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Ethik im Internet: Ungewissheit, Diskriminierung und geschützte Räume
»Wir wissen, dass mit unseren Daten gehandelt wird«: Undatiertes Selfie in New York, USA.
Foto: Oscar Bjarnason/Cavan Images/laif
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Warum sind uns die privaten Daten überhaupt so wichtig? Die Medienwissenschaftlerin Petra Grimm spricht über Ungewissheit, Diskriminierung und geschützte Räume im Netz.
Wann hatten Sie zuletzt Angst vor
Eingriffen in Ihre Privatsphäre?
Ich würde nicht von Angst reden, sondern eher von Bedenken. Die habe ich häufig, wenn ich mich im Internet bewege. Wir sind dort permanent mit Situationen konfrontiert, in denen es um den Schutz persönlicher Daten geht. Wenn ich online etwas bestelle und Daten von mir preisgebe, weiß ich nicht, was damit passiert. Die Erfassung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten ist intransparent, das führt zu einem mulmigen Gefühl.
Es sind also weniger konkrete Bedenken als eine allgemeine Stimmung der Ungewissheit?
Wir wissen schon, dass mit unseren Daten gehandelt wird. Aber die konkreten Folgen können wir kaum abschätzen und haben deshalb ein ungutes Gefühl. Auch wenn wir von informierter Einwilligung sprechen, wissen wir, dass kaum jemand die AGB liest und man uninformiert vielen Dingen zustimmt. Weil es praktikabel ist, geben wir nach und machen ein Häkchen. Solange die Geschäftsmodelle im Internet darauf ausgelegt sind, Daten abzugreifen und zu kommerzialisieren, werden wir als Nutzer_innen auch nicht in der Lage sein, unsere Privatheit konsequent zu schützen.
Warum ist uns Menschen die Privatsphäre überhaupt so wichtig?
Die Privatsphäre hat eine wichtige Funktion für unsere Autonomie. Wenn wir eine Privatsphäre haben, können wir letztlich verhindern, von anderen manipuliert zu werden. Sie schützt uns davor, von anderen dominiert oder bloßgestellt zu werden. Nehmen wir das Beispiel Citizen Score in China [siehe Amnesty Journal 03/2019]. Während Bürger_innen überwacht werden, werden sie permanent kontrolliert. Die Menschen verfügen nicht mehr über die selbstbestimmte Fähigkeit, zu handeln. Sie werden mit Diskriminierung konfrontiert, wenn sie etwas tun, das nicht der Norm entspricht.
Das heißt, wir begeben uns automatisch in eine Abhängigkeit, wenn wir auf unsere Privatsphäre verzichten?
Wir sind manipulierbar, wenn zum Beispiel Persönlichkeitsprofile von uns erstellt werden, die auf psychologischen Eigenschaften basieren. Anbieter_innen nutzen die Profile, um uns zum Kauf zu motivieren – von Dingen, von denen wir vorher nicht wussten, dass wir sie überhaupt wollen. Die Privatsphäre trägt dazu bei, dass wir uns in einem geschützten Raum austauschen können. Dort sprechen wir über Dinge, die vielleicht nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind und die uns gefährden könnten.
Da wären wir wieder beim Schutz vor
Diskriminierung.
Richtig. Schauen Sie sich zum Beispiel die Online-Netzwerke an. Wenn Sie auf Facebook oder Instagram sind, sollen Sie dort Privates von sich preisgeben. Jugendliche beispielsweise werden dazu gebracht, Dinge preiszugeben, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. Das ist dem System immanent, anders würde es gar nicht funktionieren. Es kann aber auch zur Folge haben, dass andere sich über sie lustig machen, bösartige Kommentare schreiben oder Schlimmeres. Indem ich Dinge von mir preisgeben soll, mache ich mich verwundbar.
Wobei wir das in Online-Netzwerken freiwillig tun.
Diese Freiwilligkeit würde ich bezweifeln, weil die sogenannten sozialen Medien nach bestimmten Prinzipien funktionieren: Es geht um Wettbewerb und darum, sich mit anderen zu vergleichen.
Und unter welchen Umständen ist der unfreiwillige Eingriff in die Privatsphäre gerechtfertigt?
In den achtziger Jahren haben wir über das Thema gesprochen, als es darum ging, Gewalt im häuslichen oder familiären Bereich zu unterbinden. Es ist nicht mehr privat, wenn ich in der Ehe oder in der Familie Gewalt anwende. Die Frage ist, wo der private Bereich endet. Denken Sie auch an Kinderpornografie oder Missbrauch, da sind wir nicht mehr im privaten, sondern im strafrechtlichen Bereich.
Ist es also dann gerechtfertigt, wenn es um die Sicherheit anderer geht? Es geht nicht nur um Sicherheit. Ich würde sagen, es hat auch etwas mit Würde zu tun.
Eingriffe in die Privatsphäre können lebensbedrohlich sein, zum Beispiel für Menschenrechtsverteidiger_innen in repressiven Staaten. Dort dient die Privatsphäre der Sicherheit …
Ich muss mit der Privatsphäre auch Akteur_innen schützen, die sich in einem nicht demokratischen Staat politisch organisieren. Ob Eingriffe gerechtfertigt sind, hängt letztlich vom Zweck ab.
Wäre ein Internet denkbar, das ethischen Ansprüchen gerecht wird?
Ich habe immer wieder für ein alternatives Facebook plädiert: eine Internetplattform, die nicht aus finanziellen Gründen betrieben wird, sondern aus Gründen des Gemeinwohls.
Wie sähe solch ein Facebook in der besten aller möglichen Welten aus?
Es würde sicherstellen, dass ich Transparenz darüber habe, was mit meinen Daten passiert. Außerdem müsste es moderiert werden. Es dürfte dort keine Gruppen geben, die rechtsextreme Propaganda verbreiten. Vielmehr müsste eine demokratische, freiheitliche Kommunikationsstruktur vorherrschen. Der Austausch müsste ein echter Dialog sein und dürfte nicht aus Demütigungen und Verletzungen bestehen. Man könnte auch sagen: Facebook müsste zivilisiert werden.
Das klingt auch nach mehr Kontrolle – ein neues ethisches Dilemma?
Am besten wäre eine Art Selbstkontrolle.
Das heißt?
Dass Nutzer_innen schon ein gewisses Werteverständnis gegeben ist und man nicht gleich mit Aggressionen reagiert, wenn einem etwas nicht gefällt. Es müss te selbstverständlich sein, seine Gefühle zu kontrollieren und maßvoll zu reagieren, also einen Beitrag nochmal in Ruhe zu lesen und sich zu überlegen, wie man dem Argument des anderen mit Gegenargumenten begegnen kann. Ich denke an einen ethischen Dialog oder Diskurs, in dem das Gegen über mit einer gewissen Wertschätzung behandelt wird.
Da wären wir wieder bei der Autonomie der Nutzer_innen, von der Sie anfangs sprachen. Geht mit ihr auch eine große Verantwortung einher?
Wir müssten auch verantwortungsbe wusster werden. Es müsste den einzelnen Nutzer_innen klar sein, dass die Kommunikationsinhalte im Netz nicht folgenlos sind. Diese Selbstreflektion ist notwendig. Sie muss eingeübt werden. Um es mit Aristoteles zu sagen: Wenn Sie einen Charakter ausbilden wollen, genügt der theoretische Austausch nicht. Da ist das eigene Handeln gefragt.
Sehen Sie die Schulen in der Pflicht?
Das wäre eine Aufgabe der Pädagogik, ja. Man muss zuerst lernen, mit anderen kommunikativ umzugehen. Und es geht um die Frage, wie ich den anderen wertschätzen und achten kann. Wir müssen außerdem lernen, wie ich mir eine Meinung bilde, ohne mir einfach aus dem Bauch heraus etwas zu überlegen, sondern mir bewusst darüber werde, wie ich zu meiner Meinung komme. ◆
Petra Grimm, Jahrgang 1962, ist Professorin für Medienforschung und Kommunikationswissenschaft. Sie leitet das Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart.
Foto: HdM Stuttgart