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Heli E. Hartleb, geboren 1958 in der Steiermark, ist als Arzt in Wien tätig. Er wohnt mit seiner Frau im benachbarten Niederösterreich. »Das unsichtbare Band des Lesens« ist sein fünfter Roman nach der Romantetralogie »Vier Frauenmärchen«, die in den Jahren 2012 und 2013 bei Buch&media erschienen ist. Über Anmerkungen jedweder Art an heli.e.hartleb@live.at würde sich der Autor sehr freuen. Weitere Informationen zur Person und zu den Titeln sind über die Homepage des Autors (www.heli-e-hartleb.­at) zu erhalten.


Heli E. Hartleb

Das unsichtbare Band des Lesens Roman


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de

Originalausgabe März 2016 © 2016 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Ulla Arnold, Freiburg Printed in Germany isbn print 978-3-95780-055-8 isbn ePub 978-3-95780-056-5 isbn PDF 978-3-95780-057-2


f端r Eveline Hannelore Heidrun Katrin und Raphaela



eins

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itte, sei kein fauler Sack! Steh endlich auf und beweg dich ins Bad.« »Ich geh ja schon.« Heinrich hatte zwar gar keine Lust dazu, wollte jedoch sein Versprechen, das er Alice vor einigen Tagen gegeben hatte, einhalten. Sie hatte ihn gebeten, sie zu einem »Vorsprechen« – so nannte sie es – zu begleiten, und er hatte nach kurzem Zögern zugesagt. Dieses Vorsprechen sollte jetzt am Nachmittag stattfinden, einige Stunden vor dem Konzert der Philharmoniker, nach welchem er kaum mehr Verlangen hatte. Nach Beethoven, Brahms und Schubert war ihm im Augenblick gar nicht. Geschenkte Karten schlug man indes nicht aus, wenn sie so teuer waren wie die, die ihm eine Tante von Alice in die Hand gedrückt hatte. Ein Geburtstagsgeschenk. Dabei hatte er gar nicht Geburtstag. Es war noch einige Zeit bis dahin. Die Tante hatte sich offenbar etwas Falsches in ihrem Kalender notiert, und so waren Alice und er in den Genuss der Karten gekommen. »Es wird jetzt wirklich Zeit!« Alice klopfte mit ihrem Zeigefinger auf die Armbanduhr, so, wie sie es immer tat, wenn sie in Eile war. »Gefalle ich dir übrigens so, wie ich angezogen bin?« Sie setzte ein verschmitztes Lächeln auf und legte den Kopf zur Seite. »Sehr!«, log Heinrich. Alice stand in ihren erotischen Dessous vor ihm. Für ihn wirkten sie aber alles andere als erotisch. Ihn erinnerte der Stil der Wäsche eher an Sport als an Erotik. Er hatte auch schon öfters versucht, ihr das zu erklären, war aber immer mit einer knappen Antwort abgefertigt worden. Im Grunde war es ihm ohnehin egal, wie Alice sich kleidete. Vor einem halben Jahr wäre ihm das allerdings überhaupt noch nicht gleichgültig gewesen. Damals war er sehr verliebt in sie, und alles lief in besten Bahnen. Doch heute … Er verbot sich nähere Gedanken dazu, stand mit Schwung auf und eilte ins Bad. »Es ist nun drei Uhr, und das Konzert beginnt um acht. Was machen wir, wenn dein Vorsprechen in zehn Minuten wieder vorbei ist?« Sie 7


standen vor der Tür einer wunderschönen Villa, wie Heinrich fand. Heinrich hatte an der Eingangstür geklingelt, doch nichts rührte sich. »Je eher es vorbei ist, desto mehr Zeit haben wir vor dem Konzert, um noch ein wenig durch die Stadt zu flanieren.« Heinrich nickte. »Ja, das ist gar keine schlechte Idee. Was läuft hier nun überhaupt ab, Alice? Du hast mir das noch gar nicht näher erläutert.« »Ich habe bei uns in der Universität am schwarzen Brett vor der Mensa eine kleine Annonce gesehen. Hier wird eine Vorleserin gesucht. Und es gibt dreißig Euro in der Stunde …« »Dreißig Euro fürs Vorlesen! Ist ja nicht zu glauben. Wer zahlt denn so was?« »Keine Ahnung. Deshalb sind wir ja hier. Mich interessiert das auch. Und ich würde das Geld gerne nehmen.« »Du hast doch ohnehin ausreichend Geld …« »Von dem du genug abbekommst!« Die Antwort kam schnell, und der Ton war scharf. »Ich kann es jedenfalls gut gebrauchen«, fügte sie schnell hinzu. Heinrich wollte noch etwas sagen, doch in dem Augenblick öffnete sich die Tür und ein braun gebrannter Mann um die vierzig Jahre und mit ungemein gelangweiltem Blick, gekleidet in einen seltsam anmutenden Hausanzug, stand vor ihnen. »Wollen Sie auch noch etwas vorlesen?« »Dafür sind wir hergekommen.« Alice hatte ihr freundlichstes Lächeln aufgesetzt, und tatsächlich schien es seine Wirkung nicht zu verfehlen. »Na, dann kommen Sie ins Haus. Herein mit Ihnen!« Er machte Platz und bedeutete mit großer Geste, dass sie eintreten mögen, stellte sich dann jedoch schnell vor Heinrich: »Es wird nicht unbedingt ein Vorleser gesucht, eher eine Vorleserin.« Dann besann er sich allerdings anscheinend eines Besseren und gab den Weg frei. »Aber wenn Sie schon einmal da sind, können Sie ja auch eine Kostprobe Ihres Könnens abgeben.« Heinrich, der direkt angesprochen war, hatte gar nicht weiter zugehört und das Gesagte daher auch nicht mitbekommen. Vielmehr hatte die wunderschöne Villa seine Aufmerksamkeit gänzlich auf sich gezo-

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gen. Modern und schön. Geglückt. Das waren die Begriffe, die ihm sofort eingefallen waren. »Erschrecken Sie nicht, wenn Sie die vielen Leute sehen, die hier warten.« Der Mann war vor einer großen Flügeltür stehen geblieben. »Die meisten haben schon vorgelesen und warten nur noch auf die Entscheidung meiner Frau. Sie beide sind nun die Letzten. Mehr Auswahl werden wir nicht benötigen.« Als sie gleich darauf in einen großen, lichtdurchfluteten Raum traten, sah Alice ihre Chancen deutlich sinken. Gut zwanzig Frauen jeden Alters und einige Männer standen oder saßen herum. Nun, dreißig Euro in der Stunde für einen Vorlesejob, das erzeugte offenbar Interesse. Kaum eingetreten, wuchs Heinrichs Bewunderung für das Haus und seine Einrichtung noch weiter. Wie schön hier alles war. Lebenswert. Ja! Schön und lebenswert. Lebenswert war nicht der richtige Ausdruck für eine Einrichtung, dachte er dann jedoch bei sich. Beinahe hätte er es übersehen, dass sich eine weitere Tür öffnete und zwei Frauen erschienen. Eine sehr junge, mit gerötetem Kopf und bebenden Lippen. Dahinter eine elegante Frau, die etwas älter erschien, vielleicht dreißig oder ein, zwei Jahre älter, schätzte Heinrich. Sie bot der jüngeren Frau an, sich auf einen Stuhl zu setzen, und reichte ihr ein Glas Wasser. Gleich darauf nahm sie Alice und Heinrich ins Visier. »Wer von Ihnen ist zuerst dran? Und ich sage es gleich: Ich suche vorzugsweise eine Vorleserin, ein Mann kommt eher nicht infrage.« »Wir gehören zusammen«, antwortete Alice, »und nur ich möchte vorlesen.« »Ach so«, erwiderte die Frau, »dann folgen Sie mir bitte.« Sie warf Heinrich einen kurzen Blick zu. »Wollen Sie mitkommen?« »Ich kann auch hier warten.« Heinrich zuckte mit den Achseln. »Ich sehe mir gerne noch ein wenig diesen wunderschönen Raum hier an.« »Finden Sie ihn schön?« »Sehr schön.« »Danke!« »Komm doch mit, Heinrich, und halt mir die Daumen.« Alice hatte Heinrich am Arm genommen und ihm einen zarten Kuss auf die Wange gehaucht. »Na gut, wenn du das unbedingt möchtest.« 9


Sie betraten eine Bibliothek, die Frau hieß Alice und Heinrich auf einem bequemen Sofa Platz zu nehmen, setzte sich den beiden gegenüber in einen Lehnstuhl und nahm ein Notizheftchen zur Hand, das sie aber nicht öffnete. Bevor Alice etwas vorlesen sollte, wurde sie ausgefragt. Oder vielmehr ausgequetscht, wie es Heinrich in den Sinn kam. Er war etwas überrascht, dass Alice nicht immer bei der Wahrheit blieb, was ihre Auskünfte betraf. Gleich ließ er jedoch wieder seinen Blick herumschweifen. Feminin. So feminin. Ja, dieser Raum strahlte Weiblichkeit aus. Er richtete seinen Blick auf die Frau, die sich noch immer nicht vorgestellt hatte, und musterte sie unverhohlen. Unnahbar. Verletzt. Weiblich, ja, durch und durch weiblich. All dies schoss ihm durch den Kopf, und ganz langsam dämmerte ihm, dass sie selbst jene Person war, der vorgelesen werden sollte. Davor hatte er die vage Vermutung gehabt, man sollte irgendeiner uralten Dame oder einem verdorrten Urgroßvater ein wenig Unterhaltung bieten. Nein, nun war er sich sicher, dass diese Frau eine Vorleserin für sich selbst suchte. Alice hatte zu lesen begonnen. Sie hatte einen der vielen Romane, die auf dem Tisch vor dem Sofa lagen, zur Hand genommen und rezitierte gekonnt. Heinrich hörte Alice gerne zu. Die zwei Jahre in der Schauspielschule hatten sich wirklich bezahlt gemacht. Die Frau nahm Alice das Buch aus der Hand, reichte ihr eine Zeitschrift und bedeutete ihr, weiterzulesen. »Was soll ich Ihnen denn daraus vorlesen?« »Suchen Sie sich selbst einen Artikel aus.« Alice zögerte ein wenig, blätterte unschlüssig in dem Journal für Gartengestaltung herum, schüttelte den Kopf, begann aber dann doch zu lesen. Als sie fertig war, hob sie fragend den Kopf. »Wollen Sie noch etwas von mir hören?« »Sie lesen sehr schön. Nein, danke, es ist nicht notwendig, dass Sie weiterlesen.« Sie wandte sich an Heinrich. »Wie finden Sie diese Bi­bliothek?« »Sie ist unglaublich feminin.« »Feminin?« »Ja.« »Findest du wirklich?« Alice schüttelte ein wenig den Kopf. Heinrich lachte kurz auf. »Ja, das finde ich wirklich!« 10


»Wollen Sie mir nun vorlesen?« »Ich kann nicht lesen. Und außerdem müssten wir dann vorher noch den Fragenkatalog durchmachen, so, wie sie es mit Alice getan haben.« »Was heißt, Sie können nicht lesen? Sie werden doch lesen können!« »Natürlich kann ich lesen. Wie sonst sollte ich mein Studium absolvieren.« »Studieren Sie auch Germanistik?« »Nein. Medizin. Leider mit mäßigem bis eher sehr geringem Erfolg. Fragen Sie mich nicht weiter darüber aus, es ist zurzeit mein wunder Punkt.« »So lesen Sie doch etwas vor!« Heinrich seufzte. »Meinetwegen.« »Heinrich!« Alice schien entsetzt zu sein. »Lassen Sie ihn doch lesen!« Schnell wandte sich die Frau an Heinrich: »Fangen Sie an!« Heinrich nahm eine Kochzeitschrift zur Hand und las einen Artikel über die Trüffelsuche in Umbrien vor. Ein sehr schöner Bericht, wie ihm selbst schien. Er bekam Lust auf Trüffel und verspürte plötzlich großen Hunger. Mit einem kleinen Nicken beendete er seinen Vortrag. »Was sagen Sie dazu? Das macht Appetit, was?« »Das auch. Und Sie haben sehr schön gelesen.« Alice riss die Augen auf. »Ich …« Sie wollte noch etwas anfügen, schwieg dann aber. Heinrich hatte ein Buch über Architektur in die Hand genommen, blätterte es sehr schnell durch, bemerkte sofort, dass es in viele kleine, gut bebilderte Kapitel unterteilt war, und entschloss sich, eines vorzulesen. Oder so zu tun, als lese er. Denn plötzlich hatte er die Idee, seine eigenen Eindrücke über das Haus, in dem sie sich befanden, kundzutun. Er schlug das Buch auf einer Seite auf, die ein Bild eines Raumes zeigte, das dem, in dem sie sich aufhielten, sehr ähnlich sah. Ah, da kommen die Ideen her, dachte er amüsiert. »Lesen Sie!« Die Aufforderung kam mit Nachdruck. »Die Kunst des Einrichtens besteht darin, die Bewohner in eine gute Stimmung zu bringen, völlig unabhängig von ihren sonstigen Stimmungslagen. So lautet die Maxime von John McMillan, einem der wichtigsten amerikanischen Architekturkritiker …« »Das steht hier nicht! Und einen amerikanischen Architekturkri11


tiker namens John McMillan gibt es auch nicht. Zumindest keinen wichtigen. Das weiß ich genau. Und in Zukunft gilt: wenn Sie mir etwas vorlesen, so lesen Sie bitte das, was tatsächlich geschrieben steht. Erfinden Sie nichts, und lassen Sie nichts aus. Ist das klar?« Die Stimme der Frau klang scharf. Schneidend scharf. »Ich werde Ihnen ohnehin nie mehr etwas vorlesen.« Heinrich hatte einen hochroten Kopf, was bei Alice starke Verwunderung hervorrief. So hatte sie ihn noch nie gesehen. »Warum haben Sie sich dann zum Probevorlesen überreden lassen?« Die Verwunderung der Frau war nun in ihren Augen lesbar. Heinrich fand das interessant. Wie es schien, konnte er im Gesicht der Frau lesen. Und als sie ihn nach einem kurzen Schwenk ihres Blicks zum Fenster wieder ins Auge fasste, konnte er lesen, dass sie sich tatsächlich für ihn entschieden hatte. »Sie wollen tatsächlich mich als Vorleser. Aus welchem Grund?« »Das können Sie nicht machen. Heinrich hat mich nur begleitet!«, rief Alice gequält. »Und wem genau sollte er denn eigentlich vorlesen?« »Der Dame selbst, liebe Alice, das ist doch unübersehbar«, kam es leise von Heinrich, »der Dame selbst. Hast du das nicht bemerkt? Der Dame, die dieses Haus so schön eingerichtet hat und die sich offenbar sehr intensiv mit Architektur beschäftigt … und die dieses Buch geschrieben hat. Ja, ganz sicher.« Er nahm das Buch zur Hand, klappte es zu und las den Namen der Autorin vor: »Sarah Pflüger-Mendritz.« Er sah auf. »Sie sind Sarah Pflüger-Mendritz.« »Ja, die bin ich. Seit einer Woche nur noch Sarah Pflüger. Scheidung. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.« Sie schüttelte den Kopf. Dann fuhr sie jedoch ein wenig gedankenverloren fort: »Mein Mann, Jürgen Mendritz, Sie kennen ihn, er hat Sie ins Haus gebracht, hat sich von mir scheiden lassen, lebt aber noch im Haus …« Sie sah auf zur Decke. »Es ist ja auch groß genug. Zumindest im Augenblick. Na ja, das ist ja nun nicht so wichtig.« Jetzt lächelte sie Heinrich offen an. »Wollen Sie mir in Zukunft vorlesen? Sie können den Job haben.« Heinrich blickte Alice verdattert an. Sie sah tief enttäuscht drein. Kein Funken Freude war in ihrer Miene zu erkennen. Nur Entsetzen. Und Unglaube.

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»Unter der Voraussetzung, dass es für mich machbar ist, nehme ich Ihr Angebot an.« »Das machst du nicht, Heinrich«, gab Alice tonlos von sich, »sonst kannst du auch gleich hier einziehen.« »Aber du hast mich doch hierhergeschleppt, Alice!«

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zwei

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s waren dann doch noch drei Wochen vergangen, seit sich Heinrich in der Villa beim Vorlesen gegen die große Konkurrenz hatte durchsetzen können, ehe er nun wieder an deren Tür klingelte. Diesmal musste er keine Minute warten. Sarah Pflüger öffnete in einem sehr figurbetonten Sportdress. »Guten Morgen, Frau Pflüger. Wie geht es Ihnen?« »Es geht mir schlecht. Kommen Sie ins Haus.« »Gerne.« »Wie lange haben Sie heute für mich Zeit?« »So lange Sie mich brauchen. Ich habe mein Studium für ein Jahr an den Nagel gehängt. Gestern habe ich das alles noch schnell über die Bühne bringen können. Ich brauche Abstand von der Medizin …« »Gut, Sie können mir etwas später mehr davon erzählen.« Sarah Pflüger war ihm ins Wort gefallen. »Ich werde Ihnen nun noch ein paar Grundanweisungen geben. Unter vier Augen. Mündlich. Als Zusatz zu dem, was wir ja schon schriftlich vereinbart und mit dem Sie sich einverstanden gezeigt haben. Oder hat sich etwas geändert?« Sie sah ihn forsch an. Und wieder konnte er in ihrem Gesicht lesen. Hinter dem forschen verbarg sich nämlich ein banger Blick. »Alles bleibt so, wie es ausgemacht ist. Bloß, dass ich noch viel mehr Zeit für Sie zur Verfügung habe, wenn Sie das wollen.« Er zuckte mit den Achseln. »Also? Was gibt es für mündliche Zusatzklauseln?« »Kommen Sie. Ich habe uns ein Frühstück vorbereitet. Sie möchten doch bestimmt etwas essen, oder?« Wieder trat ein banger Blick in ihr Gesicht. »Ich habe tatsächlich Hunger. Und gegen eine Tasse Kaffee habe ich nie etwas einzuwenden.« »Gut. Setzen Sie sich, nehmen Sie, was Sie wollen, blättern Sie in den Zeitungen, die Sie auf dem Tisch finden werden. Entscheiden Sie darüber, was Sie mir vorlesen wollen.« 14


Am Frühstückstisch angekommen, drückte sie Heinrich in einen Sessel. »Sehen Sie, so werden wir das oft halten.« Schnell deutete sie auf ihre Sportkleidung. »Ich springe nur noch schnell unter die Dusche und komme dann zu Ihnen.« Schon war sie verschwunden. Heinrich suchte erst vergeblich nach einem Kaffee, fand aber bald eine Espressomaschine, sehr ähnlich jener, die er selbst besaß, auf einer Kommode, in der auch ein kleiner Kühlschrank untergebracht war. Neugierig blickte er hinein. Milch, Butter und Champagner. »Eine gute Kombination«, entfuhr es ihm. Bedächtig nahm er sich die Tageszeitungen zur Hand, die sorgsam aufgestapelt neben seinem Teller lagen. Schnell blätterte er sie durch. Eine Hochwasserkatastrophe stellte alles andere an Meldungen in den Schatten. Aber da war nichts zu erfahren, was nicht auch schon im Fernsehen zu sehen gewesen war. So ließ er die Katastrophe fürs Erste außer Acht und konzentrierte sich auf anderes. Bald hatte er einen Plan, was er vorzulesen gedachte. Zufrieden legte er die Blätter beiseite, schnitt sich ein Stück vom Camembert ab, der beinahe vom Messer floss, und starrte ungläubig auf Sarah Pflüger, die in den Raum getreten war. »Was starren Sie mich so an? Noch nie eine Frau gesehen?« »Der Seidenumhang zeigt mehr, als er verhüllt.« Heinrich schluckte. »Das mag sein, ich liebe ihn aber, und ich fühle mich in ihm pudelwohl. Sie werden sich an meine legere Kleidung gewöhnen müssen, die ich trage, wenn ich alleine zu Hause bin.« »Aber ich bin doch hier!«, warf Heinrich ein. »Sie zählen nicht. Sie lesen vor.« Sie legte den Kopf zur Seite. »Ist das ein Problem für Sie? Hm? Wäre es vielleicht doch besser gewesen, hätte ich einer Vorleserin zugesagt?« Plötzlich spitzte sie die Lippen, und Heinrich meinte, eine kleine Verzagtheit in ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen. »Ja, vielleicht war es dumm, Sie zu nehmen.« »Ich lese Ihnen auch vor, wenn Sie nackt sind.« Heinrich bemühte sich um einen milden, leicht scherzhaften Ton. »Natürlich werden Sie mir auch vorlesen, wenn ich nackt bin. In der Badewanne zum Beispiel. Wird das möglich sein?« »Meinen Sie das ernst?« »Ja.« »Also gut …« Heinrich schien zu überlegen. »Gut, ich werde Ihnen 15


in allen Lebenslagen vorlesen. Abgesehen von der Toilette.« Er verstummte. »Einverstanden.« »Und wenn Sie mit jemandem Geschlechtsverkehr haben, auch nicht …« »Wäre das so schlimm für Sie?« »Diese Frage ist jetzt aber wirklich nicht ernst gemeint.« »Doch.« Heinrich sah Sarah Pflüger erstaunt in die Augen und erkannte, dass sie die Frage tatsächlich ernst gemeint hatte. »Wie … soll das gehen? Sie werden doch niemanden dabeihaben wollen, wenn Sie jemanden lieben … äh … mit Männern ins Bett gehen … wie soll ich sagen …« Heinrich war die Vorstellung mit einem Mal sehr peinlich. Denn sie erregte ihn. Erregte ihn auf eine nach seinem Empfinden ungebührliche Art. Und die Frau vor ihm war sehr attraktiv, überaus attraktiv, wie ihm nun bewusst wurde. Sarah Pflüger sagte nicht gleich etwas und lächelte sanft. »Ja, mit Männern ins Bett gehen, so haben Sie das eben ausgedrückt. Glauben Sie, dass ich das mache?« »Ich habe mir noch keine Gedanken über Ihr Sexualleben gemacht.« »Noch nicht? Hatten Sie es vor?« »Ich arbeite keinen Plan an Ihnen ab, Frau Pflüger. Doch ich bin sicher, dass Sie ein Sexualleben haben. Immerhin sind Sie eine attraktive, blühende Frau.« Das war Heinrich nun so herausgerutscht. Sarah sah Heinrich jetzt mit aufgerissenen Augen an. Staunen konnte Heinrich in ihnen lesen. »Es bleiben jedenfalls viele Gelegenheiten übrig, in denen Sie mir vorlesen können.« Sie lächelte verschmitzt. »Vermutlich.« Heinrichs Mundwinkel zuckte, und ein kurzes Lachen entfuhr ihm. Sarah Pflüger beugte sich nun weit zu ihm vor. Der Seidenumhang sprang ein wenig auf, und er konnte mehr als nur den Ansatz ihrer Brüste sehen. »Ich sage Ihnen nun noch die wesentlichen weiteren Punkte: Sie werden hier keine Fragen stellen, Sie werden keine meiner Handlungen und Taten kommentieren, infrage stellen oder hinterfragen, Sie werden nichts, was Sie hier sehen oder hören, nach außen

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tragen. Und Sie werden außer dem Vorlesen keiner anderen Tätigkeit in diesem Haus nachgehen. Ist das klar?« »Nicht einmal einen frischen Kaffee soll ich Ihnen bringen?« »Nein«, sie stand auf, nahm ihre leere Tasse, »den Kaffee bereite ich mir auch selbst zu.« »Wie Sie meinen.« »Und Sie sollen hier niemals Ihre eigene Meinung kundtun.« »Okay! Ich bin die Lesemaschine. Warum lesen Sie eigentlich nicht selbst? Sie sind ja nicht blind.« »Sie sind nicht die Lesemaschine. Sie haben ja auch die Aufgabe, auszusuchen, was Sie mir vorlesen …« Sie sah Heinrich mit einem milden Lächeln an. »Und was sind das für Fragen, Herr Wüstenstein? Haben wir nicht eben besprochen, dass Sie keine Fragen stellen werden?« »Sagen Sie Heinrich zu mir.« »Das werde ich. Und ich werde Sie duzen, Sie werden hingegen beim Sie bleiben. Hast du ein Problem damit, Heinrich?« Heinrich zuckte belustigt mit den Achseln. »Sie sind die Chefin, Sie geben die Regeln vor.« »Gut. Und nun nur kurz zu deiner Information, damit die Neugier nicht ins Unendliche wächst: ich konnte natürlich lesen, kann es nun aber nicht mehr. Und schreiben kann ich nur mehr eher schlecht als recht, denn dazu muss man schon wieder lesen können. Nach einer Kopfverletzung sind mir diese Störungen geblieben. Und es ist nicht wahrscheinlich, dass sie irgendwann verschwinden werden, wenngleich ich es nicht wahrhaben will. Alles klar?« »Sie können nicht lesen und nicht schreiben, können aber alles gut erkennen. Daher lässt sich der Alltag auch bewältigen, weil Sie ja alles erkennen, was nicht mit Schrift zusammenhängt. Das nennt man eine …« Er dachte kurz nach. »Wissen Sie, das müsste ich eigentlich wissen, es fällt mir aber im Augenblick nicht ein. Tja, ich hab so meine Probleme mit der Medizin, das wissen Sie ja.« »Die werden sicher wieder verschwinden.« Sie griff nach den Zeitungen. »Lesen Sie nun … lies nun vor!« Heinrich las über eine Stunde lang aus den Zeitungen vor. Aus dem einen Blatt weniger als aus dem anderen, aus dem dritten mehr als aus dem vierten. 17


»Gut, das reicht jetzt«, meinte Sarah, nahm die Zeitungen zu sich und blätterte sie schnell durch. »Warum hast du mir nichts von der Überschwemmungskatastrophe vorgelesen?« »Weil Sie da ohnehin alles aus Radio und Fernsehen wissen. Und hier steht nichts Neues.« »Gute Entscheidung.« »Danke.« Sarah Pflüger lächelte Heinrich nun breit an. Schnell schloss sie ihren locker sitzenden Umhang vor ihrer Brust. »Gut hast du das gemacht. Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass ich die richtige Entscheidung gefällt habe. Der wahre Grund, dich zu nehmen, war ja, dass du so eine natürlich schöne Stimme hast. Deiner Stimme kann man stundenlang zuhören. Wusstest du das?« »Das hat mir noch nie jemand gesagt.« »Dann wird es Zeit dafür.«

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drei

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omm herein, Heinrich, die Tür ist offen, nur angelehnt.« »Ah ja.« Heinrich hatte es nicht bemerkt, und so hatte Stefanie, das lebende Tattoo, wie Heinrich die beste Freundin von Alice nannte, ihm einfach von der Küche aus zugerufen. Heinrich mochte Stefanie, ihre Wohnung allerdings nicht. Und wenn Alice nicht so gedrängt hätte, dass er sie von Stefanie abholen kommen sollte, wäre er auch nicht hingefahren. Diese Bleibe war genau das Gegenteil von dem Haus, in dem Sarah Pflüger wohnte: schlecht eingerichtet, unangenehm, geschmacklos in allen Belangen. Stefanie schien das selbst aber überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie war kaum aus ihren vier Wänden zu locken, studierte fleißig und ließ sich regelmäßig ein neues Tattoo stechen. Wunderschöne Tattoos über und über. Heinrich war ganz fasziniert davon. Wahre Kunstwerke, die im Gegensatz zu vielen anderen Tattoos, die man sich mittlerweile in der Öffentlichkeit mehr ungewollt als gewollt ansehen musste, auch keine »widerlichen Motive« beinhalteten. Widerliche Motive waren für Heinrich die vielen Schlangen, Spinnen, Totenköpfe und so weiter, die aus unerfindlichen Gründen durchaus auch von biederen Hausfrauen und brummigen Beamten zur Schau getragen wurden. Sosehr er jedoch die Kunstwerke auf beziehungsweise in der Haut der vierundzwanzigjährigen Frau bewunderte, so sehr bemitleidete er sie, wenn er daran dachte, dass sie diese auch in den weiteren vierundzwanzig Jahren, also mit achtundvierzig, und auch später einmal mit siebzig oder achtzig mit sich herumtragen musste. Kaum hatte er seine Schuhe in der Garderobe ausgezogen, kam Stefanie auch schon mit Elan auf ihn zugelaufen, umarmte ihn überschwänglich und küsste ihn auf den Mund. Das tat sie erst seit einigen Wochen. Genauer gesagt, seit sie bemerkt hatte, dass es in der Beziehung zwischen Heinrich und ihrer Freundin Alice nicht mehr so gut

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lief. Und das war nicht mehr zu übersehen. Einer der Hauptgründe: der Vorlesejob. »Guten Abend, lieber Vorleser! Gratulation, Heinrich. Na, noch bei Stimme?« »Hallo, liebe Steffi, ja, die Stimme ist noch da.« »Wie war’s?« Stefanie sah ihn mit großen Augen neugierig an. »Hallo Schatz!« Alice war nun auch aus dem Wohnzimmer erschienen. Heinrich küsste sie flüchtig. »Es war seltsam, aber nicht schlecht. Und ich war fünf Stunden bei Frau Pflüger. Das bedeutet einhundertfünfzig Euro. Toll, was?« »Für jemanden, der immer eine leere Tasche hat, so wie du, ist es tatsächlich nicht schlecht!« Stefanie lachte laut auf, trat auf ihn zu und küsste ihn noch einmal demonstrativ vor Alice auf den Mund. »Willst du Heinrich aufessen?« Alice klang ein wenig gelangweilt. Hatte sie der erste Kuss dieser Art noch schockiert, hatte sie sich seither schnell daran gewöhnt. »Ich küsse ihn bloß, weil er lieb ist.« Sie lächelte Heinrich freundlich an. »Den Hunger sollten wir aber auch stillen.« Schon stürmte sie in die Küche, aus der es wunderbar duftete. »Ich dachte, ich sollte dich nur abholen. Ich bin müde und möchte nach Hause. Jetzt hat Stefanie auch noch gekocht …« »Du musst ja nichts essen …« »Aber ich muss warten, bis du fertig bist.« Er seufzte. »Na ja …« »Sei doch nicht so! Wir sind neugierig auf das, was du zu berichten hast.« »Ich habe nichts zu berichten. Oder soll ich euch von den Zeitungsartikeln erzählen, die ich vorgelesen habe?« »Nat…« »Zu Tisch, Ihr Lieben!« Stefanies Ruf brachte Alice zum Schweigen. Durch Stefanies Kochkünste gelangte Heinrich bald in eine gute Stimmungslage. Und der gute Rotwein ließ ihre Wohnung auch nicht mehr hässlich erscheinen. Alice hatte schnell festgestellt, dass sie für die Fahrt nach Hause am Steuer des Autos würde sitzen müssen. So schenkte sie Heinrich immer noch ein wenig nach, denn vielleicht könnte sich so seine Zunge doch lösen lassen. Doch er ließ sich nichts 20


entlocken. Das Einzige, was er schilderte, war der grobe Tagesablauf. Und dass Frau Pflüger aufgrund einer früheren Kopfverletzung nicht mehr lesen konnte. Sonst nichts. Er hatte auch nichts zu sagen. Dass sie geschieden war, war ohnehin bekannt, dass sie in drei Wochen zweiunddreißig wurde und damit etwa genau acht Jahre älter war als er, erachtete er nicht als erzählenswert. Sarah Pflüger hatte ihn gebeten, ihr beim Einordnen von Dokumenten zu helfen. So hatte er ihre Scheidungsurkunde in die Hand bekommen und dabei ihren vollen Namen, Sarah Friederike Pflüger-Mendritz, und ihr Geburtsdatum gesehen. Dass sie eigentlich sehr hübsch, um nicht zu sagen schön war, obgleich ja schon recht alt, hielt er auch nicht für so wichtig, um es hier auszubreiten. Vom Seidennegligé und dem dadurch hervorgerufenen kurzen Disput sagte er nichts, und auch nichts von dem schönen Kleid, das sie dann für den Rest des Tages getragen hatte. Aber mit jedem Glas Wein, das er trank, wurde ihm mehr bewusst, dass er der Vorleser einer wunderbaren Frau voller Erotik war. Einer Frau, die vor Weiblichkeit und Wärme strotzte und in die er sich im Augenblick mit jedem Schluck Wein mehr verliebte. Er war im Strudel der Gefühle gelandet und wusste, dass er ertrinken würde. Wehrlos ertrinken musste. »Prost!«, rief er laut. »Auf die hoffnungslose Liebe!«, lallte er noch leise nach.

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