J端rgen Drews
Jonas Hundegeschichten
Mit Illustrationen von Moritz Mayerhofer
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.buchmedia.de
Originalausgabe Juni 2016 Verlag Buch&media, München © 2016 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung Johanna Conrad, Augsburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Jürgen Drews Printed in Europe · isbn 978-3-95780-063-3
F端r die Jonas-Familie
1 Jonas' erster Sommer
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ie Stimme am Telefon klang etwas besorgt. »Aber nicht gleich kaufen«, sagte sie, »nicht jetzt.« »Nein, mach dir keine Sorgen«, erwiderte er, »nur mal ansehen. Die Bilder im Internet waren entzückend. Wenn ich diese jungen Hunde sehe, wird mir warm ums Herz.« Was er nicht erwähnte: Er hatte bereits viele Internetseiten angeschaut, um die schönsten Altdeutschen Schäferhunde zu finden, die im laufenden Frühling in Bayern angeboten wurden. Eine Zucht im Inntal hatte es ihm besonders angetan. Als er ihr einen Termin Anfang April vorschlug, an dem die Züchterin bereit war, ihnen ihre Tiere zu zeigen, sagte sie sofort zu. Allerdings mit dem Hinweis: »Im nächsten Frühjahr können wir ja daran denken, uns so einen kleinen Hund ins Haus zu holen.« Alle drei Töchter, die mit ihren Familien in der Nähe wohnten und sich gern an die Hunde erinnerten, mit denen sie aufgewachsen waren, äußerten begeisterte Zustimmung, als sie von dem Plan ihrer Eltern hörten, mittel- oder längerfristig wieder einen Hund zu haben. Noch zustimmender krähten die Enkel ihre Freude über ein neues vierbeiniges Familienmitglied in die Welt. Alle wollten die Hunde sehen, die am 10. Januar geboren worden waren und die bei dem vereinbarten Besuch etwa zwölf Wochen alt sein würden. Und so kam es, dass aus dem Schnupperbesuch eines älteren Ehepaars, der nur der Orientierung dienen sollte, eine Invasion wurde, an der Töchter, Schwiegersöhne und
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mehrere Enkel im Alter von zwei bis neun Jahren teilnahmen. Was als Gaudi begann, wurde für die Kleinen allerdings zu einer ernsten Prüfung, denn die Züchterin, eine stattliche und resolute Person mit dem Vornamen Walli, nach ihren eigenen Worten in der Umgebung von Rohrdorf am Inn als »Hunde-Walli« bekannt, hatte auch die erwachsenen Hunde, also die Mutter, den Großvater und einige Tanten und Onkel der kleinen Welpen, denen das Interesse der Kinder galt, aus ihren Hütten in das Freigehege gelassen, in dem sich sonst nur die Jungen mit ihrer Mutter tummelten. »Logisch, Sie müssen doch das ganze Rudel kennenlernen«, begründete sie ihre Maßnahme. Alle Hunde mit Ausnahme der Welpen bellten, als die Invasion sich dem Grundstück genähert und die Klingel betätigt hatte. Das große Gartentor wurde geöffnet und die Hundemeute stürzte sich auf die vielen Menschen, um sie zu beschnuppern und zu begrüßen. Die großen Hunde waren auf eine durchaus freundliche, aber auch robuste Art zudringlich, und die Kleinen, die sich plötzlich von drei oder vier großen Schäferhunden umringt sahen und von feuchten Hundeschnauzen beschnuppert wurden, bekamen es zunächst einmal mit der Angst zu tun, in der sie die zwischen den großen Hunden herumwuselnden Welpen gar nicht wahrnahmen. Geschrei erhob sich, die Eltern mussten ihre Kleinkinder auf den Arm nehmen, standen inmitten der freudig erregten und auf ein Spiel oder einen Leckerbissen hoffenden Hunde hilflos herum, die Züchterin zeigte sich von dem Kindergeschrei und Hundegebell irritiert und ließ sich zu einigen abfälligen Bemerkungen hinreißen. Die Karawane löste sich auf, die Enkel wurden von ihren Eltern wieder nach Hause
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gebracht, zurückblieb das Ehepaar, das eigentlich nur einen Eindruck von dem Hunderudel gewinnen wollte. Man bekam eine Tasse Kaffee, die Züchterin erzählte von ihrer Arbeit, zwischendurch kam die Hündin Ayla, die Mutter der verbliebenen drei Welpen, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen, das Welpen-Kleeblatt sprang mal hier, ein anderes Mal dorthin, die drei waren sich zum Verwechseln ähnlich, die beiden kleinen Hündinnen um eine Spur frecher und aggressiver als der verbliebene kleine Rüde Jonathan. Alles verlief sehr angenehm, entspannt und freundlich: Die Sonne schien, Tulpen und Narzissen standen in voller Pracht, der Flieder schickte sich an zu blühen, Mensch und Tier genossen die Gegenwart des jeweils anderen und doch nicht fremden. Und dann kam die Hunde-Walli zur Sache. Sie habe vom Herrn Doktor gehört, dass man daran denke, sich nach vielen Jahren wieder einen Hund zuzulegen. Ob das Paar sich vorstellen könne, einen von ihren Kleinen in die nähere Wahl zu ziehen? Und der Herr Doktor war bass erstaunt, als er die Stimme seiner Angetrauten hörte, nicht etwa mit einer hinhaltenden Bemerkung, sondern mit dem Bekenntnis, dass die kleinen Hunde in ihrer bärenhaften Tapsigkeit einfach wonnig seien, und dem Hinweis, dass der kleine Rüde Jonathan es ihr besonders angetan habe. Gleich mitnehmen könnten sie ihn freilich nicht. Sie hätten in den nächsten drei Wochen noch einige wichtige Termine und eine Reise vor, die sie besser ohne ihn hinter sich brächten, aber danach, in den letzten Apriltagen … ein fragender Blick traf ihren Ehemann, der nickte erfreut Zustimmung. Also Ende April würden sie Jonathan an den Starnberger
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See holen, und später würde er mit ihnen ins Tessin fahren, wo er ein großes Grundstück und alle Freiheit der Welt vorfände. Die Züchterin war hoch erfreut, sagte zu, alle Papiere für die Übernahme des Welpen beizubringen, die Tierärztin zu einer letzten Untersuchung und zur Ausstellung eines EU-Heimtierausweises zu bewegen und alle wichtigen Ernährungs- und Gesundheitsfragen zur Orientierung schriftlich zusammenzustellen. Nachdem sie sich des Verkaufs des Welpen Jonathan durch eine Anzahlung versichert hatte, nahmen die beiden Abschied von der Hunde-Walli und von ihrem neuen Zögling und seinen Schwestern. Auf der Rückfahrt nach Starnberg fragte er vorsichtig, was ihren Sinneswandel herbeigeführt habe. Dabei erinnerte er sie an das kurze Telefongespräch, das sie neulich geführt hatten. »Die waren so goldig, und du wolltest es doch?« »Ich wollte schon, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du so schnell einverstanden sein würdest.« »Altes Herz wird wieder jung?«, fragte sie, und er verstand, dass die Frage ihnen beiden galt. So kam Jonathan in unsere Familie. Wir holten ihn mit dem Auto. Der kleine Kerl war angesichts der Veränderungen, die da auf ihn einstürzten, noch aufgeregter als seine neuen Besitzer. Verschwunden waren plötzlich die anderen Hunde, die Schwestern, die Mutter, die entfernteren, aber durch Blutsbande mit ihnen verbundenen Schäferhunde, wie vom Erdboden verschluckt der Schuppen, in dem die Hunde ihre Nächte verbrachten, einer an den anderen gekuschelt, die Spielwiese, das Biotop,
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das Freigehege. Dafür hatte man ihn jetzt in eine Hütte gesperrt, die sich bewegte und dabei hin und wieder kräftig gerüttelt und geschüttelt wurde. Es half zwar, dass eine gut riechende Menschenfrau neben ihm saß, aber die war ja auch noch fremd. Die Hunde-Walli war sie nicht. Also meldete sich sein vegetatives Nervensystem, das solche Erschütterungen und Umstürze einfach noch nicht verkraften konnte: Jonathan übergab sich, musste sich übergeben – dass ihm dieser Zustand höchst unangenehm war, ließ er an seiner Haltung erkennen. Beide Male wandte er sich ab von der lieben Frau, die ihn die ganze Zeit gestreichelt und ihm beruhigende Worte gesagt hatte, und zollte seinem Elend Tribut. Er tat das mit der seiner Art angeborenen Diskretion, die ihn bewog, sein Lager nicht zu beschmutzen. In seinem neuen Zuhause, das sich vorerst auf Garten und die unteren Räume des Hauses beschränkte, beruhigte er sich dann schnell. Aber bevor ich näher auf sein Verhalten eingehe, will ich ihn beschreiben: Er war, als wir ihn zu uns nahmen, etwas über drei Monate alt, hatte einen großen Kopf und breite, zu breite tapsige Pfoten, die anzudeuten schienen, dass er einmal recht groß werden würde. Die Ohren hatten sich bereits zu Tüten aufgerichtet, und da er ein Altdeutscher, das heißt ein langhaariger Schäferhund ist, waren die Ansätze zu einem üppigen Fell überall erkennbar. Hinter den Ohren kräuselten sich braune Locken, Bauch, Brust und Pfoten waren hellbraun, die Decke und das Gesicht schwarz. Das Schwarz des Rückens und das warme Braun seiner unteren Körperteile liefen in den beiden plüschig-weich behaarten Ohren zusammen. Wenn er aufgeregt war,
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wie jetzt angesichts der vielen neuen Eindrücke, hing ihm seine rosa Zunge schräg aus der zum Hecheln geöffneten Schnauze, aus der seine spitzen Milchzähne weiß wie Schnee hervorleuchteten. Er bot einen reizenden Anblick, außerdem ging von ihm ein angenehmer Duft aus, der schwer zu beschreiben ist, aber Assoziationen weckte, die etwas mit Schlaf, Geborgenheit, Wärme und Babynahrung zu tun hatten. Ein so attraktives Hundekind konnte ich doch während der ersten Nacht in fremder Umgebung nicht allein schlafen lassen! Aber wo sollte er schlafen? Helga plädierte in Anbetracht seiner noch zu erwerbenden Stubenreinheit für die mit Fliesen ausgelegte Küche. Nach einigem Hin und Her schlief er gleich neben der Küche in der Zirbelstube, so genannt, weil die Wände mit Zirbelholz getäfelt sind und einen angenehmen aromatischen Geruch verströmen. Und da er ja nicht ohne ein anderes Wesen bleiben sollte, entschloss ich mich, meine Matratze neben seinem Lager in eben diesem Raum hinzulegen. Habe ich eben geschrieben »er schlief«? Das tat er eben nicht, jedenfalls nicht für lange. Nach kurzen, schlafend zugebrachten Zeitabschnitten kam er zu mir gewuselt, beschlabberte mich mit seiner warmen Zunge und wollte auf diese Weise sicherstellen, dass da noch jemand sei, jemand, der ihm gut zuredete, der ihn streichelte und der – selbst wenn ihm der Sinn nicht mehr nach weiteren Liebesattacken des Welpen stand – auch knurrend immer noch Sympathie und Mitgefühl erkennen ließ. Außerdem raffte dieser Jemand sich zwischen vier und fünf Uhr morgens auf, um den Kleinen in den Garten zu lassen und dort bei ihm zu bleiben, bis er seine volle Blase entleert hatte. Für mich war es eine unruhige Nacht, für
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den kleinen Jonas, so nannten wir ihn, weil Jonathan uns einfach zu lang erschien, für Jonas also schien die Nacht erträglich verlaufen zu sein. Er gewöhnte sich schnell an sein neues Zuhause. Die zweite Nacht und von da an alle folgenden Nächte verbrachte er bereits allein in der Zirbelstube, die ersten Nächte waren noch relativ kurz, aber mit zunehmender Gewöhnung begriff Jonas, dass er sein Geschäft an einer dafür bestimmten Stelle im Garten zu erledigen hatte, und das klappte fast von Anfang an ohne Zwischenfälle. Unsere Freunde allerdings meinten, wir hätten mit Jonas eine allzu gefühlsbetonte Entscheidung getroffen, eigentlich sei das wohl überhaupt keine Entscheidung gewesen, sondern eine auf dem Versagen kritischer Funktionen beruhende Fehlleistung. »Mit einem Hund bindet ihr euch doch. Bei jeder Reise,
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ja schon bei einem Stadtbesuch, gibt es Probleme. Und in eurem Alter! Kennt ihr denn nicht den zugegebenermaßen etwas schnöden, aber eben darum so zutreffenden Witz von dem Streit um die Frage, wann das menschliche Leben beginnt? ›Das Leben beginnt mit der Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium‹, meinte der katholische Priester. So eng wollte der protestantische Pfarrer das nicht sehen. ›Das Leben beginnt etwa drei Wochen nach der Befruchtung, denn zu diesem Zeitpunkt ist der menschliche Embryo bereits als Mensch erkennbar‹, sagte er. ›Kopf, Arme, Beine, der Rumpf, alles ist zu diesem Zeitpunkt schon vorhanden. Nur wachsen muss der kleine Mensch noch, um ein lebenstüchtiges Baby zu werden. Also ist der Beginn des menschlichen Lebens mit der Beendigung dieser ersten drei Monate anzusetzen.‹ Der Rabbi wollte von diesen biologischen Erklärungen nichts wissen. ›Das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot ist‹, entschied er.« Als wir diesen Witz mit Gelächter quittierten, wurde unser Freund ernst. »Ihr lacht«, rief er, »aber in diesem Witz steckt viel Lebensweisheit. Darum habe ich ihn euch doch erzählt. Nicht, um euch zu erheitern, sondern um euch klar zu machen, dass ihr euch unangemessen verhaltet. Einen Hund anschaffen – schön, wenn man Kinder hat, die mit Hunden und anderem Getier aufwachsen sollen, das ist schon in Ordnung. Aber doch nicht in eurem Alter, in dem man anfängt, das Leben noch einmal zu genießen. Reisen, die Welt sehen, Konzerte und Theateraufführungen besuchen, vielleicht einmal eine Kreuzfahrt unternehmen, bei der man alle diese Dinge kombinieren kann.« So ähnlich, wenn auch weniger drastisch, äußerten sich
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auch andere. Was sollten wir dazu sagen? Dass die Lebensweisheit des Rabbi eben nicht die unsere ist? Dass Jonas mit seinem täglich von Neuem gezeigten Optimismus, seiner Lebensfreude und der in seinen Bewegungen und seinem Verhalten zum Ausdruck kommenden Komik auch unsere Tage fröhlicher und beschwingter werden ließ, dass er sich mit jedem Tag enger an uns anschloss und die Freundlichkeiten und die Zuwendung, die ihm von uns erwiesen wurden, auf seine Weise zurückgab? Und dass diese kreatürliche Zärtlichkeit etwas ganz Kostbares ist? »Kostbar, ist das nicht ein wenig zu hoch gegriffen?«, ereiferte sich unser Freund. »Nein«, erwiderte ich, »sich mit einem jungen Geschöpf, das durch eine Jahrmillionen umfassende Evolution, die in seinem Fall doch anders verlief als unsere Entwicklung, darüber zu verständigen, dass man sich gern hat, ist in meinen Augen nicht selbstverständlich. Sie ist ein Hinweis auf die Kohärenz des Lebens auf dieser Erde und mal ganz abgesehen von der kreatürlichen Freude, die im Austausch von Liebesbeweisen liegt, eine kostbare Erfahrung. Und mit Jonas können wir diese Erfahrung jeden Tag teilen und uns daran freuen.« Hier muss ich allerdings einfügen, dass nicht alle Erfahrungen mit Jonas so hehren Ansprüchen genügten. Wie jeder junge Hund hatte es auch der unsere darauf angelegt, in seiner ersten Lebensphase möglichst viel kaputt zu machen. Ob Tisch- oder Stuhlbein, ob Teppich oder herumliegende Socken, alles erregte sein Interesse, und es gab nur eine Methode, um diesem Interesse Ausdruck zu verleihen, und die bestand darin, dass er den oder die Gegenstände mit seinen spitzen Zähnen zerlegte. Wir waren schon wieder im Tessin, hatten ihn natürlich
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mitgenommen und beaufsichtigten ihn in der rustikalen Umgebung unseres Bungalows weniger aufmerksam als wir das am Starnberger See getan hatten. Eines Tages erhielt Jonas Besuch. Nicht irgendjemand kam, um ihn zu sehen und mit ihm zu spielen, sondern sein Bruder Jacko, der aus demselben Wurf stammt wie Jonas. Auch Jacko war im Tessin gelandet, was uns die Züchterin schon früher mitgeteilt hatte. Jacko, der Jonas zum Verwechseln ähnlich sieht, kam also zum Spielen. Seine Herrin Franca hatte uns nach Landessitte einige Salatköpfe und Lauchstangen aus ihrem Garten mitgebracht, frisches Gemüse, das sie in mehrere Lagen Papier gewickelt hatte und das zunächst auf dem Tisch einer schattigen Terrasse liegenblieb, während die Brüder tobten und Kampfspiele inszenierten. Die sind recht wild und enthalten etliche stereotype Bewegungsabläufe, die auch im ernsten Kampf unter Hunden üblich sind – Unterwerfungsgesten zum Beispiel, bei denen der jeweils Unterlegene dem »Sieger« seine Kehle darbietet, oder Bisse in die Vorderläufe, mit denen man den Gegner schnell zu Fall bringen kann. Hier handelt es sich um ererbtes »Wissen«, um zuverlässig wirksame Mittel der Verständigung, die im Ernstfall dafür Sorge tragen, dass das unterlegene Tier überlebt. Jonas und Jacko spielten auf unserem Grundstück mindestens eine Stunde lang bei hohem Tempo, mal war der eine Sieger, dann der andere, bis sie sich schließlich erschöpft hechelnd nebeneinander an einem ständig nachgefüllten, da oft umgestoßenen Wassernapf niederließen. Stunden später, Franca und Jacko waren längst wieder auf dem Heimweg, forderte mich Helga auf, doch mal einen Blick auf die überdachte Terrasse zu werfen. »Aber sei
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leise«, mahnte sie. Ich schlich zur Tür, die auf die Terrasse hinausführt, und wurde Zeuge einer bemerkenswerten Szene: Jonas hatte das in reichlich Papier eingewickelte Gemüse ausgewickelt und die Papierbögen in hunderte von kleinen Schnipseln verwandelt, die er kreisförmig um sich herum ausgebreitet hatte. Die Salatköpfe und Lauchstangen lagen unbeachtet irgendwo am Rande dieses Kunstwerks, dessen Wirkung dadurch besonders gesteigert wurde, dass Jonas sich genau in die Mitte dieses aus Papierfragmenten gefertigten Kreises gesetzt hatte und mich, der ich jetzt die Terrasse betrat, mit einer Mischung aus kindlichem Stolz und Verlegenheit auf seinem Hundegesicht musterte. »Na, was sagste dazu? Das hättest du mir sicher nicht zugetraut?« Auf Tadel musste ich in diesem Fall verzichten. Ich bewunderte also sein Arrangement, worauf er so heftig mit dem Schwanz wedelte, dass die kleinen Papierfetzen kräftig durcheinandergewirbelt wurden und fast eine neue Figur entstanden wäre, wenn sich die Herrin des Hauses nicht mit einem Besen gezeigt und das Werk des kleinen Künstlers mit Nachdruck, wenn auch mit Respekt zusammengefegt und in einem Müllsack verstaut hätte. Dies geschah allerdings erst, nachdem ich den Augenblick des Triumphes fotografisch festgehalten hatte. Nicht immer verfolgte Jonas bei seinen Zerstörungswerken künstlerische Ambitionen. Alleinsein vertrug er nicht, und der Versuch, ihm einen Ruheplatz in der Küche zuzuweisen, misslang gründlich. Wenn die Zimmertüren des Hauses abends geschlossen wurden, fühlte er sich alleingelassen, obwohl er sich doch mit uns unter einem Dach befand – aber in seiner Vorstellung waren wir mit einem
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Mal weit weg. Also fing er in seiner Verzweiflung an, die Wände der Küche anzunagen, riss Holzverkleidungen von den Küchenmöbeln ab und zeigte uns auf unmissverständliche Weise, dass ihm die Strenge einer Platzzuweisung nicht behagte. Inzwischen lassen wir tagsüber und besonders nachts oder wenn Jonas einmal allein bleiben muss, alle Türen offen. Das Haus gehört dann ihm, das Haus, das er mit uns teilt und in das wir ja zurückkehren müssen. Wo sollen sie denn sonst hin? Sie haben ja nur mich und dieses Haus, mag er denken, jedenfalls hat es seither nie wieder Schwierigkeiten gegeben. Während der ersten Wochen, die Jonas bei uns verbrachte, hatte er für Spaziergänge noch keine Neigung. Der wollte spielen – wo, war ihm ziemlich egal. Wir fanden, dass unser Garten im Tessin mit seinen Wiesen, Bäumen, dem Gebüsch und den Lauben dazu die besten Möglichkeiten bot. Man konnte Raufspiele inszenieren, bei denen ich die Rolle Jackos übernahm, Bälle werfen, Versteck spielen, gemeinsam etwas suchen, was wir zuvor versteckt hatten, mit derartiger Kost war Jonas leicht zufriedenzustellen.
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2 Bruder Unnütz erlebt die Welt
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ann kamen unsere zehn und vierzehn Jahre alten Enkel zu Besuch, die den ganzen Tag mit Jonas herumtollten – Herz, was begehrst du mehr! Im Laufe der folgenden Wochen aber ließ unser Hund sein zunehmendes Interesse am Dorfleben außerhalb unseres Hauses in Cureggia erkennen. Wenn Nachbarn oder Handwerker zu uns kamen, bellte er, schloss dann aber in den meisten Fällen, das heißt bei angemessenem Entgegenkommen von der Seite der Besucher, schnell Freundschaft und begleitete sie bei ihrem Ausgang zum Tor, das auf die Straße hinausführt. Hinter diesem Tor, das begriff Jonas, ging die Welt ja weiter, es kamen auch aufreizende Düfte von dorther, hin und wieder sah er Kinder spielen oder Hunde aus der Nachbarschaft herumtollen, also wollte auch er die Nachbarschaft erkunden. Wer einmal damit begonnen hat, mit seinem Hund oder irgendeinem Hund regelmäßig einen Morgenspaziergang zu machen, dem wird es schwer, von dieser Gewohnheit wieder zu lassen. Man fühlt sich heute nicht so gut, ist müde, weil es am Abend zuvor spät wurde, spürt, dass eine Erkältung im Anzug sein könnte oder hat einfach keine Lust, immer wieder dieselben Wege einzuschlagen? Vergiss es! Für den Hund ist es jedes Mal neu, und wenn man ihn genau beobachtet, dann versteht man auch, warum. Er trifft immer wieder neue Menschen, Hunde,
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erschnuppert sich Düfte, die ihm eine neue Geschichte erzählen, außerdem ist er morgens bester Laune, energiegeladen, zu allem aufgelegt, zum Spiel, zu jedem Unsinn, die Welt bietet ihm an jedem Morgen irgendeine Überraschung, Langeweile gibt es nicht, also? Wer kann da Nein sagen? Und er hilft einem ja, die gelegentliche Unlust zu überwinden. Schon bei den ersten Anzeichen von Aktivität wittert er Morgenluft, zeigt Begeisterung, freut sich, dass man endlich mit ihm losgeht, dass die höhere Einsicht in die wahren Freuden des Lebens wieder einmal gesiegt hat über die Niederungen des Frusts und der schlechten Laune. Ja, seit einigen Monaten gehe ich jeden Morgen ein oder zwei Stunden mit Jonas spazieren! In Cureggia, einem kleinen, oberhalb Luganos am westlichen Hang der Alpe Bolla gelegenen Dorf, nahmen diese Spaziergänge schnell einen recht monotonen Charakter an. Denn wo sollte man auch hingehen? Den Berg hinauf und wieder zurück oder zuerst nach unten und dann wieder bergan? Ich entschloss mich für die erste Variante. Man läuft von unserem Tor an der Kirche und einem Kinderspielplatz vorbei zum nahen Waldrand, zwängt sich auf einem schmalen Pfad, der in Serpentinen nach oben führt, in den Wald hinein, folgt jedoch diesem Weg bei der ersten Spitzkehre nicht weiter nach oben, sondern geht geradeaus, verlässt den Wald am nördlichen Ende des Dorfs und kehrt die Dorfstraße entlang zurück nach Süden, wo man schließlich wieder auf die Kirche stößt und in ein paar Schritten unser Grundstück erreicht. Man kann diesen Weg ausdehnen, indem man den Windungen des Bergpfades folgend schließlich das Dorf Bré erreicht oder nur bis zu einem mit Bänken versehenen Aussichts-
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punkt gelangt, von dem man einen sehr schönen Ausblick auf den Luganer See und die Berge ringsum genießt. Jonas ist immer für die längere Variante, weil die Chance, unterwegs eine Überraschung zu erleben, natürlich bedeutend größer ist, wenn man nach Bré wandert, als wenn man nur einen Halbkreis um Cureggia beschreibt. Überraschungen stellen in erster Linie Begegnungen mit anderen Hunden oder mit Menschen dar, besonders dann, wenn die Menschen ihre Hunde von der Leine nehmen und dadurch zu erkennen geben, dass die Vierbeiner miteinander spielen können. Kühe oder Pferde, die auf den Bergwiesen nahe bei Bré weiden, geben ebenfalls immer wieder zur Verwunderung Anlass. So große Tiere! Sie müssen sehr stark sein und ziehen sich doch, wenn Jonas bellt, zunächst erst einmal zurück.
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