier“ (Kohler, Struktur, S. 124). Zu den divergierenden Textfassungen beim Rosenkavalier schreibt Bottenberg: „Perhaps Hofmannsthal felt that he must maintain contact with the spoken theater in his operatic work, for he considered the comedy version of Der Rosenkavalier as a potential play.“ (Bottenberg, Collaboration, S. 120). Inwieweit Der Rosenkavalier auch als gesprochenes Schauspiel zu überzeugen vermag, sei dahingestellt. Vgl. jedenfalls die skeptische Einschätzung von Schlötterer, Elektra, S. 43. Zu den ästhetischen Diskrepanzen zwischen Hofmannsthals Ariadne-Text und Strauss’ Vertonung vgl. Andraschke, Ästhetik, bes. S. 140ff. 80 Vgl. HSW, Bd. 28, zur Entstehung der Erzählung bes. S. 270–282. 75 76


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gen“81 habe. Nach der Wiener Premiere der Frau ohne Schatten am 10. Oktober 1919 entzündete sich die Kritik vor allem am schwer verständlichen Textbuch. Für die anstehende Veröffentlichung der Erzählung bemühte sich Hofmannsthal deshalb „nach Kräften“ darum, „dem Prosamärchen zu einer von der Operndichtung möglichst unabhängigen Wirkung zu verhelfen“82. Stellt sich also einerseits die Frage, inwieweit man vor dem skizzierten Hintergrund von Werkeinheit bei den Hofmannsthal/Strauss-Opern sprechen kann, hat man es andererseits mit dem daran anschließenden Problem zu tun, dass der kompositorische Anteil am Zustandekommen des musikalischen Konzepts oft nicht ausreichend gewürdigt worden ist. Françoise Salvan-Renucci beispielsweise beschäftigt sich „mit Hofmannsthals Opernlibretti als ‚Dramen für Musik‘, entstanden im spezifischen Kontext der Zusammenarbeit mit Richard Strauss“83, und betont, dass eine „solche Erforschung der Textbücher [...] sehr wohl auf der Ebene der Wortkomponente vor sich gehen“ könne, „unter Verzicht auf Notenbeispiele und bei weitgehendem Abstrahieren von musikalischen Fachkenntnissen“84. Demgegenüber wird die vorliegende Arbeit die Musik geradewegs ins Zentrum stellen und danach fragen, inwieweit die Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss Verwandlung als musikalisch-kompositorisches Konzept verwirklichen – einerlei, ob in manchen Fällen an Hofmannsthal anschließend oder in anderen dessen Hinweise ignorierend. Notenbeispiele sind dabei unerlässlich, bilden sie doch nachgerade den Kern der Darstellung. Wegen der leichteren Lesbarkeit beruhen diese überwiegend auf dem Klavierauszug,85 doch ist zu betonen, dass sich die Argumentation regelmäßig auf die vollständige Partitur stützt.86 Etwaige Abweichungen im Klavierauszug (z.B. Auslassungen oder enharmonische Umnotierungen) wären demnach an ihr zu überprüfen. Der Briefwechsel der Autoren,87 der mancherorts zur abschließenden Deutung herangezogen wird, dient hingegen meist nur als erste Einstiegshilfe. Verwandlungsmusik – das sei vorab gesagt – wird nicht (bzw. nicht notwendig) als „terminus technicus für die tönende Begleitung eines Umbaus der Szene“88 verstanden. Zwar können auch diese Passagen für Strauss’ Konzept relevant sein und sind Hofmannsthal an Rudolf Pannwitz am 4. Oktober 1917 (zit. nach HSW, Bd. 25.1, S. 624). HSW, Bd. 25.1, S. 144 (Zitiertes in der Vorlage kursiv). 83 Salvan-Renucci, Ganzes, S. 8. 84 Ebd., S. 10. Dabei ließe der programmatische Titel von Salvan-Renuccis Untersuchung „Ein Ganzes von Text und Musik“ die Erörterung der Musik durchaus erwarten. Salvan-Renucci zitiert mit ihrem Titel Hofmannsthal, der am 20. März 1911 abwägend an Strauss schreibt, dass ihn Der Rosenkavalier „als ein Ganzes von Text und Musik zwar recht sehr, aber nicht völlig“ befriedige (Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 113). 85 Im Sinne einer Partiturreduktion auf ein particellähnliches Format sind die auf den Klavierauszügen fußenden Notenbeispiele stillschweigend von klavierspezifischen Elementen (Pedalangaben, Fingersätze etc.) befreit. 86 Vgl. hierzu die Notenausgaben im Verzeichnisteil. Die Ausnahme ist die Operette Das Land des Lächelns von Franz Lehár, die mir als reguläre Druckausgabe nur im Klavierauszug erreichbar war (vgl. Lehár, Land des Lächelns [Klavierauszug]). 87 Vgl. Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel. 88 Dorschel, Vorwort, S. 9. 81 82


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bei Bedarf in die Überlegungen mit einzubeziehen. Denn „in andere Räume eintretend“, sind manchmal auch die beteiligten Bühnenfiguren „nicht mehr die selben“89. Eine Beschränkung auf Verwandlungsmusik im Sinne von Bühnenumbaumusik würde der Sache jedoch nicht gerecht. Richard Strauss gilt auch im Opernwerk als symphonischer Komponist. Besonders extrem zeigen das nach Jürgen Schläder die Einakter Salome und Elektra, die Strauss’ Grundüberzeugung in Reinform widerspiegelten, „[n]ur die Symphonien bewegten den Kern des dramatischen Inhalts einer Oper, nur ein symphonisches Orchester könne eine Handlung bis zum letzten Ende entwickeln“90. Die Tradition des Illusionstheaters sei damit in gewisser Weise auf den Kopf gestellt worden, denn: „Musikalisches Theater [...], das sein Idealbild und seine Erfüllung im symphonischen Satz findet, ist tendenziell kein Theater mehr.“91 In späterer Zeit dagegen habe Strauss die Gewichte etwas verschoben. Die Rolle des Orchesters sei nicht mehr so dominant, was abgesehen von anders gelagerten Stoffen, etwa der Komödien, auch mit Mehraktigkeit und diversifizierter Handlungsführung zu tun habe: „Die musikalische Illustration psychischer Prozesse und komplexer Konfigurationen bedurfte in verzweigten Handlungsentwürfen der visuellen Präzisierung, damit sie nicht ins Beliebige und Unverständliche abglitt.“92 Was aber macht Strauss eigentlich zu einem symphonischen Opernkomponisten? In Bezug auf die spannungsreichen, auf eine Lösung hindrängenden Handlungen von Salome und Elektra antwortet Schläder: „Angemessenes dramaturgisches Mittel dieser konflikt- und zielorientierten dramatischen Entwürfe ist die spätromantische Leitmotivtechnik.“93 Oder noch deutlicher, mit Blick auf Elektras Zusammenbruch im Triumph der vollzogenen Rache: „Kein Text, keine noch so ausgefeilte choreographische Gebärde auf dem Theater vermöchte diesen Zusammenhang so profiliert zu benennen wie die von Strauss perfektionierte Kombination der musikalischen Motive.“94 Gemessen daran, ist Schläders Analyse des Elektra-Finales bemerkenswert: „In den letzten vierzig Takten der Orchesterpartitur folgt einer gewaltsamen Komprimierung aller Triumph-Motive die Rekapitulation sämtlicher Agamemnon-Motive, eingeleitet auf der schrillen Dissonanz eines verminderten Septakkords und entfaltet zum schroffen, harmonisch wie dynamisch unvermittelten Nebeneinander von AgamemnonDorschel, Vorwort, S. 9. Schläder, Musikdramaturgie, S. 90. Vgl. dazu Strauss’ Bemerkungen zu Richard Wagners Gesamtkunstwerk und zum Bayreuther Festspielhaus um 1940: „Das moderne Orchester untermalt nicht nur, erklärt nicht nur, erinnert nicht nur, – es gibt den Inhalt selbst, enthüllt das Urbild, gibt die innerste Wahrheit.“ (Strauss, Betrachtungen, S. 91). Vgl. dazu auch Hanke Knaus, Schlussgestaltung, S. 181–182 (Schlusskapitel „Richard Strauss – ein ‚sinfonischer‘ Komponist“). 91 Schläder, Musikdramaturgie, S. 74. 92 Ebd., S. 83. 93 Ebd., S. 80. 94 Ebd., S. 76. 89 90


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Ruf in c-Moll und Elektras Todesakkord in es-Moll. [...] Die klanglich sinnfällige Eintrübung der soeben verklungenen Tanz-Symphonie nach c-Moll und es-Moll löst sich in einer raschen chromatischen Kadenz vom lastenden c-Moll ins strahlende C-Dur. Der unverkennbar triumphale Gestus dieser harmonischen Schlußwendung wird jedoch in den letzten beiden Orchesterschlägen durch das erneute, diesmal unvermittelte Nebeneinander von es-Moll und C-Dur noch einmal dialektisch gebrochen.“95 Unverkennbar geht Schläder hier von einer an der Leitmotivik orientierten zu einer tonaldramaturgischen Argumentation über. Über die Motivzusammenhänge kommt er auf die zugrunde liegenden tonalharmonischen Zusammenhänge zu sprechen. Ausgehend von allgemeinen Vorüberlegungen zur Leitmotivik, wird das erste Kapitel dieser Arbeit eine ähnliche gedankliche Bewegung vollziehen. Wenn auch bislang nur unzureichend erforscht, ist eigentlich seit Langem bekannt, dass für Strauss’ Werke die Tonartendramaturgie eine wichtige Rolle spielt. Gegenüber dem Musikkritiker Max Marschalk bemerkte Strauss einmal: „Die allergrößte Sorgfalt verwende ich auf die Wahl der Tonarten. Ich bestimme sie auf lange Strecken im voraus, und die Art, wie ich von einer zur anderen gelange, kostet mich oft genug sehr viel Arbeit.“96 Nähere Hinweise dazu liefert der Kompositionsprozess. Beim ersten Zugriff auf einen zu vertonenden Operntext versieht Strauss diesen regelmäßig mit musikalischen Annotaten. Zwar erweisen sich nicht immer alle Annotate als verbindlich, doch vieles von dem kürzelhaft Festgehaltenen wird in den folgenden Kompositionsstadien sukzessive ausgearbeitet. Da diese Annotate eben häufig aus Tonartangaben bestehen,97 verdient Strauss’ Tonartenverwendung besondere Beachtung. Die grundsätzliche Fragestellung dieser Arbeit lässt sich demnach präzisieren: Inwiefern schlägt sich die textdramaturgisch realisierte Verwandlung von Hofmannsthals Bühnenfiguren bei Strauss in einer musikalischen Dramaturgie der Tonarten nieder? Oder anders: Inwieweit ermöglicht Hofmannsthals Textstruktur auf tonalkonstruktiver Ebene das, was Richard Strauss beim Komponieren des Rosenkavalier als „symphonische[ ] Einheit“98 bezeichnet hat? Dass dabei genuin musiktheatrale Aspekte zu berücksichtigen sind, versteht sich von selbst: Wie ist die betreffende Szene in Hofmannsthals Text disponiert? Und welche Konsequenzen hat das für die Szenenanlage in der Komposition? Strauss’ Methode, einen Operntext assoziativ mit Tonartangaben zu versehen, setzt eine sehr ausgeprägte Tonartvorstellung voraus, über die der Komponist selbst allerdings nur selten gesprochen hat. Einen dieser wenigen Fälle dokumentiert Rudolf Hartmann, der diesbezüglich von einem Gespräch mit Strauss berichtet: Schläder, Musikdramaturgie, S. 76–77. Zit. nach Marschalk, Gespräche, S. [5]. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Werbeck, Process, S. 23. 97 Vgl. bes. Erwin, Presketch, und Edelmann, Tonart; zuletzt auch Wolf, Salome, bes. S. 127–141. 98 Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 58. 95 96


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„Er meinte, es sei wohl jedem Komponisten eine eigene, persönliche Ausdrucksskala angeboren, der er ganz unbewußt folge. Auf sich selbst bezogen, wies er auf die Tonart E-Dur hin, die sich immer bei ihm einstelle, wenn es sich um Liebesvorgänge handle. [...] Strauss betonte jedoch ausdrücklich, daß, ähnlich wie die Farben in der Malerei, die Anwendung der Tonarten etwas höchst Persönliches sei, daß es kein Schema gebe. Die gleichen Mittel drückten bei den verschiedenen Komponisten unter Umständen völlig gegensätzliche Dinge aus, so wie eben Rot und Blau bei Renoir etwas anderes seien als bei Liebermann.“99 Prinzipiell öffnet der Gesichtspunkt der Strauss’schen Tonartvorstellung ein weites Feld. So ist verschiedentlich der Versuch unternommen worden, die Tonartencharaktere in Strauss-Werken systematisch zu kategorisieren.100 Wenngleich Strauss seine Tonartvorstellung als etwas „Angeborenes“ und „Unbewusstes“ empfand, folgt dies „höchst Persönliche“ dann doch bestimmten musikgeschichtlichen Traditionslinien.101 Insbesondere der Einfluss des klassisch-romantischen Repertoires von Mozart über Beethoven bis Wagner war für Strauss prägend. Willi Schuh hat dabei auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht. Die Tonart als solche sei bei Strauss „noch nicht musikalische Gestalt“, vielmehr habe sie „nur einstimmende Funktion“ und schaffe „die Prädisposition für die musikalische Erfindung: für Thema und Motiv, für Rhythmus, Takt und Farbe“102. Damit lässt sich die Frage der tonalharmonischen Konstruktion – inwieweit sich Text- und tonale Dramaturgie entsprechen – noch erweitern: Inwiefern wirken sich Thematik und Ausdrucksgehalt bestimmter Stellen in Hofmannsthals Operntext nicht nur auf die Tonartenwahl, sondern auch auf die konkrete musikalische Satzvorstellung aus? Abgesehen davon, dass E-Dur im Umkreis von „Liebesvorgängen“ anzutreffen sei, wird insgesamt zu untersuchen sein, wie das Zusammenwirken von Teil und Ganzem, von direkter kompositorischer Reaktion auf den Ausdrucksgehalt des Texts und großräumiger musikalischer Formdisposition funktioniert.

Hartmann, Haus, S. 88–89. Denselben Passus zitiert auch Edelmann, Tonart, S. 68. Vgl. vor allem die Arbeiten von Axt, Ineinanderwirken, Thurston, Representation, und Wachten, Formproblem. Während Strauss selbst einen Schematismus bei der Tonartenwahl bestreitet, geht Edmund Wachten von einem „System der Strausschen [sic] Tonartenbestimmung“ aus, das er auf einen Stellenkatalog stützt (vgl. Wachten, Formproblem, S. 9–15). Ferner unterscheidet er zwischen „I. Tonalitätsgliederung“, „II. Tonalitätskorrespondenz“, „III. Tonalitätsaddition“ und „IV. Tonalitätsreihe“ (vgl. ebd., S. 15–32). Wachtens Dissertation liegt nur als Teildruck vor, doch bietet der Autor einen „‚Querschnitt‘ des ganzen Inhalts meiner Arbeit“ (ebd., S. 4) in Aufsatzform (vgl. Wachten, Grundzug). Die Untersuchungen von Eva-Maria Axt und Richard Thurston konzentrieren sich auf Strauss’ Tondichtungen, wobei Thurston, der den einzelnen Tonarten stichwortartig bestimmte Grundcharakteristika zuweist, die enharmonischen Varianten Fis-Dur/Ges-Dur und Cis-Dur/Des-Dur jeweils zusammenfasst (vgl. Thurston, Representation, S. 154–158). 101 Das betont auch Edelmann, der die Verwendung von E-Dur als Strauss’ Liebestonart mit ähnlich konnotierten E-Dur-Beispielen aus der Operngeschichte von Mozart bis Verdi in Zusammenhang bringt (vgl. Edelmann, Tonart, S. 81–82). 102 Schuh, Legende, S. 23. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Edelmann, Tonart, S. 82. 99

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Argumentativ ist die Diskussion der Opern je paarweise angelegt. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf den gemeinhin als Verwandlungsopern bekannten Werken Ariadne auf Naxos und Die Frau ohne Schatten. Sie stehen in den beiden ersten und den beiden letzten Kapiteln zur Debatte. Anhand beider Werke führen die Kapitel eins und zwei verschiedene, detailgenau argumentierende Strukturvergleiche durch, auf deren Ergebnisse die Kapitel fünf und sechs in etwas freierer Form zurückkommen. Dazwischen stehen – ebenfalls paarweise gruppiert – Elektra und Der Rosenkavalier in Kapitel drei sowie Die ägyptische Helena und Arabella in Kapitel vier. Beide Werkpaare sind bewusst in der Mitte positioniert, einerseits um in Kapitel drei die bis dahin wiederholt eingestreuten Quellenbetrachtungen systematisch zu vertiefen, andererseits um anhand von Kapitel vier die Perspektive auf die Finali von Ariadne auf Naxos und der Frau ohne Schatten zu schärfen. Die ägyptische Helena und Arabella zeigen in je unterschiedlicher Weise, aber doch jeweils in Extremform, dass rein motivische Analysemethoden bei ihnen ziemlich bald versagen. Die daran anschließende Erörterung, worauf musikalische Verwandlung in beiden Werken tatsächlich beruht, ebnet den Weg für die Finalinterpretationen von Ariadne auf Naxos und der Frau ohne Schatten, wo unter weniger drastischen Voraussetzungen ein ähnlicher Befund zu stellen sein wird. Verbunden mit der Konzentration auf Strauss’ Musik ist der Verzicht auf anderes. Abgesehen von einigen Aspekten im Fazit von Kapitel drei umgeht die vorliegende Arbeit nicht nur die viel – und je nach Forschungsstand unterschiedlich ergiebig – diskutierte Kollaborationsfrage zwischen Hofmannsthal und Strauss. Sie vermeidet auch die Diskussion um das „grobe[ ], wenn auch sehr verbreitete[ ] Mißverständnis“103, dass sich Strauss nach den avantgardistischen Einaktern Salome und Elektra, in denen er seine Tonsprache an die Grenzen der Tonalität geführt hatte, von der Ideenwelt der Moderne verabschiedet habe. Seit einiger Zeit wird verstärkt nach dem ideengeschichtlichen bzw. musikhistoriographischen Kontext von Strauss’ Werken gefragt. Das zeigt Charles Youmans’ Studie über Richard Strauss’s Orchestral Music and the German Intellectual Tradition104 ebenso wie Katharina Hottmanns maßstabsetzende Monographie über Historismus und Gattungsbewusstsein bei Richard Strauss105 oder Matthew Werleys Beitrag über Historicism and Cultural Politics in Three Interwar-Period Operas by Richard Strauss: ‚Arabella‘ (1933), ‚Die schweigsame Frau‘ (1935) and ‚Friedenstag‘ (1938)106. Die nachfolgenden Ausführungen zur musikalischen Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern verstehen sich als Komplement zu diesem Forschungszweig, dem keinesfalls die Relevanz abgesprochen werden soll. Anstatt aber an die „großen, ideologisch belasteten Fragen“ anzuknüpfen – war Strauss auch nach Elektra noch ein Moderner? –, werden wir im Geist der Münchner RichardStrauss-Arbeitsgruppe von ganz „bescheidene[n] – und ehrlich beantwortbare[n] – Schlötterer, Moderne, S. 16. Vgl. in ähnlichem Sinn auch Kunze, Fortschritt. Vgl. Youmans, Tradition. 105 Vgl. Hottmann, Historismus. 106 Vgl. Werley, Historicism. 103 104


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technische[n] Fragen“107 zum Strauss’schen Tonsatz ausgehen: „Welche Funktion hat in diesem Takt der Quartsextakkord, ist er nur ‚Farbe‘, oder ist er in der kompositorischen Struktur verankert? Wie behandelt Strauss die Solovioline? usw.“108 Die noch unbeantworteten Analysefragen bei den Hofmannsthal-Opern sind indes so zahlreich, dass ihre erschöpfende und abschließende Behandlung den ohnehin erweiterten Rahmen der Arbeit sprengen würde. Zudem sind die analysierten Phänomene oft genug semantisch polyvalent und lassen daher verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu. Der Anspruch kann deshalb nur sein, im Anschluss an entsprechende Vorläuferstudien ein in weiten Teilen noch unerkundetes Terrain zu erschließen und wenigstens die Basis von Strauss’ kompositorischem Verwandlungskonzept freizulegen. Auf das Fundament der erzielten Ergebnisse wäre dann durch weiterführende Arbeiten aufzubauen. Vieles, was hier unter dem Gesichtspunkt der musikalischen Verwandlung diskutiert wird, berührt die Strauss’schen Kompositionsprinzipien generell, wodurch sich zuletzt auch für die großen, ideologisch orientierten Fragen neue Perspektiven ergeben können. Einen begrenzten Ausblick darauf eröffnet das Schlusskapitel. An dieser Stelle noch drei Bemerkungen zur Terminologie in dieser Arbeit. Erstens: Im Regelfall wird ein Ton unabhängig von seiner Lage mit kursivem Kleinbuchstaben bezeichnet, z.B. c. Ist aber die Lage des Tons für die Argumentation relevant, wird unterschieden, etwa: ,C – C – c – c’ – c’’. Zweitens: Bei der Beschreibung tonalharmonischer Vorgänge ist stets zwischen der jeweils vorherrschenden Tonart und dem in diesem Rahmen verwendeten Akkordmaterial zu differenzieren. Beispielsweise muss der Klang a/cis/e nicht zwangsläufig einem A-Dur-Kontext angehören, sodass seine Benennung als A-Dur-Klang irreführend sein könnte. Daher wird ein Grundakkord, sofern er keine Tonika repräsentiert, regelmäßig „neutral“ bezeichnet und anhand seiner Terz durch geraden Groß- oder Kleinbuchstaben unterschieden – mit großer Terz: A-Klang, mit kleiner Terz: a-Klang. Drittens: Auch Spannungs- und Leitklänge, etwa der Dominantseptakkord e/gis/h/d, werden terminologisch standardisiert. Die Rede ist dann von einem Dominantseptakkord über E bzw. in Kurzform von einem E7.

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Edelmann, Verdammnis, S. 38. Ebd.


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C) Zur Literatur und zu den Quellen Anfang der 1970er-Jahre zog Carl Dahlhaus für die Richard-Wagner-Forschung eine ernüchternde Bilanz: „Die Wagner-Literatur, die sich ins Unabsehbare erstreckt, ist durch Nicht-Musiker [...] geprägt worden, [...]. Und die Zusammensetzung aus weitgespannter geschichtsphilosophischer Spekulation, unersättlicher und rücksichtsloser Lust am Biographischen und einer seltsamen Genügsamkeit im Musikalischen, deren Ehrgeiz über das Etikettieren von Leitmotiven kaum hinausreichte, ist jahrzehntelang für sie charakteristisch geblieben.“109 Ganz so dramatisch war und ist die Lage bei Strauss nicht, wenngleich auch hier die ernsthafte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Musik lange Zeit schleppend verlief. Noch 1996 bekräftigte Walter Werbeck in seiner bis heute einschlägigen Studie zu Strauss’ Tondichtungen das Diktum von Eva-Maria Axt, eine StraussForschung, die den Namen verdiene, befinde sich „im Anfangsstadium“110. Berücksichtigt man jüngere Entwicklungen, kann man mittlerweile sicher von einem fortgeschrittenen Anfangsstadium sprechen, zumal Projekte wie das 2009 in GarmischPartenkirchen initiierte Richard-Strauss-Quellenverzeichnis111 und die Einrichtung der Kritischen Richard-Strauss-Werkausgabe112 in München 2011 für Aufbruchstimmung im Fach gesorgt haben. Von einem zufriedenstellenden Forschungsstand bei den Hofmannsthal-Opern kann insgesamt noch keine Rede sein. Das macht speziell Die Frau ohne Schatten deutlich. Obwohl von Hofmannsthal unumwunden als sein und Strauss’ „Hauptwerk“113 bezeichnet, war bei ihr der Mangel bis vor Kurzem besonders eklatant. Die letzte Publikation, in der die musikalisch-konstruktive Gestaltung des Werkes in ihrer Gesamtheit zur Debatte stand, stammt von Heinz Röttger und datiert aus dem Jahr 1937.114 Studien aus späterer Zeit blieben entweder an der musikalischen Oberfläche haften, beschränkten sich auf Teilaspekte, oder aber sie thematisierten von vornheDahlhaus, Musikdramen, S. 7. Denselben Passus zitiert auch Blumröder, Leitmotiv, S. 14. Werbeck, Tondichtungen, S. 10, Fußnote 63, i.V.m. Axt, Form, S. 9. 111 Vgl. www.rsi-rsqv.de. 112 Vgl. www.richard-strauss-ausgabe.de. 113 Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 221. Auch für Strauss nahm Die Frau ohne Schatten offenbar eine Sonderstellung ein. In seinen Erinnerungen an die ersten Aufführungen meiner Opern resümiert er mit unverkennbarem Stolz, „gerade künstlerische Menschen“ hielten es für sein „bedeutendstes Werk“ (Strauss, Betrachtungen, S. 246). In ähnlichem Sinn vermerkt sein Sohn, Franz Strauss, im Jahr 1966: „Bei der ‚Frau ohne Schatten‘, die für ihn irgendwie im Mittelpunkt seines Schaffens stand, war es so, daß er unter dem Druck der äußeren Verhältnisse des ersten [sic] Weltkrieges geradezu eine Flucht aus der Wirklichkeit mit seiner Arbeit an diesem herrlichen Werk vollzog.“ (Grasberger, Strom, S. IX–X). 114 Vgl. Röttger, Formproblem. 109 110


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rein anderes.115 Profundere Ansätze begegnen nur vereinzelt, beispielsweise bei Peter Petersen, der unter dem Titel Programmusik in den Opern von Richard Strauss die musikalischen Bauprinzipien einzelner Abschnitte und Szenen aus Strauss’ Opernwerk näher beleuchtet hat, darunter auch Teile aus der Frau ohne Schatten.116 Zuletzt kam die Arbeit von Tim Steinke hinzu.117 Diese analysiert zumindest die Eingangsszenen der Frau ohne Schatten unter dem Gesichtspunkt der Oper nach Wagner und befragt sie auf Formale Strategien im europäischen Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts. Für die nächste Zukunft ist gar eine umfassende, grundlegende Behandlung des Opus summum zu erwarten.118 Dabei war schon Röttgers Ansatz, nach dem Formproblem bei Richard Strauß zu fragen, durchaus vielversprechend. Joseph Gregor lobte die Arbeit ausdrücklich, denn die „programmatische Auslegung“ sei durch sie „endlich zugunsten einer strengen Formanalyse gefallen“119. Problematisch ist denn auch weniger, dass Röttger Formanalysen von so unterschiedlichen Werken wie Guntram, Die Frau ohne Schatten und Intermezzo in einer Studie vereinigt. Das Manko seiner Darstellung ist vielmehr, dass er an die heute höchst umstrittenen Wagner-Analysen von Alfred Lorenz120 anknüpft, um „diese Art der wissenschaftlichen Formbetrachtung auch an nachwagnerscher Musik zu erproben“121. Da Röttger das Formproblem bei Wagner durch Lorenz für „endgültig gelöst“122 hält, sind seine Analysemethoden bei Strauss ähnlich starr und schematisch.123 Daher wird es darum gehen, seine zum Teil durchaus erhellenden Ergebnisse von den rigiden, vorab festgelegten Ergebnisrastern der „Stro115 Aus der Forschung, die Hofmannsthals Operndichtung der Frau ohne Schatten näher untersucht hat, sind neben dem betreffenden Band der Hofmannsthal-Gesamtausgabe (vgl. HSW, Bd. 25.1) die Arbeiten von Jakob Knaus (vgl. Knaus, Weg) und Claudia Konrad (vgl. Konrad, Studien) sowie die bereits erwähnte Monographie von Françoise Salvan-Renucci (vgl. Salvan-Renucci, Ganzes) gesondert zu nennen. Überblicksartige Darstellungen, soweit sie die Musik betreffen, bieten Kurt Overhoff (vgl. Overhoff, Frau ohne Schatten), Sherrill Pantle (vgl. Pantle, Analysis, bes. S. 92–204), Leif Balthzersen (vgl. Balthzersen, Hauptwerk, bes. S. 169–183) und Wolfgang Perschmann (vgl. Perschmann, Sinndeutung). 116 Vgl. Petersen, Programmusik. 117 Vgl. Steinke, Oper, bes. S. 21–70. 118 Vgl. hierzu die angekündigten Monographien von Christian Schaper: Richard Strauss, „Die Frau ohne Schatten“. Studien zu den Skizzen und zur musikalischen Faktur sowie von Olaf Enderlein: „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss – Untersuchungen zur musikalischen Gestalt. Beide Studien konnten für die vorliegende Arbeit leider nicht mehr berücksichtigt werden. 119 Gregor, Strauss, S. 93. 120 Vgl. z.B. Dahlhaus, Übergang. So sei bei Wagner nichts „falscher, als das Neue – die Idee einer Form als Übergang – dadurch zu verleugnen, daß man es, wie Alfred Lorenz, auf das Alte und Gewohnte reduziert und die unschematische Form in überlieferte Schemata zwängt“ (ebd., S. 427). Zur Problematik von Lorenz’ Wagner-Analysen im Kontext der NS-Ideologie vgl. grundlegend McClatchie, Lorenz. Zu Lorenz’ NS-ideologisch verfälschter Parsifal-Deutung vgl. Kinderman, Parsifal, bes. S. 32–34. 121 Röttger, Formproblem, S. 9 (Vorwort). Laut Röttger hat Strauss die Veröffentlichung des Buches sogar unterstützt: „Richard Strauß [sic] selbst hat sich in bejahendem Sinn über diese Arbeit geäußert und sie zum Druck befördert.“ (Ebd.). Vgl. dazu die plausible Einschätzung von Tim Steinke: „Dass die bei Wagner herausanalysierten formalen Strategien sich auch auf sein eigenes Werk übertragen ließen, konnte Strauss nur recht sein, wurde er doch so mit dem großen Vorgänger auf eine Stufe gestellt.“ (Steinke, Oper, S. 56). 122 Röttger, Formproblem, S. 11. 123 Vgl. den entsprechenden Einwand gegen Röttger bei Steinke, Oper, S. 56–57.


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phenform“, „Bogenform“, „Refrainform“, „Barform“ und „Gegenbarform“124 zu befreien und dadurch flexibler nutzbar zu machen. Ähnlich wie Die Frau ohne Schatten standen auch Die ägyptische Helena und Arabella in der Literatur lange im Abseits. Einen Wendepunkt markiert hier Katharina Hottmanns Monographie aus dem Jahr 2005, die die Forschungslage zu Strauss’ späterem Opernwerk insgesamt substantiell verbessert hat.125 In ihrer Einleitung stellt Hottmann fest, dass „ausgerechnet die beiden so vielschichtigen Opern der 1920er Jahre, Intermezzo und Die Ägyptische Helena, noch nicht zum Gegenstand einer musikwissenschaftlichen Monographie gemacht“126 worden seien. In Bezug auf Helena sind immerhin die Studien von Rebekka Fritz127 und von Philip Graydon128 relativierend anzuführen. Zu Arabella gab es zuvor bereits die monographische Studie von Kenneth Birkin129 sowie vereinzelte Beiträge anderer Autoren.130 Ansonsten ist es im Wesentlichen Hottmann selbst, die mit ihrer historiographisch orientierten Arbeit sowie mit einer Reihe thematisch verwandter Artikel131 zu beiden Opern neue Maßstäbe gesetzt hat. Aus jüngster Zeit ist für Arabella die Studie von Matthew Werley132 gesondert zu nennen. Bei Elektra und beim Rosenkavalier ist die Situation insgesamt deutlich komfortabler. Die Zahl der Studien zu beiden Werken ist kaum noch zu überblicken, weshalb hier nur die genannt seien, die sich für die vorliegende Arbeit als besonders ergiebig erwiesen haben. Zu Elektra sind das in erster Linie die Untersuchungen von Bryan Gilliam,133 Sonja Bayerlein134 und Reinhard Gerlach,135 zum Rosenkavalier der von Reinhold Schlötterer herausgegebene Aufsatzband mit Beiträgen von Schlötterer selbst,136 Bernd Edelmann137 und anderen, sowie die Arbeiten von Joseph Jones,138 Wolfgang Krebs139 und Michael Walter.140 Die positive Einschätzung des Forschungsstands gilt grundsätzlich auch für Ariadne auf Naxos, allerdings mit Einschränkungen. Zwar gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die das Werk aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet haben. Besonders die komplizierte Genese des Werkes, seine Umarbeitung von der ErstfasRöttger, Formproblem, S. 11. Vgl. Hottmann, Historismus, bes. S. 461–519 (zu Arabella) und S. 521–578 (zur Ägyptischen Helena). 126 Ebd., S. 36. 127 Vgl. Fritz, Operas. 128 Vgl. Graydon, Helena. 129 Vgl. Birkin, Arabella. 130 Vgl. z.B. Kohler, Zauberring, und Liebscher, Ende. 131 Vgl. Hottmann, Dramaturgie, Krisen, Männlichkeit und Operette. 132 Vgl. Werley, Historicism. 133 Vgl. Gilliam, Elektra. 134 Vgl. Bayerlein, Frauengestalten. 135 Vgl. Gerlach, Tragödie. 136 Vgl. Schlötterer, Komödie. 137 Vgl. Edelmann, Tonart. 138 Vgl. Jones, Rosenkavalier, und Jones, Process. 139 Vgl. Krebs, Schlußterzett. 140 Vgl. Walter, Strauss, S. 272–278 („Der Schluß des ‚Rosenkavalier‘“). 124 125


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sung (1912) zur Zweitfassung (1916) und die damit verbundenen konzeptionellen Änderungen wurden immer wieder thematisiert.141 Umso erstaunlicher ist jedoch, dass die Ergebnisse zur musikalischen Struktur immer noch relativ dürftig sind. Nach ersten Ansätzen bei Donald Daviau und George Buelow142 haben Charlotte Erwin143 und Bryan Gilliam144 zumindest einige Grundlinien der symphonischen Disposition offengelegt, weshalb die folgende Darstellung an sie anknüpfen kann. Daneben haben Gabriella Hanke Knaus145 und Karl Dietrich Gräwe146 wichtige Teilbeträge geliefert. Die Frage nach komponierter Verwandlung in Ariadne auf Naxos ergibt sich damit aus dem beschriebenen Status quo, wobei im Grundsatz die opernmäßige Zweitfassung der Untersuchungsgegenstand ist,147 jedoch bei Bedarf auf die Erstfassung148 rekurriert wird. Die angestrebte Grundlagenarbeit im Analytischen hat einen entsprechenden Widerpart im Philologischen. Die Konsultation von Quellen wie etwa autograph kommentierter Operntexte, Skizzenbücher oder Particelle ermöglicht es, ein Werk nicht nur als Gegebenes, Fertiges zu begreifen, sondern auch seinen Entstehungsprozess wenigstens in Ansätzen nachzuvollziehen. Daher wird die an der Partitur orientierte Analyse immer wieder um Betrachtungen des Quellenhintergrunds erweitert, um so tiefergehende Aufschlüsse über Strauss’ kompositorisches Konzept zu gewinnen. Allein das dritte Kapitel kehrt die Perspektive um. Da der Forschungsstand zu Elektra und zum Rosenkavalier insgesamt relativ gut ist, wird hier der Fragerahmen nach musikalischer Verwandlung auf systematische Überlegungen zu Strauss’ Kompositionsprozess ausgedehnt. Die eindeutige Identifikation der einschlägigen Quellen erfolgt regelmäßig durch Hinweis auf die Datensätze des Richard-Strauss-Quellenverzeichnisses (RSQV), dessen Online-Datenbank seit Oktober 2011 unter der Adresse www.rsi-rsqv.de frei zugänglich ist. Abschließend sei gesondert auf die Skizzenbuchinventarien verwiesen, die als digitaler Teil des Anhangs in die jeweiligen Datensätze des RSQV integriert sind (vgl. hierzu im gedruckten Anhang die Liste der betreffenden Dokumente). Seit Franz Trenners Publikation von 1977149 ist es ein dringendes Desiderat der Strauss-Forschung, seine Pionierarbeit fortzuführen, die Inhalte Strauss’scher Skizzenbücher detailgenau zu dokumentieren und die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die technischen und formalen Voraussetzungen dafür wurden jüngst durch das RSQV geschaffen. In diesem Zusammenhang unternimmt vorliegende Arbeit einen weitreichenden Vorstoß und schlüsselt, sofern verfügbar, den Vgl. z.B. Stiegele, Entstehungsgeschichte, und Forsyth, Genesis. Vgl. Daviau/Buelow, Ariadne. 143 Vgl. Erwin, Ariadne. 144 Vgl. Gilliam, Verwandlung, und Gilliam, Konzept. 145 Vgl. Hanke Knaus, Schlussgestaltung. 146 Vgl. Gräwe, Sprache. 147 Vgl. RSE, Bd. 6. 148 Vgl. Strauss, Ariadne auf Naxos (I) [Partitur]. 149 Vgl. Trenner, Skizzenbücher. 141 142


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EINLEITUNG

Inhalt der heute bekannten Skizzenbücher zu den Hofmannsthal-Opern Ariadne auf Naxos, Die Frau ohne Schatten, Die ägyptische Helena und Arabella seitenweise und gegebenenfalls nach Skizzenteilen auf. Teilweise werden die Skizzenbücher vollständig erschlossen, teilweise in Auszügen, soweit sie die genannten Werke inhaltlich betreffen. Vorbild dafür sind die wegweisenden Arbeiten von Bryan Gilliam und Joseph Jones, die das Gleiche bereits in kleinerem Umfang für Skizzenbücher zu Elektra und zum Rosenkavalier getan haben.150 Auch die Publikation von Günter Brosche und Karl Dachs über die Strauss’schen Autographen in München und Wien war eine große Hilfe.151 Die gewählte digitale Präsentationsform vermeidet dabei nicht nur das Anwachsen des gedruckten Teils ins Uferlose. Ihr Mehrwert liegt vielmehr darin, dass die Recherchefunktionen des RSQV eine gezielte, taktgenau an der Partitur orientierte Skizzensuche in den betreffenden Quellen ermöglichen.

150 151

Vgl. Gilliam, Elektra, bes. S. 242–256, und Jones, Rosenkavalier, bes. S. 256–281. Brosche/Dachs, Autographen.


KAPITEL 1: ARIADNE AUF NAXOS UND DIE FRAU OHNE SCHATTEN, TEIL I DIE HOHEN PAARE 1.1

ASPEKTE MOTIVISCHER VERWANDLUNG

1.1.1 Vorbemerkungen zum Begriff des Leitmotivs Der direkteste Weg, sich dem Phänomen der musikalischen Verwandlung zu nähern, führt über die Leitmotivik. Jedenfalls legt das ein Großteil der Strauss-Literatur nahe. Ähnlich wie bei Richard Wagner haben auch die dramatischen Werke von Richard Strauss eine Vielzahl von Studien gezeitigt, die den Gang der Handlung im Musikalischen über (mehr oder weniger ausführlich kommentierte) motivische Leitfäden zu erläutern suchen.1 Für einen Komponisten wie Strauss, der unbestritten in der Wagner-Nachfolge steht, war das Operieren mit Leitmotiven eine Selbstverständlichkeit. Was also ist plausibler, als die Verwandlung von Bühnenfiguren anhand der musikinternen Verwandlung ihrer Leitmotive nachzuvollziehen? Es gibt in der Musikgeschichtsschreibung nur wenige Termini, die derart problembehaftet sind wie das Leitmotiv. Nicht zufällig verweigert Joachim Veit im einschlägigen MGG2-Artikel eine genauere Begriffsdefinition: Weil „eine präzis differenzierende Terminologie“ fehle, sei das Leitmotiv „in seiner allgemeinsten Form als eine musikalische Wiederholung“ zu bezeichnen, „die nicht musikimmanent begründbar ist und die somit über den musikalischen Zusammenhang hinausweist“2. Der Leitmotivbegriff, dessen Urheber nach wie vor nicht restlos geklärt ist,3 war seit jeher umstritten. Fakt ist, dass seine aufkommende Popularität eng mit den theoretischen Schriften von Richard Wagner verknüpft war, aus denen man grundlegende Bestimmungsmerkmale bezog. Die allermeisten Autoren seit Wagner stellten die poetisch-musikalische Doppelnatur des Leitmotivbegriffs heraus.4 Allerdings war dies kein Garant für eine einhellige terminologische Sprachregelung, denn der Begriff wurde von Anfang an in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet und der Begriffsinhalt je verschieden gedeutet bzw. gewichtet. „Es muß also strikt zwischen Wagners theoretischem Konzept und dessen Anwendung durch seine Rezipienten 1 Detailliertere Überblicksdarstellungen bieten etwa die Monographien von Specht, Strauss, Bd. 2, Mann, Operas, Del Mar, Strauss, und Bottenberg, Creation. 2 Veit, Leitmotiv, Sp. 1079. 3 Vgl. ebd., bes. Sp. 1079–1080 (Abschnitt „Zur Einführung des Begriffs“), und Blumröder, Leitmotiv, bes. S. 1–3. 4 Vgl. Blumröder, Leitmotiv, S. 4.


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(und durch Wagner selbst!) unterschieden werden.“5 Richard Wagner hat das Phänomen, das andere bündig als Leitmotiv deklarierten, stets in wortreicher Vielfalt umschrieben.6 Den Begriff selbst dagegen verwendet er nur ein einziges Mal, und das in bezeichnendem Kontext. Im späten Aufsatz Über die Anwendung der Musik auf das Drama (1879) gedenkt er „des einen meiner jüngeren Freunde“ – nämlich Hans von Wolzogen –, „der das Charakteristische der von ihm so genannten ‚Leitmotive‘ mehr ihrer dramatischen Bedeutsamkeit und Wirksamkeit nach, als (da dem Verfasser die spezifische Musik fernlag) ihre Verwertung für den musikalischen Satzbau in das Auge fassend, ausführlicher in Betrachtung nahm“7. Deutlich wird: Wagner redet vor allem „einer gerechten und zugleich nützlichen Beurteilung der [...] dem Drama abgewonnenen musikalischen Formen“8 das Wort. In diesem Sinn war manchen Autoren daran gelegen, dem Leitmotiv als musikalischem Begriff schärfere Kontur zu geben. Man versuchte, Wagners Leitmotivtechnik vom Operieren mit bloßen Erinnerungsmotiven in Vorläuferwerken abzugrenzen.9 Carl Dahlhaus hat darauf hingewiesen, dass „die verstreuten Motivzitate und Reminiszenzen in Webers Opern [...] vom Leitmotivsystem des Ring durch einen qualitativen Sprung geschieden sind“10. Dieser Sprung sei mehr prinzipieller als gradueller Natur. Denn während „die Erinnerungsmotive manchmal bloße Interpolationen sind, abgehoben vom melodischen Kontext, in den sie wie von außen hereinragen“11, gelte für die Wagner’schen Leitmotive, dass sie „sich im Musikdrama über den gesamten Orchestersatz erstrecken und dessen Struktur in jedem Augenblick bestimmen“12. Auf diese Weise entstehe „ein dichtes Gewebe, das mit der thematischen Arbeit bei Beethoven trotz einer abweichenden Zeitstruktur [...] eine fundamentale Eigenschaft teilt: die Eigenschaft, eine musikalische Form zu begründen, die weniger auf dem Gleichgewicht melodischer Perioden beruht, als daß sie aus motivischer Logik erwächst“13. Veit, Leitmotiv, Sp. 1080. Vgl. die Zusammenstellung bei Blumröder, Leitmotiv, S. 3. 7 Wagner, Anwendung, S. 202–203; vgl. dazu auch Wagner, SSD, Bd. 10, S. 185. Richard Strauss hat Wagners Abhandlung bestens gekannt und sehr geschätzt. Am 27. September 1943 schreibt er an Willi Schuh: „Gestern abend las ich wieder mal im 10. Band Wagner: | ‚Über eine Operaufführung [sic] in Leipzig‘ (sehr lehrreiche Bemerkungen über Musikzeitungen) | Über das Dichten und Componieren | Über das Operndichten und Komponieren im Besondern! | Über die Anwendung der Musik auf das Drama | und war von dieser Lekture [sic] so erschüttert, daß ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte. | Welche brutale Klarheit und höchste Weisheit in diesen kurzen Essays! Ist es denkbar, daß unsere heutigen Componisten diese Bücher nicht kennen? [...] Kurz: die obigen Essays müssen in jedem Conservatorium groß gedruckt an den Klassenwänden angeschlagen werden, über die ganzen Schriften Wagners, Bülows, Liszt’s [sic], Berlioz’ ständige Collegien gelesen werden.“ (Strauss/Schuh, Briefwechsel, S. 46–47). Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Abert, Erbe, S. 168. 8 Wagner, Anwendung, S. 202. Zu Wagners spezifischem Verständnis von dramatisch-musikalischer Form vgl. Dahlhaus, Formbegriff, zu vorliegendem Zusammenhang bes. S. 325–326. 9 Vgl. hierzu Veit, Leitmotiv, Sp. 1085–1086 (Abschnitt „Leitmotiv und Erinnerungsmotiv“), und Blumröder, Leitmotiv, bes. S. 9–11. 10 Dahlhaus, Leitmotivtechnik, S. 363. 11 Ebd., S. 365. 12 Dahlhaus, Jahrhundert, S. 163. 13 Ebd. 5 6


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Akzeptiert man diese engere Definition von Dahlhaus – Leitmotivik als dichtes Motivgewebe, das strukturprägend und formbegründend wirkt –, ergibt sich daraus auch für die Strauss-Analyse eine besondere Verpflichtung. Von einem Leitmotiv könnte erst dann die Rede sein, wenn der Nachweis gelingt, dass ein punktuell etikettiertes Motiv, allein oder im Zusammenspiel mit anderen, Form und Struktur des musikalischen Satzes determiniert. Tatsächlich krankt die Leitfaden-Literatur auch bei Strauss nicht so sehr an ihrer Fokussierung auf das Motivische – Motivzusammenhänge spielen in Strauss’ Musik ohne Zweifel eine bedeutende Rolle –, sondern daran, dass, ähnlich wie bei Wagner, nur selten gefragt wird, welchen musikinternen Verfahren die Motive unterzogen werden, wie sie kombiniert werden und welche großformalen strukturellen Konsequenzen sich daraus ergeben, kurz: inwieweit die oft isoliert aufgeführten Motive wirklich Leitmotive im Dahlhaus’schen Sinne sind. Schon bei Wagner ist die Grenze zwischen strukturrelevanten Motiven und solchen, die dies nicht oder nur in geringem Maße sind, kaum eindeutig zu ziehen. Bei Strauss verhält es sich entsprechend. Deshalb werden wir auf den stark vorbelasteten Leitmotivbegriff nach Möglichkeit verzichten und stattdessen neutral von Motiven reden. Die Motivetikettierung, die sich, soweit sinnvoll, an die bestehende StraussLiteratur anlehnt, soll darüber nicht hinwegtäuschen. Wenn Motive im Folgenden mit Namen belegt werden, dann nur deshalb, um sich über musikalische Zusammenhänge leichter verständigen zu können. Das Etikett enthebt nicht der Pflicht, die Gestalt des bezeichneten Motivs sowie seine Funktion innerhalb des Satzgefüges exakt zu bestimmen. Das vorliegende Teilkapitel bedeutet in diesem Kontext nur einen ersten Schritt. Es benennt und beschreibt zentrale Motive, deren strukturelle Relevanz für die symphonische Disposition erst im Weiteren vollständig erschlossen werden kann. Eine weitere theoretische Überlegung, die ebenfalls in diesen Kontext gehört, sei hier nur gestreift: Wie steht es überhaupt um die Begriffe „Motiv“ und „Thema“ und deren Verhältnis zueinander? Der unklare Grenzverlauf bei Wagner ist jedenfalls offenkundig: „Ausgedehnte Themen (das ‚Abendmahlsthema‘ im Parsifal) werden unter den [Motiv-]Begriff ebenso subsumiert wie zweitönige Floskeln (das ‚Grübelmotiv‘ oder das ‚Hagen-Motiv‘ im Ring).“14 Wiederum gilt der Befund für Strauss analog. Motiv und Thema stehen auch im Strauss-Schrifttum häufig unterschiedslos nebeneinander.15 Bei Vokalwerken wiegt die terminologische Unschärfe allerdings weniger schwer, denn: „Thema, Motiv und Figur sind Grundbegriffe der Instrumental-Melodik, und in der Übertragung auf vokale Stile verlieren die Termini oft ihre festen Umrisse.“16 Grundsätzlich kann man in der einschlägigen Musiktheorie zwei große Lager ausmachen, von denen das eine eher einer funktionalen, das andere Veit, Leitmotiv, Sp. 1079. Das gilt auch für die englischsprachige Literatur. Obwohl auch dort der Unterschied zwischen „theme“ und „motif“ prinzipiell bekannt ist, wird oft beliebig vermengt. Zur Definition der Begriffe vgl. die NGD2-Artikel von Drabkin, Theme, und Drabkin, Motif. 16 Hüschen/Dahlhaus, Melodie, Sp. 44. 14 15


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einer phänomenalen Begriffsauffassung zuneigt.17 Stehen also im einen Fall die formbildenden Eigenschaften der musikalischen Gebilde im Vordergrund, sind es im anderen Fall ihre klanglichen Erscheinungsformen. Eine rigide Auslegung in die eine wie in die andere Richtung wäre für die Analyse von Strauss’ Opernmusik wenig zweckmäßig, daher sei hier auf eine ausführliche Diskussion verzichtet.18 Im Grundsatz aber werden die Begriffe Motiv und Thema im Weiteren im phänomenalen Sinn verwendet. Das bietet einerseits den Vorteil, musikalische Gestalten als Motive und Themen bezeichnen zu können, selbst wenn sie funktional keinen oder nur geringen formbildenden Anteil haben. Es erfordert aber andererseits, ihre Physiognomie im Einzelfall möglichst genau zu erfassen. Gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch sei dabei der Themenbegriff dem Motivbegriff übergeordnet: Ein Motiv kann wohl Teil eines Themas sein, nicht aber umgekehrt ein Thema Teil eines Motivs.19

1.1.2 Ariadne und Bacchus in Ariadne auf Naxos Für die motivisch realisierte Verwandlung von Ariadne und Bacchus ist zunächst zu klären, wie Strauss die beiden Protagonisten in Ariadne auf Naxos jeweils für sich musikalisch-motivisch charakterisiert hat. Die erste Szene der Oper wird bestimmt durch einen langen Monolog der Titelfigur, den Hofmannsthal Schritt für Schritt entwickelt. Das Terzett der Nymphen Najade, Dryade und Echo prägt bereits als Introduktion die Stimmung. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man Ariadne, die von Theseus verlassen worden ist, regungslos trauernd am Boden liegen. Zunächst im Zustand psychisch-emotionaler Verwirrung („Wo war ich? tot?“20), erinnert sie sich bald an die glücklichen Tage mit Theseus („Ein Schönes war: hieß Theseus– Ariadne“21). Als sie dessen Verlust erneut gewahr wird, schlägt die Freude in schmerzvolle Verzweiflung um („Warum weiß ich davon? ich will vergessen!“22). Wie im Vexierbild paaren sich Todesvisionen mit der Sehnsucht nach einer vormaligen unberührten Kindheit („Sie atmet leicht, sie geht so leicht“23). Harlekins Versuch, Ariadne mit einem Lied aufzumuntern, schlägt fehl. Ariadne beachtet die Buffo-Figuren gar nicht und wünscht sich stattdessen die Ankunft des Todesboten

17 Vgl. hierzu den immer noch grundlegenden Beitrag von Wehnert, Thema/Motiv. Vgl. auch SchillingWang/Kühn, Thema/Motiv. 18 Lohnender wäre einmal eine grundlegende systematische Untersuchung über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der „Leitmotive“ bei Wagner und Strauss, und zwar phänomenal wie funktional. Reinhold Schlötterer beispielsweise fragt beim Schatten-Motiv in der Frau ohne Schatten nach dem „Stand des Komponierens“ im Sinne der „Leitmotivtradition“ (Schlötterer, Moderne, S. 23). Vgl. Näheres zum Schatten-Motiv auf S. 44–46. Zu Strauss’ Wagner-Rezeption generell vgl. den grundlegenden Beitrag von Bernd Edelmann im Strauss-Handbuch (Edelmann, Strauss/Wagner). 19 Vgl. hierzu Hüschen/Dahlhaus, Melodie, Sp. 44–45. 20 HSW, Bd. 24, S. 27. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 28.


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Hermes herbei („Bald aber nahet ein Bote“24). Das Ende ihres Monologs beherrscht ein Gefühl von Erlösungsgewissheit, das sich bis zur finalen Todesbegeisterung steigert. Strauss vollzieht die Entwicklung von Ariadnes Monolog unter anderem motivisch nach, und zwar durch die Verwendung von Motivmaterial, das untereinander zwar verwandt ist, durch bestimmte Änderungen aber der Monologentwicklung Rechnung trägt. Der Einfachheit halber seien die Stellen nach ihrer Textierung benannt: „Ein Schönes war“ bei Ziffer 34, „Sie atmet leicht“ bei Ziffer 47 und „Bald aber nahet ein Bote“ bei Ziffer 62 (Abb. 1.1.2 [Ia]–[Ic]). Abb. 1.1.2 (Ia):

Abb. 1.1.2 (Ib):

Abb. 1.1.2 (Ic):

Worin liegt das Vergleichbare und worin die Entwicklung? – Alle drei Motive verbindet, dass sie auf einfachen Dreiklangsbrechungen beruhen, die um einen zentralen Achsenton kreisen. Besonders Motiv eins und Motiv zwei ähneln sich, da ihre Intervallfolge nahezu identisch ist. Die Fortentwicklung setzt an anderen Parametern an. So erweist sich Motiv zwei als rhythmisch stark diminuierte Form von Motiv eins. Der Achsenton b bei „Ein Schönes war“ ist massiv verbreitert, gewissermaßen in die Unendlichkeit verlängert, so wie sich auch Ariadne in glücklicher Erinnerung an Theseus verliert. Anders dagegen bei „Sie atmet leicht“: Aus der gedehnten Folge von Halben plus Viertel werden doppelt punktierte Viertel plus Sechzehntel; zu24

HSW, Bd. 24, S. 29.


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gleich ergibt sich syntaktisch eine deutliche Gliederung in Zweitaktgruppen. Nach ihrem verzweifelten Ausbruch vor Ziffer 41 ist Ariadne wie entrückt. Sie gibt sich einer verklärten Todesvision hin, streift scheinbar alle beschwerenden Gefühle ab und wechselt in einen beschwingten Tonfall. In Distanz zu sich selbst redet sie nicht in der ersten, sondern in der dritten Person. Die Abwendung von der seligen Theseus-Erinnerung zugunsten distanziert-verklärter Entrücktheit beeinflusst auch das Klangbild des Begleitapparats. Während Motiv eins in einen runden, sonoren Orchesterklang eingebettet ist, wirkt die Begleitung bei Motiv zwei mit Flöte und Harmonium durchsichtig und zerbrechlich. Mit Motiv drei sehnt Ariadne die erlösende Ankunft des Gottes Hermes herbei. Dieser werde kommen, um sie ins Totenreich zu führen. Das Hermes- bzw. BotenMotiv, von der Oboe exponiert und von Ariadne vokal übernommen, ist gegenüber den Vorgängermotiven wesentlich verändert. Obwohl es ebenfalls aus einem pendelnden Dreiklang besteht, ist die Klangachse nicht mehr die Quinte, sondern der Grundton. Für Roland Tenschert gehört das Motiv zum „Typ des melodischen Quartsextraums“, welcher „der verschiedenartigsten Charakteristik fähig“25 sei. Im vorliegenden Fall bedeutet der Quartsextraum-Typus den atmosphärischen Übergang zu „sanfter, extatischer [sic] Bewegung“26: Aus dem 3/4- wird ein 4/4-Takt, das Motiv beginnt nicht auf-, sondern abtaktig, und die Punktierung ist im Vergleich zu Motiv zwei nochmals beschleunigt (bezogen auf die Singstimme: punktierte Achtel statt doppelt punktierte Viertel). Unter diesen Bedingungen entwickelt sich aus dem Dreiklangspendel des Motivs Ariadnes melodischer Aufschwung zum Textwort „Hermes“. Die im Grunde schlichte Kernidee einer Dreiklangsmelodik, die einen zentralen Achsenton umkreist, prägt demnach drei verschiedene Motivgestalten aus. In der Partiturabfolge bedeuten sie eine zunehmende atmosphärische Belebung, die Ariadnes Gefühlswandel – von der in sich gekehrten Theseus-Erinnerung über die fragile Todesvision bis zur behutsam vorwärtsdrängenden Hermes-Erwartung – musikalisch widerspiegelt. Das Motiv von Ariadnes späterem Partner Bacchus unterliegt ebenfalls einem Transformationsverfahren. Strauss führt das Bacchus-Motiv zu Beginn der „III. Scene“27 ein, die mit dem teichoskopieartigen Bericht der Nymphen beginnt (Seite 31, Abb. 1.1.2 [IIa]). Wie die beschriebenen Ariadne-Motive basiert auch das BacchusMotiv auf Dreiklangstönen, die die Hauptschlagzeiten besetzen. Allerdings pendelt es nicht um einen Zentralton, sondern steigt über eineinhalb Oktaven hinweg steil an. Gekennzeichnet durch diesen Aufwärtszug voller Elan, steht das Motiv für den jugendlichen Bacchus,28 dessen baldige Ankunft die Nymphen aufgeregt ankündigen. 25 Tenschert, Typologie, S. 98. Tenschert betont zuvor konsequent, dass der melodische Quartsexttypus streng zu trennen sei von der harmonischen Quartsextsituation, in der ein Motiv auftritt (vgl. ebd., S. 96ff.). 26 RSE, Bd. 6, S. 125. 27 Ebd., S. 205. 28 Hofmannsthal erläutert gegenüber Strauss: „Dieser lyrische Tenor wird ganz zart zu halten sein, fast knabenhaft. [...] Es ist ein kaum aus dem Ei geschlüpfter Bacchus, der erst ein einziges Abenteuer, mit Circe, gehabt hat und schüchtern ist.“ (Strauss/Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 126).


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Besondere Prägung erhält das Bacchus-Motiv durch die Sekundreibung seines Zieltons, der einzigen Dissonanz auf schwerer Taktzeit. Bei Dryades Text „Ein junger Gott!“ lenkt Strauss den Grundton cis zweimal zum dis hinauf, das sich mit dem weiterklingenden cis-Tremolo der Violinen reibt – offenbar ein nachträglicher Einfall von Strauss, wie Reinhold Schlötterer anhand der Skizzen zeigt.29 Abb. 1.1.2 (IIa):

Abb. 1.1.2 (IIb):

Eine wichtige Variante dieses Motivs bringt Bacchus’ szenische Ankunft bei Ziffer 274, gewissermaßen sein Auftrittsmotiv (Abb. 1.1.2 [IIb]). Die Motivvariante geht auf den sogenannten Botenbericht der Zerbinetta zurück, der schon vor der Uraufführung der Erstfassung von Ariadne auf Naxos gestrichen wurde.30 Im Botenbericht bestimmt das Auftrittsmotiv maßgeblich die orchestrale Steigerung, die mit Bacchus’ 29 30

Vgl. Schlötterer, Schaffensprozess, S. 28. Vgl. HSW, Bd. 24, S. 145–147, Eintrag 43, 21.


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Erscheinen ihren Höhepunkt erreicht. Die wesentlichen Änderungen gegenüber der Expositionsform des Bacchus-Motivs bestehen darin, dass Strauss den Motivanstieg in zwei Schübe unterteilt und gleichzeitig die skalare Bewegung stärker betont. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur letzten Entwicklungsstufe: dem Skalenmotiv der erlösenden Schlussapotheose (Abb. 1.1.2 [IIc]), das freilich schon bei Ziffer 275 erstmals erklingt. Vermittelt über das Auftrittsmotiv, steht das Bacchus-Motiv mit dem Skalenmotiv der Apotheose in Verbindung. Vom Finale aus betrachtet, ist Bacchus von Anfang an der motivisch determinierte „Erlöser“. Abb. 1.1.2 (IIc):

Welche Rolle spielen nun die beschriebenen Motive für die gegenseitige Verwandlung von Ariadne und Bacchus am Ende? – Außer dem linearen Nacheinander von Motivgestalten besteht für Strauss immer auch die Möglichkeit, Motive vertikal zu kombinieren. Besonders oft macht er von dieser Möglichkeit in den Schlusstakten Gebrauch, indem er die zentralen Motivstränge des Werkes triumphal kreuzt. Auch das Ariadne-Finale ist ein solcher Fall, exemplarisch zu beobachten in der viertaktigen Passage zwischen Ziffer 330 und Ziffer 331 (Seite 33, Abb. 1.1.2 [III]). Diese bildet eine kurze instrumentale Brücke zwischen dem ausklingenden Duett Ariadne/Bacchus und den abschließenden solistischen Bacchus-Versen, mit denen das Skalenmotiv der Apotheose letztmals raumgreifend einsetzt. In den vier Brückentakten blendet Strauss das Hermes-Motiv und das Bacchus-Motiv (in seiner ursprünglichen Variante) übereinander. Dass Bacchus derselbe und doch verwandelt ist, zeigt die Tonart an. Ursprünglich in Cis-Dur exponiert, erklingt sein Motiv nun in der enharmonischen Variante Des-Dur. „The musical symbolism here, the magical being-the-same and not-the-same of C# and Db is the secret formula.“31 Daneben erhellt die vertikale Motivkombination Ariadnes Perspektive: Der jugendliche Gott Bacchus und der Erlösung bringende (Todes-)Gott Hermes vermischen sich für sie zu einer einzigen Figur. Die übereinandergeblendeten Motive erläutern also und lassen zugleich ironisch offen, wer am Ende wer ist und wer wen wofür hält.

31

Erwin, Ariadne, S. 93.


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Abb. 1.1.2 (III):

Diese kleine, überschaubare Passage im Ariadne-Finale lehrt etwas Grundsätzliches. Wer erwartet hat, dass es genüge, für die Verwandlung von Ariadne und Bacchus nur linear die Transformation ihrer Personalmotive im Werkverlauf nachzuvollziehen, sieht sich getäuscht. Zwar bedient sich Strauss des durch Transformation geschaffenen Motivfundus. Aussagekräftig wird die Konstellation hier jedoch erst durch die vertikale Kombination der zuvor konstituierten Motiveinheiten in einem bestimmten tonalen Kontext (der innerhalb des Werkgefüges seinerseits zum Bedeutungsträger wird). Mit dem Hermes- und dem Bacchus-Motiv sind bis jetzt nur die beiden wichtigsten Elemente benannt, die an der gezeigten Stelle eine Rolle spielen. Vollständig erschließen wird sich die Funktion der Passage erst unter Berücksichtigung auch tonalkonstruktiver Aspekte.


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