9783865204509 leseprobe issuu

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Heide Eickmann, geboren 1948, lebt seit dem Studium mit Familie in GieĂ&#x;en und arbeitet als Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin (Psychoanalyse) in eigener Praxis.


Heide Eickmann

Ein Quartett f端r Paul Novelle


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de

September 2012 © 2012 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Printed in Germany isbn 978-3-86520-450-9


1 Auf Reisen

Der Zug fuhr auf die Sekunde im Bahnhof ein. Ich stand so, dass das Abteil mit dem reservierten Platz schnell gefunden war. Ich streifte den Mantel ab, klappte das kleine Tischchen aus und entnahm meiner Tasche den Roman, der schon lange zu Hause auf mich gewartet hatte. Ruhe und Gelassenheit breiteten sich in mir aus. Der Druck der vergangenen Wochen fiel von mir ab. Bis zur nächsten Haltestelle des Zuges. Jetzt platzte ein Jugendlicher, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, in das Abteil, das ich schon als mein eigenes angesehen hatte. Er ließ sich mit einem Seufzer auf den Platz mir gegenüber fallen, rutschte weiter nach vorne und saß mit weit auseinanderstehenden Beinen vor mir. Er blickte mich eindringlich an. Ich rückte ein wenig in meinem Sitz zurück. Seinem kräftigen »Tach« hauchte ich ein »Hallo« entgegen, nicht gewillt, in irgendeiner Form mit meinem Gegenüber Kontakt aufzunehmen. Als der Zug mit einem leichten Ruck wieder anfuhr, hielt ich mein Buch vor mich, was gar nicht so einfach war, denn meine Lektüre umfasste viele Seiten und war deshalb schwer. Auf Dauer würde ich mich auf diese Weise nicht verbergen können. So ließ ich das Buch das ein und andere Mal auf meinen Schoß sinken und betrachtete verstohlen meinen Mitreisenden. Mir wurde kalt. Kleine silberne Ringe an Augenbrauen, Nase, Mund und – wie ich später feststellte – der Zunge glänzten aus dem Gesicht. Die Arme waren bis zum Ansatz eines etwas zerfledderten T-Shirts mit allerhand von mir nicht klar erkennbaren Motiven tätowiert, die Haare durch eine Kappe verdeckt. Unmerklich stöhnte ich in mich hinein. So hatte ich mir meine Reise, die Stunden dauern würde, nicht vorgestellt.

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Vielleicht steigt er ja schon an der nächsten Station aus, dachte ich und machte mir Hoffnung. Die Geschwindigkeit des Zuges ließ in einer kleinen Senke langsam nach. Rechts und links war Wald zu sehen. Eigentlich schlich der Zug jetzt mehr, als dass er fuhr. Unbehagen breitete sich in mir aus, das in dem Moment anstieg, als er in der Waldeinsamkeit stehen blieb. Mehrfach würde ich umsteigen müssen. So stand es in meinem Plan. Der Blick aus dem Abteilfenster verhieß Frühling. Buschwindröschen bildeten einen weißen Teppich unter dem ersten Grün der Bäume. Freude für die Sinne, eigentlich. So sollte meine Reise sein. Aber damit war es vorbei. Ich wollte einfach nur weiter und meine Anschlussverbindungen nicht verpassen. Dafür wäre mir die Aussicht auf Schornsteine, Fabrikgelände, verrottende Hinterhöfe und Einkaufsmärkte auch recht gewesen. Nach einer Viertelstunde erschien der Zugbegleiter, um die Fahrscheine zu kontrollieren. »Was mache ich, wenn ich meine Anschlusszüge allesamt verpasse?«, fragte ich. »Warum«, meine Stimme sollte energisch klingen, zitterte aber ein wenig, »… warum stehen wir eigentlich mitten im Wald und fahren nicht weiter?« Mürrisch blickte er auf meinen Fahrschein. »Wo wollen Sie denn hin? Ach, nach Lükenwerda? Mit Ü? Brandenburg? Hm, da muss ich nachsehen, da komm ich später noch einmal vorbei. Wir haben einen Betriebsschaden. Da kann ich jetzt noch gar nichts Genaues sagen.« Er zog die Tür mit einem lauten Krachen hinter sich zu, als wolle er die Verbindung zu meiner Nachfrage durchtrennen, und verschwand. »So, nach Lükenwerda. Äh … ich auch … Nee, sogar weiter. Nach Schönchen. Das kennen Se bestimmt nich. Oder kennen Se Schönchen?« Der Junge sah mich eindringlich an. Er lächelte unfreundlich. Ein ironischer Zug lag um seinen Mund. Auch das noch, dachte ich und brachte etwas mühsam »Doch, da genau will ich hin« hervor. Lange fiel kein weiteres Wort, bis mein Gegenüber mit einem Unterton der Schadenfreude, dass es noch etwas Wichtiges mitzu-

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teilen gab, weitersprach. Meine doch eigentlich spürbare Ablehnung schien er nicht wahrzunehmen. Während er versuchte, mir etwas zu erklären, sah er abwechselnd aus dem Fenster oder zur Abteiltür. Seine Augen flackerten unruhig hin und her, als warte er auf jemanden. Mit mir allein hier zu sitzen war ihm offenbar unangenehm. Mir allerdings auch. »Schönchen, also, sach ich Ihnen, is een völlig verschlafenes Nest. Muss man eigentlich nich hin. Nee, echt. Was wollen Se denn da?« »Ach …«, irgendwie sah ich mich genötigt zu antworten, »ausspannen. Abstand von so manchem. Eine kleine Ferienwohnung da in der Nähe … Freunde besuchen. Vielleicht sogar länger bleiben. Mal sehen.« Es entstand eine Pause. »Jetzt? Um diese Jahreszeit? Da ist aber noch nich mal Frühling. Nischt mit Schwimmen und so. Und dann das Dorf! Abstand gibt’s reichlich – zum Rest der Welt. Die Häuser da, gucken Se, lassen sich …«, er hielt seine Hände hoch, »also die lassen sich an zwei Händen abzählen. Echt tote Hose. Da können Se sogar am Tag die Flöhe husten hören. Vielleicht Vögel, wer’s mag …« Er räusperte sich. »Aber die Seen darum herum, echt geil, sag ich Ihnen. Schwimmen, im Sommer, bis zum Abwinken. Wäre in dieser Jahreszeit allerdings nur was für ganz Harte. Zu kalt. Oder wollen Se …? Training vielleicht. Abhärten. Manche mögen’s.« Wieder entstand eine Pause, diesmal allerdings kürzer. Andere in seinem Alter haben doch immer so Dinger im Ohr oder ein Handy vor der Nase, dachte ich. Warum um Himmels willen nicht auch dieser Junge hier? Angestrengt blickte ich nach draußen. »Schönchen ist ein Zwischenreich. Sach ich. Ein Zwischenreich.« »Zwischenreich? Wie meinst du, äh, wie meinen Sie das denn?« Ich wollte nicht unhöflich sein. »Se können mich ruhig duzen. Bitte.« Er räusperte sich. »Ja, Zwischenreich. Zwischen schön und kaputt eben.« »Aha, da sind wohl viele Häuser abrissreif, wie? Davon habe ich gehört. Meine Freunde dort … die will ich da besuchen. Die

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wohnen in einem kleineren Häuschen und finden es schön.« Warum klang meine Stimme nur so kläglich? »Ja, ja, die Gegend. Bilderbuch. Äh, die Seen natürlich.« Wann würde er endlich seinen Mund halten? Wieso redete er überhaupt mit mir? Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Irgendwie schien er in seinem Redebedürfnis nicht zu bremsen zu sein. Aber warum gerade heute, in diesem Abteil, bei mir? Sein Knie stieß an meins. »Tschuldigung. Wollte nich …« Er räusperte sich erneut. »Nich nur Bilderbuch. Trotz Frischanstrich. Soll ja alles hübsch aussehen. So neu. Glatt vielleicht auch. Und verdammt ordentlich. Verdammt, ja. Bleibt aber was Wildes. Restposten, irgendwie. Ungemähtes Gras, ne riesige Kastanie, Grabsteine von ganz früher und so. Ne Kirche, die auch beinahe in sich zusammengefallen is. Wird gerade wieder aufgepäppelt. Alles kurz vorm Umkippen. Nich so in Reih und Glied und gerade wie sonst überall. Das nich. Nee …« Wieder schwieg er eine Weile. Endlich, dachte ich. »Da is die Zeit stehen geblieben. Und die Zeit, die alte, die sieht man hier irgendwie. Is einfach nicht wegzurenovieren, echt nich. Zwischenreich passt. Zwischen leben und sterben, zwischen reden und schweigen. Oder umgekehrt. Ich weiß auch nich so genau. Und zwischen leben lassen und morden, das auch.« Ich erschrak. »Morden?« »Klar doch. Morden …«, redete er unbekümmert weiter, »vielleicht nur ein Mord. Keine Ahnung. Reicht ja schon. Finden Se nich? Mord im Zwischenreich. Oder im Reich der Einsamkeit. Da brauchen Se gar nicht so dicke Schinken lesen wie den da.« Er schaute verächtlich auf mein Buch, auf das ich mich so gefreut hatte. »Brauchen Se echt nich. Können Se alles in Schönchen, in dem netten kleinen Ort … Da haben Se dann ne Geschichte. Von …« Die Abteiltür wurde aufgerissen. »Kaffee? Tee? Cola? Eine Brezel?« Ich entschied mich für Kaffee. Mein Gegenüber für nichts. Ich nippte an meinem Kaffeebecher. »Ich heiße übrigens Shakespeare.«

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Hustenreiz und Lachschwall überfielen mich, so dass ich mit Mühe ein wenig Kaffee hinunterschlucken konnte. Der Rest spritzte mir aus Mund und Nase und landete tröpfchenweise auf meiner sorgsam ausgesuchten Reisekleidung. Alle möglichen Namen hätte ich mir für den Jungen vorstellen können, aber nicht diesen. So sieht also Shakespeare aus, dachte ich. Wieder musste ich lachen. Ich verschluckte mich und Shakespeare stand auf und klopfte mir auf den Rücken. Beinahe beruhigend und anscheinend von meiner Reaktion völlig unbeeindruckt meinte er: »Meine Freunde nennen mich so. Unser Shakespeare, sagen se. Naja, Freunde … Die sagen das so, weil ich mich für vieles interessiere, was andere nich hören wollen. Ich sach ja, Morde zum Beispiel. Die besonders. Nur schreiben kann ich leider nich. Und Shakespeare, hat der was geschrieben?« Er sah mich fragend an, beinahe erwartungsvoll. Ich vergaß das viele Silber, die wilden Zeichnungen auf den Armen. Ich sah seine Augen, sein Lächeln, das jetzt gar nicht mehr ironisch wirkte. Ich hörte die Scheu, die in seiner Frage lag. Unversehens war ich neugierig geworden. Der Junge entdeckte es in meinem Gesicht, das er immer wieder erforschte. Er wartete ab, bis ich meine Kleidung geordnet, den Pappbecher entsorgt und das Buch weggepackt hatte. Dann räusperte er sich und verstummte. Sein Blick verlor sich in der Frühlingslandschaft, die er nicht wahrzunehmen schien. Ab und zu gab er abgehackte Sätze von sich. Wiederholt vernahm ich »Schönchen«; immer wieder fiel ein Name. So lernte ich Anna kennen. Wortfetzen verwandelten sich beim Hören in einen Film, in den ich eintauchte und in dem sie die Hauptrolle zu spielen schien. Eine riesige Kastanie musste vor ihrem Haus gestanden haben. Grabsteine tauchten vor meinem inneren Auge auf. Mit all dem musste Anna verwachsen gewesen sein.

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2 Anna

Schon vor vielen Jahren war Anna Henriette Kamrath, eine kleine, sehr hagere Dame von neunundsiebzig Jahren, gestorben, zumindest teilweise. Eine klare Angabe, wann das geschehen war, lässt sich nicht machen. Es war nicht von ihr beabsichtigt gewesen. Es war einfach passiert. Und sie wehrte sich auch nicht dagegen. Wie hätte das auch gehen können? Die Kraft dazu fehlte, der Wille war ihr schon lange abhandengekommen, und so ließ sie es einfach geschehen. Spürte sie selbst den Schatten, der sich über sie legte, jede Sekunde, Minute, Stunde, jeden Tag, in all den vergangenen Monaten und Jahren? Ein einziges Mal, lange nachdem ihr bisheriges Leben nach und nach verschwunden war, durchzuckte sie einen kurzen Atemzug lang die Sehnsucht nach Auflehnung gegen das Unvermeidliche. Das war an dem Tag, an dem das Klavier abgeholt wurde. Das Haus ihrer Eltern war schon beinahe ganz leergeräumt, als es plötzlich da war, das Gefühl, sich wehren zu müssen, sich gegen etwas stemmen zu wollen, sich anders zu entscheiden. »Nein, ich will das nicht! Das darf nicht weg! Das muss bei mir bleiben!« So etwa wollte sie die Sätze laut herausschreien, die dann aber doch nicht über ihre Lippen kamen. Stattdessen stand sie, damals ein Mädchen von vierzehn Jahren, nur stumm dabei, blickte starr in eine unbestimmte Ferne, als die Männer kamen und die schwere Arbeit des Abtransportes in Angriff nahmen, und ging dann in die Küche, denn dort gab es allerhand Kleinigkeiten, die sie selbst in Kisten verpackte. Es geschah mühsam. Anna Henriette war ja fast noch ein Kind.

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Sie überprüfte die Liste, auf der das Allernotwendigste vermerkt war, was sie mitnehmen wollte. In Kinderschrift hatte sie einiges aufgekritzelt, so wie andere Kinder ihren Wunschzettel vor Weihnachten mit ihren Wünschen vollschreiben. »Überleg dir gut, was du behalten willst«, meinte dann auch Onkel Hans, der wohl eher an Spielsachen, eine Puppe vielleicht, dachte. Für sie, die auch damals schon vorzeitig Gealterte, stand fest, dass sie für ihr weiteres Leben nicht viel würde brauchen können. Jetzt nicht mehr. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle – obwohl sie fand, dass doch einer reichen müsste, denn wer sollte auf dem zweiten sitzen wollen – und ein paar weitere Gegenstände des täglichen Gebrauchs, so sollte es sein. Doch, es gab noch etwas, beinahe Überflüssiges, was sie zwischen die Dinge schob, das sie zu all den Sachen legte, die sie dann wahllos zusammensuchte. Ein kleines Bündel, mit einem dünnen Band mühsam und eng verschnürt. Auf dem oberen Teil des winzigen Bündels erkannte sie den Stempel einer Klinik mit einer Briefmarke aus einer lange vergangenen Zeit, einer Zeit, die verschwunden war. Sie versteckte es, wohl am ehesten vor sich selbst. Sie gab es nicht weg. Als sie es dann beim Auspacken wieder entdeckte, erschrak sie. Dies geschah nach vielen Jahren des Umherziehens. Da war sie schon eine erwachsene Frau, die nicht mehr an die Kisten dachte, bis sie in ein kleines Haus zog, in ein Dorf, das ihr Einsamkeit und Stummheit versprach. Es dauerte, bis sie in ihrem neuen Heim eine Entscheidung fällte. Den Inhalt der zwei verbliebenen Kisten vergaß sie beinahe völlig, bis zu dem Tag, an dem sie all die Habseligkeiten auspacken musste, die dort Platz gefunden hatten. Dabei stieß sie auf das, was sie vor sich selbst verbergen wollte. Die Zeit, die sie während des Auspackens zum Nachdenken brauchte, war ihr unendlich vorgekommen. Wie erstarrt stand sie da. Lange hielt sie das Wenige in den Händen, das Päckchen der Erinnerung, das, woran sie nicht denken wollte, bis sie nach einer Zeit, die kein Ende zu nehmen schien, alles in eine Schublade des Küchenschranks legte, der noch eine weitere Schublade bereithielt, die sie täglich würde benutzen

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müssen, weil dort Messer, Gabeln und Löffel ihren neuen Platz fanden. Schließlich rückte das, was einmal in einem Versteck hätte verschwinden sollen, gefährlich nah an ihr Leben, an ihren Alltag heran. Vielleicht lag hierin das Geheimnis ihres nicht vollständigen Sterbens, der letzte Rest Hoffnung. Am Tage ihres Einzuges hatte Anna Geburtstag. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt geworden. War es leicht gewesen, das Elternhaus schon als Kind, das sie damals noch war, mit vierzehn, verlassen zu müssen? Auf dem Weg von der Haustür bis zu dem kleinen Gartentor hielt sie den Blick auf die Schuhe gesenkt. Wenn ich bis zwanzig gezählt habe, ist es vorbei. Mühsam unterdrückte sie die aufkommenden Tränen. Anna Henriette, früher einmal Jettchen genannt, ließ alles hinter sich und reichte Onkel Hans, dem Bruder des verstorbenen Vaters, den Schlüssel. Onkel Hans, der alle Formalitäten und finanziellen Angelegenheiten regelte, stand wartend vor seinem Wagen. Er wollte geduldig sein. Der Kleinen, wie er sie zärtlich nannte, Zeit lassen für den schmerzlichen Abschied. Aber Jettchen kehrte ganz plötzlich um, mehrfach. Kaum war das Tor hinter ihr verschlossen worden, blieb sie stehen. Als sei ihr noch etwas eingefallen, das sie überprüfen müsse, bat sie um den Schlüssel, ging wieder zurück, machte die Tür auf und verschwand für mehrere Minuten im Haus. Es war nicht groß. So genau sah sie sich allerdings auch gar nicht um. Sie suchte nicht nach etwas Bestimmtem. Sie überprüfte auch nicht, ob sie etwas vergessen haben könnte. Eher durchstreifte sie die Zimmer, als wolle sie die Luft atmen, die ihr vertraute, die sie in sich aufnahm als das einzig Verbliebene, das sie bei sich zu behalten und in sich zu schützen wünschte. Hoffte sie auf eine Stimme, die sie rufen würde? Dass alles nur ein Traum gewesen war? Oder war es etwas ganz anderes, was sie zurückgehen ließ? Dass es gerade nicht die Luft war, die sie in sich aufnahm, sondern dass sie überprüfen wollte, ob wirklich alles dort blieb, was sie an ein Leben erinnerte, das nun endgültig vorbei war? Man hätte denken können, sie kontrollierte,

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dass niemand und nichts sie aus dem Haus verfolgte, dass mit dem Abschließen der Schlussstrich gezogen war. Eine Befreiung von Vergangenem. Kinder haben solche Gedanken nicht. Oder doch? Bei einem dieser Rundgänge, es war ihr letzter gewesen, hatte sie ein Heft auf dem Boden liegen sehen. Sie erkannte den Schriftzug auf dem Titelblatt sofort und las, langsam, beinahe ungläubig, zweifelnd: »Polonaisen und Mazurken. Eine Auswahl.« Damit hatte sie nicht gerechnet. Alle Zimmer waren leer gewesen. Warum hatte sie ausgerechnet dieses Heft übersehen? Sie hatte sich an die Wand lehnen müssen, war dann langsam auf den Boden gesunken und hatte nach ihm gegriffen. Ihre Hände nahmen es auf, vorsichtig, legten es zu sich auf den Bauch. Sie brauchte nicht hineinzusehen. Sie wusste, was darin war. Sie fand sich, als hätte es in den letzten Monaten keine Veränderungen in ihrem Leben gegeben, in ihrer behüteten Wunschwelt wieder. Ein Mann beugt sich über sie und streicht ihr mit seiner Hand über den Kopf. Seine Augen leuchten. »Prinzessin, das ist keine Tanzmusik, das ist eine ernsthafte Angelegenheit«, sagt er und lächelt. Das kleine Mädchen blickt zu ihm auf. Voller Ungeduld. Es tritt von einem Fuß auf den anderen. Sieht Vater nicht, dass ich das weiße Kleid nur für ihn angezogen habe? Dass ich Hochzeit spiele, solange Mutter nicht da ist? Jetzt weiß er es. Das kleine Mädchen spürt es. Endlich hält er die Hände über die Tasten, gleich wird er sich mit ihr in ein Abenteuer stürzen. Einen Rausch verursachen, der das Zimmer in einen verspiegelten Ballsaal verwandelt. Vater wird sich in die Musik werfen und das kleine Mädchen wird die Töne in sich spüren und die ersten Schritte wagen, mit nackten kleinen Füßen, erst ein wenig zögerlich, dann aber immer entschiedener, bis die Musik ganz in ihm ist. Die ersten Töne wirbeln empor. Das kleine Mädchen dreht sich, es hüpft, schwebt und kann von keiner Kraft mehr auf dem Boden gehalten werden. Es schwingt sich auf, es fliegt durch das geöffnete

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Fenster hinaus bis zu dem blühenden Kirschbaum, direkt auf seine Krone zu, die das kleine Mädchen erklimmt. Das Haarband hat sich gelöst. Die Locken fallen wild über seine Schultern. Nichts kann passieren. Sie singt: »Der Himmel gehört mir. Mir ganz allein.« Aber was ist das? Mutter steht in der Tür, ein kleines Wesen neben sich an der Hand. Stumm. Sie lässt sich auf den Stuhl am Küchentisch sinken und starrt vor sich hin. »Nichts weiß man. Gar nichts. Sie können ihm nicht helfen. Und uns auch nicht. Keinem.« Sie haucht es und legt den Kopf auf den Tisch. »›Wir werden uns etwas überlegen müssen.‹ So sagen die Ärzte. Ich weiß nicht … Was machen wir bloß mit ihm? Er ist doch unser kleiner …« Das Mädchen lauscht dem leisen Schluchzen der Mutter. Wenn das Kleid Flügel bekäme, dann könnte sie von hier fortfliegen, in den Kirschbaum im Garten hinein. Der Rausch steht still. Helligkeit verschwindet. Die Töne werden dunkel. Führen auf einen Abgrund zu. Ich stürze, denkt das kleine Mädchen. Ist Vater böse mit mir? Weil ich so wild getanzt habe? Weil ich in den Himmel geflogen bin? Vaters Hände fallen voller Zorn in die Tasten. Sein Rücken krümmt sich. Das kleine Mädchen spürt, dass sich in ihm etwas ausbreitet. Ein schwarzes Gift. Es ahnt, dass in diesem Moment sein bisheriges Leben zerbricht. Vater, das ist zu laut! Das tut mir weh! Vaters Augen leuchten nicht mehr. Das Spiel verstummt. Die Prinzessin fällt.

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Vater? Was ist mit dir? Vater? In das Haus kehrt Stille ein. Etwas verschwindet. Wenige Jahre vergehen. Irgendwann sagt der Vater: »So werden wir nicht weiterleben können. Nicht mit dem, was hier drin steht. Das ist ein Auftrag, Anna Henriette. Siehst du das?« Vater kehrt dem Klavier den Rücken zu und hält dem kleinen Mädchen ein Bündel Briefe hin. Das kleine Mädchen versteht nicht, was der Vater sagen will. Mitten in die Stille hinein spürte Anna Henriette ein Bersten, das sie in zwei Teile zerriss. Sie blickte auf. Wo war sie? Sie befühlte das Heft auf ihrem Bauch, das sie noch immer etwas krampfhaft hielt, strich dann darüber, sah, dass es feuchte Flecken bekommen hatte. Es war etwas darauf getropft. Vorsichtig legte sie es wieder auf den Boden, strich erneut darüber, behutsam. Es ist besser, ich lasse es hier. Irgendjemand wird es finden. Das Heft bei sich aufnehmen. Darin lesen können. Vielleicht danach spielen? Und dort, irgendwo, wird man die Noten vor mir schützen. Das war ihr letzter Gang in das Haus gewesen. Sie hatte sich von Klaviermusik endgültig verabschiedet. Sie sah aus wie immer, ein wenig verweint vielleicht. Keiner, auch Onkel Hans nicht, bemerkte die Alterung ihrer Seele, die sich in Bruchteilen von Sekunden vollzogen hatte. Keiner erkannte, dass sich von diesem Augenblick an Annas Herz verschloss, für viele Jahre, ja sogar Jahrzehnte. Das Bündel allerdings, das bewahrte sie all die Jahre auf. Das war der Auftrag, der irgendwann einmal zu erledigen sein würde. Anna, nur noch selten Jettchen genannt, war ein braves Mädchen. Es bereitete ihr, so nahmen es die anderen wahr, sogar Vergnügen, Erledigungen im Haushalt zu übernehmen. Sie fragte nichts, fügte sich, bekam zu essen. Es war warm. Von vielen Nöten, die in anderen Gegenden in der Zeit ihres äußeren

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Wachstums herrschten, bekam sie so gut wie nichts mit. Auch waren der Onkel, die Tante und deren Kinder anfangs geduldig mit ihr. »Das arme Ding. Erst muss sie erleben, dass … Und dann noch die Eltern …« Sie hörte die Erwachsenen flüstern. Sie sah besorgte Blicke auf sich gerichtet. Warum sprachen sie nie zu Ende? War sie überhaupt gemeint? Warum war sie ein armes Ding? Es ging ihr doch gut? Eine Ahnung überkam sie, manches Mal, was es sein könnte. Warum sie ein armes Ding war. Sah die Mutter auf dem Sofa liegen, blass, der Vater über sie gebeugt. Dann war die Mutter verschwunden, alles war schwarz. Es blieb alles schwarz, bis auch der Vater verschwunden war. Aber wissen wollte sie nicht, was damals passiert war. Warum die Eltern gestorben waren, so früh, sie alleine zurücklassend. Anna wollte nicht daran denken. Wozu auch? Schließlich hatte sie ein Bett, oben, in der Kammer unter dem Dach. Sie konnte helfen. Das tat sie gerne. Sie war ständig in Bewegung. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie vermied es. Man hatte sich an ihr Schweigen gewöhnt. Das war dann auch der Grund, warum man sie nicht weiter zur Schule schickte. Es erschien nicht notwendig. Wozu auch? Wenn es nichts zu helfen gab, was selten vorkam, verschwand sie. Sie ging in den Wald, manchmal bis zum See, durchstreifte die Gegend und schwamm, sobald ihr das Wasser warm genug erschien. Es konnte vorkommen, dass sie bei einem ihrer Streifzüge einen Baum umarmte oder seine Rinde abtastete, dass sie sich ins Laub legte und daran roch, dass sie zu den Wolken aufblickte und den Himmel entdeckte. Für einen kurzen Augenblick. Der Himmel erschreckte sie. Sie wusste nicht, warum. Aber den Geruch des Bodens, den sog sie in sich auf, und es passierte das ein oder andere Mal, dass sie dabei hemmungslos zu weinen begann. Irgendwann hatte sie begonnen, sich ein Buch für ihre Streifzüge mitzunehmen. Sie nahm es ungefragt aus dem Regal, ziemlich wahllos, was sie aber nicht weiter störte. Auch hier war unbemerkt geblieben, dass Anna Henriette das Lesen übte. Dass sie die Zeitung studierte, die Buchstaben aneinanderreihte und dass sie dabei Vergnügen und eine gewisse Befriedigung empfand. Sie suchte mit dem ersten Buch einen Platz, an dem sie sich niederließ, allein und

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vor den anderen gut versteckt. Was las sie? »Effi Briest« vielleicht? Das konnte schon sein. Beim Lesen ging eine unmerkliche Veränderung in Anna Henriette vor. Sie nahm die Buchstaben in sich auf. Aber in dem Moment, in dem sie sich eine Person vorzustellen begann, tauchte sie in das Buch, lebte in ihm, ging in die Handlung hinein, war eine Person – nicht mehr sie selbst, sondern endlich eine andere –, die ein ihr unbekanntes Leben lebte, die etwas zu Ende brachte, Schicksale überwand. Oder zugrunde ging. Effi. Sie vergaß die Zeit. Als sie einmal von einem solchen Streifzug zurückgekommen war, es war mittlerweile dunkel geworden, hatte sie eine aufgebrachte Familie vorgefunden. Sie standen um den Esstisch herum. Onkel Hans durchmaß das Zimmer mit wütenden Schritten. »Es ist genug. Wir können das nicht mehr. Wir haben uns bemüht. Wirklich. Aber jetzt ist Schluss. Wie soll das denn gehen, wenn hier jeder nach seinem eigenen Zeitplan lebt? Sich nicht an Verabredungen hält?« Sie sagte, wie immer, nichts, legte das Buch auf den Tisch und heftete ihren Blick auf den Teppich, als studiere sie intensiv dessen Muster. Das machte den Onkel nur noch wütender. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Allen war klar, dass das nicht gehen würde. Mit dem Satz: »Du gehst jetzt auf deine Kammer. Morgen sagen wir dir, wie wir uns entschieden haben«, wurde sie weggeschickt. Am nächsten Morgen wurde ihr die Entscheidung mitgeteilt. Eine andere Familie, Freunde des Onkels, benötige Hilfe. Dorthin solle sie. Sie protestierte nicht. Solche Wechsel häuften sich in den folgenden Jahren. Irgendetwas geschah, man ärgerte sich über sie, sie wurde nach einer Zeit des Mitleids und der Geduld fortgeschickt. Beides, Mitleid und Geduld, waren aufgebraucht und sie musste gehen. Ein einziges Mal, da war sie schon einige Jahre älter, war sie versucht, um ihr Bleiben zu kämpfen.

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»Weißt du eigentlich, wie schön du bist?« Das hatte Georg zu ihr gesagt, der für einige Wochen in die Familie gekommen war, bei der sie gerade wohnte. Er sollte helfen, wie sie. Er kam von weit her, es hieß, er studiere. Sie blickte, ohne ein Wort zu sagen, zu ihm auf. So standen sie sich gegenüber, nahe beieinander, allein. Erst einmal sagte sie nichts, sah ihn an und staunte. Ihr Gesicht öffnete sich, ohne dass sie es gewollt hätte. Niemand hatte sie jemals so gesehen, mit großen braunen, lebendigen Augen, voller Neugier, sogar ein wenig lächelnd. »Du irrst dich. Ich bin eine andere. Alles, was du an mir siehst, ist eine Täuschung.« Mit diesen Worten drehte sie sich plötzlich um und ging, ließ Georg mit seiner Verblüffung und Enttäuschung einfach stehen. In der folgenden Nacht wälzte sie sich hin und her. Immer wieder hörte sie Georgs Stimme: »Weißt du …?« Sie schien die Worte auf ihrer Haut zu spüren. Zwischen Wachen und Schlafen sah sie ein junges Mädchen, das eine andere war als sie selbst. Das Mädchen geht hinunter zum See. Nein, es geht nicht, es hüpft. Es fühlt sich leicht an, das spürt es, einer Feder gleich. »Guten Abend, Mond, das ist sehr nett von dir, dass du heute dein volles Licht angemacht hast.« Die Stimme des Mädchens klingt hell, erregt, ausgelassen. »Aber, nicht wahr, du scheinst nicht nur für mich. Du wirst ihm den Weg zu mir zeigen. Ihn sehen lassen, dass dies eine besondere Nacht ist, nur für uns beide gemacht. Dazu hast du, Mond, heute Abend die Welt in Silber getaucht. Du bist der Silbermeister. Du hast die Nacht für ihn und mich geschmückt. Alles um uns herum hast du zum Glänzen gebracht. Nur da hinten, ganz weit weg, die andere Seite, die hast du in Schwarz getaucht. Hast du das getan, um uns bange zu machen? Damit wir wissen, dass es neben dem Silber noch etwas anderes gibt? Die Gefahr? Weißt du was, Mond? Das interessiert uns heute Nacht nicht. Das haben wir vergessen. Wir werden aus dem Silber deines wunderbaren Lichtes, mit dem du uns auch die Schatten der Bäume zeigst, Ringe anfertigen. Einen Ring für mich, einen Ring für ihn. Wir sind verlobt, weißt du. Das ist

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unser Geheimnis. Keiner weiß davon, nur wir beide. Er hat mich gefragt, und ich habe ja gesagt. Mein ganzes Leben, lieber Mond, wird ihm gehören. Wie findest du das? Du schaust so grimmig! Freu dich mit mir, Mond, weiser alter Mann. Wie viele Liebende hast du schon gesehen? Nicht wahr, wir beide, Georg und ich, wir sind etwas ganz Besonderes. Uns wirst du begleiten, bei uns sein, wenn wir Kinder bekommen. Das werden wir doch? Oder? Ich wünsche mir viele. In dieser Nacht, jetzt, bald, wenn er kommt, werde ich erfahren, wie es ist, miteinander ganz nah zu sein. Und du passt auf mich auf. Das wirst du doch, lieber Mond? Aber erst einmal werde ich schwimmen, weit hinaus, ganz ohne Angst, in die schwarze Nacht hinein.« Das Mädchen streift seine Kleidung ab, ohne Eile. Schuhe und Socken, Rock, Bluse, Unterwäsche legt sie sorgfältig zusammen auf einen kleinen Haufen. Als Letztes löst sie das Haarband, so dass die Haare auf ihre Schultern fallen. Sie spürt seine Blicke im Rücken. Er wird sich ihr bald nähern. Sie friert und beginnt am ganzen Leib zu zittern. Als habe sie aller Mut verlassen, macht sie nun ein paar eilige Schritte in das Wasser hinein. Die Steine unter ihren Füßen sind rutschig. Es bereitet ihr Mühe, nicht vorzeitig in das Wasser zu fallen. Als das Wasser sie umgibt, ist sie erleichtert. Sie holt mit zugkräftigen Bewegungen aus und hat das Ufer bald weit hinter sich gelassen. Jetzt traut sie sich weit hinaus in den See. Einmal schaut sie sich um. Sie sieht die Umrisse seines Körpers. Er scheint zu zögern. Und schon hört sie sich rufen: »Steht da etwa ein Angsthase? Einer, der sich nicht traut?« Voller Übermut ruft sie ihm Neckereien zu. Bis er sich ebenfalls auszieht. Sie sagt nichts mehr. Das Herz kann ja in einem solchen Moment zerspringen. Das fürchtet sie jetzt. Es bereitet ihr einige Mühe, sich über Wasser zu halten. Wenn das Herz übervoll ist von Erwartung, kann es dann zerspringen? Aber da ist er schon bei ihr. Jetzt neckt er sie. »Ist dir die Puste ausgegangen? Du zappelst ja. Mein kleiner

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Fisch an der Leine? Komm her, ich bin dein Fänger. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich halten und dem Wasser zurückgeben, sobald du es willst.« Er legt seine Arme um sie und zieht sie zu sich heran. Hatte sie eben noch gezittert? Ihre Lippen berühren sich. Nie mehr loslassen, denkt sie. Ich werde ihn nie mehr loslassen. Der Mond hat sich hinter einer Wolke versteckt, so dass nicht zu sehen ist, was weiter passiert, zwischen zwei jungen Leuten, die ganz ineinander aufgehen. Die in einem Traum leben. »Hörst du das Käuzchen? Es singt für uns. Damit wir tanzen.« Georgs Stimme wärmt. Sie fühlt, dass eine Explosion in ihr aufsteigt. Bis zum Himmel kann sie fliegen. Anna erwachte, voller Panik und Schrecken darüber, was sie gesehen, was sie erlebt hatte. Wo war sie eben gewesen? Wie kam die Hand auf ihre Brust, die andere zwischen ihre Schenkel? Für einen kurzen Moment glaubte sie, sich nie mehr bewegen zu können. Dann stand sie auf. Alles Weitere erledigte sie mechanisch. Sie packte ihren kleinen Koffer. Wenn das erledigt ist, werde ich hinuntergehen und mitteilen, dass ich fortgehen werde. Das kann ich Georg nicht zumuten, dass er mit mir in den Himmel fliegt, wo doch der Absturz wartet, wenn ich seine Begleiterin bin. Niemandem werde ich das zumuten. Niemals. Irgendwann war Anna angekommen. Onkel Hans half. Eines Tages war er wieder vorbeigekommen, meinte, dass es so nicht weitergehen könne mit den ewigen Umzügen. Schließlich habe er seinem Bruder versprochen, dafür Sorge zu tragen, dass sie eine Bleibe fände. Er habe sich umgesehen. Es gebe eine feste Arbeit für sie. Nicht so anstrengend, zu ihr passend. Sie wolle ja nicht reden, das hätten sie über die vergangenen Jahre gemerkt. Gut. Dann könne sie bei der Post Briefe sortieren. Und einen Ort zum Wohnen habe er auch gefunden. Etwas abgelegen, in einem kleinen Dorf, nicht so weit weg, so dass sie auch zu ihm kommen könne, wenn es denn sein müsse.

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