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LYRIKEDITION 2000 begründet von Heinz Ludwig Arnold † herausgegeben von Florian Voß

Allitera Verlag


Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte über Hegel und Quine. Er lebt als freier Schriftsteller in München. Für seine bisher vierzehn Gedichtbände erhielt Steinherr mehrere Auszeichnungen, so den Leonce-und-Lena-Förderpreis, den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis. Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Seine Gedichte wurden vielfach übersetzt. Zuletzt erschien von ihm in der Lyrikedition 2000 »Ganz Ohr« (2012), in englischer Übersetzung »All Ears« (2013), »Flüstergalerie« (2013) und in England der zweisprachige Auswahlband »Before the Invention of Paradise« (Arc Publications, 2010). In der Lyrikedition 2000 von Ludwig Steinherr außerdem erschienen: »Fresko, vielfach übermalt« (2002), »Hinter den Worten die Brandung« (2003), »Musikstunde bei Vermeer« (2004), »Die Hand im Feuer« (2005), »Von Stirn zu Gestirn« (2007), »Kometenjagd« (2009) sowie der Auswahlband »Das Mädchen Der Maler Ich« (2012).


Ludwig Steinherr

Elefant mit Obelisk Gedichte

LYRIK EDITION 2000


Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de Informationen über die Lyrikedition 2000 unter www.lyrikedition-2000.de

Oktober 2015 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2015 Buch&media GmbH, München Druck: printingsolutions.pl Printed in Europe · isbn 978-3-86906-813-8


meiner lieben Mutter meinem lieben Vater



Soliloquien



Schnee Als ich zur Welt kam verliefen die Alpen mitten durch München – Trümmergebirge und Schluchten in denen dunkles Wasser glänzte – Überall waren Archäologen beschäftigt die Vergangenheit zu vergraben – Hinter gleißenden Glasfronten ragten noch die gegrillten Riesenskelette von Hannibals Kriegselefanten – Als ich zur Welt kam schneite es immerzu selbst im Mai schneite es: Schnee Schnee Schnee auf Gipfel Krater Gebirgspässe Schnee auf blühenden Flieder Schnee auf die ragenden Stoßzähne – Ich fing den Schnee mit der Zunge die Flocken schmeckten nach nichts – nein, sie schmeckten wie der Puffreis in der Wundertüte in der ich einen Miniatursoldaten fand und einen weißen Plastikelefanten

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Soliloquien Ich habe immer geschwänzt – Französisch Mathe Bio und die blutigen Ebenen der Geschichte – Als Titus seinen Triumphzug abhielt kickte ich eine Dose über den leeren Sportplatz Als die Bastille gestürmt wurde streifte ich durch ein Maisfeld – Wie gut kenne ich das Hallen meiner Schritte auf verwaisten Gängen Die schockgefrorene Stille des verlassenen Wäldchens – Ich habe Akademiesitzungen geschwänzt, haufenweise Festvorträge Bußgottesdienste lästige Parties Ich habe die Kantische Pflichtethik geschwänzt und warte noch immer auf die bitteren Konsequenzen Ich habe Bergtouren geschwänzt und Strandausflüge Ich habe einmal sogar Florenz geschwänzt um einen vollen Nachmittag dem mystischen Surren der Klimaanlage zu lauschen – Ich habe das Licht geschwänzt und den Schatten Ich habe die wundersame Brotvermehrung geschwänzt und leider auch die Nachtwache im Garten Gethsemane – Doch meine einsamen Streifzügen haben mich manches gelehrt: Daß die Stille ein Palast ist mit unendlichen vielen Spiegelzimmern Daß Kaiser im Exil sich nach und nach in grüne Käfer verwandeln

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Daß die Toten als Fassadenkletterer über die Dächer spazieren und daß ich zu ihnen gehöre Daß Schneeflocken wenn du ihnen lange genug zuschaust aufwärts fallen

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Zehn Jeder von ihnen trägt seine Narbe und erzählt seine Geschichte – Der linke Zeigefinger mit dem weißen Schnitt an der Kehle wo einst die Indianerklinge abrutschte – Der rechte Daumen – der Gebrandmarkte vom Grillrost auf Korsika der als einziger weiß wie sich das Höllenfeuer anfühlt – Weiter der Möwenfinger an dem der Ehering sitzt wie der Ring der Vogelwarte – Dann die drei Schicksalschwestern die Außenfinger der linken Hand die nachts über der heidedüsteren Bettdecke prophetisch ins Dunkel starren – Nicht zu vergessen der rechte kleine Finger der langsam einen Buckel bekommt und sich sarkastisch zur Seite dreht: er ist mein Hofnarr – immer öfter flüstert er mir eine Wahrheit zu die ich nicht hören will

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Von der Auferweckung Jener Sommer als ich vom Baum stürzte und mir den Arm zerschmetterte – Hinter halb geschlossenen Läden lag ich lebendig begraben während draußen die Wiesen im Geschrei der Geschwister verglühten – Ich weiß noch den schrillen Laut der Schere die den Gips aufschnitt – diesen Augenblick als mein Arm emporfuhr – bleich – abgemagert noch Grabesgeruch verströmend – zittrig wie der ins Licht zurückgerufne Lazarus – Noch Wochen war er mir unheimlich – der Arm eines Toten der in mein Leben griff

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Zu meinem 50. Geburtstag Dieses halbe Jahrhundert verging wie ein Tag an dem ich für ein Examen lernte – und plötzlich blicke ich auf und sehe: ich bin noch im Schlafanzug und barfuß – War nicht eben noch Winter? Doch vor dem Fenster blüht die Luft Liebespaare schlendern durch die Straßen – Was für ein köstlicher Abend! Gerade noch sehe ich wie ein gewaltiger Karren vollbeladen mit leuchtenden Orangen aus dem Bild rollt

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