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Pia Stein

IN TUITION Der Weg aus den Schattenjahren

Roman


Februar 2018 Š 2017 Buch&media GmbH, Mßnchen Umschlaggestaltung K M & A - Werbeagentur, O. Karres Printed in Germany isbn print 978-3-95780-097-8 isbn epub 978-3-95780-098-5 isbn pdf 978-3-95780-099-2


1. Kapitel Ich öffne meine Augen und denke, weit hast du’s gebracht, ganz weit, meine Liebe! Ich hasse dieses Leben und ich hasse mich! Und was ich noch hasse, das bist du! Was hast du mir angetan? Dann dreh ich meinen Kopf zur Seite und sehe wieder diesen abgrundtief hässlichen Raum, der bis in jede Ritze vergraut ist. Schon wieder ist es morgens, genauer gesagt fünf Uhr. Wieder sehe ich mich um in diesen meinen vier Wänden. Ich sehe nach oben und sehe den an der abgewetzten Stange baumelnden Galgen über meinem Gesicht hängen. Meine armselige und bis auf die Knochen abgemagerte, leichenblasse Gestalt liegt flach wie ein Brett unter der Bettdecke. Eine weiße Nachtkonsole mit einem mehr als schäbigen Plastikbecher und einer Flasche Wasser darauf steht zu meiner Rechten und eine dreiteilige spanische Wand, die mit einem rissigen und mit Flecken übersäten Stoff bezogen ist, zu meiner Linken. Hinter dieser grauenhaften Wand befindet sich ein weiteres Bett aus ursprünglich weißem, aber über die Jahre vom vielen Benutzen und Desinfizieren abgeblättertem Metall. Der Bettbezug gleicht meinem – die gleiche verwaschene, gelblich-grau verfärbte Bettwäsche. Das Bett ist leer und wartet auf die nächste Belegung durch eine Person, die wie ich die Arschkarte im Leben gezogen hat. Seit einer gefühlten Ewigkeit, wie lange genau weiß ich nicht, liege ich nun hier in diesem überaus grausigen Zimmer. Alleine und vom Glück verlassen! Am Fußende meines Bettes steht ein kleiner dunkelbrauner Holztisch mit zwei alten Plastikstühlen, die auch schon bessere Zeiten gesehen haben. Über dem Tisch hängt ein wirklich schönes Kruzifix, aus Holz gearbeitet, und daneben leider ein geschmackloses buntes Bild, das im Laufe der Jahre, in denen es hier bereits 5


hängen muss, genauso verblasst ist wie das gesamte Zimmer. Das Motiv des Bildes, wie sollte es anders sein, ein Stillleben! Wie passend für mich und meine derzeitige Situation. Stillleben oder Stillstand, wo ist da der Unterschied? Wie jede Nacht drehten sich auch in der vergangenen Nacht meine Gedanken wieder und wieder im Kreis. Jetzt hämmert es in meinem Kopf. Immer wieder drängt sich die gleiche Frage auf, unaufhörlich, wie eine alte, hängen gebliebene Langspielplatte aus den Achtzigern, immer wieder die gleiche Frage! Die Frage nach dem Warum. Warum hast du das getan, dabei dachte ich, du liebst mich? Jetzt aber weiß ich, dass du nur dich liebst! Du hast mir mein Herz herausgerissen, du egoistisches Stück Scheiße. Jede Faser meines Körpers zieht sich schmerzlich zusammen. Wie gerne würde ich einfach nur schreien, meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Jammern, flehen, fluchen, schreien, aber nicht einmal das ist mir noch gegönnt. Ich habe das Gefühl, ich ersticke an meiner eigenen Wut. An meiner Wut auf dich! Kein Wort kommt seit damals mehr über meine Lippen. Du hast mir alles genommen. Auch wenn ich mich noch so bemühe, ich habe alles verloren. Nicht einmal meine Sprache ist mir noch geblieben. Was mache ich hier? Ich habe keine Kraft mehr. Wie konnte mir mein Leben so entgleiten? Warum ist das alles passiert? Warum ist alles so gekommen? Warum passiert das ausgerechnet mir? War ich zu sehr auf Sicherheit bedacht? Ich habe gerne und hart gearbeitet und damit ehrlich meinen Lebensunterhalt verdient. Ich habe niemandem etwas Böses getan! Jedenfalls nicht wissentlich und schon gar nicht absichtlich. Und vor allem niemals dir! Ich habe in meinem Beruf vielen Menschen geholfen, nicht nur indem ich sie als Physiotherapeutin einfach nur massierte, nein, ich habe ihnen auch zugehört, mir ihre teils 6


harten und verfahrenen Lebensgeschichten angehört. Nicht halbherzig, sondern mit meinem ganzen Herzen. Ich hatte meine Wohnung, in der ich mich immer wohlfühlte. Meine kleine, gemütliche und kuschelige IKEA -Oase, die mir über eine weite Strecke meines Lebens Zuflucht und Geborgenheit vermittelte. Ich hatte Carsten, der frühmorgens immer aussah wie eine kleine schielende Wühlmaus! Carsten, meinen Lebensabschnittsgefährten, mit dem ich lachen, aber auch weinen konnte. Warum? Warum? Warum? Ich mache mir große Vorwürfe. Ohne meinen brennenden Kinderwunsch hätte ich ein ruhiges Leben an Carstens Seite haben können. Ich habe das Gefühl, als hinge eine riesige Anklageschrift über mir, anstatt über ihm! So als stünde ich vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Selbstvorwürfe und Selbstzweifel überfallen mich immer und immer wieder. Warum habe ich so versagt? Wie komme ich aus dieser Anklage mit heiler Haut heraus? Bin ich wach oder träume ich? Vielleicht werde ich gleich aufwachen und alles ist nur ein schrecklicher Albtraum gewesen. Hilfe, lieber Gott, hilf mir aus meiner großen Not! Ich bitte dich inständig. Es heißt doch immer, man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Aber wo ist diese Hand?

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2. Kapitel Die grausame Realität holt mich erneut ein, wie jeden Tag. Mittlerweile ist es sechs Uhr und wie immer um diese Uhrzeit öffnet sich von außen ganz leise die Tür. Herein kommt, täglich um diese Zeit, fast gespenstisch eine weißbekleidete, zierliche Frau auf leisen Sohlen. Ihre Füße stecken in federleichten weißen Turnschuhen mit den drei schwarzen Streifen darauf. Sie bewegt sich langsam und leise wie eine Katze auf mein Bett zu und legt mir die Pillendose mit der Aufschrift »morgens, mittags, abends, nachts« auf meinen Nachttisch. Jeden Morgen schenkt sie mir diesen liebevollen, aber zugleich mitleidigen Blick. Ich kann diesen trauernden Blick einfach nicht mehr ertragen. Sie wünscht mir einen guten Morgen, fragt mich mit leiser, aber sehr rauer Stimme freundlich und liebevoll nach meinem Befinden, ohne eine Antwort zu erwarten, da sie weiß, dass ich ohnehin nicht antworten kann, weil ich meine Stimme verloren habe. Zeitgleich hält sie mir die erste Ration Tabletten zusammen mit einem Glas Wasser vor den Mund. Wie jeden Morgen! Das geht jetzt seit Wochen oder Monaten so. Ich weiß es nicht mehr! Ich habe keinerlei Zeitgefühl mehr. Ich nehme die Tabletten und das Wasserglas ohne ein Wort an mich und schlucke diese Scheißtabletten. Immer wieder denke ich, wenn ich doch nicht mehr wach werden würde. Können die mich nicht einfach betäuben oder besser noch ins Koma versetzen? Ich möchte aufhören zu denken, noch besser zu atmen. Ich fühle mich, als wäre ich bereits tot. Eingesperrt in meinem verfluchten Körper und in diesem schrecklichen Kabuff. Die freundliche, zierliche und zugebenermaßen sehr hübsche Krankenschwester mit der lockigen Hochsteckfrisur legt wie immer liebevoll ihren Handrücken an meine rechte 8


Wange. Sie tätschelt mir freundlich und ganz sanft die Wange, und obwohl ich das nicht möchte, ja, fast nicht mehr ertrage, verdammt noch mal, bringe ich es nicht fertig, auch nur einen einzigen Finger zu rühren, geschweige denn ihr zu sagen, dass sie diese Tätschelei wie bei einem Kleinkind doch bitte, bitte unterlassen soll. Heute allerdings beugt sich die Hochsteckfrisur auf Turnschuhen über mich und schaut mir tief in die Augen, bevor sie sagt: »Ich habe erfreuliche Nachrichten für Sie. Jetzt sind Sie nicht mehr so allein. Darf ich Ihnen Ihre neue Bettnachbarin vorstellen?« Dabei wirkt sie heute wie ein kleiner weißer Friedensengel auf Turnschuhen, als sie zurück zur Tür geht. Sie hebt ihre rechte Hand und winkt mit den Worten: »Kommen Sie, ich mache Sie mit Ihrer Zimmergenossin bekannt.« Im Türrahmen erscheint eine Frau mittleren Alters. Für kurze Zeit füllt sich der Türrahmen Länge mal Breite aus und ich habe das Gefühl, jetzt wird’s richtig dunkel im Zimmer. Diese übergroße und sehr korpulente Frau lässt sich nicht lange bitten, kommt auf mich zu, packt meine Hand und drückt zu! Augenblicklich zucke ich zusammen. Die hat vielleicht einen Händedruck, der hat sich gewaschen! Wahrscheinlich ist die von irgendeinem Ringerclub, denke ich. Sie schaut mich mit ihren tiefblauen Augen an und sagt: »Grüß dich, du zierliches Persönchen! Ich bin die Anna, die Anna Frauenlob.« Dabei zerquetscht sie mir fast meine Finger. Als ich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihr liege, immer noch Auge in Auge, meint sie nur: »Macht nix, hast ja noch eine Hand mit fünf Fingern dran, oder?« Sie lächelt sehr sympathisch, aber irgendwie auch hysterisch. Als sie endlich meine Hand wieder freigibt, wendet

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sie sich ab und verschwindet hinter der spanischen Fetzenwand, um ihr Bett zu begutachten. »Na ja, ganz nett hier, aber ein Wasserbett ist das nicht. Ob mein Kreuz das hier aushält, steht in den Sternen,« sagt sie und streckt ihren Kopf hervor. Grinsend fügt sie noch hinzu: »Das wissen wir aber spätestens morgen.« Die Hochsteckfrisur namens Schwester Elisabeth erklärt ihr noch die Gepflogenheiten unseres noblen Aufenthaltsortes, bevor sie ihr hilft, ihre riesige, abgewrackte Sporttasche mit dem zerkratzten und zerfetzten Puma darauf auszuräumen. Sie legt ihre überdimensionalen pinkfarbenen Jogginganzüge zusammen mit ihrer Wäsche, die ich gar nicht weiter beschreiben möchte, in den Schrank. Dann bringt sie den pinkfarbenen, lackbeschichteten Kulturbeutel meiner Ringerin ins Bad. Bevor sie sich verabschiedet, sagt sie noch: »Sie beide werden sich gut verstehen, Sie werden sehen, meine Damen! Und Ihnen, liebe Frau Imhof, tut es gut, nicht mehr alleine zu sein, glauben Sie mir!« Als wenn die wüsste, was mir gut täte! Dieser »Cindy-von-Marzahn-Verschnitt« eher nicht. Bevor sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen und auf leisen Sohlen wieder von dannen macht, weist sie mich noch darauf hin, dass gleich Frau Dr. Guthmut, die Chefpsychiaterin des Krankenhauses, selbstverständlich mit Gefolge, nach mir sehen werde. »Ich bin sicher, Frau Imhof, danach geht es Ihnen gleich wieder besser. Ich wünsche es mir so sehr für Sie.« Diese Worte dringen nur noch von Weitem an mein Ohr, bevor sie ganz leise die Tür hinter sich zuzieht. Zugedröhnt von all diesen Psychopharmaka, die mir in der letzten Zeit verabreicht werden, friste ich im Alter von 36 Jahren nun schon seit einiger Zeit hier in diesem kahlen Zimmer mein Leben und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass der liebe 10


Gott endlich ein Einsehen hat und mich aus dieser weltlichen Grausamkeit holt. Jeden Tag denke ich mir, ich kann ja nur noch in den Himmel kommen, denn der Weg zur Hölle wurde mir bereits gezeigt. Dabei heißt es immer, in der Hölle sei es schön warm. Nichts dergleichen. Ich friere täglich mehr. Vielleicht sollte ich die tägliche Ration Tabletten einfach nicht mehr einnehmen, nur noch so tun als ob, sie sammeln und nach ein paar Tagen, ach was, Wochen, damit es auch sicher klappt, alle auf einmal runterwürgen? Der liebe Gott kann mich ja für die Selbsttötung nicht mehr bestrafen. Er kann mich nicht mehr in die Hölle schicken, da bin ich ja schon, also muss er mich bei sich selbst aufnehmen. Ich schrecke auf. Laute Musik reißt mich aus meinen Gedanken. Aus dem CD -Player meiner neuen, hinter der spanischen Wand liegenden Nachbarin dröhnen, oh Gott, schlimmer kann es ja nicht mehr kommen, die Wildecker Herzbuben! »Herzelein, du sollst nicht traurig sein …« Noch bevor ich es richtig realisiert habe, kommt die Ringerin, ich schätze sie auf Mitte fünfzig, tanzend in ihrem weiß-blau geblümten Krankenhaus-Flügelhemdchen mit offenem Heck hinter der spanischen Wand hervor. Sie singt »Herzelein …«, immer wieder »Herzelein …« und die Wildecker Herzbuben dröhnen aus voller Brust im Hintergrund aus ihrem CD -Player. Mit ausgebreiteten Armen springt sie tanzend um mein Bett herum, sodass ihr überdimensionaler Busen zwischen ihrem Gesicht und ihrem Bauchnabel auf und ab springt. Wenn er in die Nabelgegend wabbelt, vermischt sich das Ganze zu einer noch größeren Kugel, da sich dann Busen und Bauch guten Tag sagen und zu einer Einheit verschmelzen, bis sie sich wie ein Wirbelwind wieder trennen und das Ganze wieder nach oben schwappt. Die kann sich mit ihrem riesigen Busen selbst eine schallern, schießt 11


es mir durch den Kopf. Ihr schütteres graues, kurz geschnittenes Haar steht wirr zerzaust in alle Richtungen und hat irgendwie den Charakter eines explodierten Klobesens. Ich sehe Anna regungslos bei ihrem Spektakel zu. Mir wird schwindelig und ich weiß momentan nicht, ob ich lauthals schreien soll, damit sie sofort damit aufhört, oder ob ich sie besser um Zugabe bitten soll, indem ich rufe: Bitte mehr davon! Anna faltet kurzerhand, aber immer noch tanzend, die spanische Wand, die vor ihrem Bett aufgebaut ist, zusammen und bringt sie dann leichtfüßig wie ein Elefantenbaby in die andere Ecke. Halleluja, das kann ja heiter werden. »Wie sollen wir uns denn näher kennenlernen, wenn das grausige Ding zwischen uns aufgebaut ist,« schreit sie und zwinkert mir dabei zu. Kaum zu glauben, sie ist mindestens eins achtzig groß und bringt sicherlich hundertzwanzig Kilo auf die Waage. Dabei ist sie trotzdem irgendwie sehr beweglich. Kann die vielleicht die Schwerkraft außer Kraft setzen, frage ich mich. Plötzlich dreht sich diese der Bavaria ähnelnde Ballerina um und kommt mit ausgebreiteten Armen, fast schwebend, auf mich zu. Ich denke, die ist aus irgendeinem Comic­heft ausgebüxt und gleich werden auch noch die riesigen Sprechblasen ihren Mund verlassen und im Raum tanzen. Jetzt greift sich Anna ans Herz und schmettert mit einer zauberhaften Stimme: »Jeder Unbekannte ist ein Freund, den man noch nicht kennt!« Sie nimmt meine Hand in die ihre und sagt: »Leider nicht von mir, Albert Schweizer hat das schon gewusst! Aber ich weiß es auch, aus eigener Erfahrung! Ich weiß, du bist meine neue Freundin und ich werde dich jetzt aufpäppeln! Jedenfalls hab ich mir das vorgenommen. Schwester Elisabeth hat schon gesagt, dass du aufgemuntert werden musst. 12


Seit Wochen schläfst du immer und kriegst nix mehr mit, des wird jetzt anders, lass dir des gesagt sein! So geht das ja nicht mehr weiter mit dir. Also erst mal, i bin die Anna, meinerseits manisch-depressiv, das hab i schriftlich, so meine Diagnose, weißt, meine Liebe! Wenn du es erst mal schriftlich hast, dann geht’s dir besser und dann kannst dich damit auch anfreunden, weißt. Das ist wie ein Persilschein, wenn du weißt, was ich meine?« Wie ist denn die drauf? Ist die vielleicht aus der Werbesendung? »I bin de Anna und do bin i dahoam!«? »I bin a waschechtes Münchner Kindl, weißt?«, klärt sie mich auf. »Seit fünfunddreißig Jahren bediene ich immer am Oktoberfest. Hab da jedes Jahr meinen festen Job. Gehör ja schon fast zur Bierzeltausstattung vom Käfer. Viele Promis hab ich schon bedient. Du glaubst gar net, was ich da alles erlebt hab. Besonders von den Weibern. Na ja, man kann halt nicht immer nur Glück haben! Aber schau her, fünfzehn volle Maßkrüge bring ich schon unter auf meinem Busen und zugegebenermaßen auch auf meinem Ranzen.« Dabei streicht sie sich über ihre Körpermaße und versucht immer wieder mal, dieses offene Heck zusammenzuhalten, was ihr aber nur bedingt glückt. Diese Massen lassen sich halt nicht leicht bändigen. »Vor zehn Jahren war ich die Miss Oktoberfest!«, fährt sie fort. Dabei rennt sie zu ihrem Nachtkästchen und zieht ein Bild heraus, das sie mir anschließend auch noch unter die Nase hält: Anna, tatsächlich mit fünfzehn Maßkrügen, abgestellt auf ihrem Busen. Die Haare schön gemacht und ihr Haupt ziert ein mit Strass-Steinchen verziertes, funkelndes Krönchen. Ihre Massen stecken in einem wunderschönen, golden schimmernden, mit Strass bestickten Dirndlkleid. Gar nicht

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so schlecht, denk ich mir. So ein Dirndlkleid hält doch alles zusammen. »Kennst du den da auf dem Bild?« Sie zeigt mit dem Finger auf einen Mann im schwarzen Anzug. Nachdem ich nicht gleich reagiere, fragt sie ganz aufgeregt weiter: »Ich mein den da, den, der sich da an meine weiblichen Kurven lehnt.« Dabei fährt sie sich über ihren Hüftspeck, als wäre es reines Gold. »Das ist der Ude , der lange Zeit der Oberbürgermeister von München war. Der von der SPD , leider ja nicht meine Farbe, aber nett ist der, sag ich dir. Jetzt ham’s ihn ja abgesägt, aber was soll’s. Der UDE hat jedenfalls immer gesagt: ›O-Zapft is‹, wenn er den Zapfhahn mit dem Holzhammer ins Bierfassl reingeschlagen hat. Aber des weißt ja eh!« Anna erwartet keine Antwort von mir und das macht sie sehr sympathisch. Sie möchte mir einfach nur ein wenig ihre Geschichte erzählen. »Ja, da war ich noch schlank im Vergleich zu jetzt, aber Größe achtundvierzig hab ich auch schon immer gehabt. Aber weißt was? I bin ja nicht zu dick, i bin einfach nur zu kloa geraten! Ha, ha, der war gut, gell?« Okay, sie ist also nicht zu dick, sondern nur zu klein. Das nenne ich mal Selbstbewusstsein, da bräuchte ich jetzt ein Stück davon. Als ob Anna meine hinter einem dicken Schleier verborgenen und selbst für mich verschwommenen Gedanken erraten hätte, sagt sie noch: »Ja, ja, Selbstbewusstsein kann man nirgends kaufen, des muss man sich haaaart erarbeiten.« Wo sie wohl mittlerweile ihre Kleidung kauft, geht mir so durch den Kopf. Die Größe gibt es doch nirgends mehr. Das Dirndl, das sie jetzt benötigt, bekommt sie wahrscheinlich nur noch in der Camping­abteilung. Dann wird einfach in Heimarbeit ein Zweimannzelt in ein Dirndlkleid umgenäht. 14


Aus dem CD -Player dröhnen inzwischen nicht mehr die Wildecker Herzbuben, sondern Nicki. »I bin a bayrisches Cowgirl …« »Immer no mei Liebling, die Nicki«, schmettert sie mir zu, »schade, dass die von der Bildflächn verschwunden ist!« Im selben Moment weicht ihr die Röte aus dem Gesicht und sie wird ganz blass. Dann trabt sie zu ihrem Nachtkästchen zurück, drischt auf die Stopptaste ihres CD -Players und lässt sich mit einem Ruck auf ihr Bett fallen. Das Bett gibt bedrohlich ächzende und quietschende Geräusche von sich, wackelt nach vorne und wieder zurück und droht, in sich die Grätsche zu machen. Das war sie wohl, die manische Phase, jetzt kommt wahrscheinlich, auf dem Fuß gefolgt, die Depression. Halleluja, womit hab ich das verdient? Da ist sie wieder, diese unendliche, nicht auszuhaltende Stille. Dazwischen nur das schnarchende und zähneknirschende Geräusch aus dem Nachbarbett. Wohl doch keine Depression. Wohl nur die Müdigkeit, die sie übermannte. Schließlich ist sie ja wie eine leichtfüßige, flügelhemdtragende Gazelle von einer Seite meines Bettes zur anderen gesprungen. Mein Blick fällt wieder auf das am Fußende angebrachte hölzerne Kruzifix. Na, du Gott oder Jesus? Ich hab ja immer an dich geglaubt, und das hab ich nun davon. Einem Irrglauben bin ich aufgesessen! Ihr könnt mich mal, du und dein Gefolge. Wenn es euch gäbe, dann säße ich jetzt nicht hier und hätte nicht meinen eigenen Verwesungsgeruch in der Nase. Warum bin ich euch so blindlings aufgesessen? Das hab ich jetzt davon. Insgeheim wusste ich ja schon immer, dass ich mich nur auf mich alleine, auf meine Beine, meine Arme 15


oder auch auf meinen Kopf verlassen kann. Ich kündige. Ich brauche euch da oben nicht mehr, und den Verein hier auf Erden verlasse ich auch, endgültig. Ob es euch jetzt gibt oder nicht. Aber da fällt mir ein, wenn es euch doch geben sollte, dann könnt ihr mich erst recht mal. Denn dann habt ihr Schuld an allem. Von wegen, man kann nicht weiter fallen als in Gottes Hand! Na, wenn das Gottes Hand ist, in der ich jetzt liege, dann Prost Mahlzeit! Immer wieder drehen sich meine Gedanken im Kreis. Dann ist es wieder da, das Gedicht. Seit Wochen, oder vielleicht sind es mittlerweile schon Monate, kommt es mir wieder und wieder in den Sinn. Es verfolgt mich in meine tiefsten Gedanken. Werde ich langsam wahnsinnig? Oder wann hört das auf? Einsam irr ich durch die Gasse, durch den Regen, durch die Nacht. Warum hast du mich verlassen? Warum hast du das gemacht? Nichts bleibt mir, als mich zu grämen, gestern sprang ich in den Bach. Um das Leben mir zu nehmen, doch der Bach war viel zu flach. Einsam irr ich durch den Regen, und ganz feucht ist mein Gesicht. Nicht allein des Regens wegen, nein, davon alleine nicht. Wo bleibt der Tod in schwarzem Kleide? Wo bleibt der Tod und tötet mich? Oder besser noch: Uns beide. Oder besser: Erst mal Dich! Wie oft haben Pia, Martha und ich dieses Gedicht zitiert. 16


Wir haben uns stets über diese Zeilen amüsiert, sie von der lustigen Seite gesehen. Besonders die letzte Zeile. Aber ab jetzt hat dieses Gedicht eine ganz andere Bedeutung für mich. Tausendmal habe ich dieses Gedicht von keinem Geringeren als Heinz Erhardt in Gedanken wiederholt. Die Frage nach dem Warum kann ich leider auch heute nicht und alleine schon gar nicht klären. Ich schlafe ein und träume wieder und wieder denselben Traum: Ich sitze zu Hause im Wohnzimmer auf meinem gemütlichen weißen Leinensofa zwischen den vielen kuscheligen und liebevoll arrangierten Kissen, die Füße hochgelegt. In der Hand halte ich ein Glas, gefüllt mit süßem Orangensaft. Es klingelt an der Haustür. Ich springe fröhlich auf, stelle mein Glas zur Seite und renne zur Tür, um sie zu öffnen und nachzusehen, wer draußen ist. Draußen steht mein kleiner blonder Engel, meine kleine, inzwischen fünfjährige Tochter. Tränen laufen mir über die Wangen und ich kann sie endlich wieder in die Arme schließen. Überglücklich rieche ich an ihr und sauge ganz tief den Duft ihrer Haut und Haare ein. Noch während sie mich mit ihren kleinen weichen und warmen Händchen umarmt, fragt sie mich mit tränenerstickter Stimme: »Mami, wo warst du und warum hast du mich so lange alleine gelassen? Ich habe dich so sehr vermisst!« Ich finde keine Antwort auf diese Frage. Ich habe meine Sprache verloren! Mein Kopf droht zu zerplatzen und die Zellen meines Gehirns sind buchstäblich eingefroren. Weiße Nebelschwaden ziehen auf und entreißen mir meine kleine Tochter. Danach ziehen sie sie mit sich. Zur Tür hinaus, durch den Garten, in die Luft in Richtung Himmel. Danach verschwindet sie in den grauen, bedrohlichen Wolken. Jetzt 17


schließt sich die Tür ganz langsam hinter ihr. Die Tür fällt ins Schloss, der Schlüssel fällt aus dem Schlüsselloch zu Boden. Ich werde wach und wie nach jedem dieser Träume bin ich schweißgebadet und erneut gezwungen, der grausamen Realität ins Auge zu blicken. Ich sehe nichts als diese grässlichen Wände. Ich bin hier eingesperrt, wie im Gefängnis fühle ich mich hier. Ich kann nichts unternehmen und der Albtraum beginnt aufs Neue. Scheiße, scheiße, scheiße, denke ich. Meine immerwährende Gedankenmühle dreht sich. Sie dreht sich unaufhörlich. Ich finde keinen Anfang und kein Ende. Ich kann nicht mehr an die Zukunft denken, mir keine Zukunft mehr ausmalen. Immer wieder drifte ich in die Vergangenheit ab, als alles noch gut war. Denke an meine Freundinnen Martha und Pia. Heute glaube ich, nur diese Gedanken an meine Freunde und unsere gemeinsame Zeit hielten mich aufrecht und noch am Leben.

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