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LYRIKEDITION 2000 begründet von Heinz Ludwig Arnold †



LUDWIG STEINHERR

BRIEFLESERIN IN BLAU Gedichte zu Vermeer

Mit einem Vorwort von Bernhard Maaz

LYRIK EDITION 2000


Wir danken Herrn Dr. Sebastian Heckelmann und der DEBA Beratungs- und Verwaltungsgesellschaft mbH, München / Bogenhausen für die großzügige Förderung dieses Bandes.

Originalausgabe Juni 2018 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2018 Buch&media GmbH, München Gesetzt aus der The Sans und der Sabon Umschlag: Johannes Vermeer, »Briefleserin in Blau«, um 1663 © Amsterdam, Rijksmuseum, Leihgabe der Stadt Amsterdam (Vermächtnis A. van der Hoop) Printed in Europe isbn print 978-3-96233-062-0 Allitera Verlag Merianstraße 24 · 80637 München Mail info@allitera.de www.allitera.de


VERMEER, VERDICHTET VON BERNHARD MAAZ

Laura hieß die Entfernte, die sich Entfernende, die Erhoffte und Ersehnte bei Petrarca, eine legendäre Gestalt, die sich uns entzieht, weil wir wohl ihren Namen kennen, nicht mehr aber ihr Erscheinungsbild: eine mythische Figur der Weltliteratur. Vermeers »Briefleserin in Blau«, eine gleichermaßen weltbekannte Dame unseres kulturellen Gedächtnisses, verbirgt ebenso konsequent einen Teil ihrer Existenz und steht doch allen vor Augen. Wer war sie, wie hieß sie, warum hielt Vermeer sie im Bild fest? Ihr Name ist unbekannt, ihr Wesen offenbart sich; Lauras Name ist hingegen bekannt, doch ihr Wesen verweigert sich der Näherung. Vermeers Modell – oder seine Liebe, seine Liebste? – steht im Raum. Es ist schwer, sich sein Verhältnis zu ihr anders zu denken als liebend, obgleich sie sich bei aller Präsenz entzieht, sich nicht zu ihm als Maler oder uns als Betrachtern wendet, sich sichtlich weigert, irgendetwas oder -jemanden einzulassen. Wir dürfen ihr nicht näher-, nicht nahekommen. In den Gedichten von Ludwig Steinherr heißt es, sie lese und komme an kein Ende: Das geschriebene Wort kann vor der erlebten Welt schützen, es kann schön formuliert sein und poetisieren, aber warum und wovor schützt sie sich? Die so vornehme Dame ist sichtlich schwanger, also – wie man damals sagte – ›in der Hoffnung‹, und sie liest und liest und hofft aus den uns unsichtbaren Worten etwas herauszulesen. Das schließt uns aus und wirkt ebenso hart wie herzlos. 5


Vermeers poetisierte Dame steht im Licht und lebt ›die hellen Tage‹, wie es Zsuzsa Bánk nennt, Tage des selbstverständlichen Glücks, das aus dem Inneren kommt. Gedichte zu Bildern, Bildgedichte, sind als Ekphrasis schon lange bekannt; es ist ein Mittel der Annäherung mittels der Kunst der Worte an die Kunst der Bilder, eine Form der Über- oder Umsetzung aus dem einen Bereich, in dem etwas Ungesagtes existiert, in die Welt der Worte, die doch auch immer etwas Unsagbares enthalten, einen poetischen Mehrwert. Das wussten zahllose Dichter seit dem Barock, nicht nur die Romantiker und die Klassiker, die ihre Bildgedichte auf Raffaels, Dürers oder Correggios Werke münzten. In dieser Tradition stehen Ludwig Steinherrs Gedichte, die Betrachtung der Kunstwerke mit Beobachtung des Lebens verweben, die Vermeers Bilder aus der Vergangenheit in seine oder unsere Zeit herüberheben, die die Gegenwartsrelevanz der Gemälde berühren, die Gegenwärtigkeit ihrer Modelle, das zeitlose Menschliche darin. Vermeer und seine Modelle sind fernzeitlich Unbekannte, die dennoch die große Gabe haben, zum Sprechen zu kommen, und Steinherr ergreift diese Sprache aus dem Einst wie ein Echo. In unserem Zeitalter der Bilderfluten lässt sich der Dichter auf das Lebenswerk eines Malers ein, der drei Dutzend Gemälde hinterließ und darin seine Weltsicht ebenso verdichtet hat wie ein Dichter es tut: Fülle im Einzelnen statt Überfülle. Dieses grundlegend Geistesverwandte generiert Stringenz durch Reduziertheit, Tiefe durch Konzentration. Die Briefleserin in Blau steht im Licht ihres Raumes, in der Stille ihrer Welt, in der Andacht ihres Innehaltens, in der Fülle ihrer Kontemplation. An der Wand bildet sich die Außenwelt in Form einer Landkarte ab, der Makrokosmos der globalen Reise- und Handelswelt, an der die edel gekleidete Dame offensichtlich ihren Anteil hat und aus der sie ihren Wohlstand bezieht. Der Mikrokosmos ihrer lesenden Vertiefung ist jedoch abgeschirmt, und die sie umgebenden Gegenstände – auch sie gehören keinem armen Haushalt an – sind nur insoweit ins Bild gerückt, als sie eine gediegene, ungefährdete, eine gesicherte Lebenswelt beschreiben. Die Leserin widmet sich in ihrem ihrer selbst sichtlich unbewusst bewussten Zustand der Lektüre eines uns verborgen bleibenden Wortes, dessen Absender uns ebenso unerkennbar und entzogen ist: Dieser Brief ist ihr allein gewidmet, ist kein Reisebericht zum Weitergeben, keine Rechnung, keine Rezept. Es lässt sich spekulieren, ob das Schreiben von dem Vater des erwarteten Kindes stammt oder fürsorgliche Ratschläge der Eltern dieser jungen 6


Mutter enthält, aber es ist unschwer ersichtlich, dass das Schreiben die selbstbeherrschte Leserin aus der Zeit hebt. Wurde jemals Schwangerschaft so unmissverständlich als ein Zustand der Verbundenheit mit etwas Unsichtbarem charakterisiert? Diese Leserin ist mit dem abwesenden Kindsvater wie mit dem verborgen anwesenden Kind verbunden, sie ist mitten in der Welt, sie birgt die Welt, da das Kind ein Alles verkörpert. Es gibt Deutungen dieses Gemäldes, die meinen, die lesende Frau stehe im Mittelpunkt oder auch nur der Brief. Doch in letzter Konsequenz stehen ihre Verbundenheit mit den Unsichtbaren im Fokus und also ihre menschlichen Bindungen, die in ihren Gedanken, in ihrem Herzen und in ihrem Schoß sind: Es ist ein Bild liebender Verbundenheit, ein Bild der sich erfüllenden Sehnsüchte, eine Inkarnation der unsichtbaren und dennoch unerschütterlichen menschlichen Bindungen. München, im Mai 2018

Bernhard Maaz Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen

Bernhard Maaz (*1961) hat Kunstgeschichte und Archäologie studiert und war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter seit 1986 in Berlin an der Nationalgalerie bei den Staatlichen Museen zu Berlin tätig. Er betreute zunächst die Skulpturen des 19. Jahrhunderts; aus dieser Tätigkeit erwuchsen seine Dissertation zu dem Bildhauer Christian Friedrich Tieck und zahlreiche Publikationen zur Kunst- und Sammlungsgeschichte zumeist der letzten fünf Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Als Baureferent war er unter anderem für die Sanierung der Alten Nationalgalerie zuständig (bis 2001). Ausstellungen im In- und Ausland mit Skulpturen, Malerei und Zeichnungen vornehmlich des 19. Jahrhunderts folgten. Bis 2009 war er Leiter der Alten Nationalgalerie und zuletzt Stellvertretender Direktor der Nationalgalerie, dann folgte ab 2010 eine mehr als fünfjährige Tätigkeit als Direktor des Kupferstich-Kabinetts und der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Seit 2015 ist er Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und damit für deren fünf Münchener Haupthäuser und für ein Dutzend Staatsgalerien in Bayern, für die Sammlungen wie die Baustellen und Bauplanungen verantwortlich.

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BRIEFLESERIN IN BLAU



VERMEER ZUM BEISPIEL Bilder sind Teilchenbeschleuniger – Simulationen des Urknalls – Erzeugung winziger schwarzer Löcher die die ganze Welt in sich einsaugen für einen Augenblick

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DIE SANFTE KÜHLE DER HAUT Beim Anblick der Morgengesichter beim Hall erster Schritte auf feuchten Straßen – unvorstellbar der tosende Aufruhr in jedem Körper das Magma hinter jeder Stirn der feurige Kern all dieser ziellos treibenden Planeten

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VERMEER Es gibt das Licht damit es die Dinge geben kann Es gibt die Dinge damit es das Licht geben kann Die Schwangere liest den Brief ohne Worte Sie liest das Licht und kommt an kein Ende Jedes Land auf der gilbenden Karte ist eben erst entdeckt und sucht seine Farbe Die Perlen blicken dich an wie Augen Ein rotes Knäuel Lichtgewirr rutscht aus dem Klöppelkissen Wie groß ist die Arbeit das Licht in das Licht zu verknoten Die Hand ruht aus am halb geöffneten Fenster Das Licht ist von innen so stark wie von außen Wir lernen die tonlose Musik zu hören Das Licht geschieht geschieht geschieht Gesichter entstehen für den Augenblick Das Licht verlangt nicht dass sie die Finsternis begreifen

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Unscheinbare Augenblicke während du gerade einen Joghurt isst oder in einer Zeitschrift blätterst – da legt dir Gott im Vorübergehn die Hand auf den Scheitel und sagt: Nun bist du wie ich dich wollte

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Dieses Buch bestellen: per Telefon: 089-13 92 90 46 per Fax: 089-13 92 9065 per Mail: info@allitera.de

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