Andy Wolf Eyewear, Das Erbe Rosenthal

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Kriminalroman

www.andy-wolf.at

DAS ERBE Rosenthal

Simon Cazzanelli & Helena Schmidt



DAS

ERBE Rosenthal Kriminalroman Simon Cazzanelli, Helena Schmidt

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ANDY WOLF. EYeWEAR. Kollektion 2011.2012

IMPRESSUM Andy Wolf Fashion GmbH, Am ร kopark 21, A-8230 Hartberg hello@andy-wolf.at, www.andy-wolf.at Design / Konzept: VON K Design Art Direction: Julia Klinger, Grafik Design: Margit Steidl, Assistenz: Kerstin Wirth Illustrationen: Claudia Krogger Photographie: Lupi Spuma Styling: Barbara Knes, Make-Up: Christopher Koller Hair: magmaier (Helmut Maier), Hairhunter (Matthias Hutter) Location: Schloss Gamlitz (Fam. Melcher), Schloss Gรถsting Druck: Medienfabrik Graz


Vorwort Legen Sie dieses Buch zur Seite. Jetzt, wo sie noch können. Klappen Sie es zu, werfen Sie es weg, oder besser noch: Vernichten Sie es. Sofort, dann kann es keinen Schaden anrichten. Sollten Sie glauben, weiter lesen zu müssen, dann versprechen Sie uns Eins: Erzählen Sie das, was Sie erfahren unter keinen Umständen weiter. Keiner Menschenseele, verstehen Sie? Auch nicht, wenn Sie glauben, diesem Menschen vertrauen zu können. Zu viele Leute haben ein Interesse daran, dass die Geschichte in diesem Buch nicht an die Öffentlichkeit dringt. Wir wollen hier nicht ins Detail gehen. Nur soviel: Je weniger Sie wissen, desto besser ist es für alle Beteiligten. Ausser denen, die das Ende der Geschichte bedauerlicherweise nicht überlebt haben. Für die ist es ohnehin schon zu spät. Denn was sich damals ereignet hat, beeinflusst noch immer das Leben vieler Unschuldiger. Und auch einiger, die nicht so unschuldig sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Aber das ist eine komplett andere Geschichte …

Enjoy! Andy Wolf Eyewear

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CHARAKTERE Oskar Rosenthal (née Petitpierre) Alter: Verstorben mit Achtzig. Dachte mit Eheschließung, alle Jugendsünden abgeschlossen. Geburtsort: Neuchâtel, Schweiz. Nach gescheiterter Militärkarriere ans Anwesen Rosenthal. Gründe für Ausstieg in den Akten verschwunden. Beruf: ETH Zürich, Mitgliedschaft in einer zweifelhaften Studentenverbindung. Oberst im Generalstab der Schweizer Armee. Lieblingsdrink: White Russian. Alternativ Black Russian. Leitfigur: Hugh Hefner. Unkommentiert. Todesursache: Primär atrophisches Lungenemphysem. Psychologisches Gutachten: Unvollständige Aktenführung. Lebensmensch. Fondue-Fetischist. EU-Kritiker.

Gabriela Rosenthal Alter: Dreiundsiebzig. Schaut aus wie Fünfundsechzig.

Nase, Kinn und Ohrläppchen: Fünf Jahre alt. Geburtsort: Wörthersee.

Familie Rosenthal residiert jährlich im Weißen Fasan bei Maria Wörth. Beruf: Studium in St. Gallen. Schwerpunkt Wirtschaft. Am Ball der zwielichtigen Studentenverbindung lernte sie Oskar Petitpierre kennen. Von Anfang an mochten Sie sich nicht. Patronessenkommitee Wiener Opernball. Heiratete später Oskar P. auf »guten Rat« ihres Vaters. Lieblingsdrink: Martini Bianco. Kein Eis. Prominente Freundschaft: Peter Alexander (bei den Dreharbeiten im Weißen Fasan, Sommerflirt), Karl Heinz Böhm (beim Wiener Opernball, One-Night-Stand), Richard Lugner (tiefe und ehrliche Freundschaft). Sammelleidenschaft: Orchideen und handbemalte Fingerhüte. Psychologisches Gutachten: Berufsrelevante Persönlichkeitsmerkmale fehlen. Organisatorische Fähigkeiten bzw. logistisches Geschick. Ausgeprägte Verdrängungsmechanismen sowie Realitätsflucht.


Cedrik Rosenthal Alter: Vierzig. Bei Vierzig beginnt das Altsein der Jungen. Geburtsort: LKH Deutschlandsberg. Irgendein Waisenhaus in der südlichen Weststeiermark. Man spricht nicht darüber. Beruf: Aushilfsbäcker. Diätbackwaren-Kombinat Plattner in Maierhofbergen. Lieblingsdrink: Cognac. Remy Martin Excellence XO Fine Champagne. Idol: Mark Zuckerberg. Viele Freunde. Viel Geld. Viele Mädls. Besondere Errungenschaften: Europäischer Brezel-Schling-Meister. Waisenhaus-Buchstabierkönig 1982. 1, 2 oder 3 Kamerakind 1984. Psychologisches Gutachten: Hervorragende Konzentrationsfähigkeit, vor allem im Sinne der Vigilanz. Numerische Intelligenz im Normbereich. Verfolgungswahn und leichte Hypochondrie.

Dorothee »Thea« Rosenthal Alter: Siebenundzwanzig. Versucht aber hartnäckig in älteren

Kreisen Fuß zu fassen. Sie will den Spaß ihrer Jugend genießen und das Geld der alten Geldsäcke ausgeben. Geburtsort: Wörthersee. Familie Rosenthal residiert immer noch jährlich im Weißen Fasan bei Maria Wörth. Beruf: Nichte aus Leidenschaft. Will, nachdem lang genug in Villa Rosenthal festgesessen, Modekarriere starten. Lieblingsdrink: Gin Tonic. Am Besten ohne Tonic. Idol: Mischung aus Marilyn Monroe und Paris Hilton. Blond, Reich, psychisch instabil. American Way of Partying. Neigt zu: Hysterie. Größenwahn. Alkoholismus. Psychologisches Gutachten: Ausgeprägte figurale Merkfähigkeit. Zeigt in Tests etwas geringe Konzentrations-Gesamtleistung. Deutlich überdurchschnittlicher Grad an Extraversion. Unkontrolliert und inkonstant.


Arthur Greenwald Alter: Geschätzte Achtunddreißig.

Wahres Alter unbekannt. Aus Recherche gehen weder Geburtsdatum noch Herkunft der Eltern hervor. Auf Fragen bezüglich Jahrgangs reagiert er ruppig. Geburtsort: Unbeschrieben. Abschlussdokumente der Butlerschule in Bristol belegen Birmingham. Deutsche Sozialversicherung führt Gelsenkirchen. Österreichisches Meldeamt ohne Angabe. Beruf: Staatlich diplomierter und anerkannter Hausdiener. Kurze Tätigkeit im dänischen Königshaus. Verschwiegenheitsverpflichtung. Lieblingsdrink: Gibson Martini. 3 Cocktailzwiebeln. Leitfigur: Margaret Thatcher. Konservativ. Eisern. Abgehärtet. Tendenzen: Neigt zum Eigenbrötlertum. Einzelgänger. Außenseiter. Als Personal der Villa Rosenthal im engen Kreis der Familie integriert, jederzeit austauschbar. Psychologisches Gutachten: Bemüht um Korrektheit. Ausgewogene Konzentrationskraft und außerordentliche Tempomotivation. Abhängigkeit von Arbeit. Insiderwissen. Zeigt leichte Züge von Masochismus und sexueller Unterwürfigkeit.

Madeleine Blaschke Alter: Eines der bestgehütetsten Geheimnisse

am Anwesen Rosenthal. Vermutlich zwischen Fünfundzwanzig und Vierzig. Botox nicht ausgeschossen. Geburtsort: Unbekannt. Behauptet, Vater sei italienischer Politiker. Richtigkeit der Herkunft aufgrund mangelnder Italienischkenntnisse fragwürdig. Beruf: Ihres Zeichens It-Girl. Beste Freundin von Thea Rosenthal. Fungiert als Zierde. Lieblingsdrink: Cosmopolitan. Leitfigur: Alles, was Thea sagt. Wünsche: Berühmt werden. Weltfrieden. Psychologisches Gutachten: Herdentier mit sporadisch auftretendem Drang zum Protagonismus. Neigt zu Verneinung und Projektion.


Liliana »Lilly« Dirnberger Alter: Sechsundzwanzig. Geburtsort: Lienz in Osttirol.

Aufgewachsen am Hof der Eltern. Kinderjahre im Gasthaus »Alpenrose« ihrer Tante Ida. Mit Tod ihrer Eltern nach Wien. Beruf: Aufbaulehrgang »Tourismus und Freizeitmanagement« Tourismusschule Kleßheim Salzburg. Im Gastgewerbe und Gastronomie arbeitstätig. Nach Renovierung des Familienbetriebs Besuchereinbruch, Konkurs und Schließung. Neuorientierung. Billeteurin am Burgtheater Wien. Platzanweiserin Apollo Kino. Restaurant Management McDonald’s Schwedenplatz. Tellerwäscherin Kurkonditorei Oberlaa. Dienstmädchen im Anwesen Rosenthal. Lieblingsdrink: Bloody Mary. Leitfigur: Dagmar Koller, Gerda Rogers. Blond. Erfolgreich. Aus Österreich. Wünsche: Ganz klassisch. Familie, Haus, Hund, weißer Zaun. Psychologisches Gutachten: Phasenweise auftretende Lese- und Rechtschreibstörung. Existenzangst. Gehemmt und kontaktscheu (nach Außen). Praktizierende Porzellantöpferin und -malerin. Flüchtet sich in Realitäten von Seifenopern und Telenovelas.

EMILIE FENZL Alter: Nach eigenen Angaben Vierundzwanzig.

Nach fremden Vierunddreißig. Geburtsort: Bad Radkersburg, Südsteiermark. Beruf: Model. Sängerin. Moderatorin. Werbegesicht. Eröffnet regelmäßig Provinz-Einkaufszentren. Lieblingsdrink: Pink Squirrel. Mit einer Walnusshälfte dekorieren. Leitfigur: Alles, was Thea sagt. Verona Pooth. Wünsche: Eigene Kochshow. Rolle in GZSZ. Weltfrieden. Psychologisches Gutachten: Starker Bindungsdrang. Möglicherweise homosexuelle Tendenzen.


Timotheos »Timo« Kraxner Alter: Einunddreißig.

Quarter-life Crisis nachhaltig aufgearbeitet und ausgelebt. Geburtsort: Hartberg, Steiermark. Bis zum 14. Lebensjahr

im Familienhaus wohnhaft. Botanik-Studium in Mindestzeit an der Karl-Franzens Universität. Seit 1994 gemeldet in Graz. Beruf: Mehrjährig als Stadtflorist der Gemeinde Graz tätig. Produktionsleitung Internationale Gartenschau 2000. Kunstgärtner und Pflanzenzüchter an der Orangerie der Grazer Burg. 2008 fristlose Kündigung. Zwei Jahre arbeitslos. 2010 Anstellung durch Oskar Rosenthal. Lieblingsdrink: Doppelbock. Vom Fass. Leitfigur: André Le Notre, Gärtner von Versailles. Ziele: Angestrebte Berufstätigkeit im Raum Frankreich, Schwerpunkt Paris. Psychologisches Gutachten: Grüner Daumen. Mehrfacharbeitskapazität. Weit überdurchschnittliche Werte im Bereich der verbalen Kompetenz. Wunsch nach Anerkennung und Selbstverwirklichung. Ausgeprägter Familiensinn und Kinderwunsch. Erregbar und unbeherrscht.

Othello Alter: Sechs Menschenjahre.

Nach neuester Umrechnungsformel Fünfundvierzig Hundejahre. Geburtsort: ÖRV Hundesportverein Klagenfurt am Wörthersee.

Von Gabriela R. im Sommerurlaub entdeckt. Liebe auf den ersten Blick. Beruf: Schoßhündchen. Chinesischer Nackthund.

Anhänglich, treu, zum Knutschen. Lieblingsdrink: Evian, Raumtemperatur. Leitfigur: Der Malteser der Marquise de Pompadour Jean-Antoinette Poisson (1721–1764), französische Mätresse von König Ludwig XV. Tendenzen: Liebe zur Natur, grünen Wiesen, jagdbarem Wild, Schneeflocken, Waldboden. Abneigung gegenüber gleichgeschlechtlicher Artgenossen. Psychologisches Gutachten: Unterentwickeltes Sozialverhalten. Ausgesprochen gutes Lernverhalten. Hohes Aggressionspotential. Starke Bindung zu Frauchen. Lässt sich bevorzugt tragen.


Henning Holler Alter: Fünfundfünfzig.

Und kein bisschen müde, dafür umso durstiger. Geburtsort: Schwechat, Niederösterreich. Ging für die

Polizeischule nach Wien. Mehrere Dienstjahre. Seit 2002 in Graz tätig. Beruf: Kriminalbeamter (Exekutivbediensteter im Polizeidienst). Geplante Karriere als Jazzsaxophonist. Hörte auf Vater, ging zur Kripo. Jährliches Konzert bei Postenweihnachtsfeier. Lieblingsdrink: Cognac. Hasst: Detektivserien, Kriminalromane und alles, was mit »CSI« beginnt. Seiner Meinung nach, alles unrealistisch. Besonderes Merkmal: Dreht sich seit einschneidendem Erlebnis die Zigaretten selbst. Immer. Psychologisches Gutachten: Einzelgänger mit wenig Rücksicht auf Körperhygiene. Stiller Beobachter. Überdurchschnittliche Merkfähigkeit (verbal und figural). Kleptomanische Züge.


KAPITEL


Das Pendel schwingt, unerm端dlich


Das Pendel schwingt, unermüdlich. Das monotone Ticken des Uhrwerks durchdringt die dicke Luft. Regungslosigkeit. Selbst der Zigarrenqualm legt sich träge auf das Mobiliar. Die Nadel des Plattenspielers kratzt auf dem pechschwarzen Vinyl. Noch drei Takte und die Stimme der Callas verhallt. Totenstille. Der Sommerwind streichelt sanft die Südfassade, über das offene Fenster erobert eine kühle Brise das Zimmer. Die schweren Gardinen baumeln erschöpft, das Feuer flackert kraftlos. Der Cognacschwenker rollt über den alten, handgeknüpften Perserteppich. Die letzten Tropfen versiegen in seinen Fasern. Das Pendel schwingt, unermüdlich. Ein Mann liegt am Boden, seine Arme weit von sich gestreckt. Er versucht etwas zu erreichen. Er zittert, er zuckt. Sein Mund ringt nach Luft, der Atem fehlt. Kaum verständliche Worte verlassen seine Lippen. Ein trockenes »Hilfe!« verhallt im Zimmer. Niemand hört ihn. Die Augen des Mannes starren ins Leere. Ein letztes Mal der Versuch nach Atem zu ringen, nach Hilfe, nach Rettung. Plötzlich, der erschöpfte Körper völlig still. Er ist tot. Das Pendel schwingt, unermüdlich. Schritte. Das Licht der fast verglühten Holzscheite lässt nur einen schwachen Schatten um den leblosen Körper erahnen. Ein aufgeklappter Globus vollendet das verklärte Sujet des Kaminzimmers. Die Karte, die die Weltkugel umspannt, offenbart ihr fortgeschrittenes Alter auf den ersten Blick, nicht aber ihren Schatz. Eine der französischen Cognacflaschen war auch heute wieder die willkommene Abendgesellschaft. Die Schritte halten 14



ein. Der aufgehende Türspalt lässt einen dünnen Streifen künstlichen Lichts auf den Teppich fallen. Noch ist nichts zu erkennen. Die Schnittblumen stehen unberührt am Beistelltisch. Ihre strahlenden Blütenblätter ragen in den Raum, unberührt und perfekt, wie sie es immer getan haben. Eine Hand streift den Türstock, der Spalt wird größer. Zarte Finger tasten sich blind an der Wand entlang und erreichen die Türklinke. Der Türspalt wird weit aufgeschoben. Licht. Die schwarze Gestalt liegt am Boden. Einen Schritt näher. Ein spitzer Gegenstand durchbricht die Silhouette auf dem Perser. Noch ein Schritt. Noch zwei Schritte. Der nadelgestreifte Stoff kommt ihr allzu bekannt vor. Jedes Schlucken scheint unmöglich. Lilianas Blick hängt an der Leiche, deren Identität sie sich zu erkennen wehrt. Doch je näher sie kommt, desto deutlicher schärfen sich die Konturen des Siegelrings. Ein geschwungenes R umfasst das bauchige O, ein Name, der in diesem Hause Geschichte hat. Ihr Blick weitet sich. Die Stelle an seinem Rücken, in die der Schürhaken gestoßen wurde, schimmert purpurn. Die Nadelstreifen sind versunken. Das gewohnt makellose Weiß seines Seidenhemds ist in Tiefrot getränkt. Und das Pendel schwingt, unermüdlich. Ein Schrei. »Mord!«.

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KAPITEL

02


DER

WEIN KORKT


Gabriela R. sitzt am Ende der langen MahagoniTafel. Man würde ihre innere Unruhe nie erahnen, nur Arthur, der Butler kann das nervöse Spiel mit ihrer Perlenkette durchschauen. Die alte Dame ist gewohnt streng und souverän, ihre Frisur sitzt wie immer perfekt, ihre rechte Hand ruht auf dem Chinesischen Nackthund. Ihre langen Fingernägel scheinen sich fast in sein Fell zu bohren. Doch solcherlei Kleinigkeiten bemerkt nur der langjährige Hausdiener, die anderen Tischgäste sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. »Es ist schon nach Acht. Er ist unpünktlich, Tante.«, unterbricht Theas schrille Stimme das Schweigen. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, Dorothee. Das hat schon dein Onkel Oskar immer gesagt … Gott hab’ ihn selig.« Die Hausherrin fährt sich hastig durch das dunkelrot gefärbte Haar. Thea nickt zufrieden und nippt an ihrem Rotweinglas. Abseits von der Tafel steht das Dienstmädchen. Immer wieder wischt sie ihre schweißnassen Hände in die Schürze. Ihre Knie zittern, sie ist sichtlich erschüttert. Eine Laufmasche lässt ein Stück bleiche Haut ihres Beines aufblitzen. »Der Wein korkt, Tante.«, beginnt die hysterische Nichte zu nörgeln. »Was willst du schon von Wein wissen, mein Kind.«, entgegnet Gabriela R., die ihre Anspannung nicht länger verbergen kann. »Dein Onkel Oskar war ein wahrer Kenner, was den Wein betrifft. Jeden Abend saßen wir hier in diesem Raum bei einem Glas feinstem französischen Merlot.« 20


»Aber gnädige Frau – bei einem Glas ist es doch wirklich nie geblieben.«, kommt es seitlich vom Butler. Die alte Dame kichert und wirft Arthur einen gönnerhaften Blick zu: »Liliana, wo bist du mit deinen Gedanken. Der Wein korkt. Hol’ sofort neuen!«. Das Dienstmädchen wird aus ihrer Gedankenstarre gerissen. Niemanden scheint es zu interessieren, dass sie es war, die gestern Nacht den schrecklichen Fund machen musste. Sie verlässt das Esszimmer. »Aber den Guten, Lilly!«, kreischt Dorothee ihr nach und leert daraufhin in einem Zug ihr Glas. Gabriela kontrolliert ihre Armbanduhr. »Zehn nach.«, murmelt der Gärtner, der nur heute aus gegebenen Anlass mit den Herrschaften an der Tafel sitzen darf. »Danke Timotheos.«, lächelt die Dame, »Denkst du eh daran morgen die Buchsbäume zu stutzen.« Gabriela R. gewinnt ihren Eifer wieder: »Die Kletterrosen gehören gedüngt, der Kräutergarten gejätet, der englische Rasen gelockert und die Weinreben zurückgeschnitten. Ach, und der Othello hat gestern wieder im Blumenbeet herum gegraben. Sein Pfoterl war ganz dreckig. Ach, du bist mir einer!« Wohlwollend hätschelt sie das Hündchen zu ihren Füßen und setzt ihre Aufzählungen fort: »Und Timo, nicht vergessen …« Der Gärtner nickt zwar zustimmend, ist mit seinen Gedanken und seinen Blicken auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Dort sitzt Thea und wickelt gelangweilt eine Locke um ihren Finger. »… und bitte nicht schon wieder diese billige Gartenerde, Timotheos. Und weil wir schon dabei sind …« Liliana betritt das Esszimmer, eine verstaubte 21




Weinflasche in der rechten Hand. »Wer probiert?«, fragt sie leise. »Ich glaub’ der Timotheos kennt sich aus mit guten Tropfen.«, haucht Thea provokant verführerisch, »wenn er heut’ schon ausnahmsweise bei Tisch sitzen darf.« »Ein wahrer Genussmensch, der Timo!«, zischt der Butler und reißt Irene die Flasche aus der zitternden Hand. »Lass mich das machen, du Tollpatsch!« Das bleiche Mädchen zieht sich in die Zimmerecke zurück, wo sie beschämt auf den Boden schaut. »Und Gott sei Dank war heuer der Juni nicht so heiß, kaum vorstellbar … die schönen Rosen! …«, fährt Frau R. fort. Der Gärtner unterbricht schmunzelnd: »Aber gnädige Frau, um den Garten kümmer’ ich mich schon, zur Zeit gibt es andere Sorgen.« Sofort versteinert sich die Miene der eleganten Dame und sie schaut hektisch auf die Uhr. Sie lehnt sich seitlich aus dem Sessel und dreht den Kopf: »Arthur, wie war nochmals der Name vom Kommissar?« » ›Holler‹ heißt der Herr Inspektor.«, antwortet dieser, »Henning Holler.« »Unmögliche Person.«, Gabriela R. schüttelt den Kopf. »Glauben die von der Polizei wirklich, einer von uns hat den Cedrik umgebracht? Oder warum schicken sie uns jetzt einen Kommissar ins Haus? Wir haben den Cedrik eh erst seit kurzem gekannt.«, sagt die Nichte. »Oft ist’s halt besser, man bleibt da, wo man herkommt.«, mischt sich der Butler ein. »Arthur, bitte, du weißt der Oskar hat wollen, dass der 24


Cedrik hier bei uns ist.«, fährt ihm diesmal Gabriela ins Wort. »Pardon.«, entschuldigt sich dieser. Es klingelt. Der Butler verlässt das Esszimmer um den erwarteten Gast zu empfangen. Ein paar Minuten später kehrt er in Begleitung eines recht großen Mannes mit wildwüchsigem Bart zurück. Tiefe Augenringe markieren das kantige Gesicht von Kommissar Holler, er trägt karierte Hosen und einen recht heruntergekommen wirkenden Mantel. Kurz wirft er den Kopf nach hinten, um die schweißnassen, klebrigen Haare aus dem Gesicht zu bekommen, bevor er seinen Hut wieder aufsetzt. Bestimmt tritt er in den Raum und verschafft sich einen ersten Überblick. Der kleine Othello hebt kurz den Kopf und mustert den Neuankömmling. Unbeeindruckt nimmt er wieder seine übliche Position zu Füßen der Hausherrin ein. Diese erhebt sich und streckt dem Gast ihre Hand entgegen. »Entschuldigen Sie die Verspätung, Frau …«, der Kommissar zögert kurz. »Rosenthal.«, fährt sie ihm sofort ins Wort. »Frau Rosenthal, schönen guten Abend.« »Herr Inspektor, wenn ich Ihnen vorstellen darf: das ist meine Nichte Dorothee.« »Thea, sehr erfreut.«, begrüßt ihn diese. »Der junge Herr zu meiner Linken ist Timotheos, unser Gärtner. Und dann möchte ich ihnen noch Arthur vorstellen. Er ist schon einige Jahre Butler hier im Haus.«, fährt die Dame fort. »Freut mich.«, sagt Holler während er die Anwesenden 25


mustert, »Und die junge Dame im Eck?«. Das Dienstmädchen schreckt wieder auf: »Mein Name ist Liliana. Ich arbeite als Hausmädchen hier.«, stammelt sie. »Ah. Sie haben doch die Leiche gefunden, oder? Haben Sie sich denn schon vom Schreck erholt?«. Liliana nickt zurückhaltend. »Wir haben sicher noch Gelegenheit, ausführlich darüber zu sprechen. Warum gehen Sie denn nicht und ruhen sich etwas aus?«, sagt der Inspektor freundlich. Das Dienstmädchen errötet: »Ja, Herr Inspektor. Aber lassen sie mich zuerst ihren Mantel an der Garderobe aufhängen.« Gabriela R. ruft vom Tisch nach dem Inspektor: »Herr Holler, setzen Sie sich doch zu uns an den Tisch. Ich bin mir sicher Sie haben sehr viele wichtige Fragen. Merlot?«

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KAPITEL

03


Gott hab’ ihn Selig!


Das letzte Schäufelchen Erde bedeckt die edle, mit aufwendigen Reliefs verzierte Metalloberfläche der Urne, die nach einer feierlichen Zeremonie ins Familiengrab im Garten der Villa Rosenthal hinabgelassen wurde. »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, Holler steckt die Schaufel in den englischen Rasen neben den Berg aus Blumenkränzen, die Worte des Pfarrers klingen in seinem Kopf noch nach. Die Seidenschleifen auf den kunstvoll gebundenen Kranz-Meisterwerken dokumentieren die Namen der Familien, die am meisten Geld für den letzten floralen Gruß ausgegeben haben. Einem Rosenthal gebühren schließlich Prunk und Ehre bis zum Schluss. »Die Dekadenz kennt keine Grenzen, nicht mal den Tod.«, spinnt der Kommissar seine Gedanken weiter. Dafür, dass Cedrik erst seit kurzem im Hause weilte, sind es viele Trauergäste, die meisten bekam er wohl nie zu Gesicht. Genauso wie die Blumenkränze sind auch die Besucher aufwendig geschmückt. Holler fragt sich kurz, ob man mit den Perlenketten der Anwesenden die Villa umspannen könnte, es wimmelt nur so von glänzenden Kostbarkeiten an den Hälsen, Handgelenken und Manschetten der Begräbnisgesellschaft. Es ist ein schöner Nachmittag im Spätsommer, die Sonnenstrahlen scheinen gegen Abend hin schon etwas weniger gleißend geworden zu sein und auch die Hitze verliert an ihrer Kraft. Auch wenn von Herbst und Kälte noch keine Spur zu erkennen ist, scheint ein kleines bisschen Ende in der Luft zu liegen. Die geschmackvoll gekleideten weiblichen Trauergäste haben ihre 30



schwarzen Hüte tief ins Gesicht gezogen, und zusätzlich verstecken sie ihre Augen hinter großen dunklen Sonnenbrillen. Ob die Gesichter dahinter wirklich verweint sind, oder ob sich wissende Blicke hinter den Masken verbergen, kann der Kommissar nur erahnen. Er schmunzelt kurz, als er im Kopf beginnt, den Weg zum Grab mit einem Runway zu vergleichen. Alles hier hat Stil und Ordnung, sogar eine Bestattung, die im wahren Leben früher oder später immer in Gefühlschaos ausbricht. Nicht so am Anwesen Rosenthal. Hier nippt man nur an Champagnergläsern und suhlt sich wie gewohnt in der Langeweile, die schon in den Erzählungen Tschechows den Reichen vorbehalten war. Einige Gäste haben sich in Pärchen zusammengefunden und tuscheln hinter ihren Gesichtsschleiern und unter vorgehaltener mit schwarzen Spitzenhandschuhen bekleideter Hand. Im Vorbeigehen schnappt der Kommissar einige Gesprächsfetzen auf: »Also dieser Cedrik … und ihr Mann, haben Sie das gehört? … die Nichte ist doch wieder vollkommen angetrunken! … war doch klar, dass der nicht lange hierbleibt … eine grauenhafte Frisur, wie wahr! … hat hier nichts zu suchen! … Meine Güte, hat die zugenommen … und die Gartenpartys damals, als der Oskar … nicht angemessen, sage ich Ihnen!« Holler arbeitet sich weiter durch die Trauernden und Tuschelnden. Auch die Dame des Hauses, Gabriela Rosenthal, trägt schwarz. Alleine steht sie etwas abseits der restlichen Trauergesellschaft und zupft an einem Rosenstrauch. Es ist ein besonders schönes Exemplar, mit vollen, lachsfarbenen Blüten. 32


Die Farbtupfer, die vereinzelt die Rosenstöcke zieren, wirken wie Farbexplosionen zwischen den schwarzen Trauergewändern. Eine große schwarze Brille verhüllt auch das Antlitz der Dame, wobei Holler mittlerweile weiß, dass sich aus dem kühlen Blick der Hausherrin nichts herauslesen lässt. Sie hat in den Jahren in der Villa sehr gut gelernt, jegliche Emotion zu verstecken. Die Gerüchte um den ausschweifenden Lebensstil ihres verstorbenen Gatten haben auch im nahegelegenen Dorf weite Kreise gezogen. Für Gabriela dürfte es nicht immer leicht gewesen sein, glaubt man dem spitzzüngigen Gerede der »einfachen« Landbevölkerung, die bereitwillig jederlei Tratsch und Klatsch aufnimmt und weitergibt. Holler geht auf Gabriela R. zu, es ist ein guter Moment, um mit ihr alleine zu sprechen; »Die Königin der Blumen.«. Zögernd versucht er, der alten Dame zu schmeicheln. Diese bleibt unbeeindruckt: »Das ist eine Ave Maria. Bekannt für ihren betörenden Duft, gell Othello-Schatzi? Die hat der Onkel Oskar besonders gern g‘habt!« Der kleine Chinesische Nackthund zu Füßen der Dame blickt auf zu Holler. Man würde fast meinen, er hätte etwas Triumphierendes in seinem Blick. »Aber diese billige Blumenerde – Himmel, ich weiß nicht, wo der Timotheos die überhaupt her hat – die hat mir meine schönen Rosen fast zerstört. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viel Pflege und Zuneigung solche edlen Pflanzengeschöpfe überhaupt brauchen? Also das wichtigste ist natürlich Sonne und Wasser, aber bei der Erde, also da braucht man schon …« 33






»Frau Rosenthal, ich weiß, es ist im Moment äußerst schwierig für Sie und Ihre Familie. Aber erlauben Sie mir bitte, Ihnen ein paar Fragen zu stellen, damit die Ermittlungen so schnell wie möglich abgeschlossen werden können.«, nützt Holler ihre Atempause und hofft auf Gesprächsbereitschaft seitens der alten Dame. Diese erweist sich als überraschend kooperativ: »Aber natürlich, Herr Inspektor. Wissen Sie, der Herr Oskar­­­ – Gott hab’ ihn selig – und ich, wir haben hier im Garten geheiratet, vor fünfzig Jahren. Unsere Goldene Hochzeit hat er nicht mehr erlebt, der Ärmste. Wissen Sie, nach fünfzig Jahren ist man ja schon vergoldet als Ehepaar, das ist schon eine lange Zeit. Jetzt gibt’s nur mehr uns zwei, net wahr Othello? Und die Dorothee, ach, die Dorothee.« Erneut fährt Holler der alten Dame ins Wort: »Und der Cedrik?« Holler meint, erkennen zu können, wie sich die Miene hinter den Riesenshades kurz verfinstert. Einige Sekunden später entkrampft sich die Abwehrhaltung von Gabriela R. aber wieder. Sie hat lange gelernt, ihr Fassung schnell wiederzufinden. Unbeeindruckt fährt sie mit ihren Erzählungen fort: »Ich sag’s Ihnen, Herr Holler, diese Hochzeit! Ein strahlender Sommertag, wie heute mit hunderten Gästen und einem glanzvollen Brautpaar! Also die Mode von damals, Herr Kommissar, die war schon auf einem ganz anderen Niveau. Und die Rosen, die Rosen haben geblüht damals, wie nie mehr danach!« Holler unterbricht Gabriela abermals in ihren Schwärmereien: »Vor fünfzig Jahren haben Sie geheiratet, 38


Frau Rosenthal?« Die alte Dame nickt heftig: »In der Tat, Herr Kommissar. Goldene Hochzeit, wissen Sie?« Holler stutzt, will die alte Dame ihm mit ihren Beschreibungen etwa etwas ganz anderes sagen? Oskars letzter Wunsch war es schließlich, den unehelichen Cedrik in die Villa Rosenthal zu holen, um ihn zu einem vollwertigen Familienmitglied zu machen. »Aber der Herr Cedrik, der ermordete Sohn von Ihrem Mann, der war doch erst …« Bevor der Kommissar den Satz beenden kann, macht das eine bekannt kalte Stimme hinter ihm. »Vierzig Jahre alt, scharf beobachtet, Herr Kommissar.«, sagt der Butler in gewohnt zynischem Ton. »Kommen Sie, Frau Rosenthal, setzen Sie sich in den Schatten. So viel Sonne tut Ihnen nicht gut.«

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KAPITEL

04


Toxic




Die Fransen des Bastsonnenschirms wedeln fröhlich im Wind. Vergeblich versucht aber dieser Schirm, einen Schatten zu werfen, denn Thea liegt fernab in der strahlenden Sonne. Der verspielte Badeanzug betont weibliche Kurven und verdeckt nur die nötigsten Stellen. Die kurzen, blonden Haare sind aufwendig frisiert und eine übergroße, schwarze Sonnenbrille schmückt das Gesicht der jungen Rosenthal aus. Gleich neben dem Sonnenschirm und dem Pool thront ein Gin Tonic am Beistelltisch. Im Cocktailglas drängen die Eiswürfel zielstrebig an die Oberfläche und durch den Temperaturunterschied beschlägt das Glas. Einige, wenige Kondenstropfen laufen am gemusterten Glas hinunter und zeichnen abstrakte Muster. Daneben ein Aschenbecher aus Kristallglas, eine Packung Zigaretten und Zündhölzer. Nervös zieht Thea an ihrer Zigarette und kreischt motiviert durch den Garten Richtung Villa: »Gi - hin! Gi - hin To - nic! Jetzt! Und weniger Eis dafür aber mehr Gin rein! Jetzt!« Kommissar Holler spaziert durch den Garten und versucht sich für die Blumen und Bäume zu interessieren. Er geht fast am Rosenstrauch vorbei, hält kurz inne, holt sich eine prall geöffnete Blütenknospe an die Nase und riecht. »Ave Maria.«, murmelt er. Unauffällig behält Holler das junge Mädchen in seinem Blickwinkel, diese zupft ihren Badeanzug noch einmal zurecht. Dorothees Freundinnen, Emilie und Madeleine, frönen den beißenden Sonnenstrahlen und nippen genüsslich an ihren farbenfrohen Cocktails. Wie die kostbaren Marmorstatuen und die liebevoll gegärtnerten Buchstiere gehören die 44


beiden jungen Damen auch zur Kulisse des Rosenthal Anwesen. Man muss sie lediglich mit einigen Drinks regelmäßig gießen und wie mit Zimmerpflanzen ab und zu ein Gespräch führen. »Kommissar, Sie kommen mir genau recht. Endlich Gesellschaft! Der Timo ist irgendwo im Gartenhaus verschwunden und gießt schon stundenlang die Orchideen!«, bricht Theas Stimme die Gartenidylle. Holler fühlt sich ertappt und wendet seinen Blick zur Sonnenanbeterin. »Betteln werd’ ich sicher nicht!«, so Thea. Langsamen Schrittes nähert sich der Kommissar, da stolpert plötzlich Liliana an ihm vorbei und verschüttet großzügig den Longdrink. Theas Reaktion ist unmittelbar: »Meine Güte, Gott hat dir wirklich zwei linke Füße und zwei linke Arme geschenkt. Her damit.« Mit zitternder Hand stellt das Dienstmädchen das Glas auf den Beistelltisch, zögernd versucht sie zu erklären: »Der Rasen. Der Rasen ist etwas uneben und hat einige …« »Jetzt gib nicht dem Timotheos die Schuld für deine Ungeschicklichkeit.«, fällt Thea Liliana ins Wort. »Verzeihung Fräulein.« »Jetzt geh’, oder willst du Wurzeln schlagen hier mit deinen linken Beinen?«, verscheucht Dorothee das Dienstmädchen. Der Kommissar beobachtet die Szene und schüttelt dezent seinen Kopf, noch nie ist ihm eine so schrille und blasierte Person untergekommen. Ob das wohl auf den Einfluss der Tante Gabriela zurückzuführen, 45


oder einfach in der oberen Gesellschaftsschicht für selbstverständlich zu verstehen ist, bleibt für Holler mal dahingestellt. Er hält am Rand des Pools, das Chlor schießt ihm in die Nase und das Lichtspiel des Wassers blendet hartnäckig. Er holt eine Zigarette aus der Brusttasche, seine Augen überfliegen Dorothees Körper und ruhen schlussendlich auf ihren Lippen. Diese umklammern verkrampft einen Zigarettenstummel und versuchen vergebens daran zu ziehen. Thea richtet sich auf, entsorgt die Kippe im Aschenbecher, greift nach dem Gin Tonic und nimmt einen großzügigen Schluck. Aufmerksam laufen diese Bilder vor den Augen des Kommissars ab, die Sinne baumeln und die Stimmung ist ausgelassen. »Lilly! Lilly, noch Einen, und wehe ich muss wieder diesen Limetten-Scheiß drin finden!«, durchdringt Theas Stimme die Idylle und sie greift blindlings zum Beistelltisch. Sie reicht dem Kommissar die Sonnencreme und fasst ihre Brille, schiebt sie behutsam ihren Nasenrücken entlang und blickt dabei kurz mit ihren blitzblauen Augen darüber hinaus. Ihre Zunge streicht sanft über die Oberlippe und sucht nach dem letzen Tropfen des Cocktails, der sich im Mundwinkel gesammelt hat. »Mit Gefühl Holler, ich bin ein zartes Mädchen.«, erklärt Thea mit ungewohnt sinnlicher Stimme. »Fräulein Rosenthal, ich weiß nicht ob ich der richtige Mann dafür bin.«, verteidigt sich der Kommissar und stellt die Sonnencreme wieder auf den Beistelltisch. »Es gibt wohl spannendere Dinge, als Leichen hinterher zu schnüffeln und Morde aufzuklären. Und ich 46



verspreche Ihnen, ich stehe Rede und Antwort sobald mein Rücken einmassiert ist.«, fährt die junge Dame fort. »Fräulein Rosenthal, darf ich Dorothee sagen?«, diese nickt und ergänzt: »Für Sie, Thea.« Der Kommissar greift die Tube und setzt fort: »Thea, ich möchte Ihnen auf keinem Fall zu nahe treten. Ich möchte lediglich ein paar Antworten auf meine Fragen.« Die junge Rosenthal versucht sich auf ihren Rücken zu drehen, durch den Alkohol aber wirkt sie etwas unbeholfen und wie ein Goldfisch, der ohne Wasser auskommen muss, zappelt sie im Trockenen. »Herr Holler, keine Scheu. Sie wollen doch nicht dass ich einen Sonnenbrand bekomme?« »Aber nein mein Fräulein.«, entgegnet der Kommissar. »Nie und nimmer könnt ich mich dann am roten Teppich zeigen! Was die Leute schon wieder zum lästern hätten! Mir reicht schon was der Cedrik abgezogen hat.«, jammert sie. »Fräulein Rosenthal, ähm, Thea, gibt es da etwas, dass ich wissen sollte?«, fragt der Kommissar und knetet den Rücken der jungen Dame. Der Sonnenschutz ist schon eingezogen, aber Holler massiert fleißig weiter. Thea seufzt: »Ach Holler, wenn sie bloß wüssten! Dieser Mord ist das Letzte, was unser Haus gebraucht hat. Versuchen sie mal ›Rosenthal‹ zu googeln! Selbst wenn Cedrik mausetot im Grab liegt, hat er mehr Treffer als ich. Das Leben kann so unfair sein!« Immer intensiver und eindinglicher massiert Holler und unterschätzt dabei seine kräftigen Hände, die junge Rosenthal at48


met schwer und keucht verzweifelt: »Herr Inspektor, sie packen beim Verhör aber ordentlich zu!« Augenblicklich weicht er zurück und hebt seine Hände: »Entschuldigung. Aber bitte Thea, erzählen Sie mir doch mehr über den Herrn Cedrik.« Die junge Dame richtet sich kurz auf, zieht und zerrt an ihrem Badeanzug und lässt dabei einen Träger elegant hinunter purzeln. Mit einem unschuldigen Blick wendet sie sich zu Holler: »Aber davor wollen wir noch anstoßen, oder? Wollen sie auch etwas?« Der Kommissar ganz entmutigt: »Danke, aber ich bin im Dienst.«. In einem Schluck leert Thea ihr Glas und ihre neue Bestellung durchdringt den Garten: »Lilly, Gin Tonic, ohne Tonic. Dalli!« Anschließend greift sie zum Tischchen und nimmt die Zigarettenpackung. Holler holt sein Zippo aus der Hosentasche und will es Thea reichen, diese verzieht ihre Miene und streckt sich dem Kommissar entgegen. Fräulein Rosenthal rührt offensichtlich keinen müden Finger, ohne Personal ist sie komplett aufgeschmissen und verloren. »Der Cedrik war einfach da, ganz plötzlich und unerwartet.«, fährt Thea fort, »Ich hätte so viele Möglichkeiten gehabt! Onkel Oskar, der hat mir immer schon versprochen gehabt, mit dem Erbe könnte ich mir meinen größten Wunsch erfüllen: meine eigene Modelinie ›Doro Couture!‹ Gwen Stefani, Beyoncé, Jennifer Lopez … Diese erfolgreichen Frauen haben es mir alle vorgemacht und ich will nicht hier in einer verstaubten Villa hocken, Cocktails schlürfen und auf 49


meinen Erfolg warten müssen. Aber dann kam Cedrik und alles drehte sich nur noch um ihn!« »Thea«, unterbricht der Kommissar, »Sie machen sich gerade sehr verdächtig.« Dorothee atmet tief durch und klärt Holler auf: »Ich habe genug Gönner und Gentlemen, die mich finanziell unterstützen, auf das Erbe Rosenthal könnte ich gut und gerne verzichten. Herr Kommissar sie müssen verstehen, ich war immer da für den Onkel Oskar. Ich hab immer für ihn die Krawatten ausgesucht. Ich habe mich gekümmert. Und dann zieht der Cedrik in die Villa, noch offensichtlicher wäre es wohl nicht gegangen!«, beschließt Thea und kippt ihren Gin Tonic. Holler holt kurz aus für seine nächste Frage, da platzt ihm Dorothee ins Wort: »Lilly, Li - Lia - Na! Verdammt noch mal, Arthur! Arthur, Gin. Tonic. Einen Doppelten und eine Aspirin!« »Sie wollen sagen, Cedrik ging es nur um das Erbe Rosenthal?«, hackt er nach. »Er war einfach berechnend. Und ich habe ihn durchschaut. Das Bild habe ich noch glasklar vor meinen Augen, wie er mit seiner unerträglichen Fistelstimme dem Onkel Oskar am Sterbebett sagt: ›Papa, die Familie ist doch das Wichtigste! Und jetzt bin ich ja da.‹ Gott, so ein Erbschleicher!« Arthur stellt das Glas am Beistelltisch ab und reicht Thea die Aspirintablette. Seine weißen Handschuhe machen es für einen kleinen Augenblick unmöglich, die Tablette in der Handfläche ausfindig zu machen. Holler versucht zu helfen und zeigt mit seiner ange50



rauchten Zigarette auf die Stelle. »Danke.«, so Thea, nimmt die Aspirin und spült das Medikament mit reichlichem Durst runter. »Vielleicht sollten wir das Gespräch an einer anderen Stelle weiterführen.« bemerkt Holler. »Und vielleicht sollten sie etwas essen, mein Fräulein«, kommentiert der Butler. Thea lächelt verschmitzt und freut sich über so viel Fürsorge: »Meine Herren, sie haben Recht!«, gesteht Dorothee und fügt hinzu, »Arthur, wissen sie wo der Timo steckt?« Der Butler erwidert leidenschaftslos: »So wie ich den Timotheos kenne, ist er im Gartenhaus, er muss sich doch um die Stiefmütterchen kümmern.«

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KAPITEL

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Die

Schรถne UND Der Zinnsoldat


Holler steht im Kaminzimmer, an jener Stelle, an der der Mord geschah. Die Gardinen bewegen sich sanft wallend im abendlichen Wind, der stoßweise durch die offenen Fenster dringt. Ruhig und schwer stehen die mächtigen Polstermöbel an ihren Plätzen, die sie seit eh und je auf dem Perser einnehmen. Still und gebieterisch hängt der kristallbesetzte Luster über Hollers Kopf. Dieser bückt sich und untersucht nochmals den Perserteppich. Wenn dieser Raum sprechen könnte, es würden wohl so einige Geheimnisse geborgen. Der Rauch der frisch gedrehten Zigarette in Hollers Mund bahnt sich schwer seinen Weg in Richtung Fenster. Weich und mühsam kräuselt er sich durch die Luft. Das Ticken der Wanduhr legt einen Hauch Monotonie auf die Szene. Das Pendel schwingt. Unermüdlich sucht Holler nach dem Gegenstand. Er hatte der Spurensicherung doch aufgetragen, alles im Haus zu lassen. Mit dem Gegenstand wollte er alles nochmals in Ruhe durchgehen. Die Position der Leiche, der Weg des Mörders. Hat Cedrik gesehen, wer ihn ermordet hat? Oder konnte der Mörder wirklich so leise sein, um ihn zu überraschen? Vorsichtig schreitet Holler über den Perserteppich, bedacht darauf, kein Geräusch zu machen. Zuerst die Ferse, dann den Fuß langsam abrollen bis zu den Zehenspitzen. Nicht einfach. Hätte er nur das gesuchte Ding, könnte er sich alles viel besser vorstellen. Der Kommissar beendet seine Schleichübungen und kreist noch einmal durch den Raum. Er scannt das Zimmer förmlich, lässt keine Ecke aus. Am Kamin, nichts. Hinter dem Globus, nichts. 56



Dieser steht noch immer geöffnet da, gefüllt mit unzähligen hochprozentigen Köstlichkeiten. Cognac, Scotch, Wodka, alles in verschiedensten Flaschen und Formen. Nur komisch, kein Gin. Unter den Möbeln, nichts. In den Regalen, bei den Büchern, auf dem Tischchen, nichts, nichts, nichts. Holler ist sich sicher, dass der Mörder nicht von außen in die Villa kam. Die Spurensicherung hat kein fremdes Eindringen feststellen können. Wer auch immer Cedrik ermordet hat, er war schon vorher im Haus – und er ist es auch jetzt noch. Der Kommissar nimmt einen tiefen Zug seiner Zigarette. Er lässt den Rauch in seine Lungen strömen und atmet ihn langsam aus. Dabei beobachtet er die geisterhaften Figuren, die der Qualm malt. Während Hollers Blick dem Rauch in Richtung Fenster folgt, zieht sich ein langer Schatten von hinten über die Szene. Holler erschrickt. Eine schwarze Gestalt steht in der Tür. Das Licht im Gang, dass sie von hinten beleuchtet erzeugt eine gefährliche, angsterregende Aura. In den Händen hält die Figur einen länglichen, spitzen Gegenstand. Das schmale Gebilde ist an einem Ende zu einem Haken gebogen. Es ist die Mordwaffe. »Ah, guten Abend Herr Inspektor!«, die Stimme des Butlers lässt sogar den sonst so gelassenen Holler erschaudern. So viel Kälte und Zynismus in einem Ton sind überaus selten. Die Figur tritt einen Schritt ins Zimmer. Aus der schwarzen Silhouette steigt ein Mensch hervor. Arthur fährt fort: »Ich habe mir erlaubt, den Schürhaken zu polieren. Hätten Sie ihn denn gebraucht?« Holler schüttelt den Kopf, es hätte keinen Sinn, sich 58



mit Arthur anzulegen. Er ist ein Urgestein. Gehört genauso zum Haus wie die steif platzierten Einrichtungsgegenstände, unveränderlich und stur. Mit ihm muss man besonders vorsichtig sein, das ist dem Kommissar klar. »Ich muss Sie bitten, im Haus nicht zu rauchen, Herr Kommissar«, zischt er und macht einen weiteren Schritt ins Kaminzimmer, den Schürhaken noch immer fest umklammert. Holler kann nicht anders, als mit den Augen zu rollen. Er nimmt noch einen letzten Zug vom Glimmstängel, bevor er diesen in einen wuchtigen Kristallaschenbecher drückt. »Und wofür sind diese Behältnisse dann, wenn ich Sie fragen darf?«, so der Kommissar, dessen Hand noch immer im Ascher ruht. »Geben Sie das her!«, faucht Arthur sichtlich genervt und reißt den Aschenbecher vom Beistelltisch. Beide Parteien können absolut nichts miteinander anfangen. »Herr Rosenthal, der verstorbene Hausherr, pflegte zu rauchen. Das war aber bei Weitem nicht sein einziges Laster …«, der Butler kann nicht anders, als diesen Nachsatz noch herauszuwürgen. Er mochte Oskar nicht, so viel ist sicher. Das gleiche gilt natürlich für dessen unehelichen Sohn. Holler muss erfahren, was genau es mit Cedrik auf sich hatte: »Herr Arthur, wären Sie so freundlich und würden mir ein paar Fragen beantworten? Ich muss genaueres über die Verhältnisse in der Familie Rosenthal erfahren, bevor ich in meinen Ermittlungen fortfahren kann.« »Habe ich eine Wahl?«, antwortet der Butler. 60


Holler fordert ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Augenrollend lassen sich beide Herren in die wuchtigen, mit altrosa Samt bezogenen Polstermöbel fallen. »Also, Herr Arthur, seit wann war der Cedrik hier im Haus?«, beginnt der Kommissar sein Verhör. Dieser räuspert sich bevor er sich auf die Fragen des Kommissars einlässt: »Naja, dass der Herr Oskar nicht der stilbewussteste Mensch war, haben Sie ja schon mitbekommen, Inspektor. Der große Herr Rosenthal konnte sich ja viel erlauben, vor allem in seiner Jugend. Wissen Sie, die richtige Rosenthal ist ja die Frau Gabriela. Der Herr Oskar hat hier ins Haus geheiratet, es gab keinen männlichen Nachkommen der Rosenthals. Noch dazu brachte er ein gewisses Vermögen mit, dass der Familie Rosenthal damals, … sagen wir … es hat ihr nicht geschadet. Wenn man nur Töchter hat, die verheiratet werden müssen, bleibt die eigene Familie auf der Strecke … naja. Die Frau Gabriela jedenfalls, eine gebürtige Rosenthal, hat den Herrn Oskar geheiratet, das war vor etwas mehr als 50 Jahren. Sie waren ein stattliches Paar, vor allem die Braut. Die Fotos können Sie ja überall im Haus betrachten.«, obwohl jegliche Emotion in der Stimme des Butlers fehlt, bemerkt man starke Sympathie für die Familie Rosenthal, »Diese junge Frau damals, ich sage es Ihnen, sie war das schönste Mädchen in der Gegend. Bloß junge Männer gab es hier am Land keine, die ihres Standes würdig waren. Eine Rosenthal kann schließlich nicht jeden beliebigen Dorftrottel heiraten. So wurde sie 61


schließlich mit dem jungen Herrn Oskar vermählt, zweitältester Sohn eines alten Adelsgeschlechts, lange Militärkarriere. Doch durch sein ausuferndes Feiern hatte er den Namen seiner eigenen Familie schon genug in den Dreck gezogen. So nahm er den Namen der Rosenthals an und trat seine Pflicht an, diese Familie fortzuführen. Wie erfolgreich er dabei war, können Sie sich ja vorstellen. Die arme Gabriela bekam trotz mehrerer Fehlgeburten nie ein Kind. Kein Wunder, bei dem Kummer, den er ihr bereitet hat. Er hat sich nie gekümmert, dieser Zinnsoldat!« Arthur erzählt all diese Dinge gewohnt emotionslos, Regeln und Einhaltung der Etikette scheinen ihm das wichtigste zu sein. »Und dass der einzige Sohn vom Herrn Oskar, der Cedrik nicht aus seiner Ehe entstammt, haben Sie ja hoffentlich schon bemerkt, Herr Kommissar. Der Herr Cedrik ist seinem Vater ja was das Feiern anbelangt, in nichts nachgestanden. Wie viele Möbel und Perserteppiche nicht durch Brandlöcher und umgestürzte Kristallgläser zerstört wurden … Beide haben es geliebt, das Haus Rosenthal als Spielplatz ihrer Partyfantasien zu verwenden. Nur hat der Cedrik Gott sei dank noch keine unehelichen Kinder dabei produziert.« Der Kommissar kann nicht anders, als den Butler zu unterbrechen: »Aber warum ist die Frau Gabriela denn mit ihrem Mann zusammengeblieben, wenn er sie so oft betrogen hat?« »Eine Rosenthal hat Stil!«, fährt ihm Arthur ins Wort, »Die Dame des Hauses hat ihre Pflicht, den Namen Rosenthal weiterzuführen, immer ernsthaft verfolgt. 62


Einer Dame ihres Standes gebührt es nicht, über das ausufernde Verhalten ihres Ehegatten zu sprechen. Sie hatte sogar genug Stil, kurz vor seinem Tod sein Balg ins Haus zu holen, weil das Oskars letzter Wunsch war. Sie können sich wohl nicht vorstellen, was das für die Familie Rosenthal bedeutet hat, Holler? Frau Rosenthal hatte schon lange ihre Nichte Thea als Nachfolgerin der Rosenthals auserkoren und da kommt plötzlich so ein dahergelaufenes Arbeiterkind und zerstört die Familienverhältnisse.« Während der Butler in trockenem Ton spricht, fragt sich Holler, ob fehlender Stil einem Hausangestellten wie Arthur wirklich störend genug wäre, um einen Mord zu veranlassen. Der Butler ist berechnend. Würde er so frei über seine Abneigungen Cedrik gegenüber sprechen, wenn er diesen kaltblütig umgebracht hätte? Oder hat auch Arthur eine versteckte Zuneigung für eine der Rosenthal-Damen? Eine gellende Stimme unterbricht die Unterhaltung: »Arthuuuuuuuuuuuuuuur«, kreischt Thea quer durchs Haus, »wo ist mein Gute-Nacht-Cocktail? Aber husch husch!«

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KAPITEL

06


Grosser Hai Und kleiner Fisch


Kommissar Holler zieht um die Ecke der Villa Rosenthal und wirkt in seinem Spaziergang tief versunken in den Gedanken an den Mörder. Jeder Schritt, ein Gedankenschritt. Mit jedem Tritt kommt er der Lösung des Falls näher. Sein Weg ist gesäumt von exotischen Ziersträuchern, seltenen Obstbäumen und sorgsam angelegten Blumenbeeten. Die Kelchblätter triumphieren in knalligen Farbtönen und baden den Garten in ein Duft-Bouquet von Jasmin, florentinischer Iris und Patchouli. Der Schatten der Königspalme spendet kurzzeitig Erholung, da sticht dem Kommissar der Rosenstrauch ins Auge. »Ave Maria.«, stöhnt er kurz auf und besinnt sich unmittelbar wieder auf die Geschehnisse der letzten Tage. Der Garten wirkt malerisch, verträumt und gemütlich. Warum sollte jemand in einer solch friedvollen Umgebung eine so grausame Tat begehen? Holler geht weiter, unbeirrt und besonnen. Vor dem Eingang des Anwesens erkennt er den Gärtner, bewaffnet mit einer Heckenschere steht Timotheos sich dem Buchsbaum gegenüber. Seine kräftigen Arme zeigen ein buntes Tattoo-Muster und münden in von Adern durchzogene, raue Hände. Eine abgetragene Latzhose rahmt seine breiten Schultern und die grünen Gummistiefel stemmen sich in den Boden. Er nimmt die etwas rostige Heckenschere in die Hand und beginnt, Blatt für Blatt, Ästchen für Ästchen das Gestrüpp zu formen. Die ersten Schweißperlen rieseln von der Stirn und sammeln sich an seiner Nasenspitze, mit einer entschiedenen Bewegung wischt er diese mit dem Handrücken weg. Holler, sichtlich eingenommen 66



vom Bild, stellt sich vor den Gärtner. »Holler, aus der Sonne, ich arbeite hier! Das ist schweres Gerät in meinen Händen und du willst doch nicht, dass dir am Ende des Tages ein Finger oder gar ein Kopf fehlt. Und jetzt aus’m Weg, die alte Rosenthal will heute noch einen Delphin in ihrem Garten rumhoppeln sehen.«, fährt Timo mit grimmiger Stimme dem Kommissar ent‑ gegen. Holler blickt ihn kompromisslos an und bleibt an seiner Stelle festgenagelt stehen. Kurz greift er an seinen Hut und korrigiert dessen Position, der Schatten scharrt sich bis kurz unter die markanten Augenringe ins Gesicht. »Mit Verlaub, Herr Timotheos, ich befürchte, Delphine hoppeln nicht.«, so Holler unbekümmert. Timo lässt die Heckenschere fallen, wischt sich den Schweiß in die Hose und stellt sich dicht vor den Kommissar. Seine Stimme wird tiefer und bedrohlicher: »Hör’ mir genau zu, Burschi. Wir brauchen hier keinen Bullen, der seine Nase in Angelegenheiten steckt, die ihn nix angehen. Bis jetzt sind wir auch sehr gut ohne die Polizei zurecht gekommen. Hier sind schon viele Leut’ gekommen und gegangen, freiwillig oder …«. Holler fällt ihm ins Wort: »… mit einem Schürhaken im Rücken. Ich weiß. Timotheos, sehen Sie, ich will diesen Fall so schnell wie möglich abarbeiten. Je länger Sie den halsstarrigen Macho spielen, desto verdächtiger machen Sie sich. Sie helfen mir und ich stehe Ihnen nicht länger in der Sonne. Wie klingt das?« Keinen Zentimeter bewegt sich der Kommissar von seiner Position, er bleibt ruhig. Timo scheint zu ver68



stehen, Widerstand ist zwecklos. Für Holler war das bei Weitem nicht das erste Verhör, und erlebt hat er schon alles von dem rachsüchtigen Portier, über die abgebrühte Eheschwindlerin bis hin zur naiven Teller‑ wäscherin. Ein von Testosteron strotzender Gärtner hat im Repertoire noch gefehlt. Timotheos hebt die Gartenschere und rammt sie mit voller Wucht in den Rasen, so wie es Holzfäller mit ihrer Axt und Metzger mit ihrem Fleischermesser tun. Kurz atmet er durch und antwortet dem Kommissar: »Solang du mich nicht zulaberst mit deinem PolizistenSlang. Zigarette?« Hollers Miene bleibt unverändert, er greift in die linke Tasche seines Mantels und holt Tabak und Filter heraus: »Danke. Ich dreh’ mir lieber selber eine.« Geduldig bastelt er an seiner Zigarette, während der Gärtner an seiner schon zieht. Sichtlich übereilt presst er den Rauch gen den strahlenden Himmel. »Wie auch immer. Na? Frage Nummer Eins?«, fordert er. Holler zündelt an seiner Zigarette und besänftigt den Gärtner: »Immer mit der Ruhe Herr Timotheos. Das ist keine Klassenarbeit. Erzählen Sie mir einfach wie das war, mit dem Cedrik hier in der Villa.« »Cedrik, der gute Cedrik. Ein kleiner Hosenscheißer war der. Da hatte selbst der Othello mehr Eier in der Hose. Wie wäre das Haus Rosenthal dagestanden, mit so einem Kasperl an der Spitze?«, lacht Timo mit Genugtuung, schüttelt den Kopf und zieht an der Kippe. »Eine ziemlich mutige Aussage, für jemanden, der mit 70


der Rosenthal-Familie nur peripher zu tun hat, oder?«, entgegnet ihm Holler ruhig. Der Gärtner wirft unbeherrscht den Zigarettenstummel auf den Boden, die Sohle des Gummistiefels erstickt das letzte Bisschen Sauerstoff. Timotheos packt Holler am Revers seines Mantels, langsam und deutlich, Zähne knirschend und rot anlaufend faucht er ihm entgegen: »Burschi, du hast keine verfluchte Ahnung! Ich bin sehr wichtig für’s Haus! Ich halte hier quasi alles in Schuss und schau, dass uns das Dach nicht am Kopf kracht! Ich kümmer’ mich immerzu um den Garten, Blumen, Delphine …», Timo holt kurz Luft, da unterbricht Holler: »Thea?« Die Anspannung in Timotheos’ Gesicht löst sich, er tritt zurück und holt sich eine weitere Zigarette aus dem zerknirschten Softpack. Er schließt kurz die Augen, wischt den Schweißfilm von der Stirn und zieht lang am Glimmstängel. Die Stimme setzt sich: »Ja. Auch Thea. Meine Thea. Meine Orchidee, die man ganz sorgfältig pflegt, die man regelmäßig gießt, der man immer einen Platz an der Sonne sucht.« Plötzlich wirkt der so angestrengt aggressive Gärtner ganz verändert, die Muskeln entkrampfen und der Puls entschleunigt sich. Kommissar Holler nutzt die Gelegenheit und legt Timo eine Hand auf die Schulter: »Herr Timotheos, da findet sich unter der harten Schale ja doch ein weicher Kern. Das Fräulein Rosenthal scheint es Ihnen angetan zu haben?«, grinst Holler und amüsiert sich innerlich. Mit einem kurzen Blick lokalisiert Timo die fremde Hand, Holler zieht sie sofort zurück. Der Gärtner wendet sich vom Kommissar kurz ab und 71


zeigt mit seiner Hand auf das Anwesen: »Diese Villa ist für Thea ein goldener Käfig. Sie hat alles, muss weder fragen noch betteln. Sie hat alles, muss aber Angst haben, dass hinter ihrem Rücken die Leut’ Scheiße reden. Sie hat alles, muss nie sparen oder auf irgendjemand Rücksicht nehmen. Sie hat alles, muss aber immer dem Rosenthal-Standart entsprechen.« »Sollte ich jetzt Mitleid fühlen, Timotheos?«, entgegnet der Kommissar. »Thea und ich haben zueinander gefunden, weil ich mit Rosenthal nix am Hut habe.«, führt Timo fort und entsorgt den zweiten Zigarettenstummel. Vom Balkon aus beobachtet Gabriela R. das Geschehen im Garten. Herrisch stützt sie ihre beiden Arme am schmiedeeisernen Geländer, während Othello seinen Kopf durch die formvollendet gebogenen Querverstrebungen streckt. Das Gespräch zwischen Holler und Timotheos ist ihr unangenehm, vernachlässigt immerhin ihr Gärtner die von ihr aufgetragenen Aufgaben und Pflichten. Die Villa einer feinen Dame muss immerzu makellos und frisch bezogen wirken, denn jeder Gegenstand des Inventars hat seinen sorgsam definierten Platz, jedes Textil-Muster sein dazu abgestimmtes Pendant und jedes Blumenbeet seinen eigenständigen Grundriss, zuvor am Reißbrett detailliert festgehalten. Der Garten einer gut situierten Dame offenbart deren innerste Geheimnisse, deshalb muss mit allen Wegen und Mitteln versucht werden, diese unter einer hauchdünnen Grasschicht feinsten englischen Rasens zu kaschieren. Gabriela R. nimmt Othello in den Arm 72


und mahnt mit besorgtem Ton: »Timo, ein Delphin ist ein Säugetier und braucht Sauerstoff zum Überleben, so wie der kleine Othello hier. Vergiss’ das Luftloch nicht Timo, sonst erstickt unser Flipper!« Der Gärtner versucht die Warnung zu orten und blickt etwas verunsichert auf den Balkon. Die Hausherrin lächelt unbekümmert, nimmt Othellos Pfötchen in die Hand und winkt dem Kommissar. Angestrengt streckt der Schoßhund seine blassrosafarbene Zunge heraus und hechelt ruhelos. »Ja, Frau Rosenthal.«, versichert Timotheos der Hausherrin und lächelt angestrengt. Er wendet sich zum Buchsbaum und brummelt genervt: »Ich mach dir gleich ein Luftloch …« Die rostigen Scherenblätter arbeiten sich durch das dichte Grün des Busches. Timos Bewegungen werden immer energischer, sein Gesichtsausdruck wird fieberhaft und eine dicke Ader pulsiert auf seiner Stirn. Die Stimme wird zittrig, der Atem ganz unruhig. Timotheos ist sichtlich aufgebracht und zerstückelt regelrecht das Bäumchen. Der Gärtner poltert lautstark: »Cedrik konnte nie viel mit Frauen anfangen, er hat auch selten ein Mädel mit nach Hause gebracht. Ganz ehrlich Holler, ich glaube der Cedrik war ein …«, Timos Stimme pausiert kurz. »Ich habe verstanden, Timotheos.«, ernüchtert der Kommissar, »Ich bin aber etwas erstaunt, Arthur hat mir ganz andere Geschichten geschildert: hemmungslose Parties, zerbrochenes Kristallglas, verwüstete Zimmer … Irgendetwas scheint hier nicht zusammen zu passen.« Ganz außer sich beißt Timo auf seine Unterlippe, umfasst angespannt die Gartenschere und atmet 73


tief durch seine Nase ein, bevor er antwortet: »Das ist schnell erklärt Holler, der Cedrik hatte Frauen nur als Alibi zu Besuch. Ein, du weißt ja was ich mein’, ein …«, Timotheos hält kurz inne und schließt seine Augen. Der Kommissar rollt die Augen und bestätigt erneut: »Ich weiß.« Dabei weiß Holler ganz genau, dass er so gut wie gar nichts Wasserfestes in seiner Hand hat. Ist es bloß dummes Gerede von einem aufgeblasenen und aufgepumpten Tulpensetzer? Wenn Cedrik ein Freund der weiblichen Reize und Gesellschaft war, warum scheint diese Vermutung Timotheos so spürbar zu beschäftigen? Abgrundtiefe Ablehnung oder etwa versteckte Leidenschaft? War Cedrik etwa nicht der einzige, der es bevorzugte, zweigleisig zu fahren? Hollers Gedanken werden unterbrochen von Timotheos’ verdrossenen Worten: »So jemanden wie den Cedrik hätte niemand als den Rosenthal-Erben ernst genommen! Und so hat sich der kleine, unschuldige Cedrik eine kleine, unschuldige Welt aufgebaut mit Frauen, Feiern und Flirts. Und so hat Cedrik der Thea alles verbaut! Und der Cedrik hätte bestimmt aus dem Anwesen seinen eigenen privaten Spielplatz gemacht. Und dann wären ich, Lilly und Arthur flugs rausgeflogen, die alte Rosenthal hätte er früher oder später in ein Luxus-Altenheim gesteckt und Thea wäre irgendwo auf der Strecke geblieben.« Hollers Gedankenstarre lässt den Kommissar vollkommen regungslos in die Augen des Buchs-Delphins stieren. Er schüttelt seine Steifheit ab, räuspert sich 74


und wendet sich an den Gärtner: »Timotheos, so wie Sie mir hier Ihre Umstände schildern, ist das Ganze sehr fragwürdig. Das meiste baut lediglich auf Vermutungen und Hörensagen, und darüber welche Rolle sie in diesem selbstzerstörerischen Schauspiel ausfüllen bin ich mir noch gar nicht sicher.« Timotheos nimmt den Kommissar für einen Augenblick nicht ernst, er bemerkt lachend: »Holler, jetzt red’ keinen Blödsinn.« Er schnipselt weiter und hält dabei die Heckenschere gefährlich nahe an Hollers Gesicht. Dieser weißt den Gärtner noch einmal zurecht: »Timotheos, zu diesem Zeitpunkt ist jeder verdächtig.« Erneut verliert der Gärtner seine Nerven, die Scherenblätter blitzen vor Hollers Augen und Timo brüllt: »Burschi, ich zeig dir gleich wer hier…« »Timo! Timo«, fällt die Hausdame dazwischen, »ich hab’s mir nochmals überlegt, ein Delphin ist so … so verspielt! Ich will etwas Bedeutsames. Etwas Eindringliches. Etwas Ernstes. Timotheos, mach’ mir einen Schwertfisch!«

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KAPITEL

07


Mit Schirm, CharmE und Tranchiermesser


Es ist das letzte Verhör, das für Holler ansteht, aber auch das, dass ihm am meisten Nervosität bereitet. Der Kommissar ist sich nicht ganz sicher, warum er so unruhig ist. Immerhin hat das Hausmädchen die Leiche ja gefunden. Sie zu verdächtigen wäre eine sehr wage Angelegenheit. Dass Liliana Cedrik zuerst ermordet hätte und dann vorgab, ihn gefunden zu haben, schließt auch die Spurensicherung aus. Aber man kann sich ja nie vorstellen, was für durchtriebene Pläne eine Person hat, die kaltblütig genug ist, jemanden so brutal zu ermorden. Holler sitzt auf der Terrasse. Es ist ein schöner Morgen, die Luft ist noch etwas feucht vom Regen der letzten Nacht, aber die Sonne spitzt schon wieder vom Himmel. Er gießt sich selbst Kaffee aus dem Silberkännchen nach, bevor er in seine Brusttasche greift, um sich eine Zigarette zu drehen. Er fragt sich einen Moment lang, wie lange er noch aus dem feinem Porzellan frühstücken würde und verstreut dabei etwas Tabak auf der Spitzentischdecke. Von der Terrasse aus hat er vollen Überblick über das Anwesen Rosenthal, es ist die Eigenart des Hauses, dass man sich trotz all der Menschen immer irgendwie alleine fühlt. »Darf ’s vielleicht noch ein Semmerl sein, Herr Kommissar?«, die hauchende, schüchterne Stimme des Hausmädchens holt Holler aus seinen Gedanken. Er lächelt dem Mädchen entgegen und sagt: »Nein, danke, Liliana. Es war ausgezeichnet. Sie wissen, ich würde Ihnen heute gerne ein paar Fragen stellen zu … Sie wissen schon … dem Mord.« 78


Lilianas Augen weiten sich für einen Moment, und in größter Anstrengung, kühl und sachlich zu bleiben, antwortet Sie: »Ja, aber natürlich Herr Holler, ganz wie Sie wollen. Es ist nur, ich habe noch so viele Vorbereitun‑ gen zu treffen, für heute Abend. Ich muss die Gläser durchspülen und die Servietten bügeln, aber vor allem muss ich das Tafelsilber polieren. Die gnädige Frau verabscheut es nämlich, wenn ihr Besteck nicht blitzblank ist. Überhaupt an so einem wichtigen Tag wie heute …« »Gehen Sie ruhig, Liliana.«, so der Kommissar, »Ich verstehe vollkommen, dass heute ein wichtiger Abend ist. Ich besuche Sie einfach später in der Küche und Sie beantworten mir die Fragen nebenbei, wenn Ihnen das passt. Ich werde noch etwas hier sitzenbleiben und die Morgensonne genießen. Danke, Fräulein!« Mit einem Knicks verabschiedet sich das Hausmädchen in Richtung Küche, wo sie laut klimpernd ihre Vorbereitungen für das Abendessen trifft. Holler lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet unzufrieden seine etwas buckelig gewordene Zigarette. Er hält den Glimmstängel gegen die Sonne, dreht ihn ein paarmal und zündet ihn schließlich doch noch an, um sich wie gewohnt seinem Laster hinzugeben. Heute Abend muss alles perfekt laufen. Völlig unerschüttert von dem fürchterlichen Vorkommnis des Mordes treffen alle ihre Vorbereitungen für diesen Anlass. Es scheint wirklich keinen im Haus sonderlich zu kümmern, dass Cedrik tot ist. Immerhin hat man ihm eine Eisenstange in den Rücken gerammt. Es braucht schon einiges an 79


Kraft, um eine solche Tat zu begehen. Einer der Hausbewohner war der Mörder und niemanden wirft das Ereignis aus der Bahn. Beinahe niemanden. Holler sieht den weit offenen Blick der verlegenen Liliana vor seinem inneren Auge. Was hat das Mädchen wohl dabei empfunden, als sie die Leiche vor sich ausgestreckt sah? Was unterscheidet sie von den anderen im Haus? Die sonst so präsente Kälte spürt man in ihr überhaupt nicht, eher schreckhaft und zögernd schleicht das Hausmädchen regelrecht durch das Anwesen. Was verbirgt sich hinter der Schüchternen Liliana? Holler tupft sich mit einer Stoffserviette die Marmeladenreste von den Lippen. »O.R.« wurde in kunstvoll geschwungenen Lettern in das Gewebe gestickt. Wenn der alte Oskar das alles hier noch erlebt hätte, was hätte er bloß gesagt? Schwebt sein Geist noch über dem Anwesen Rosenthal? Blödsinn, denkt sich Holler und steht mit einem Ruck auf, um sich in die Küche zu begeben. Dort findet er Liliana, wie erwartet, die sehr sorgfältig dabei ist, eine Gabel zu polieren. Als sie Holler sieht, schreckt sie kurz auf: »Ah, Herr Kommissar, Sie waren aber schnell fertig mit dem Frühstück! Hätten Sie gern noch Kaffee? Ich muss nur kurz Ihren Tisch abräumen.« Der Kommissar beruhigt das Mädchen: »Ich bin mir sicher, das kann Arthur machen, Liliana. Tun Sie mir einen Gefallen und bleiben Sie hier. Sie können Ihre Arbeit gerne weiterführen. Ich muss Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Es sollte recht schnell gehen.« Penibel reibt das Dienstmädchen weiterhin an der 80


Silbergabel, während sie murmelt: »Aber sicherlich, Herr Kommissar.« »Sehr gut«, antwortet dieser, »Wie lange arbeiten Sie denn schon für die Rosenthals, Liliana? Haben Sie den Herrn Oskar gekannt?« Liliana blickt von ihrer Arbeit auf und beginnt zu erzählen, während sie Tuch und Gabel fest umklammert hält. »Ich bin vor etwas mehr als einem Jahr hier an die Villa Rosenthal gekommen. Ich bin im nahegelegenen Dorf aufgewachsen und hatte schon immer viel von der Familie gehört. Zu sehen bekommt man die Familienmitglieder in der Regel aber nie im Dorf. Obwohl, wir ja in unmittelbarer Nähe leben. Man hört nur Geschichten, von den großen Festen und dekadenten Partys hier am Anwesen. Aber das meiste sind ja doch nur Vermutungen. Gerade als der Herr Oskar noch lebte, wurden immer wieder die wildesten Geschichten erzählt, sobald man abends die vielen schönen großen Autos in Richtung Villa Rosenthal rollen sah. Als ich hierher kam, war der Herr Oskar noch am Leben, ja. Aber er war schon sehr krank, lag immer im Bett. Ich persönlich habe fast nie mit ihm gesprochen. Ich hab ihm nur ein paarmal sein Essen ans Bett gebracht, gekannt hab ich ihn aber nicht.« Der Kommissar wird neugierig: »Was für Geschichten wurden im Dorf denn herumerzählt über den Herrn Rosenthal?« Liliana antwortet unschlüssig: »Ach wissen Sie, es steht mir wirklich nicht zu, darüber zu reden. Man darf diese ganzen Gerüchte doch nicht glauben …« 81


Holler wirft ihr nur einen fordernden, aber freundlichen Blick zu, bevor sie doch fortfährt: »Na gut, also … der Herr Oskar war für seine ausufernden Feiern bekannt, das wissen Sie ja sicherlich. Er kam ja nach seiner Karriere als junger Offizier hierher und hat die gnädige Frau geheiratet. Regelmäßig gab er Gartenpartys, Empfänge und Bälle, zu denen auch nur die nobelsten Personen der Gesellschaft eingeladen waren. Aber man sagt, dass diese Veranstaltungen alles andere als nobel gewesen sind. Der Herr Oskar liebte gute Zigarren, starken Alkohol und vor allem schöne Frauen. Angeblich ließ ihm die gnädige Frau all seine Eskapaden durchgehen, da sie sein Geld brauchte, um das Rosenthal Anwesen erhalten zu können und den Familienstolz zu wahren. Und wie sie bestimmt wissen ist bei einer seiner vielen Affären ein Kind entstanden. Dieses Kind war der Cedrik.« Lilianas stimme beginnt stark zu zittern, sie schluckt, bevor sie fortfährt: »Und der Cedrik, das war ganz ein anderer Mensch als sein Vater. Er war so eine gute Seele. Ein fröhlicher, junger Mensch, der frischen Wind in dieses triste Haus gebracht hat. Dabei muss es so schwer für ihn gewesen sein, denn außer seinem Vater wollte ihn hier niemand. Und das ließen sie ihn auch spüren, bei jeder Gelegenheit!« Holler hört der jungen Frau zu, angelehnt an ein Küchenregal steht er lässig da und kramt wieder einmal nach seinem Tabak. Er fragt sich, was mit dieser Familie los ist. Wirklich jeder erzählt ihm eine andere Geschichte vom Charakter des jungen Rosenthal. Und somit machen sich auch jede Frau und jeder Mann hier 82


im Hause verdächtig. Er wirft einen verstohlenen Blick auf die junge Hausgehilfin. Die zarte Person scheint so verloren in den Rosenthal-Mauern. Angestrengt beißt sie sich auf die Zähne, während sie das Besteck poliert. Diesmal ist es ein silbernes Messer. Alles nur Fassade? Könnte Liliana das Messer verwenden, um jemanden umzubringen? »Alles bereit für heute Abend?«, fragt Holler gelassen lächelnd, während er mit der Zungenspitze vorsichtig das Tabakpapier befeuchtet, um sein Zigarettenkunstwerk zu vollenden. »Ja, alles«, haucht Liliana, »bis auf das Tafelsilber, aber Sie sehen ja, es fehlt nicht viel.« »Kommen auch Gäste?«, fragt Holler gespielt interessiert. Das Dienstmädchen antwortet eifrig: »Aber ja doch, Herr Kommissar. Schließlich ist heute ja der erste Todestag vom Herrn Oskar. Natürlich kommen Gäste! Das Abendessen soll ja gebührend an den verstorbenen Herren erinnern. Es gibt sein Leibgericht, Truthahnbraten!« Lilianas Augen leuchten kurz auf, als sie das frisch geschliffene Tranchiermesser im Licht wendet und betrachtet. »Alles muss perfekt sein für den Jahrestag, von den Servietten bis hin zu den Kristallgläsern. Ich darf nichts vergessen!« Der Kommissar kann nicht länger zögern, die Frage brennt ihm zu sehr auf den Lippen: »Fräulein Liliana, verzeihen Sie die Frage. Aber der Herr Cedrik ist brutalst ermordet worden und niemand im Haus scheint auch nur im Entferntesten davon berührt zu sein. Der 83


Todestag vom Herrn Oskar hingegen wird riesengroß gefeiert.« Da wird das sonst so schüchterne Hausmädchen plötzlich todernst: »Hören Sie, Herr Kommissar. Sie wissen, die meisten von uns hatten gute Gründe, den Herrn Cedrik umzubringen. Er kam plötzlich ins Haus, als die Erbfolge quasi schon geregelt war. Für die gnädige Frau war er eine Schande und der lebende Beweis der Ausrutscher ihres Mannes, aber es war sein letzter Wille, seinen Sohn im Haus zu haben, so musste sie es vertragen. Für ihre Nichte, das Fräulein Dorothee bedeutete die Ankunft von Cedrik ein drohendes Karriereende. Der Herr Arthur ist ohnehin immer an der Seite der gnädigen Frau und der Rosenthals gewesen und von Timo müssen wir ja gar nicht reden. Er sieht sich selbst als den einzigen Mann im Haus.« So viel Ehrlichkeit und Härte seitens des Hausmädchens war der Kommissar nicht gewöhnt. Verblüfft zieht er ein paarmal schnell an seiner Zigarette, bevor er die entscheidende Frage stellt: »Und Sie, Fräulein Liliana? Wie war Ihre Beziehung zum Herrn Cedrik? Und wie war es, nachts über seine Leiche zu stolpern?« Jegliche Farbe weicht aus Lilianas Gesicht. Sie stolpert zwei Schritte nach hinten und antwortet schwer atmend: »Ich habe den Herrn Cedrik sehr gern gemocht – wohl als einzige hier im Haus. Wir haben sehr oft miteinander geredet, immer abends, auf der Terrasse, wenn alle geschlafen haben, haben wir noch eine Zigarette zusammen geraucht. Der Herr Cedrik kommt ja selbst aus ärmlichen Verhältnissen, darum hat er sich auch für das Dienstmädchen und ihre Ge84



schichte interessiert. Wir haben sehr oft sehr lange Gespräche geführt. Und auch, Herr Kommissar, was wichtig für Sie sein wird, am Abend des Mordes.« Kommissar Holler ist ein Mann, der nicht leicht zu beunruhigen ist, aber langsam weiß auch er nicht mehr, was er sagen soll: »Was, Fräulein Liliana? Sie waren vor dem Mord mit Cedrik zusammen und sagen mir das erst jetzt?« Das Dienstmädchen wirft entsetzt den soeben in Angriff genommenen Silberlöffel aus der Hand und antwortet ihm stürmisch: »Wann hätte ich es Ihnen denn sagen sollen? Als die ganze Familie beim Dinner gesessen ist? Die gnädige Frau hätte mich sofort aus dem Haus geworfen! Und die letzten Tage waren Sie ja damit beschäftigt, all die anderen, wichtigeren Personen hier im Haus zu befragen. Ich kann Ihnen wohl schlecht dazwischen platzen, während Sie dem Fräulein Dorothee den Rücken eincremen!« So schnell, wie Liliana in Rage geraten ist, so schnell fangt sie sich auch wieder: »Ich muss um Verzeihung bitten, Herr Kommissar. Ich bin noch so aufgeregt wegen dem Mord und außerdem meine Hormone …« »Hormone?«, wundert sich der Kommissar kurz, bevor er das Mädchen erneut beruhigt: »Es ist in Ordnung, Fräulein. Dieses Verhör dauert schon viel zu lange. Wenn Sie bitte so freundlich wären, mir jetzt zu erzählen, was passiert ist, am Abend des Mordes?« Liliana bückt sich, um das Silberlöffelchen aufzuheben und fährt fort: »Der Herr Cedrik ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, er hatte eine schwierige Kindheit. 86


Trotzdem war er ein bescheidener, eleganter, freundlicher Mensch. Als er hierher kam und sah, was ihm als Kind verwehrt geblieben war, fasste er einen Entschluss. Und über diesen Entschluss erzählte er mir am Abend des Mordes auf der Terrasse und genau diese Entscheidung war wohl der Grund seines Todes. Cedrik wusste, dass er die Villa Rosenthal erben würde und er hatte beschlossen, dass er nach seinem Erbantritt ein Waisenhaus daraus machen würde. Er erzählte mir, dass er allen Kindern, die das gleiche Schicksal wie er erleben mussten, ein glücklicheres Aufwachsen in einer so noblen Umgebung schenken wollte. Und dann …« Liliana zittert stark, eine Träne rollt ihr Gesicht entlang: »Und dann war da dieses Geräusch. Ein Klirren, aus dem Gang. Jemand hatte uns belauscht. Irgendjemand hatte die ganze Geschichte gehört und mochte sie ganz und gar nicht. Ich ging sofort in die Küche, um Schaufel und Besen zu holen.Von der Person, die die Vase im Gang zerbrochen hatte, keine Spur. Cedrik sagte, er wolle kurz ins Kaminzimmer, sich ein Glas Cognac aus der Bar holen und dann …« Holler gelingt es gerade noch, Liliana aufzufangen, als diese zusammensackt. Das weinende Mädchen in den Armen haltend beendet er ihren Satz: »… und dann kam er nie wieder zurück.«

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KAPITEL

08


Der Entscheidende Zug


Da ist er also wieder. An dem Ort, an dem alles begann. Das Kaminzimmer, ein Glas Cognac, das Pendel. Holler sitzt alleine vor dem Schachbrett. In ein paar Stunden würden die Gäste kommen. Das große Todestagsessen. Wie das schon klingt … Wird es in einem Jahr auch ein solches für Cedrik geben? Und wenn ja, wird dann einer der Hausbewohner nicht mit dabei sein, weil er seine Strafe hinter Gittern absitzen muss? Holler starrt auf das Schachbrett. Schwer und edel steht es da, wie alles in dem alten Haus. Auf der schwarz-weiß gemusterten Oberfläche des Spielbretts ist die Welt noch im Gleichgewicht. Helle Felder, dunkle Felder, weiße Steine, schwarze Steine. Ein Schluck aus dem kunstvoll geschliffenen Glas. Der Branntwein rinnt die Kehle hinunter wie nichts. Aufpassen, denkt sich der Kommissar, bevor die beiden Helligkeitsstufen verschwinden und alles grau in grau wird. Die Schachfiguren werfen spitze Schatten aufs Brett. Bedrohlich stehen sich die zwei Blöcke gegenüber. So hat das alles keinen Sinn, Holler beginnt, die Situation nach seinem eigenen Muster zu ordnen. Cedrik ist der König. Schachmatt. Neben ihm die Dame, Gabriela, altehrwürdig steht sie da und behauptet ihren Platz, der ihr von Geburt an zugeteilt wurde. Dorothee als der Läufer, doch Fluchtversuch hat sie noch keinen begangen. Arthur der Turm, erdig und fest behauptet er sich, ohne nur im Entferntesten daran zu denken, seinen Platz zu verlassen. Nichts kann ihn umwerfen, oder ist sein Fundament vielleicht doch nicht mehr so stabil wie eh und je? Liliana als Springer, wo ihr Platz 90


ist, weiß niemand so genau. Und schließlich Timo, der Bauer. Was dieser nicht kennt, das tötet er nicht, oder? Würde die Dame ihren König verraten? Ist dieser überhaupt rechtmäßig? Musste er gestürzt werden? Hat die Dame das alles veranlasst? Oder war es die Läuferin, die nun wieder als nächste in der Erbfolge steht, sobald ihre Tante sterben würde. Hat sie möglicherweise ihre Schergen beauftragt, die Drecksarbeit für sie zu erledigen? Oder ist Timo nur ein kleiner Feldarbeiter ohne Einfluss? Ist der Butler in seiner sturen und konservativen Art Turm genug, um jemanden zu erschlagen, um die Regelmäßigkeit der Dinge wieder herzustellen? Und da bliebe noch die Springerin, Liliana. Ist unauffällig gleich unschuldig? Oder hat sie ihre unerwiderte Liebe zum unerreichbaren Erben in den Wahnsinn getrieben? Die Figurenkonstellation ist nun klar. Doch welche der Schachfiguren war fähig zum entscheidenden Zug? Holler sitzt im schwach beleuchteten Zimmer und betrachtet sein Werk. Immer wieder hebt er eine der Figuren von ihrem Platz und positioniert sie neu. So wenig Raum, so wenige Möglichkeiten. Und doch ist alles irgendwie vorstellbar. Der Kommissar greift in seine Manteltasche, holt Papier und Tabak hervor und bastelt vorsichtig an seiner Zigarette. Nach einem kurzen Blick über die Schulter und der Vergewisserung, dass der nörgelnde Arthur nicht in Sichtweite ist, zündet er diese an. Der Herr Oskar hat also gerne geraucht. Nicht sein einziges Laster … Holler betrachtet kurz die schönen Perserteppiche im Raum. Keine Brandlöcher zu erkennen auf den ersten 91


Blick. Was würde der Herr Oskar nur dazu sagen? Der Kommissar fragt sich, ob dieser auch hin und wieder hier am Schachbrett gesessen hat, um sich bei Cognac und Tabak zu entspannen. Einfach nichts in diesem Haus scheint normal zu sein. Alles an seinem Platz, wie immer. Holler bemerkt eine neue, grüne Flasche in der Globusbar. Sogar der Gin ist wieder da. Alle freundlich und um Perfektion bemüht. Aber keine Beziehungen. Keine einzige Kommunikation hier im Haus Rosenthal scheint echt und ehrlich zu sein. Was ist nur los mit diesen Leuten. Und wer war Cedrik wirklich? War er einer von ihnen? Durchtrieben, berechnend, geldgierig? Ein Partytier, das endlich die lang verdiente Dekadenz genießen konnte? Oder doch ein feinfühliger Mensch, der einen besseren Ort aus der Villa machen wollte? Hätte er Oskar Rosenthal ersetzen können? Oder hätte er das Haus und die Tradition Rosenthal endgültig zerstört? Holler hebt den am Brett liegenden König auf und hält ihn ins Licht, während die Zigarette noch immer in seinem Mundwinkel hängt. Die Rauchschwaden umtanzen die begehrteste aller Schachfiguren. Wer war Cedrik Rosenthal? Und wer war es, der hier an diesem Ort sein Leben beendet hat? Fokus wieder am Schachbrett. Schwarz. Weiß. Schwarz. Weiß. Schwarz. Grau. Alles verschwimmt vor Holler. Er kneift die Augenlieder zusammen und weitet sie wieder. Alles wird schärfer, aus dem Grau treten Farben hervor. Plötzlich scheint alles logischer zu sein. Heute Abend beim Essen würde er den Mörder stellen, er war sich sicher. Noch ein letzter Zug und 92


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die Figurenkonstellation stimmt. Der König tot in der Mitte. Noch bevor Holler dazu kommt, einen weiteren Schluck aus dem Cognacglas zu nehmen, verdunkeln sich die Felder des Schachbretts wieder. Diesmal liegt es nicht am Blickwinkel des Kommissars. Es ist der Schatten einer echten Figur, der sich über die Szene legt. »Die Gäste sind da, Herr Holler. Wären Sie so freundlich und beehren Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beim Abendessen?«, zischt eine gewohnt kalte Stimme von der Tür herüber, der Butler scheint zu spüren, dass Holler nicht mehr lang im Haus sein wird. »Ihren Tabak können Sie hier lassen, ich werde ihn entfernen.«

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KAPITEL

09


DER Wahre ERBE Rosenthal


Das Esszimmer strahlt im zitternden Kerzenlicht und die Geweihe, Hörner und toten Tiere an den Wänden zeichnen spitze Schatten in den Raum. Ein seltener Jaguar hockt auf einem abgeschabten Stück Holz und greift mit seinen Pranken auf die gedeckte Tafel. Das alte Kreuzrippengewölbe spannt sich über die Gäste und versammelt sie alle auf einem Punkt. Es ist Oskar Rosenthals Todestag. Sein Stuhl am unteren Ende der Tafel bleibt frei, trotzdem stehen Gläser, Teller und Besteck gewissenhaft an ihrem Platz. Eine Lücke, die nun noch breiter klafft, aber Cedriks Stelle hat Holler eingenommen, der am oberen Ende einen guten Überblick über die Tafelrunde genießt. Links von ihm sitzt die Hausherrin, flankiert vom kleinen Othello, der ganz aufgewühlt um das Stuhlbein wuselt. Thea und Madeleine schließen die linke Seite ab, ihnen gegenüber Emilie und Timotheos. Im leichten Abstand zum Geschehen bei Tisch postieren sich der Butler und das Dienstmädchen um den Kommissar. Thea kann ihren Durst kaum für sich bewahren und hat sich aus dem Weinkeller eine Flasche des guten Jahrganges geholt. Bereit, diesen Wein mit keinem anderen am Tisch zu teilen schenkt sie sich großzügig ein, schüttelt und schwenkt den Wein in alle Richtungen und versucht dabei wie ein geübter Sommelier zu wirken. Ihr gegenüber sitzend stopft sich Timo die Stoffserviette in den Kragen seines Hemdes. Für den besonderen Anlass hat er sich die Hosenträger von seinem Vater ausgeborgt, so richtig vintage und sitzen immer. Er will sich heute vorbildlich benehmen und Dorothee zeigen, dass er 98


sich auch in gehobenen Kreisen bewegen kann, ohne wie ein Elefant im Porzellanladen aufzufallen. Die beiden Freundinnen von Thea, Madeleine und Emilie, sitzen brav auf ihren Plätzen, im Gedanken gehen sie wahrscheinlich die Kalorien und Brennwerte des heutigen Dinners durch und stellen sich schon den Fitnessplan für morgen zusammen. Ständig sind sie am flüstern und nuscheln, ob die Kräuterbutter wohl fettarm sei, was die Speckwürfel in der Salate Niçoise zu suchen haben und warum es keine vegetarische Alternative zum Hühnerbraten gibt. Irritiert vom Gemurmel der beiden jungen Damen geht Arthur dazwischen und unterrichtet sie über Menüabfolge und Zusammenstellung. Liliana kreist um den Tisch, schenkt nach, holt Eiswürfel und lässt die Thüringer Klöße zurück in die Küche wandern. Der Kommissar lässt sich ordentlich den Teller beladen, der Magen knurrt, Othello amüsiert sich mit den ganzen Paaren an Füßen und Schuhen, die sich unter dem Tisch tummeln und der Fall wird bald gelöst sein. Bald. Sogar heute noch. Jeder scheint vertieft, in den Augen des Nachbarn, den Saltimbocca alla Romana oder dem Bild von Oskar Rosenthal, welches vom Zylinderbüro im Rücken des Inspektors auf die Abendgesellschaft blickt. Dann plötzlich löst sich ein Schrei von der Hausherrin. Gabriela R. starrt auf den leblosen Körper ihres chinesischen Nackthundes, ihr treuer Begleiter, ihr einziger, wahrer Freund liegt am Boden, regungslos. Kurz seufzt die Hausherrin, ihre Augen verlieren den Halt im Raum, ihre Muskeln jegliche Spannung, sie sackt zusammen. Arthurs Arme 99


kommen Gabriela zur Rettung, achtsam wie immer und auf alle Eventualitäten vorbereitet steht er seiner Herrin immer zur Seite. Kurzzeitige Atemlosigkeit erfasst die Szene, niemand wagt, zu sprechen oder sich gar zu bewegen. Was hier gerade passiert ist, bleibt rätselhaft. Ob der Mörder ein zweites Mal zugeschlagen hat, bleibt ungeklärt. Die anderen Gäste an der Tafel werfen sich skeptische und beunruhigte Blicke zu. Kommissar Holler kaut unbekümmert an der Hühnerkeule herum, die Haut ist ganz knusprig gebraten und das Lieblingsteil des Inspektors, schön würzig, kross und goldbraun aus dem Rohr direkt auf den Tisch. Unerbittlich arbeiten sich seine Zähne weiter durch das Fleisch bis zum Knochen, die fettigen Finger wischt er heimlich in die Tischdecke aus perlweißem Damast. »Das Essen ist vergiftet!«; johlt Thea, »Irgendjemand hier will uns vergiften, auf grauselige Art und Weise! Irgendjemand will mich vergiften!« Eilig lässt Thea ihre Gabel auf den Teller fallen und nimmt einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas. Aufgescheucht kreist ihr Blick durch die Runde und ihr Atem wird fieberhaft, Theas Brust bebt im schnellen Rhythmus ihres Herzschlags. Madeleine und Emilie starren wie gebannt auf ihre Teller, die Julienne des Waldorf-Salat schimmern in der selbst gemachten Mayonnaise, die Fettaugen der Consommé drängen an den Tellerrand. Fein säuberlich eingeflößte K.-o.-Tropfen im Chianti oder sorgfältig untergemischtes Rattengift im Erdäpfelpüree? Immer noch darum besorgt, Gabriela abzustützen, versucht der Butler die Situation zu klären: »Dorothee, wer 100



sollte Sie denn umbringen wollen? Ich glaube wir sollten uns fürs Erste um die gnädige Frau kümmern. Wir können gerne später Ihren Hirngespinsten nachgehen. Und überhaupt, wenn der Mörder etwas von sich hält, würde er doch sofort Arsen in den Gin Tonic kippen.« Liliana umfasst den Dekanter, ihre kleinen Finger greifen entschieden den Hals und das Rot ihrer Fingernägel verliert sich im Rubin des Weins. »Noch etwas Wein, Fräulein Dorothee?«, fragt das Dienstmädchen mit ungewohnt ruhiger Stimme und ein leichtes Lächeln leuchtet kurz auf ihren Lippen auf. »Du warst das! Du kleines, mieses Miststück! Du bist doch krank im Kopf! Vom ersten Tag an wusste ich, dass mit dir was nicht stimmt! Worauf warten Sie Herr Kommissar?«, brüllt Thea und klammert sich an ihr Weinglas. Selbstbewusst wischt sich der Gärtner den Mund mit der Serviette ab und wendet sich zur jungen Rosenthal: »Thea beruhig’ dich doch, ich werde das alles hier regeln.« Von Holler am oberen Rand der Tafel bis jetzt kein einziges Wort. Er schlägt sich den Magen voll und holt sich Nachschlag, noch etwas vom italienischen Salat, ein Löffel von der Béarnaise, ein leicht blutiges Chateaubriand und eine Gabel voll haricots verts. Timotheos versucht, nach Theas Hand zu greifen, diese verweigert angewidert die Zärtlichkeit und plärrt zurück: »Halt doch ganz einfach die Klappe! Du bist mir sowas von scheißegal mein lieber Timotheos. Wir hatten unseren 102


Spaß und jetzt ist’s vorbei. Game Over!« Unverstanden schüttelt der Gärtner den Kopf und versucht Thea zur Vernunft zu bringen: »Thea, dieses Gespräch müssen wir doch nicht vor all diesen Leuten hier führen.« »Hallo? Es gibt nichts zu besprechen.«, bricht Dorothee in lautes Gelächter aus und blickt kurz unbe‑ holfen in ihr leeres Weinglas. Getroffen zieht sich Timo vom Gespräch zurück und widmet sich wieder dem Essen am Tisch, dabei fixiert er Thea mit abwechselnd bösen, dann unschuldigen, dann wieder aufgebrachten und traurigen Blicken. Wie demütigend, eine Niederlage einstecken zu müssen, und das vor versammelter Tafel und dem Herrn Inspektor. Immer noch ohnmächtig legt Gabriela R. ihren Kopf an die Schulter des Butlers. Der ganze Ballast der letzten Tage ist ihr zu viel geworden und unter dem Gewicht der Anschuldigungen, Verdächtigungen und Intrigen ist sie kraftlos zusammengebrochen. Holler legt Gabel und Messer bei Seite, tupft sich den Mund ab und fragt ganz ungeniert: »Liliana, würden Sie mir bitte einen Aschenbecher holen? Danke.« Thea verliert die Kontrolle und löst sich vom Stuhl: »Mörderin! Diese hinterhältige Tellerwäscherin ist eine kaltblütige Mörderin! Und Sie sitzen seelenruhig da und rauchen! Gott, ich brauch’ einen Drink!« Die junge Rosenthal schließt ihre Augen und kneift dabei verbissen ihre Lippen zusammen, ein letztes Mal will Timotheos ihren Frust abfangen, besänftigt und betont mit tiefem Tenor jedes einzelne Wort: »Alles wird gut.« 103






Noch einmal nimmt Thea tief Luft, mit zitternder Stimme presst sie ganz monoton einen Satz aus dem Mund: »Scher’ dich zum Teufel, du Möchtegern-Casanova!« Den Kristallaschenbecher legt Liliana sorgsam zur Rechten von Holler auf die Tafel, sie spaziert kurz um die Tafel und findet ihren Platz neben dem Gärtner. Herrisch lächelt sie über den Tisch und streichelt Timo über seine Schulter, mit schmollenden Lippen und provokantem Ton versucht sie das Fräulein Rosenthal komplett aus der Fassung zu bringen: »Dorothee, jetzt versetzen Sie sich doch mal in seine Lage! Der Timotheos hat doch viel zu große Angst Sie zu verlieren. Was würde er wohl tun, wenn er weg müsste von der Villa Rosenthal. Im Stall würde er landen und in der Scheiße von den Kühen herum stochern!«, und zärtelt Timo durch das Haar. Thea schüttelt eine Zigarette aus der Schachtel und zündelt an der Flamme des silbernen Kerzenleuchters. Mit gespannter Miene starrt sie zu Liliana und bläst den Rauch in den Raum, plötzlich überkommt sie ein dezentes Schmunzeln. »Meine süße, kleine, unwissende Lilly, was willst du schon vom Leben wissen? Ein Dienstmädchen. Ein Dienstmädchen! Schleich’ dich und geh’ Pfannen scheuern!«, so Thea ganz spöttisch. Das Dienstmädchen lässt sich nicht beirren: »Meine süße, kleine, unwissende Dorothee, während Sie damit beschäftigt waren, sich die Stunden am Pool tot zu schlagen, haben Ihre besten Freundinnen fleißig den Cedrik bearbeitet. Sie wissen ja Thea, Geld macht sexy. Davon können Sie doch bestimmt ein Liedchen 108


singen, wenn Sie sich am Wochenende in den Edelschuppen der Stadt von einem Tisch zum anderen reichen lässt. Und das alles nur um des Geldes Willen, weil Sie den Hals nie voll kriegen!« Verunsichert zieht Thea an der Zigarette, ihre Hand ist ganz zittrig und sucht das Glas. Resigniert stellt sie erneut fest, es ist leer. Den beiden Freundinnen wirft sie einen fassungslosen Blick zu: »Madeleine, Emilie? Ist das wahr?« Die beiden versuchen jegliche Schuld von sich zu weisen, sie starren unbeeindruckt an die Decke, spielen im Essen herum oder graben sich durch das Menü im Handy. »Jetzt tun Sie doch nicht so überrascht. Der Cedrik hat den Zweien doch alles gegeben. Die schönsten Kleider, den teuersten Champagner, den wertvollsten Schmuck. Hätten Madeleine und Emilie das alles aufgeben sollen aus Freundschaft zu Ihnen?«, legt das Dienstmädchen nach. Holler bleibt verschwiegen und zieht genüsslich an der Kippe, wie ein Theaterstück von Agatha Christie läuft die Szene vor seinen Augen ab, die Handlung hat sich verselbstständigt, die Figuren finden keine Auswege und Ausreden mehr, noch zehn Minuten und die Handschellen klicken. Aber für wen?

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INDEX

LASSES

S.15

Cedrik– –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4464

S.17

Liliana– –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5019

S.22

Dorothee––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5012 Holler – –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4467 Liliana ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5019

S.23

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463

S.27

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463 Gabriela R. ––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5013

S.31

Cedrik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4469

S.34

Holler – –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4467

S.51

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463 Dorothee ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5012

S.57

Cedrik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4464 Holler – –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4467

S.59

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463

S.69

Holler – –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4467

S.85

Cedrik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4469 Liliana ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5019

S.93

Cedrik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4469 Emilie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5020

S.95

Holler – –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4467

S.101

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463 Gabriela R. ––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5012

S.104

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 4463 Dorothee ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5012

S.105

Emilie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5020

S.106

Dorothee ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5012

S.107

Emilie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. 5020

110


Shades S.34

Emilie ––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Cinnemon Madeleine ––––––––––––––––––––––––– MOD. Honey West Timotheus – ––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Derrick Trauergast –––––––––––––––––––––––––– MOD. Honey West Trauergast –––––––––––––––––––––––––– MOD. Miss Marple

S.35

Arthur ––––––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Oregano Dorothee ––––––––––––––––––––––––––– MOD. Miss Marple Gabriela R. –––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Nutmeg Liliana –––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Chocolate

S.36

Madeleine ––––––––––––––––––––––––– MOD. Honey West Trauergast –––––––––––––––––––––––––– MOD. Honey West

S.42

Dorothee –––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Columbo Emilie ––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Miss Marple

S.43

Madeleine ––––––––––––––––––––––––– MOD. Honey West

S.47

Dorothee –––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Columbo

S.67

Timotheus – ––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Derrick

S.69

Timotheus – ––––––––––––––––––––––––––––– MOD. Derrick

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Wird sich das Mysterium kl채ren? Werden alle Fragen beantwortet und wird das Netz aus Intrigen zerfetzt? Kann gut sein. Aber das werden Sie nur herausfinden, wenn Sie das Ende lesen. Dazu m체ssten Sie uns allerdings ein Email schicken. Andererseits: Ist nicht 체bertrieben viel Aufwand. seeyou@andy-wolf.at

BIG THX ! TO: Katharina Auferbauer, Rebecca Bliemegger, Karl Diwisch, H채nsi (Hund), Amon Huber, Martin Meister (Martin 101), Anja Platzer, Alexander Prasser, Edelgard Prasser, Tea Latifi FOLLOW US ON FACEBOOK!

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Schuld und Unschuld. Vorsatz und Launen des Schicksals. Geburt und Tod. Wie eng sie doch bei einander liegen. Aber selbst im Angesicht solch menschlicher Tragรถdien sollten wir die wichtigen Dinge des Lebens nicht vergessen. Schรถne Brillen zum Beispiel. Darum belohnen Sie sich am Besten mit der Lรถsung des Falles und widmen sich dann der Andy Wolf Kollektion 2011/2012.

SIE HABEN ES SICH VERDIENT.

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KAPITEL

09


DER Wahre ERBE Rosenthal


Langsam erwacht Gabriela R. aus ihrer Ohnmacht, die vergangenen Momente sind achtlos an ihr vorüber gerauscht. Ein Glas kaltes Wasser soll helfen, einen klaren Kopf zu bewahren, dabei eskaliert die Situation am Tisch in beunruhigendem Maße. Einzig allein Holler, im Auge des Hurrikanes, beobachtet ungestört. Arthur versucht mit englischer Zurückhaltung und Konsequenz die entgleiste Situation in geregelte Bahnen zu lenken. Er kommentiert. Und er bleibt ungehört. Madeleine und Emilie sitzen betreten an ihren Plätzen, so haben sie Thea noch nie erlebt. Zwar waren sie ihre alkoholbedingten Ausfälle, Aggressionen und Armseligkeiten gewohnt, jedoch ein solcher Fauxpas, mit dem Personal öffentlich Krieg zu führen, so ein Unding hat sich Thea noch nie geleistet. Die Kalorien sind längst vergessen, der Appetit bereits vergangen. Arthur kommentiert. Und er bleibt ungehört. Angestrengt sitzt Timo da, ohne einzugreifen, ohne aufzubrausen. Wie gern würde er Lilly einfach sagen, sie sei gefeuert und soll ihre sieben Sachen packen und ihre verklärten Erinnerungen an Cedrik gleich mit in den Koffer stopfen. Wie gern würde er behaupten, es sei eine Familienangelegenheit und seiner Schwiegertante in spe versichern er bringe alles wieder ins Lot. Wie gern würde er einfach über den Tisch steigen, Thea in den Arm nehmen und ihr den Ring an den Finger stecken. Aber dann wird Timotheos klar, er ist bloß ein einfach Gärtner und selbst das weiße Hemd, Vaters Hosenträger und die Budapester können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Ringschachtel, mit der er den 116



ganzen Abend schon unter der Tischdecke herum gespielt hat verschwindet endgültig in der Hosentasche. Er ist bloß ein einfacher Gärtner und sie ist Dorothee Rosenthal. Das Dienstmädchen stichelt hartnäckig und gräbt sich immer tiefer in Theas Psyche. Verloren blickt diese durch den Raum, die benommenen Gesichter und die leeren Flaschen, bloß einen Schluck, einen Tropfen. Auffahrend schreit sie über den Tisch: »Lilly, halt’ sofort deine vorlaute Fresse! Noch ein Wort und …« »Und was Dorothee?«, mischt sich Gabriela R. in den Streit. »Du bist eine Rosenthal, benimm dich auch gefälligst wie eine!«, weißt die Dame Thea zurecht. Arthur kommentiert. Und er bleibt ungehört. Dorothee verliert endgültig jeden Halt, ihre besten Freundinnen sind ihr eiskalt in den Rücken gefallen, vom Dienstmädchen wird sie an die Wand gestellt, ihre Tante muss ihr ins Gewissen reden und der Einzige, der ihr bedingungslos zur Seite gestanden wäre, den Timo, hat sie in den Wind geschossen. Die Hausherrin betrachtet misstrauisch die Abendgesellschaft und kann die Frage aus ihren Kopf nicht fortscheuchen, die Frage, was in diesen letzten Minuten in diesem Esszimmer vor sich ging. »Liliana bitte, Thea du auch. Beruhigt euch. Was ist hier los?«, stellt Gabriela R. die beiden zur Rede. Betretenes Schweigen hat die Tafel fest im Griff, das Schlucken fällt schwer, das Luft holen ist unmöglich. Gabriela Rosenthal kann ihren Blick nicht abwenden vom toten Tier zu ihren Füßen. »Was für ein Mensch vergiftet so kaltherzig ein so wehrloses Lebewesen.«, 118


stammelt die Dame vor sich hin. Eine Träne löst sich aus dem Augenwinkel und kullert über ihre Wange. Was ist aus der schönen Idylle Rosenthal geworden? »Dorothee ist die Mörderin von Cedrik Rosenthal!«, brüllt Liliana verzweifelt zur Hausherrin, ihre Stimme überschlägt sich dabei, blanke Wut birgt tiefstes Leid, »Sie hat ihn umgebracht und das nur wegen dem Geld!« Empörung macht sich auf den Gesichtern breit. Eine der Kerzen am Leuchter erstickt, die Luft steht. Schachmatt? »Lügnerin!«, donnert es von Thea, »Wie soll ich jemanden einen Schürhaken in den Rücken rammen? Der Timotheos hat doch so kräftige Arme, mit denen kann er ganze Bäume entwurzeln und Wirbelsäulen zerlegen!«, weißt Dorothee jede Schuld von sich. Tief betroffen blickt Gabriela zu ihrer Nichte. Sie greift an ihre Halskette und drückt das Medaillon fest an ihre flattrige Brust. Das Innere des Amuletts zeigt ein Foto von Oskar und Cedrik, beide hat Gabriela für immer verloren, Dorothee nun auch? Timo zögert kurz, streicht kurz über den Samt der Ringschachtel, nippt am Weinglas. Seine Augen bleiben am Kerzenleuchter hängen, Dorothee kann er nicht mehr in die Augen sehen. »Thea ich würde alles für dich machen und das weißt du, aber soweit würde selbst ich nicht gehen.«, so Timotheos ganz gedrückt. »Stimmt! Du bist so ein herzensguter Mensch!«, reagiert Thea spöttisch und greift zu einer ungeöffneten Weinflasche. Arthur reicht ihr den Flügelkorkenzieher und versucht 119


zu vermitteln: »Fräulein, der Herr Timotheos versucht einfach nur, ein Gentleman zu sein.« »Schon gut Arthur.«, murmelt Thea, setzt den Ring an den Flaschenhals, dreht die Spindel in den Korken und drückt die Flügel nach unten. Der Korken ploppt, Thea strahlt. Liliana greift sich den Korken der Flasche, wedelt ihn dezent unter ihrer Nase und riecht daran. Gönnerhaft und mit träumerischen Blick macht sie sich weiter über Dorothee lächerlich: »Ja, gut is’ Arthur, um etwas zu bekommen, würd’ Thea selbst über Leichen gehen, nicht wahr?« Unbeeindruckt nippt Thea an ihrem Glas: »Jeder muss das eine oder andere Opfer bringen, wenn es darum geht das Schicksal in die Hand zu nehmen! Oder einen Korkenzieher!« Holler meldet sich zum ersten Mal: »Oder einen Schürhaken, Dorothee?« »Oder eine Gin Flasche!«, legt das Dienstmädchen klagend nach. Für Holler ist der Moment gekommen, alle Figuren haben ihre Spielzüge getan. Er will Klarheit, kein wirres Behaupten, nur noch Tatsachen. »Liliana, Schluss mit den grundlosen Anschuldigungen, haben sie etwas Stichhaltiges?« »Tanqueray No. Ten!«, formuliert Lilly nüchtern. Mit einem schallenden Lachen entgegnet Thea: »Eine Flasche Gin. Mach dich nicht lächerlich!«, und kippt das halbvolle Glas mit einem Mal runter. Gabriela versucht, ihrer Nichte die Flasche aus der Hand zu reißen, doch diese schenkt bis zum Rand in das Feinkristall. »Du hast am Abend des Mordes die Flasche Gin aus 120


dem Globus gestohlen!«, beschuldigt Liliana, ihre Rationalität bricht, ihre angestaute Wut schwappt ein zweites Mal über. »Eine Flasche Gin! Es wird wohl nicht die einzige hier im Haus sein! Arthur erklären Sie das mal der Lilly!« Arthur nimmt sich den Korkenzieher, wischt vorsichtig die patzigen Fingertapser vom Metall und poliert mit seinen Handschuhen die Flügel des Stoppelziehers. »Mein gnädiges Fräulein, nur die Globusbar ist mit Tanqueray bestückt. In der gesamten Villa finden Sie sonst nur Gordon’s.«, so Arthur vorsichtig. »Eine Flasche Gin! Um Gottes Willen!« Thea krallt sich am geschliffenen Bauch des Glases fest. Der Puls steigt. Der Butler muss klarlegen: »Dorothee, ich habe am nächsten Morgen diese Flasche Tanqueray von ihrem Nachttisch geräumt, sie war leer. Es tut mir leid, gnädiges Fräulein.« Thea verliert die Kontrolle, sie verschüttet den Wein und kreischt über die Tafel: »Arthur Greenwald, Sie falsches Würstchen!« Sie greift eine Schaumrolle und schleudert sie in Richtung des Butlers. »Ich verbitte mir einen solch dreisten Ton!«, so dieser. Der Schlagobers arbeitet sich durch den feinen Wollstoff des Anzugs, der Blätterteig zerbröselt an Arthurs Brusttasche. Das Weinglas fest in ihrer Hand, kichert Thea dem Butler betrunken ins Gesicht: »Wo bleibt denn Ihre feine englische Art? Ihre eleganten Manieren, der schwarze Humor? Wie lange wollen Sie uns noch 121


an der Nase herumführen, Arne Grünwald? Tausche Ruhrpott gegen Piccadilly Circus! Zeigen Sie uns doch mal Ihren Pass, Meldeamt Gelsenkirchen!« »Aufhören!«, unterbricht Arthur das besoffene Gestammel, »Holler, jetzt machen Sie schon!« Enttäuscht wendet sich die Hausherrin zur jungen Rosenthal. Was hat der Alkohol aus ihrer Nichte gemacht? Wozu hat er sie bemächtigt? Welche Energien hat er in ihr freigesetzt. Ein leises »Dorothee?« versucht ein letztes Mal an die Vernunft zu appellieren. Während Gabrielas Enttäuschung immer mehr Raum gewinnt, verliert der Gärtner seine Geduld. Mit der geballten Faust schlägt Timo auf die Tischplatte, das Besteck zittert, die Teller beben. Timotheos lärmt: »Thea! Verdammt noch mal!« Mit immer größeren Druck umfasst Theas Handfläche den Glaskörper, nervös zucken ihre Augenlider. Jeder hat sich gegen Dorothee verschworen. Niemand glaubt ihr. Die Spannung steigt. Keiner spricht. Das Weinglas bricht. Die scharfen Kanten der Scherben schneiden sich durch Theas Hand. Das Blut tropft auf den Teller und die Tischdecke. Eilig pickt sie die Splitter aus der Wunde und drückt ihre Serviette darauf. Sichtlich entspannt setzt sich Thea auf und atmet aus: »Fein. Ich habe die Flasche Gin aus der Globusbar genommen. Und ich habe diesen Bastard zu Boden gestreckt! Ich lasse mir mein Leben nicht einfach so kaputt machen! Ich bin die Erbin Rosenthal!« Kommissar Holler holt erneut seinen Tabak aus der Brusttasche seines Hemdes. Das Rascheln des Filter122


papiers verbindet sich mit Raunen und Seufzen der Abendgesellschaft. Entsetzte Mienen scharren sich in die Gesichtsfalten, das zitternde Kerzenlicht malt bedrohlichere Konturen. Holler holt sein Feuerzeug aus der Hosentasche und steckt die selbst gedrehte Zigarette an. Er inhaliert und artikuliert: »Dorothee Rosenthal, Sie sind festgenommen. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Rechtsanwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Haben Sie die Rechte verstanden, die ich Ihnen soeben vorgelesen habe?« Das Blaulicht blitzt durch die Fenster des Esszimmers. Gabriela R. steht kurz vor einem erneutem Nervenzusammenbruch, ihre Hände legt sie beschämt vor ihr Gesicht, Emilie und Madeleine starren verstört auf die blutende Hand, Timo schüttelt missachtend seinen Kopf, Arthur bemüht sich das Blut auf der Tischdecke weg zu tupfen. Nur Liliana starrt Dorothee mitten in die Augen. »Ich scheiß’ drauf! Sie können mich nicht festnehmen, ich bin die Erbin Rosenthal!«, rechtfertigt sich Thea. Das Dienstmädchen lacht und erreicht den Kommissar. Sie holt ein Papier aus ihrer Schürze, es ist ein Ultraschall-Foto. Liliana streckt dem Kommissar das zerknitterte Papier entgegen. Mit größer Genugtuung sagt sie: »Den wahren Erben Rosenthal, trage ich in mir.«

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Kriminalroman

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DAS ERBE Rosenthal

Simon Cazzanelli & Helena Schmidt


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