LET'S TALK ABOUT - Dokumentation

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LET‘S TALK ABOUT WEIBLICHKEIT UND TABUS DURCH DESIGN BELEUCHTEN UND DISKUTIEREN

Anina Riniker

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MUSCHI 2

FUTZ MUMU PUSSY VAGG SCHEIDE SCHLITZLI VAGINA SCHNÄGGLI MÜSCHELI SCHOSS MÖSE SCHAM VULVA


ABSTRACT Design hat die Fähigkeit, gesellschaftliche Wertvorstellungen und Tabus zu hinterfragen und herauszufordern. Trotz sexueller Aufklärung und Erotisierung der Werbung ist es immer noch kein Thema, öffentlich über die Vulva zu sprechen. Diese installative Arbeit widersetzt sich diesem Tabu ausdrücklich. Sie sinniert über Aspekte von Weiblichkeit und die Rolle des weiblichen Geschlechtsorgans, aber auch über Hemmungen und die Normierungen, die bestimmen, was „Tischgespräch“ ist und was nicht.

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Designerin hinter

LET‘S TALK ABOUT Anina Riniker hat Industrial Design an der ZHdK studiert. Sie interessiert sich für die praktische wie auch schriftliche Auseinandersetzung mit Design. Im Feld des Designs identifiziert sich Anina weniger mit nüchterem Industriedesign, denn mit zukunftsdenkendem, experimentellem und visionärem Concept Design. Als Experience & Storytelling Designerin möchte sie Emotionen wecken und den Betrachtenden herausfordern. Mit Design sollen der Status Quo hinterfragt, neue Werte entworfen und Tabus gebrochen werden. Design wird gedacht und soll zum Denken anregen. Durch das Projekt LET‘S TALK ABOUT soll genau dies ausgelöst werden. Der Betrachtende soll hinterfragen, wieso er im täglichen Gespräch Tabus kennt, weshalb gewisse Themen nicht in der Öffentlichkeit besprochen werden wollen und was zur Überwindung von Tabus beitragen kann. LET‘S TALK ABOUT soll Provokation und Gesellschaftsspiegel in Einem sein. Mit dem theoretischen Objekt, das im installativen Kontext funktioniert, werden die Themen Vulva und Tabu wortwörtlich auf den Tisch gebracht. Die Arbeit ist an unsere westliche, liberale Gesellschaft im 21. Jahrhundert ausgerichtet und soll neues Selbstvertrauen schaffen, Tabus im Alltag zu thematisieren. LET‘S TALK ABOUT hat den Schwerpunkt nicht auf dem Geschirrset, sondern auf der Installation als Ganzes. Das Service ist demnach Mittel zum Zweck. Ursprüngliches Ziel war, mit der fertigen Arbeit Reaktionen auszulösen. Das Projekt hat aber bereits während des Prozesses viel Zuspruch und Interesse erhalten. Nach der ersten öffentlichen Umfrage zum Hymen haben sich die Zusendungen von Links, Zeitungsartikeln und Bildern gehäuft. Über Social Media wurde die Arbeit laufend dokumentiert. Abschliessend liegt das Fazit vor, dass noch keine Arbeit von Anina Riniker einen solchen Rücklauf aus ihrem Umfeld erhalten hat. Dies zeigt auf, dass das Ansprechen von Tabuthemen ohne Zweifel gefragt ist und begrüsst wird. TO COME: Die Arbeit wird im Herbst 2018 an der Ausstellung des Luststreifen Film Festival Basel ausgestellt.


«Design wird gedacht und soll zum Denken anregen.» - Anina

© Marco Rosasco

experience & storytelling designer Anina Riniker Dynamostrasse 3 5400 Baden www.aninariniker.ch a.riniker@sunrise.ch (+41) 76 358 39 28

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Bachelorthesis Projekt Vertiefung Industrial Design Zürcher Hochschule der Künste


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ÂŤDesign is a space between the world that is and the world that could be.Âť - Design Academy Eindhoven


INHALT

10 12 38 62 Ausgangslage & Projektanforderung Wie alles begann.

Recherche & Konzept

Wissen aneignen und Informationen filtern.

Formfindung

Stop Motion

Skizzen, Rapid Prototyping und Materialversuche

Erklärungsvideo für die Ausstellung mit Tischgespräch über die Vulva

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Herstellungsverfahren für Porzellanguss

Endmodelle

Installation

Finals

Objekte + Audio + Stopmotion

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AUSGANGSLAGE // Erkenntnisse BA Theorie & Überführung ins Design

SPECULATIVE DESIGN (BE)GREIFEN Wie ich in meiner Theoriearbeit herausgefunden habe, geht es bei Objekten des Speculative Designs darum, den Status Quo zu hinterfragen und neue Alternativen aufzuzeigen. Speculatives Design hat die Kraft, den Betrachter zum Denken anzuregen - über alternative Möglichkeiten, zeitgenössische Situationen und Wertesysteme. Es reizt mich, ein Objekt herzustellen, das den Betrachter befähigt, einen neuen Blick auf Gegenwart oder Zukunft zu werfen. Ziel meiner praktischen Arbeit ist es, ein Produkt zu gestalten, das den Anspruch hat, den Betrachter zum Nachdenken über die heutigen gesellschaftlichen Umstände anzuregen. WEIBLICHKEIT IM DESIGN Als zu behandelnde Thematik interessiert mich die weibliche Identität. Was unterscheidet heute Frauen von Männern? Welche Rolle nehmen Frauen ein? Welche Tabus existieren noch? Wie wird mit der weiblichen Identität umgegegangen? Wieso fragen Frauen hinter vorgehaltener Hand nach einem Tampon? Stichworte für diese Arbeit sind Weiblichkeit, Menstruation, Gendergap, Wechseljahre, Schönheitsideale. Wichtig bei solch einer Arbeit ist mir, dass sie keine feministischen Ansätze verfolgt, sondern aufklärt und Tabus neutralisiert. Ganz im Sinne von Speculative Design: zum Denken anregen und Gegenwärtiges hinterfragen.

VULVA VERSA, Michèle Degen, 2016, Bachelorarbeit Design Academy Einhoven THINX, Unterwäsche, die durch Einsatz eines speziellen Gewebes Tampons, Binden u.ä. ersetzt. FUTURE FLORA, Giulia Tomasello, 2016, Set für Frauen zur Behandlung und Vorbeugung vaginaler Infektionen, Masterarbeit Material Futures Central Saint Martins.


PROJEKTANFORDERUNG Das Projekt soll ein Tabu thematisieren und zum Denken anregen. Ein unangenehmes Thema soll durch die Ästhetik vermittelbar gemacht werden und überzeugen. Das zu bearbeitende Thema darf aber keineswegs heruntergespielt und „cool“ gemacht werden, sondern seine Dringlichkeit aufzeigen. Durch das Projekt soll subtil auf die gegebenen Umstände hingewiesen und der Status Quo hinterfragt werden. Es ist eine visuelle Metapher. Im Rahmen des Projektes wurde eine Tellerserie in Vulvaform entworfen. Diese ist nicht für die Massenproduktion gedacht, vielmehr soll sie im kuratierten Rahmen als Ausstellungsobjekt ihren Platz finden. Zielgruppe meiner Bachelorarbeit sind die Besuchenden der Ausstellung. Wichtig ist, dass Frauen wie auch Männer und alle dazwischenliegenden Gender sich von der Arbeit angesprochen fühlen, mit deren interagieren und ihre Dringlichkeit verstehen können.

Entwurf/ Skizze Erlebnis

Gesellschaft

Handwerk

Materialwissen

Industrielle Produktion

Szenografie

Konzept

CAD & Rendering Anwendung

Ökonomie

9 Die vom Projekt verlangten Skills


10 «Die Tabuisierung der Vulva ist nicht ganz neu. Bereits im antiken Griechenland und in all diesen Statuen wird deren Darstellung weitgehend vermieden.» - Auszug aus dem Vulvatalk

VULVA ______WHAT? Der korrekte Begriff für das weibliche Geschlechtsorgan ist Vulva. Vagina, das umgangssprachliche Wort, bezeichnet lediglich den Muskelschlauch zwischen Gebärmutter und Vulvaeingang.


VULVA SHAMING. BODY POSITIVITY.

RE CHERCHE KONZEPT In einer ersten Research-Phase habe ich mich eingehend mit dem Überthema «Weiblichkeit» beschäftigt. Dazu habe ich das Buch «Viva la Vagina» von Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl sowie den Graphic Novel «Der Ursprung der Welt» von Liv Strömquist gelesen.

Knapp einen Monat nach Projektstart haben sich Zeitungsartikel zum Thema Vulva, Weiblichkeit und Tabu gleich en masse angesammelt. Thematisch bewege ich mich im Zeitgeist 2018.

Zu Beginn der Arbeit habe ich mich mit der Kulturgeschichte sowie Anatomie der Vulva auseinandergesetzt. Selber habe ich viel über das «unsichtbare Geschlecht» gelernt - teils Fakten, die mich als 23-Jährige über mein Unwissen erschreckt haben.

Womit kann ich im Design Diskussionen über die Weiblichkeit auslösen? Welches Thema muss dazu beleuchtet werden?

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Was ist Weiblichkeit?


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links „Late Sun“ EP - Kerala Dust Aktivistin & Künstlerin Rupi Kaur Poster Reproduction - THINX Oyster Fake Orgasm - Film „When Harry met Sally“ Mood - THINX „ PYNK“ EP - Janelle Monáe

rechts Mood - THINX Colors of Menstruation - THINX Neon-Gebärmutter - THINX Blutorange VIRTUAL X - Marta Giralt Papaya


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MEDIALE AKTUALITÄT

«Würden wir die Vulva weniger tabuisieren, wenn wir darüber mehr wüssten?»


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«Oder würden wir mehr wissen, wenn wir sie weniger tabuisieren?» Schweiz am Wochenende - 14. April 2018 Annabelle - 18. April 2018 NZZ am Sonntag - 8. April 2018


Stilisierte steinzeitliche Darstellung der Vulva in Saint-Germain-en-Laye, Steinzeit Venus vom Hohlefels, 32‘000 BP Sheela-na-Gig an der Church of St Mary and St David in Kilpeck, 1140 Venus von Urbino, Tizian, 1538 Die nackte Maja, Goya, 1795–1800 Amur-Adonisröschen, Katsushika Hokusai Fukujusō, 1815

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KULTURGESCHICHTE


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L’Origine du monde, Gustave Courbet, 1866 Phryne vor dem Areopag, Jean-Léon Gérôme, 1861 Sklavenmarkt in Rom, Jean-Léon Gérôme, 1866 Die Geburt der Venus, Sandro Botticelli, 1879 Weiblicher Akt, Albertina, Egon Schiele, 1910 Frau mit schwarzen Strümpfen, Egon Schiele, 1913 Akt, Egon Schiele, 1917 Sitzender Akt, Amedeo Modigliani, 1916


Nu couché, Modigliani, 1917 Grey Line with Black, Blue and Yellow, Georgia O‘Keeffe, 1923 Dinner Party, Judy Chicago, 1974 Adam und Eva (unvollendet), Gustav Klimt, 1918 Cathy‘s toilette, Balthus, 1933 Plan, Jenny Saville, 1933 Action pants, Valie Export, 1969 Sie - eine Kathedrale, Niki de Saint Phalle, 1966 Pussy-Boot , Megumi Igarashi, 2014

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Die Vulva wird allgemein mit den biologischen Funktionen der Sexualität und der Geburt verbunden. Die Wahrnehmung und Einstellung gegenüber der Vulva unterscheidet sich zwischen verschiedenen Epochen und Kulturen. In Bezug auf die Vulva existiert in vielen Kulturen ein Tabu - betreffend öffentlicher Sichtbarkeit, Darstellung in der Kunst und Gespräch darüber. In der christlich-abendländischen Kultur war der öffentliche Umgang und die Darstellung der Vulva bis ins späte Mittelalter relativ offen und die Einstellung positiv. Mit Beginn der Neuzeit änderte sich dies. Im viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts nahm eine stark ausgeprägte Prüderie und Körperfeindlichkeit Überhand. Mit der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren kehrte sich diese Entwicklung wieder. Die Vulva gilt als Fruchtbarkeitssymbol. Neben den paläolithischen Darstellungen von Frauen (Venusfiguren), deren Vulva betont wird, finden sich insbesondere in den Höhlen um Fontainebleau in Frankreich auch zeitlich jüngere Felsritzungen, die häufig Vulven darstellen. Im Mittelalter entstanden vor allem in Irland über den Eingängen von Klöstern und Burgen sogenannte Sheela-na-Gig - Steinskulpturen, welche die Vulva meist überdimensioniert und aufgespreizt darstellen. Der Sinn solcher Utensilien ist nicht mehr bekannt. Sie werden sowohl als Parodien auf herkömmliche Pilgerabzeichen wie auch als Glücksbringer interpretiert. In der europäischen Kunstgeschichte wurde die konkrete Darstellung der Vulva in der Malerei wie auch in der Bildhauerei bis in das späte 19. Jahrhundert weitgehend vermieden. Vor allem die antiken Statuen der Griechen und Römer waren davon betroffen. In der Renaissance hatte die Darstellung nackter Körper ein Revival. Alle bekannten Maler und Bildhauer wie Tizian oder Goya zeigten zwar den Venushügel, keineswegs aber weitere anatomische Details. Das Bild L‘Origine du monde von Gustave Courbet wurde lange Zeit nur in privatem Rahmen gezeigt. Erst 1995 wurde es im Pariser Musée d’Orsay ausgestellt. Das Ölgemälde zeigt eine leicht geöffnete Vulva mit dunkler Schambehaarung. Obwohl dieses Bild eines der ältesten bekannten Werke mit detaillierter Darstellung der Vulva ist, hatte es durch seine späte Veröffentlichung keinen Einfluss auf die zeitgenössische Kunst seiner Entstehungszeit. In Japan wiederum wurden bereits im 17. bis 19. Jahrhundert freizügige Shunge-Bilder - Frühlingsbilder dargestellt, wobei Frühling eine Metapher für Sex ist. Gemälde, Drucke und Bilder zeigen in expliziter Weise sexuelle Handlungen. Darstellungen der Schamregion oder von Schamhaar blieb in der Malerei bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verpönt. Gustav Klimt wurde als Skandalmaler bezeichnet. Insbesondere das Schamhaar wurde zu einem Symbol der Avantgarde der Aktmaler und rückte später ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die Darstellung weiblicher Körper ohne Schamhaar oder Schamspalte verschwand vollständig aus der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Insbesondere Pablo Picasso, Egon Schiele und George Grosz setzen die weiblichen wie auch die männlichen Genitalien prominent in den Vordergrund ihrer Aktkunst und machten sie gesellschaftsfähig. Eine herausgehobene Rolle als Symbol befreiter weiblicher Sexualität spielt die Vulva auch in feministischer Kunst, wo ihre Darstellung in Verbindung mit floralen oder Schmetterlingsmotiven unter anderem bei Georgia O’Keeffe und Judy Chicago stilbildend gewirkt hat. Insbesondere Judy Chicagos Dinner Party, die riesenhafte Figur „Hon − en katedral“ (Schwedisch: „Sie − eine Kathedrale“) von Niki de Saint Phalle, die durch die Vulva betreten werden konnte und die provokanten Performances der österreichischen Künstlerin Valie Export verkörpern diese Strömung. Im April 2015 stand Megumi Igarashi in Tokyo wegen Obszönität vor Gericht, nachdem sie einen 3D-Druck eines Kajaks in Form ihrer Vulva hergestellt und die Datei an Investoren ihres Projekts verschickt hat. Sie wurde wegen der 3D-Daten ihrer Vulva zu einer Geldstrafe von 400.000 Yen (ca. 3‘500 Schweizer Franken) verurteilt, da diese die Form ihrer Vagina, gemeint ist wohl Vulva, rekonstruieren lassen.

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ANATOMIE

Harnröhrenausgang

Klitoris

grosse Schamlippen Hymen kleine Schamlippen

Vulvaöffnung After

Verschiedene Formen des Hymens (Jungfernhäutchen)


Klitorisvorhaut

Klitorisschenkel

Harnrรถhrenausgang Vulvaรถffnung

Klitorisschwellkรถrper

ca. 10 cm

Klitoriseichel

kleine Schamlippen

Klitoris

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INTERESSENBEREICHE In der Konzeptionsphase habe ich mich mit verschiedenen Themen beschäftigt, die mit Weiblichkeit beziehungsweise der Vulva zu tun haben. Ich habe mich für 9 Themen entschieden, über die ich mich eingehender informiert habe. Beschneidung Scheidenpilz Jungfernhäutchen / Hymen Gebärmuttervorfall Sexualunterricht Designervagina Weiblicher Orgasmus Fehlgeburt Plazenta Dazu habe ich verschiedene Konzepte, die an Specualtive Design angelehnt sind, entwickelt. Erkenntnis aus dieser Phase war aber, dass es nicht nötig ist, eines dieser Themen zu behandeln, sondern notwendiger wäre, die Vulva als Ganzes zu thematisieren.


ÂŤDu musst gar nicht so ins Detail gehen - die Vulva als Ganzes ist schon unbekannt genug.Âť - Alexander

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TABU-DESIGN Your shame is their shame - Intimität, Sexualität und Tabus werden im Design vergleichsweise wenig behandelt. Design hat da ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial, obwohl die Gestaltung gute Voraussetzungen hätte, um als Sprache heikle Themen zu vermitteln. Statt eines nüchternen Industrie-Projekts möchte ich die imaterielle Funktion von Design wahrnehmen und mit dem Projekt zum Denken anregen. Ein soziales Konstrukt hält den Menschen davon ab, über Tabuthemen zu sprechen. Trotzdem besteht ein Grundinteresse und eine Neugierde. Dadurch, dass man nicht viel und offen über bestimmte Themen spricht, erscheint es wie eine Erlösung, wenn sie dann mal angesprochen werden. Menschen wollen darüber sprechen, wissen aber oftmals nicht, wie anfangen.

Ta•bu̱ Substantiv [das] Ein Tabu ist ein Thema, welches nicht gerne in der Öffentlichkeit besprochen wird oder bei dem zumindest die Stimme gesenkt wird. Das Sprechen über ein Tabuthema kann unangenehm sein, Scham und Unwohlsein auslösen. Tabuthemen behandeln oftmals Intimes, Persönliches. Jede Person hat eine andere Schamgrenze und somit ein anderes Verständnis für Tabus. Tabus sind unausgesprochen, können aber als indirekte Thematisierung wie beispielsweise Ironie angedeutet werden. Durch die Tabuisierung werden solche Themen nicht genug genau oder gar nicht behandelt, was zu Unwissen führen kann. Tabus behindern offene Gespräche. Ein Tabuthema muss nicht zwingend unwichtig sein, oftmals ist gar das Gegenteil der Fall. Das Wort Tabu stammt aus dem 19.Jahrhundert und ist dem polynesischen «tapu» entlehnt, was soviel wie «geweiht, unberührbar» bedeutet.


TABU & SCHWEIGEN FÜHRT ZU UNWISSEN

LET‘S TALK ABOUT

Der Mensch braucht aber einen Kontext, einen Grund, um die Hemmschwelle und die Scham abzubauen und über Tabus zu sprechen. Dies hat sich auch in meinem Prozess schön gezeigt: sobald mein Umfeld die Chance hatte, aus Anlass von meiner Arbeit über die Vulva und weitere verwandte Themen zu sprechen, wurde dies immer mehr kultiviert. Tabuthemen beschämten mich und mein Umfeld bald nicht mehr. Auch die Hemmschwelle, mit einer älteren Generation über Intimität und Sexualität zu sprechen, konnte ich durch meine Arbeit abbauen. Das erste Mal habe ich mit meiner Grossmutter über Themen wie Verhütung, Sex, Aufklärung etc. gesprochen.

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unWISSEN 26

UMFRAGE ZUM HYMEN // Stand 25032018 _ 103 Teilnehmende

«Ich finde es wichtig, dass man über solche Themen spricht. Tabu heisst nicht unwichtig.» - anonym, Umfrage

Assoziationen 17% Angst, Blut, Schmerz, reissen

Aussehen 56% Folie, gespannte Haut

17% Religion 25% 1. Mal Sex

15% Vagina, Biologie

17% dünn 4% keine Ahnung

26% Jungfrau, Beweis

Sex

Funktion 53% Schutz 41% reissen oder dehnen 16% keine Funktion 5% Beweis

21% diverse Formen

54% reissen & bluten

5% Hautüberbleibsel 21% keine Ahnung

9% keine Ahnung

1% nichts

verbreiteste Vermutung Vermutungen richtige Antwort


Zum Thema Hymen habe ich eine WC- sowie eine Onlineumfrage gemacht. Auf der Toilette hörte ich Frauen über die Türen hinweg über die Fragen diskutieren. Von meinem Bekanntenkreis habe ich ein grosses Feedback auf die Onlineumfrage bekommen. Viele finden es ein spannendes Thema, wissen aber selber nicht viel darüber. Zwei Frauen aus meinem Bekanntenkreis haben mich an einem Konzertabend unabhängig voneinander auf die Umfrage angesprochen und von ihren Erfahrungen erzählt: Leichtes Erschrecken, dass sie gar nichts über das Jungfernhäutchen wissen. Mit ZEICHNE EINE VULVA wollte ich beweisen, dass der Grossteil meines Umfeldes nicht wirklich eine Ahnung hat, wie eine Vulva aufgebaut ist. Als Resultat habe ich viele verschiedene Variationen gesammelt.

«Wieso werden auf den Toiletten eigentlich immer nur Penisse gekritzelt, nie aber Vulven?» - Anina

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KONZEPT ESSEN X VULVA ALLTAG & TABU

Stichworte für LET‘S TALK ABOUT sind Übersteigerung, Unangepasstheit und Interaktion. Wie bei der Briefmarke von Pamela Rosenkranz, die eine haptisch-fühlbare, menschliche Hautoberfläche darstellt. Bei der Interaktion mit ihr - das Ablecken - ist sich der User wohl nicht ganz sicher, ob ihn dies stört oder gar ein Gefühl des Ekels auslöst. Das Konzept umfasst ein mehrteiliges, organisches Geschirrset, das in zusammengesetzter Form eine übergrosse Vulva darstellt. Wichtig bei diesem Projekt ist das Subtile. Es soll keine plumpe, direkte Darstellung werden. Der Grat zwischen offenlegen und zur Schau stellen ist ein schmaler. Vielmehr soll sich das Objekt in den einzelnen Formen auflösen. Das Zerteilen in Einzelstücke ist weiter Symbol für das Flüstern. Auf poetische Art und Weise sollen Gespräche oder zumindest Gedanken zur Tabuisierung der Vulva angeregt werden. Weiter im Konzept beinhaltet ist die Installation. Diese besteht aus Film, Tonaufnahmen und körperähnlicher, weicher Oberfläche.


DISHES _______WHY? Ich habe absichtlich kein Sexspielzeug oder körperähnliches Produkt gewählt. Der Teller ist jedem bereits bekannt und kann so mit einer Geschichte neu aufgeladen werden. Das Projekt soll nicht abschrecken, sondern überraschen.

Das Spiel mit den Metaphern.

«THEMA AUF DEN TISCH BRINGEN» «DAS IST KEIN TISCHGESPRÄCH.» Etwas, das am Esstisch thematisiert wird, hat Relevanz. Wie bereits beschrieben braucht der Mensch einen Grund, um Tabuthemen zu behandeln. Das Tellerset ist somit Kommunikationstool und Hilfsmittel, um in diesem Fall über die Vulva zu diskutieren.

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«Das Projekt könnte auch

Eat my pussy

heissen. Und dann hast du ein Bild, wie jemand den Teller ausschleckt. Stell dir das mal vor.» - Lukas


Verschiedene stilistische Details in Geschirr System des zusammensetzbaren Tellersets, das dann eine neue Form ergibt Volumes, Marije Vogelzang, 2017 Antibeispiele fĂźr einen nicht suptilen Vulva-Teller DINING TOYS, Roxanne Brennen, 2017

GESCHIRRSET / SERVICE

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KÖRPERLICHKEIT NUDE


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FARBVERSUCHE PORZELLAN

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FORM FINDUNG FAKE MODELLE Mit der Ästhetik des Geschirrsets soll der Betrachter überzeugt werden, er soll Vertrauen fassen, um über das Tabuthema zu sprechen.


Clayversuche

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Keramikplast


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Fakemodelle


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«Das ist doch kein Tischgespräch!» «Doch wieso nicht? Darüber kann man doch normal sprechen. Sie ist schliesslich Ursprung der Welt. Für die Existenz von uns allen wichtig, aber trotzdem tabuisieren wir sie sprachlich und bildlich.» «Also ich hab kein Problem damit, wenn am Tisch über die Vulva gesprochen wird.» «Aber es ist schon ein bisschen eine Pornoarbeit. Vulva-Teller...» - Auszug aus dem Vulvatalk

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Prozess


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«Solange ich beim Wort Vulva schräg angeschaut werde, ist es Zeit für Vulva Design.» - Anina


Anhand des Stopmotion-Films wird in der Ausstellung das Konzept des Geschirrsets erklärt.

STOP MOTION Die Menüs habe ich in Berücksichtigung des Themas Vulva bespielt. Erster Gang sind Austern mit Kresse, die Schambehaarung darstellen. Zweiter sind aphrodisierende Spargeln mit Roast Beef. Die Käseplatte mit ebenfalls aphrodisierenden Feigen kommt mit Erdbeerkonfitüre. Das Dessert besteht Glacé mit Granatapfel.

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«Ich bin nun 23 Jahre alt und wusste nichts über das Jungfernhäutchen - oder Hymen wie der korrekte Namen ist. Das hat mich selber ein bisschen schockiert.»

«Ja, zum Beispiel, dass das Hymen beim ersten Mal nicht reissen oder bluten muss. Meistens wird es bloss gedehnt.» - Auszug aus dem Vulvatalk

«Was wusstest du nicht?»


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64 Film

Vorspeise FrauenkĂśrper mit Beinen

Hauptgang mit Beilage Ă„ussere und innere Schamlippen mit Klitoris


Käseplatte Hymen Vulvaeingang

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Dessert Harnausgang


Für den Erklärungsvideo habe ich mit drei Personen ein Tischgespräch aufgenommen. Sie haben ausschliesslich über die Vulva gesprochen, im Hintergrund hört man das Geschirrklimpern.

«Die Klitoris als ganzheitliches Organ wurde erst 1998 entdeckt. Der Grossteil des Organs ist im weiblichen Körper verborgen und etwa so gross wie ein Penis. Das wusste man bis dann schlichtweg nicht.» «Der Mensch hat also zuerst die Mondlandung geschafft, bevor er die Klitoris entdeckt hat.» «Was sichtbar ist, ist demzufolge bloss die Spitze des Eisberges.» «Beim Unwissen kommt halt auch dazu, dass das meiste im Körper „versteckt“ ist.» - Auszug aus dem Vulvatalk

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Farblich habe ich verschiedene Versuche gemacht und mich dann für einen sehr hautähnlichen Ton entschieden. Ich bin mir bewusst, dass ich damit nur einen von vielen Hauttypen berücksichtige. In einem weiteren Schritt kann ich mir gut vorstellen, dass die Sets in verschiedenen Hautfarben hergestellt werden. Bei der Glasur habe ich matte und glänzende Versionen hergestellt. Das matte Set wirkt ästhetischer, das glänzende kann beim Essen ekeln, ist aber gleichzeitig gute Metapher für die Feuchtigkeit der Vulva.


Für die Originalmodelle habe ich mich für das Material Porzellan entschieden. Porzellan ist ein kostbarer, wertiger Stoff. Dieser symbolisiert die Relevanz der Arbeit.

PROZESS ENDMODELLE Der Herstellungsprozess von Porzellanobjekten ist ein zeitaufwändiger. Zuerst habe ich Positivformen aus Töpferton geformt. Aus diesen habe ich die Gipsformen - Negative - gegossen. Die Giessformen sind nach zwei Tagen ausgetrocknet und gebrauchtsfertig. Nun wird die Porzellanmasse in die Form gegossen. Von aussen entzieht der Gips dem Porzellan langsam Flüssigkeit und dieser hartet aus. Bei bestimmter Randstärke giesse ich die restliche Masse zurück. Ist der Porzellanguss aus der Gipsform entnommen, so kann dieser das erste Mal gebrannt werden. Der Niederbrand dauert zwei Tage. Nach dem Niederbrand werden die Teile geschliffen und glasiert. Danach gehen die Objekte wieder zwei Tage in den Ofen - Hoch- bzw. Glasurbrand.

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Positiv aus Töpferton für die Gipsform

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Gipsformen

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Frisch gegossene Porzellanformen

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Porzellanguss Angetrocknete Formen bereit fĂźr Vorbrand

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Vorbrand


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Hochbrand _ 2 Tage (alternativ zu Glasurbrand)

Vorbrand _ 2 Tage

Porzellanguss _ 0.5 Tag

Gipsform _ 2 Tage


Glasur matt, Hochbrand

Glasur vor Hochbrand

Glasur glänzend, Hochbrand

Unglasiert, Vorbrand

Das Geschirr wird mit der Spritzpistole glasiert oder in der Glasur getaucht.

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ANATOMIE x GESCHIRR

Hymen Vulvaeingang

Äussere Schamlippen

Harnausgang

Innere Schamlippen mit Klitoris

Frauenkörper mit Beinen

Achtung - dieses Geschirrset ist nicht als Lehrstück gedacht. Die Grössenverhältnisse stimmen nicht mit der Realität überein.

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ENDMODELLE


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VULVA TELLER + INSTALLATION = PROJEKT

Welcher Kontext steigert die Aussage der Porzellanteller? Die Ausstellung muss eine starke Kommunikationsleistung erbringen und als Installation funktionieren. Das Projekt lebt vom Dreieck Objekt, Audio und Film. Das Geschirrensemble soll so ausgestellt werden, dass es nicht als bekannte Form erkennbar ist. Der Stopmotion-Film erklärt das Konzept und in der Tonspur hört man drei Menschen beim Essen über die Vulva diskutieren. Die Ausstellungsfläche wird weiter mit einem hautfarbenen Textil überzogen, das eine weiche Körperoberfläche darstellt.


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MILLES MERCIS!

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HERZLICHEN DANK Susanne Marti und Roland Eberle für die richtigen Fragen und Inputs in den Mentorings Louisa Goldmann, die mir zu den unmöglichsten Tageszeiten noch Keramiktipps gegeben hat Michèle Degen für die Inspiration und Motivation Céline Werdelis und Nina Hodel für die Fotoskills und Assistenz Manuela Luterbach, Lara Schäfer und Loïc Bawidamann für die drei Sprechstimmen des Vulvatalks Philipp Treyer für die tontechnischen Feinheiten, allen Umfrage-Teilnehmenden zu Tabu-Design sowie allen Vulva-Zeichnenden, Nadine Prigann und Salem Imadjane für lange Diskussionen Joëlle Simmen für den Buchtipp Famiglia für ALLES IMMER

IMPRESSUM Praktische Bachelorarbeit März bis Juni 2018 Mentorierende _ Susanne Marti & Roland Eberle Studentin _ Anina Riniker © Zürcher Hochschule der Künste Vertiefung Industrial Design


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92 Bachelorarbeit Praxis Dokumentation_ BA 2018 Anina Riniker

Vulva (Plural: lat. vulvae, dt. die Vulven; auch Pudendum femininum ‚weibliche Scham‘)


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