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Intersektionalität: Die Politologin Emilia Roig spricht im Interview über Hierarchien und Diskriminierung

»Männer sollten lieber auf Frauen hören, wenn es um Sexismus geht«

Viele Frauen werden gleich mehrfach diskriminiert – etwa dann, wenn sie Schwarz* sind. Die Politologin Emilia Roig macht auf Verschränkungen von Unterdrückungssystemen aufmerksam.

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Emilia Roig ist Expertin für Intersektionalität und Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ). 2021 erschien ihr Buch »Why we matter. Das Ende der Unterdrückung« im Aufbau Verlag.

Zeichnung: André Gottschalk

Sie beschäftigen sich mit Hierarchien und Diskriminierung. Insbesondere rassistisch motivierte Ausgrenzung treibt Sie um. Warum?

Ich würde nicht sagen, dass mir der Kampf gegen Rassismus wichtiger ist als der gegen das Patriarchat oder andere Formen von Unterdrückung. Es wirkt vielleicht so, weil es in Deutschland schwieriger ist, über Rassismus zu sprechen, ohne dass er kleingeredet wird. Oft denken Menschen in Deutschland, Rassismus sei seit 1945 überwunden. Dem ist nicht so.

In Ihrer Biografie addieren sich verschiedene Aspekte, die mit Ausgrenzungserfahrungen belastet sind.

Hautfarbe, Geschlecht, Religion, sexuelle Orientierung. Manche stehen im Widerspruch zueinander: etwa der nationalistisch und rassistisch agierende weiße Großvater. Oder dass Sie in manchen Ländern als weiß, in anderen als Schwarz wahrgenommen werden. Was ergibt sich daraus?

Diese Widersprüche haben mich dazu gebracht, mich stärker mit der systemischen Dimension von Unterdrückung zu beschäftigen. Diskriminierung wird durch das Verhalten einzelner wiederholt, aber sie schleicht sich in alle Sphären der Gesellschaft und des Lebens ein. Sie versteckt sich in Gesetzen, in Institutionen, in den Medien. Die Widersprüche haben mir verdeutlicht, dass unsere Identitäten sozial, historisch und politisch konstruiert sind. Es sind eben keine »natürlichen«, biologischen Eigenschaften.

Um verschiedene Ausgrenzungserfahrungen in den Blick zu nehmen, haben Sie das Konzept der Mehrfachdiskriminierung mitentwickelt. Sie nennen es Intersektionalität. Wie erklären Sie diesen Begriff einer Person, die noch nie davon gehört hat?

Das Konzept der Intersektionalität wurde nicht von mir, sondern von Kimberlé Crenshaw geprägt. Es beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Systemen, die auf unsere Identitäten wirken und sie hierarchisieren. Dabei wird die Verschränkung von Unterdrückungssystemen beschrieben: Patriachat, Rassismus und Kapitalismus produzieren in ihrer Kombination viele Formen von Unterdrückung, wie etwa Ableismus, Klassismus, Homo- und Transdiskriminierung, Sexismus. Intersektionalität hilft uns, Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten anzugehen, und Minderheiten innerhalb von Minderheiten sichtbar zu machen und zu empowern.

Wenn ich den Denkansatz richtig deute, verweist er Menschen auf ihre

Plätze: Weiße können nicht wissen, was es bedeutet, Schwarz zu sein.

Männer können nicht wissen, was es bedeutet, Frau zu sein. Nichtbehinderte nicht, was es bedeutet, behindert zu sein. Ist das so?

Unsere Plätze sind nicht neutral, sondern immer in eine global-soziale Hierarchie eingebettet: Männer werden im Patriarchat über den Frauen platziert, Weiße über Schwarze, nicht-behinderte über behinderte Menschen, Heterosexuelle über Menschen aus der LGBTQ-Community. Und Reiche über Arme. Wegen solcher Hierarchien lernen Menschen aus dominanten Gruppen, dass ihre Erfahrung, ihre Perspektive, ihre Interessen universell sind. Und zwar aus dem Grund, weil sie viel sichtbarer sind innerhalb der Gesellschaft. Aus dieser erzeugten Überlegenheit entsteht das Gefühl, über alles sprechen zu können, auch über Sachen, wo die gelebte Erfahrung fehlt. Doch Männer sollten lieber auf Frauen hören, wenn es um Sexismus geht. Und weiße sollten lieber auf Schwarze Menschen hören, wenn es um Rassismus geht.

Aber ist eine wichtige Voraussetzung nicht, dass wir lernen, uns in andere hineinzuversetzen? Also dass ich mir als weiße Frau vorzustellen versuche, was es bedeutet, eine Schwarze Frau zu sein? Wie öffnet das Konzept der

Intersektionalität dafür Türen?

Es gibt unzählige Podcasts und kluge Bücher von Menschen aus den dominanten Gruppen, die sich vorstellen möchten, wie das Leben aussieht, wenn man nicht über dieselben Privilegien verfügt. Empathie setzt die Fähigkeit voraus, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen. Dafür müssen diejenigen, die innerhalb unsrer Gesellschaft als überlegen gelten (Männer, weiße, heterosexuelle Menschen, Vermögende und Menschen ohne Behinderung) sich mit den Überlegenheitskomplexen auseinandersetzen, die sie verinnerlicht haben. Ich muss das als promovierte nicht-behinderte Frau, die nicht trans ist, auch täglich tun.

Vielleicht würde ein Beispiel helfen:

Welche Machtkonstellationen wirken, wenn einer weißen Frau von einem

Schwarzen Mann vorgeworfen wird, sie fange nichts mit ihm an, weil er

Schwarz ist?

Zweierlei. Einmal gibt es Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen. Schwarze Männer wurden und werden nach wie vor als bedrohliche sexuelle Raubtiere dargestellt, in Film, TV aber auch in der Berichterstattung, in Büchern. Gleichzei-

»Es gibt dominante Stimmen, und es gibt Stimmen, die marginalisiert werden.«

tig beanspruchen Männer im Patriarchat die Aufmerksamkeit, Zeit, Liebe und Körper von Frauen.

Was wäre anders, wenn einer Schwarzen Frau von einem weißen Mann vorgeworfen wird, sie fange nichts mit ihm an, weil er weiß ist? Ist so ein

Fall überhaupt denkbar?

Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße.

Derzeit wird die Erfahrung einer

Schwarzen Frau breit diskutiert, der ungefragt im Zug der Weg in die zweite Klasse gewiesen wurde. Dabei hatte sie ein erste Klasse-Ticket. Wie kann

Intersektionalität helfen, um ausgrenzende Muster früh zu erkennen?

Intersektionalität hilft uns zu verstehen, dass die Schwarze Frau in diesem Fall aus der Kombination ihrer Identitäten als Frau und Schwarze diskriminiert wird. Ich finde es bezeichnend, dass in der ersten Klasse fast nur weiße Männer in Anzügen sitzen. Wäre sie ein Schwarzer Mann im Anzug oder eine weiße Frau, wäre diese Herabwürdigung ihrer Person wahrscheinlich nicht passiert.

Die Identitätsdebatte, in deren Rahmen Intersektionalität steht, dividiert uns als Menschen zunächst auseinander: Es geht um Identitäten als

Schwarze oder Weiße, als Männer oder Frauen. Was können wir tun, um wieder zusammenzukommen?

Wir befinden uns nicht in einer Debatte auf Augenhöhe, sondern der Diskurs wird von Machtverhältnissen durchdrungen. Es gibt dominante Stimmen, und es gibt Stimmen und Sichtweisen, die systematisch marginalisiert, delegitimiert und diskreditiert werden. Es ist nicht das Konzept der Intersektionalität, das uns auseinanderdividiert, sondern Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungssysteme, die seit Jahrhunderten die einen über andere stellen, und die Menschheit getrennt und hierarchisiert hat. Wir können das erstmal anerkennen, um wieder zusammenzukommen: Intersektionalität hilft uns, genau dies zu tun. ◆

*Wir schreiben Schwarz groß, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt.

I TE R N NATIONALERFRAU E NTAG

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