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Maria Magdalena Leonhard

Der Fall Fanny von Ickstatt Eine MĂźnchner TragĂśdie im 18. Jahrhundert


Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Oktober 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 Buch&media GmbH, München Herstellung: Kay Fretwurst, Freienbrink Umschlaggestaltung: Dietlind Pedarnig und Alexander Strathern, München Printed in Europe · isbn 978-3-86906-540-3


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Kapitel: Herkunft und Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

II. Kapitel: Ingolstadt und seine Universität . . . . . . . . . . 24

III. Kapitel: Fannys Kindheit in der Residenzstadt München . . . . . . . . . . . . . . . . 37

IV. Kapitel: Die Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

V. Kapitel: Illusion und Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

VI. Kapitel: Erste Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

VII. Kapitel: Die Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 VII. Kapitel: Die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 IX. Kapitel: Der verräterische Briefwechsel im Werk Nesselrodes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Anhang: Abbildungen und Texte Text 1: Ausschnitt aus dem Tagebucheintrag von Lorenz Westenrieder, 1785 . . . . . . . . . . 121

Text 2: Transkription und Übersetzung aus dem

»liber mortuorum«, dem Totenbuch der Frauenkirche München . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Text 3: Fanny von Ickstatt: Der letzte Graf von Dachau. Erzählung . . . . 141 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148



Vorwort Auf die Münchner Autorin Maria Magdalena Leonhard wurde ich zum ersten Mal aufmerksam, als mich im Jahr 2008 Prof. Dr. Dietz-Rüdiger Moser (1939–2010), der langjährige Lehrstuhlinhaber für bayerische Literatur- und Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber der von ihm im Jahr 1985 gegründeten Zeitschrift »Literatur in Bayern«, in den Redaktionsbeirat seiner Literaturzeitschrift berief. Die Autorin hat im Herausgeber einen unbedingten Förderer ihres schriftstellerischen Werkes gefunden, der ihr im Jahr 1999 sogar ein eigenes Sonderheft für ihre Prosatexte und ihre Lyrik gewidmet hatte,– eine Ehre, die zuvor nur 1994 Herbert Rosendorfer zum 60. Geburtstag und 1996 der Zeitschrift »Simplicissimus« zum hundertjährigen Jubiläum zuteilgeworden wan. Im Dezember 2008 veröffentlichte Maria Magdalena Leonhard in der Ausgabe Nr. 94 der »Literatur in Bayern« einen kleinen Beitrag über Fanny von Ickstatt unter der Überschrift »Freitod oder Unglücksfall?«. Sie griff damit erstmals wieder ein rätselhaftes Ereignis der Münchner Stadtgeschichte auf, das sich unter dem Datum 14. Januar 1785 unauslöschlich in die Chronik dieser Stadt eingeschrieben hat: den Sturz der jungen Adligen aus bester Familie vom Nordturm der Frauenkirche. Ob es sich dabei um einen tragischen Unfall oder Selbstmord gehandelt hat, blieb ungeklärt, und auch Maria Magdalena Leonhard konnte damals das Fragezeichen in der Überschrift ihres Beitrags nicht eindeutig auflösen. Für die nun vorliegende umfassende Dokumentation des »Falles Fanny von Ickstatt«, erweitert um interessante Ausführungen zu der einflussreichen bayerischen Gelehrtenfamilie Ickstatt und ihren Nepotismus an der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt, hat Maria Magdalena Leonhard im Stadtarchiv München weitere Forschungen betrieben. Dabei entdeckte sie ein bisher unbe7


kanntes Dokument eines Zeitzeugen, das belegt, dass es sich um Selbstmord, ja geplanten Selbstmord gehandelt hat. Der Fund stammt aus der schriftlichen Hinterlassenschaft des Studienlehrers, Historikers und »Alt-München«-Forschers Dr. Karl Trautmann (1857–1936), die bereits seit einigen Jahrzehnten im Stadtarchiv lagert. Zu diesem Nachlass gehört die eigenständige »Sammlung Trautmann«, eine reichhaltige Materialsammlung zur Geschichte Münchens und Altbayerns mit eingr Regallänge von dreizehneinhalbmMetern. Ein Großteil der Sammlung besteht im Abschnitt »Zur Münchener Ortsgeschichte (Personalien)« aus Notizen, Abschriften und Vermerken zu einigen bedeutenden Münchner Familien (alphabetisch von A bis Z), darunter – in Kasten 21 Nr. 9 – auch zur Familie Ickstatt. Dort fand sich von der Hand Trautmanns eine handschriftliche Kopie eines zeitgenössischen Augenzeugenberichts, der im Rückblick minutiös die Einzelheiten und Hintergründe des Sturzes vom Frauenturm schildert. Der Zeuge der Tragödie und Verfasser des Berichts (datiert:vom 19. August 1785) war der Dekan der Münchner Frauenkirche Dr. Josef Felix von Effner (1734–1803), ein Sohn des berühmten kurfürstlichen Baumeisters. Effner war der Besitzer des zu Füßen der Frauenkirche liegenden Benefiziatenhauses, dessen Dach Fanny von Ickstatt bei ihrem Sturz vom Turm durchbrach, und er war es auch, der die Sterbende vor seiner Eingangstüre fand. Wo Trautmann die heute unauffindbare originale Vorlage für seine Abschrift fand, ist leider nicht vermerkt. Tatsache aber ist, dass – wie bei zahlreichen anderen Notizen in der »Sammlung Trautmann« – diese Abschrift der einzige noch erhaltene Beleg für eine wichtige historische Quelle ist. Sie wird hier zum ersten Mal veröffentlicht und wirft ein neues Licht auf den »Fall Fanny von Ickstatt«.

Dr. Michael Stephan Leiter des Stadtarchivs München

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Das Menschenherz gegen die Welt. Als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier. Jakob Wassermann

Einführung Mit dem Namen »Ickstatt« verbindet sich die Erinnerung an den großen Bayern Johann Adam Freiherr von Ickstatt (1702– 1776), den Aufklärer, Rechtsgelehrten und Staatsrechtler, dem in München eine Straße gewidmet ist. Im Klang dieses Namens ist jedoch auch die Erinnerung an ein dramatisches Ereignis von Liebesleid und Liebestod bewahrt, das die Überlieferung zu Unrecht im Dunstkreis von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) ansiedelt. Es ist die Geschichte der Fanny von Ickstatt, einer Großnichte von Johann Adam von Ickstatt, die im Januar 1785 vom Nordturm der Münchner Frauenkirche in den Tod stürzte. Ihre Gestalt gehört zu Münchens Geschichte und nimmt einen Platz ein unter den ungeklärten Schicksalen dieser Stadt. Die Tragödie sorgte damals weit über Bayerns Grenzen hinaus für ungeheures und lang andauerndes Aufsehen. Dass ein junges, schönes, adeliges Fräulein aus unerfüllter Liebe den Tod gesucht hatte, erregte die Gemüter, dass aber die angesehene Familie keinen Aufwand scheute, den Selbstmord der Tochter als tragischen Unfall darzustellen, um den Makel des Freitodes – und vielleicht noch mehr – aus ihrem Namen zu tilgen, forderte Widerspruch und Anklage heraus und versah den Fall mit einem bleibenden Fragezeichen. Bei meinen Nachforschungen zu Herkunft und Schicksal der Fanny von Ickstatt stieß ich auf das Dokument eines Zeitzeugen, der die Familie kannte und die Sterbende am Unglücksort gesehen hat. Seine Schilderung und sein Hintergrundwissen liefern nicht nur gänzlich neue Aspekte des Falles, sie belasten auch die Familie und erweisen den Sturz vom Frauenturm zweifelsfrei als 9


geplanten Selbstmord. Dieses Zeugnis wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Fanny von Ickstatt lebte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, einer Epoche, in der tiefe Umwälzungen das Leben der Menschen in ganz Europa veränderten. Es ist die Zeit, als der Rahmen vielhundertjähriger Traditionen und fest gefügter Verhältnisse endgültig aufbricht: Im Jahre 1773 wird der Jesuitenorden von Papst Clemens XIV. aufgehoben. Der bayerische Kurfürst Max III. Joseph von Bayern (1727–1777), der mit seinem Lehrer und Berater Johann Adam von Ickstatt die Aufklärung gefördert hatte, stirbt viel zu früh. Ihm folgt der Pfälzer Carl Theodor (1724–1799), der zu Bayern und seinen Untertanen keinen Zugang findet und unter dessen Regierung die Errungenschaften der Aufklärung einen bitteren Rückschlag erleiden. Die Residenzstadt München sprengt ihren mittelalterlichen Mauerring, die revolutionären Bewegungen in Frankreich werfen ihre beunruhigenden Schatten voraus. Im Jahre 1785 verbietet Carl Theodor den Illuminatenorden, von dem er seinen Thron bedroht glaubt, eifrig unterstützt von den im Untergrund wiedererstarkten Jesuiten. Die Verfolgung der Illuminaten und ihrer Ideen und damit die Bedrohung aller schon erkämpften Erfolge der Aufklärung schafften in Bayern eine Atmosphäre der Bedrückung und Bespitzelung, die das Leben der Untertanen vergiftet. Diese spannungsgeladenen Jahre umschließen die kurze Existenz der Fanny von Ickstatt, die 1772 als Fünfjährige mit der früh verwitweten Mutter aus Ingolstadt nach München kommt. Mehr als 200 Jahre sind seit ihrem Tod vergangen, dennoch liegen die Hintergründe ihres Freitodes immer noch im Dunkeln: Weder gelangten die polizeilichen Ermittlungsakten des Falles je an die Öffentlichkeit, noch sind die Protokolle der gerichtlichen Verhöre, denen Angehörige und Zeugen damals unterzogen wurden, auffindbar. Auch die schon anberaumte Verhandlung, die die Umstände des Todessturzes erhellen sollte, wurde kurz vor der Eröffnung ohne Angabe von Gründen abgesetzt. Entweder wurden die Akten unterdrückt oder sogar vernichtet. Diese Vermutung wird bestärkt durch die Tatsache, dass Fannys Stiefvater, Gallus Bauer von Heppenstein, in seiner Eigenschaft 10


als Landesdirektionsrat damals für die Obere Landesregierung zuständig war, an die der Fall verwiesen wurde. Er war außerdem Hofrat und so waren ihm bei der Behandlung des Falles nicht die Hände gebunden, denn seit 1779 unterstand dem Hofrat der gerichtliche Teil von Innerer Verwaltung und Polizei. Auch spielte Gallus Bauer von Heppenstein in der Tragödie seiner Stieftochter eine unrühmliche und zwiespältige Rolle, wie seine wörtlich überlieferte bestürzende Reaktion an ihrer Leiche beweist. Alles Aufsehen sollte vermieden werden und offensichtlich wurde jede Berichterstattung unterbunden, da die zahlreichen Münchner Blätter – im Gegensatz zu allen anderen Zeitungen – den Todessturz der jungen Adeligen, der wochenlang die Residenzstadt in Atem hielt, mit keinem Wort erwähnten. Erst Tage später erschien lediglich in der Rubrik der wöchentlichen Geburts- und Sterbefälle pflichtgemäß die Zeile: »Gestorben und begraben die Titularin Maria Franzisca von Ickstatt, 17 Jahr alt.« Dieses zielbewusste Eingreifen der einflussreichen Familie hat bewirkt, dass die Stimmen, die von Selbstmord sprachen – und das war die allgemeine Überzeugung –, sich nicht länger hören lassen konnten. Damit waren alle Überlieferungen, mündliche wie schriftliche, die von Freitod sprachen, ins Abseits gedrängt und von Vergessen oder sogar Vernichtung bedroht. Dessen ungeachtet hat sich bis heute die ursprüngliche Meinung behauptet, dass Fannys Tod ein geplanter Freitod aus Verzweiflung gewesen ist. Dass diese Ansicht überleben konnte, ist besonders den Lücken und Widersprüchen im umfangreichen Verteidigungsgespinst der Familie zu verdanken, die bei der Bemühung, Tatsachen umzudeuten und Aussagen zu unterdrücken, notwendig entstehen mussten. Erhalten hat sich nur, was erhalten bleiben sollte: die von der Familie zu ihrer Verteidigung publizierte und von namhaften Literaten verfasste Rechtfertigungsschrift, die den Sturz als Unfall darstellt, und die Unterlagen des Prozesses, den sie gegen einen Autor anstrengte, der Fannys Tod einen Freitod aus Verzweiflung als Folge häuslicher Bedrohung genannt hatte. Auch der persönliche Nachlass Fannys, von dem die Korrespondenz mit ihrem Geliebten, Franz von Vincenti, Teil ist, blieb – bis auf ihr schmales literarisches Werk – unveröffentlicht. Durch ei11


nen rätselhaften Glücksfall jedoch haben drei ihrer Briefe, zwei an ihren Geliebten und einer an ihre Schwester Magdalena, in einer Sammlung der Biografien von Selbstmördern überlebt. Nach einem heftigen Schlagabtausch zwischen den Angehörigen und einer Flut von anklagenden Stimmen, die die Familie in einem fast zweijährigen Gerichtsverfahren vergeblich zum Schweigen bringen wollte, versank der »Fall Fanny von Ickstatt« für 100 Jahre in der erwünschten Vergessenheit. Erst Georg Laubmann, der damalige Direktor der Münchner Hof- und Staatsbibliothek, veröffentlichte zum 100. Jahrestag in den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1885 einen Artikel, der die Erinnerung wiederbelebte und Anregung zu weiterer Beschäftigung bot. Doch auch in diesem Aufsatz wurden nicht die brisanten Notizen des Stiftspfarrers Scherer im Totenbuch der Frauenkirche von 1785 erwähnt, die klar von Selbstmord sprachen, obwohl der Münchner Historiker Karl Trautmann diese damals schon für sich entdeckt hatte. Auf diese Eintragungen machte erst ein Aufsatz von Max Koch im Jahre 1888 aufmerksam. Ebenso tragen alle weiteren Veröffentlichungen, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg mit dem Fall Ickstatt befassten – auch die von seriösen Autoren – einen merkwürdigen Schweigestempel. Keine dieser Publikationen nennt die Quellen für ihre Angaben. Offensichtlich erhielten diese Autoren zwar Einblick in private, unveröffentlichte Dokumente – wie hätten sie sonst beispielsweise von Fannys »energischen Schriftzügen« sprechen können –, durften jedoch nur unverfängliche Informationen verwenden. Wie es scheint, konnten sie nur unter Schweigeverpflichtung publizieren. Die letzte Trägerin des Namens Ickstatt starb 1945. Danach wurde nichts mehr von Bedeutung über den Fall Ickstatt veröffentlicht. Mein Anliegen ist es, Fanny von Ickstatt wieder so erscheinen zu lassen, wie sie vor 230 Jahren in München bekannt war: keine liebeskranke Törin, die aus dem Leben flüchtete, sondern ein energisches, hochbegabtes Mädchen, das dichtete und forschte, komponierte, Klavier spielte und sang, das durch Witz und Schlagfertigkeit bezauberte, aber auch verstörte durch Anfälle 12


von Heftigkeit und plötzlicher Melancholie. Was die Münchner noch heute »gspinnert« nennen, das zeichnete auch Fanny aus. Wer sich mit ihrem kurzen Leben beschäftigt, erkennt eine früh vollendete Persönlichkeit, die sich zwar den Forderungen einer standesbewussten Familie versagte, aber keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sah, um aus einem Netz von Druck und Dünkel auszubrechen. Zum Schluss noch eine Anmerkung zu Fannys Mutter, Franzisca von Heppenstein. Diese außergewöhnliche Frau ist das Zentrum, das »Gehirn«, der von der Familie betriebenen »Rechtfertigungspropaganda«. Sie war eine in der Residenzstadt damals berühmte und sehr hofierte Erscheinung. In meiner Arbeit nimmt sie eine zentrale Stellung ein, denn nicht nur ist das Leben der Mutter weit besser dokumentiert als das der Tochter – für beides hat Franzisca ganz bewusst Sorge getragen –, die Mutter besaß und beanspruchte auch die zentrale Rolle in Fannys Leben. Dass sie, entgegen warnender Schicksalszeichen, auf diesem Anspruch bestand, gibt ihr eine Mitschuld, vielleicht sogar die eigentliche Schuld an der Tragödie der Fanny von Ickstatt. München, September 2013

Maria Magdalena Leonhard

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I. Kapitel Herkunft und Prägung Bayern ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch immer von den Erschütterungen durch den Dreißigjährigen Krieg, der Reformation und dem Erbfolgestreit gezeichnet: Verbreitete Armut, brachliegende Felder, Heerscharen von herumziehenden Bettlern, Mangel an Arbeits- und Lehrkräften sind die Folgen. An Geistlichen, Mönchen, Nonnen und armen Studenten jedoch mangelt es nicht. Bettelstudenten und Pfarrkandidaten treiben sich haufenweise wie Vagabunden umher. Doch viele von ihnen kommen nirgendwo unter. Die Zeitgenossen klagen, dass sie von einem Pfleggericht ins andere ziehen, mit zerrissenen Kleidern und schmutzstarrend, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. In diesem schwergeprüften Land folgt im Jahre 1745 der 21-jährige Kurfürst Max III. Joseph seinem Vater, dem glücklosen Kaiser Karl VII., auf den Thron. An den Universitäten hat weder die Zahl noch das Niveau der Studenten den Stand vor dem Dreißigjährigen Krieg wieder erreicht und die Verrohung durch die langen kriegerischen Auseinandersetzungen hat sich auch auf die Sitten der Studenten ausgewirkt. Dazu kommt, dass die Erziehung der Kinder und Jugendlichen seit nahezu zwei Jahrhunderten fast gänzlich in den Händen der Jesuiten liegt. Sie ist höchst einseitig, den realen Bedürfnissen nicht angepasst und darauf bedacht, jede freiere Geistesströmung im Keim zu ersticken. Bayern ist gegen den Einfluss des protestantischen Deutschland, in dem die Ideen der Aufklärung schon Fuß gefasst haben, quasi abgesperrt. Jedoch nimmt auch in Bayern die Auflehnung gegen Priesterherrschaft und Mönchswahn zu. Gegen den Widerstand der Jesuiten gründet Max III. Joseph 1759 in München die Akademie der Wissenschaften. Dort finden die Vorkämpfer der katholischen Aufklärung einen Vereinigungspunkt, von hier gehen Anregung 15


und Ermutigung aus: Als Basis einer Befreiung des geistigen Lebens wird eine Reform des Unterrichtswesens gefordert und die Stimmen bündeln sich, die Scheinheiligkeit, Borniertheit und Intoleranz der Geistlichkeit geißeln. Im 16. Jahrhundert hatte bereits in seinen Anfängen ein Volksschulsystem bestanden, das aber von den Jesuiten mit Erfolg untergraben worden war. Nun wagten sich insbesondere zwei bedeutende Vertreter der katholischen Aufklärung, Heinrich Braun und Johann Adam von Ickstatt, an die Neubegründung des Volksschulwesens und ebenso an die Reform des Gymnasialunterrichts. Ickstatt erarbeitete ein Konzept, das insbesondere den Kindern des einfachen Volkes und der Landjugend eine säkulare, das heißt eine den Anforderungen des täglichen Lebens entsprechende Ausbildung ermöglichen sollte. Jedoch blieb die »Gesellschaft Jesu« an den Schulen und an der Universität, wo sie zahlreiche Lehrstühle besetzte, ein erbitterter und gefährlicher Gegner der Reformer und ihrer Arbeit. Das ist die Situation in Bayern, als an die »in so merklichen Verfall und Abnahme geratene Universität« zu Ingolstadt im Herbst 1746 der 44-jährige Johann Adam von Ickstatt als Direktor und Professor für Natur-, Völker-, Kameral- und Staatsrecht aus Würzburg berufen wird. Der Kurfürst wählt seinen ehemaligen Lehrer als die geeignete Persönlichkeit »zur besseren Einrichtung und zu Flor und Ansehen« der ehrwürdigen, damals schon 270 Jahre alten »Hohen Schul«. Längst ist er als Aufklärer, Rechtsgelehrter und Staatsrechtler berühmt. Er hat schon Kurfürst Karl Albrecht, den späteren Kaiser Karl VII., im Jahre 1742 zur Krönung nach Frankfurt begleitet, bei dessen Einzug sich insbesondere die Damenwelt drängte, um den schönen Monarchen mit den traurigen Augen zu sehen.1 Ickstatt, der aus einfachen Verhältnissen stammte, war schon in seiner Jugend als Autodidakt weit herumgekommen. Sogar beim

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Unter diesen war an jenem frühen Februarmorgen auch die zwölfjährige Elisabeth Textor, die spätere Mutter Goethes. Beim hastigen Aufspringen vom Bett, um nur ja den vorbeireitenden Kaiser nicht zu verpassen, ritzte sie sich den Fuß an einem hervorstehenden Nagel. Dabei zog sie sich die Wunde zu, an der sie als alte Frau sterben sollte.


großen Newton in London soll er Unterricht genossen haben, allerdings nur durch dessen zugezogene Bettvorhänge hindurch. Ickstatt war auch Lehrer und Erzieher des Kurprinzen, des späteren Kurfürsten Max III. Joseph von Bayern, gewesen, nachdem dieser sich seines ersten Erziehers und Beichtvaters, des Jesuiten Daniel Stadler, in einem Rundumschlag entledigt hatte. Über die Gründe berichtet nicht ohne Genugtuung ein Zeitgenosse: »Stadler benützte jeden Anlaß, um in Maxens Seele, welcher den erhabenen Beruf in sich fühlte, für das Glück seines Volkes thätig zu sein, förmliche Ordensgrundsätze zu prägen. Grundsätze, von der andächtelnden Dummheit erdacht und der heuchlerischen Bosheit zum Verderben der Staaten ausgeführt.« Deshalb »mußte Stadler plötzlich die bayrischen Lande säubern, ein billiges Opfer seiner eigenen Kabale. Man mag aus dem schnellen Entschlusse Maxens, der seinem ersten Erzieher, seinem Beichtvater, nicht eine einzige Nacht mehr in seinen Staaten vergönnte, auf Kühnheit und Größe der Stadlerschen Anmassungen schließen.« (Rothammer 1785) Der junge Kurfürst bildete nun, zusammen mit seinem ehemaligen Lehrer, ein entschlossenes Zweigespann, das der Aufklärung in Bayern zum Durchbruch verhelfen sollte. Was Ickstatt an der Universität in Ingolstadt antraf, konnte ihm kaum gefallen: Die rohen Sitten der Studenten und ihre barbarischen Bräuche, auch ihre bekannt schlechte Disziplin und geringe Begeisterung für das Studium schadeten seit Langem dem Ruf und der Frequenz der Hochschule. Der alte Brauch der »Disposition«, eine brutale, zudem kostenträchtige Aufnahmezeremonie für Neuimmatrikulierte, die schon Tote gefordert hatte, war zwar bereits Ende 1746 durch kurfürstliche Verordnung verboten worden, hielt sich aber dennoch hartnäckig. Der neue Direktor führte sich ein, indem er sogleich alle Bemühungen um die Aufhebung dieses Verbotes vereitelte. Außerdem annullierte er ohne Weiteres einen Teil der zahlreichen »Vakanztage«. Man kann sich denken, dass er sich schon allein damit die tiefe Abneigung eines Teiles der Studentenschaft zuzog. Geradezu bedrohlich wurde es aber, als er zu Beginn des folgenden Studienjahres den Studenten untersagte, sich nach 22 Uhr noch in den 17


Wirtshäusern aufzuhalten. Ungehorsame wurden sofort durch Militärpatrouillen verhaftet. Durch diese Anweisung entfesselte der Direktor einen förmlichen Aufstand: Die Fenster seines prächtigen, eben fertig renovierten Hauses wurden ihm eingeworfen und Spott- und Schmähschriften gegen ihn in der Stadt verteilt. Auf kurfürstlichen Befehl verbrannte der Scharfrichter ein solches »Pasquill« zwar öffentlich, dennoch konnten die Täter nicht einmal von einer kurfürstlichen Kommission festgestellt werden. Den Höhepunkt erreichten diese Ausfälle, als wenig später am Galgen bei der Hauptwache ein weißes Blechschild auftauchte mit der Aufschrift: »Ickstatt Erzschelm«. Sogar diesmal blieben die Täter unerkannt, was auf die Rückendeckung schließen lässt, die sie genossen haben. Zugleich wird deutlich, was die Zeitgenossen meinten, wenn sie sagten, dass man vor Ickstatts Zeiten an dieser Universität das Wort »Disziplin« nicht aussprechen hätte dürfen, ohne geprügelt zu werden. Aber der neue Direktor zeigte sich unbeeindruckt und überlegen, obwohl kaum geringere Widerstände sich ihm auch noch vonseiten der Weltgeistlichen und der Jesuiten in den Weg stellten. Die Theologische Fakultät fungierte nämlich auch als Zensurbehörde für alle Bücher, die nach Ingolstadt gelangten, nicht nur für Lehrbücher, sondern sogar für die private Lektüre der Professoren. Dazu forderte sie noch vom Kurfürsten einen Erlass, dass nur noch katholische, das heißt von katholischen Autoren verfasste und von der Theologischen Fakultät vorzensierte juristische Lehrbücher Verwendung finden sollten. Da setzte Ickstatt sein Veto ein. Er wandte sich an den Kurfürsten: Wenn die Lehrfreiheit an katholischen Universitäten fehle und es verboten sei, »anderst als mönchisch zu gedenken«, so würde die Universität Ingolstadt in »eine wahre Wüsteney« verwandelt werden und das führe zur Abwanderung der Studenten an protestantische Universitäten. Ganz besonders der adeligen Studenten, fügte er warnend hinzu. Außerdem habe er, Ickstatt, »das ganze vernünftig denkende catholische Teutschland« auf seiner Seite. Der Kurfürst möge dem »ärgerlichen Zettergeschrey« der Theologen ein für alle Mal ein Ende machen. 18


Dieser Zwist, bei dem sich die beiden Kräfte, die Reformpartei und die Jesuiten, zum ersten Mal deutlich in Stellung setzten, brachte nicht nur die Durchsetzung der katholischen Aufklärung in ernste Gefahr, sondern sogar das Leben ihrer Verfechter. Eine Passage aus einem Brief von Johann Georg von Lori, Ickstatts engagiertestem Mitstreiter, gibt eine Vorstellung davon, wie brisant die Lage war: »Das ius naturae und die protestantischen Bücher werden uns bald auf den Scheiterhaufen bringen.« (Kreh 1974) Die Theologische Fakultät hatte nämlich beim Kurfürsten feierliche Anklage gegen »die religionsfeindliche Tätigkeit« Ickstatts, Loris und seiner Anhänger erhoben und dafür gesorgt, dass diese als »Lutheraner« im ganzen Land verschrien waren. Aber Ickstatt richtete eine offene und mutige Klageschrift an seinen ehemaligen Lehrer. Darin beschwerte er sich unter anderem darüber, dass gegen ihn in der Pfarrkirche zu St. Moritz »auf der Kanzel solch gräßliches Lärmen erhoben [wurde], als ob die halbe Stadt schon an der Unsterblichkeit der menschlichen Seele zweifelte«. (Hofmann 1974) Mit dieser beißend anschaulichen Denkschrift gelang es ihm, beim Kurfürsten, der die Ränke und Umtriebe der Jesuiten am eigenen Leibe kennengelernt hatte, einen Erlass für die Zukunft der Reform durchzusetzen. Entscheidend war jedoch die Parteinahme des mächtigen Geheimen Ratskanzlers Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr (1705–1790), der persönlich die Verteidigung von Ickstatt und Lori bei Hofe geführt hatte. Von nun an war ausdrücklich die Verwendung protestantischer Lehrbücher für den juristischen Unterricht erlaubt und der Theologischen Fakultät als Zensurbehörde nahezu alle Eingriffsmöglichkeiten genommen, insbesondere was die Privatkäufe der Professoren betraf. Dies war vor allem ein Sieg für Ickstatt, der schon damals über eine eigene Bibliothek von mehr als 6000 Bänden verfügte und den neidischen Stimmen bezüglich seiner hohen Gehälter damit zu begegnen pflegte, dass man mit dem Geld doch Bücher kaufen könne. Er bezog nämlich aus seinen Einkünften als Direktor und Professor ein Vierfaches dessen, was damals ein juristischer Ordinarius im Jahr erhielt. An der Universität Ingolstadt war jetzt, zumindest äußerlich, 19


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