S LEBEN E RĂ„UM gazette e en gard #1
#1
en garde gazette Lebensr채ume
EDITORIAL »Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, ist es nicht normal. Nur weil man es nicht besser kennt, ist es noch lange nicht egal.« Kettcar · Deiche Geh auf die Straße und recke die Faust. Male ein Transparent. Beteilige Dich an einer Sitzblockade. Mach irgendwas für ein besseres Leben. Für Dein besseres Leben. Je öfter Räume geöffnet werden, anstatt sie zu schließen und zu fixieren, desto mehr Möglichkeiten für Visionen und kleine Vorgriffe auf Alternativen zur bestehenden Gesellschaft kann es geben. In der ersten Ausgabe der en garde gazette stellen wir Euch unterschiedlichste Menschen, Organisationen und Aktionen vor, die sich alle mit dem Thema Lebensräume beschäftigen. Bei der Suche nach Interventionsformen ließen wir uns von Personen, Gruppen und Bewegungen anregen und inspirieren, die sich Gedanken über das Verhältnis von Macht, Sprache und Subversion, von Kunst, Technik, Kultur und Politik gemacht haben. Manche haben für sich eine Nische gefunden, wo sie in Ruhe genau so leben können, wie sie es gerne möchten. Andere verschönern nachts die Stadt für alle. Und einige gehen sogar ins Gefängnis, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Alle haben aber eines gemeinsam, sie zeigen uns, dass Gegenentwürfe zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen möglich sind. en garde gazette ist ein Plädoyer für mehr Protest und Widerstand als Form politischer Auseinandersetzung. Werde selbst aktiv!
en garde gazette Editorial
INHALT 4 Guerilla Gardening und die Kunst des wilden, urbanen Pflanzens.
8 Wie die Freiwillige Feldbefreiung in der Tradition des zivilen Ungehorsams gegen Genpflanzen vorgeht.
14 1980 waren über 160 Häuser allein in Berlin besetzt. Ein Rückblick.
20 Die Gentrifizierung geht um und macht aus multikulturellen, lebendigen Stadtvierteln tote, hohle Räume.
24 Im Interview mit Anja und Ali vom Wagenplatz Klabauta in Darmstadt über tiefgefrorene Konserven, Konformität und Kleingärtner.
38 Reclaim The Streets, Critical Mass und Tanzguerilla holen sich den öffentlichen Raum zurück.
44 Im Interview mit Pink Rabbit über flaggenschwenkende Fußballfans und über die Gefahr von ungezwungenem Patriotismus.
50 Die Entwicklung vom Smart Mob der Unterdrückten zum Flash Mob der Gelangweilten.
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en garde gazette Guerilla Gardening
»Sie kommen spät in der Nacht, bewaffnet mit Gießkannen, Kompost und Gartenhandschuhen und verwandeln Flächen vor verlassenen Gebäuden in Gemüsegärten, Narzissenfelder oder blühende Rosenbüsche.«
Phil Cooper
In jeder Stadt gibt es sie, kleine brachliegende Fleckchen Erde, die nur darauf warten mit duftenden Blumen, knackigem Gemüse oder auch einfach nur schönem englischem Rasen bepflanzt zu werden. Vor allem Baumscheiben, der kleine Bereich rund um einen Baum, fristen in Städten ein trauriges und vor allem hässliches Dasein. Dabei bieten sich doch gerade hier so viele Möglichkeiten, das Stadtbild zu verschönern oder sich sogar selbst mit Gemüse zu versorgen. Blumenkästen für den Balkon lassen leider nur begrenzte Bepflanzungskreativität zu. Doch es gibt eine Lösung: Guerilla Gardening, die heimliche Aussaat von Pflanzen im öffentlichen Raum. Ursprünglich als subtiles Mittel zum Protest, entwickelte sich das heimliche Gärtnern zur urbanen Landwirtschaft weiter. Politisch motivierte Gärtner sehen ihre Aktionen »als allgemeinen Protest gegen die Monokulturen des Spießbürgertums...« (Leitfaden für den revolutionären Weisheitskampf). Auch die Auswahl und Anordnung der Pflanzen kann politisch motivierte Themen transportieren, wie das Anpflanzen von Getreide in öffentlichen Grünanlagen oder das Bepflanzen von Golfplätzen mit Dornenbüschen. Parallel dazu entwickelte sich jedoch auch eine verstärkt ideologische Form des Guerilla Gardenings, bei der sich klassische Ansätze von moralischer Ökonomie mit dem Wunsch nach urbaner Selbstversorgung und mit einem Protest gegen die Agrar-Industrie vermischen. Stadtbewohner sollten »mit eigenen Händen« ihre Umgebung mitgestalten können. Am 1. Mai 2000 rief Reclaim The Streets in London zu einer öffent lichen Guerilla Gardening-Aktion auf. »Stell Dir tausende Guerilla GärtnerInnen vor, gekommen, um zurückzunehmen, was ihnen einst gehörte, um ein Symbol des Kapitalismus umzugestalten, um die städtische Landschaft wieder nutzbar zu machen – zur Versorgung mit Nahrung, als öffentlicher Raum, wo sich Menschen treffen , diskutieren und direkt an der Gestaltung ihrer eigenen Stadt teilnehmen können.« Und tatsächlich kamen etwa 8000 Menschen. Rasen wurde aufgerollt und auf die Straße vor den Houses of Parlament verlegt, in die freigewordene Erde
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Straße vor den Houses of Parlament verlegt, in die frei-
Sehr beliebt ist auch der Gebrauch von sogenann-
gewordene Erde wurden Bäume, Gemüse, Blumen und
ten Seedballs, Samenbälle, die auch als „Samenbom-
Kräuter gepflanzt und ein Teich angelegt. Begleitet
ben“ bezeichnet werden, bestehend aus einer Mischung
wurde die bunte und fröhliche Aktion, die von Reclaim
aus Mutterboden und Samen. Ganz einfach können
The Streets ausdrücklich nicht als Protest, sondern
die Samen so über Zäune befördert werden, aus einem
als konstruktive Aktion angekündigt worden war, von
fahrenden Auto geworfen werden oder sie »fallen«
Karneval und Musik.
beim Spazieren gehen versehentlich aus der Tasche. Beim nächsten Regen weichen sie dann auf und die
Inzwischen entstehen viele Initiativen, die sich auf
Samen können keimen. Und irgendwann schieben sich
ein Recht zur Selbstversorgung mit gesunden Nah-
überraschend zarte Pflänzchen durch staubige Stadt-
rungsmitteln berufen und städtische Flächen für die
erde oder rissigen Beton. Anleitungen für die Seedballs
Einrichtung von Selbstversorgungs- und Gemein-
finden sich im Internet. Guerilla-Gärtner weltweit
schafts-Gärten fordern. Gleichzeitig thematisieren po-
vernetzen sich inzwischen auf verschiedenen Internet-
litische und kulturelle AktivistInnen die zunehmende
plattformen, dort werden Pflanzaktionen präsentiert
Privatisierung öffentlicher Flächen, sowie das generelle
oder sich zum gemeinsamen Bepflanzen verabredet.
Fehlen oder die Vernichtung von »Natur« in der Stadt. In heimlichen oder öffentlichen direkten Aktionen
So wurden auch in New York die ersten Community-
werden urbane Flächen besetzt und bepflanzt, um sie
Gärten gegründet – Nachbarschaftsgärten auf Brach-
dadurch wieder für die Allgemeinheit nutzbar zu
flächen für Jedermann, auch in Deutschland gibt es
machen oder sie werden umgestaltet, um damit Zei-
erste Ansätze. In Berlin gibt es seit 2004 den Nach-
chen zu setzen.
barschaftsgarten Rosa Rose, ins Leben gerufen von einigen BewohnerInnen der Kinzigstraße wurden drei angrenzende, brachliegende Grundstücke kurzerhand entmüllt und zu einem Garten umfunktioniert. Anlass dazu war die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und die Schaffung eines aktiven, intergenerativen Projektes, das Nachbarn zusammen bringt. Inzwischen ist der Garten ein wichtiger Ort für die gesamte Nachbarschaft geworden, viele
en garde gazette Guerilla Gardening
Do it yourself nutzen den offenen Raum für Hochzeiten, Geburtstagsfeste, Kinoabende oder Lesungen. Außerdem wird
Du benötigst: Samen, Erde, kleine Schaufel, Gießkanne.
trotz schwieriger Bodenverhältnisse versucht Gemüse anzupflanzen, entstanden aus Materialspenden, von der Erde über die Samen bis hin zu den Steinen für die Wegbegrenzungen. Im Rahmen eines internationalen Workshops entstand ein Lehmofen und es wurden Hochbeete für Rollstuhlfahrer angelegt. Im Mai 2008 wurde der Garten fast vollständig vom Besitzer zubetoniert, die Rosa Rose wurde brutal geräumt und die Beete und Pflanzen zerstört. Heute gibt es in vielen Städten die Möglichkeit eine Baumscheiben-Patenschaft abzuschließen, dabei verpflichtet sich der Gärtner, sich regelmäßig um die Fläche zu kümmern, damit sie nicht verwahrlost. Also genug Möglichkeiten die eigene Stadt ein bisschen schöner zu gestaltet – also raus auf die Straßen und lasst es sprießen!
www.guerrillagardening.org
www.rosarose-garten.net
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Wandere herum und suche geeignete Plätze zum Bepflanzen. Verlassene Grundstücke, Bauplätze, Parkplätze, Verkehrsinseln, Baumscheiben sind einige der Orte, wo du ein bisschen Erde oder aufgesprungenen Beton finden kannst. Ein Teil des Spaßes beim wilden Pflanzen kommt durch das Suchen und Finden interessanter Orte. Pflanze alle möglichen Arten: Blumen, Gemüse, alles. Natürlich benutzt du nur Samen, die nicht genmanipuliert sind. Wenn Du Einjährige früh genug anpflanzt, werden einige blühen und sich selbst aussähen und im nächsten Jahr wieder wachsen. Stauden sind meist etwas teurer und manche brauchen ein paar Jahre, um zu blühen. Der einfachste Trick ist, Samen von Wildblumen auszusähen. Das klappt am besten, wenn der Platz viel Sonne bekommt und wenig betreten wird. Geeignet sind Sonnenblumensamen, weil sie nur geringe Ansprüche an die Bodenqualität stellen und nur wenig Wasser benötigen. Beginne im Frühjahr nach dem letzten Frost, auch wenn für manche Pflanzen noch während des Sommers Zeit ist. Pflanze Tulpen und Narzissen im Herbst. Wenn Du keine Genehmigung zum Pflanzen hast, ist es rechtlich gesehen illegal, also ist der Trick, nicht erwischt zu werden.
»Um der Gentrifizierung Einhalt zu gebieten, bitten wir inständig um zivilen Ungehorsam und kluge Reaktion gegen Mauerbauer, Rausklager, Draufhauer und Ausbeuter. Sonst singen wir bald alle brav im Chor: »Aber hier leben, nein danke.« Und sind raus.«
Recht auf Stadt
enengarde gardegazette gazetteGentrifizierung Gentrifizierung
Mietpreise steigen, günstiger Wohnraum geht ver-
den Zuzug so genannter »Pioniere« in ein Stadtviertel,
loren, die Zahl von hochpreisigen Eigentumswohnung
das sind Menschen mit wenig Einkommen, aber sehr
nimmt zu, langjährige AnwohnerInnen und altein-
hohem kreativem Potential, wie Künstler oder Stu-
gesessene Gewerbetreibende werden von zahlungs-
denten. Schnell kommt es zu einer Aufwertung des
kräftigen NeumieterInnen verdrängt. Egal ob in
Viertel, Bars und Galerien entstehen, das Nachtleben
Hamburg, Berlin oder anderen Großstädten, diese
erwacht, vom Geheimtipp wird das Viertel schnell
Veränderungen sind keine Randphänomene mehr.
zum »Szene«-Bezirk. Nun wird der Stadtteil auch zu-
Gentrifizierung verändert die Stadt.
nehmend für Menschen mit höherem Einkommen interessant, die Mieten steigen. Besser verdienende
Die Gentrifizierung, umgangssprachlich auch Yuppi-
Haushalte verdrängen die alteingesessene ärmere
sierung, beschreibt einen sozialen Umstrukturierungs-
Bevölkerung, etablierte Geschäfte müssen weichen, das
prozess eines Stadtteiles. So wird durch gezielte und
Viertel verändert sich grundlegend. Häufig findet
selektive Veränderung der Bevölkerung und Restau-
eine solche Veränderung in Gebieten statt, die nahe
rierungs- oder Umbauarbeiten das Wohnumfeld
dem Stadtzentrum liegen und aus der Gründerzeit
aufgewertet. Meist beginnt die Gentrifizierung durch
stammen, also auch häufig einen überwiegend
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»Wo sich seit Jahrzehnten der türkische Bäcker schlechten Gebäudezustand und niedrige Bodenpreise aufweisen. Oft liegen sie bereits in städtebaulichen Sanierungsgebieten oder sind dafür vorgesehen und haben statusniedrige Bewohner, Gentrifizierung wird oftmals bewusst politisch gefördert. Seit der Jahrtausendwende wurden die sozialen In-
befand, macht ein Feinkostladen auf, aus der ehemaligen Änderungsschneiderei wird ein Weingeschäft, die Bierkneipe an der Ecke wird Cocktail-Bar.«
Recht auf Stadt
strumente der Stadterneuerung deutlich zurückgefahren, die nach dem Fall der Mauer die Gentrifizierung
tionen, sogar Angriffe auf Kneipen oder vermeintliche
abgefedert haben. Dadurch nimmt die Verdrängung
Luxusautos. Das sind aber meist Randerscheinungen.
einkommensschwacher Bewohner aus den zentrums-
Dabei gab es schon sehr erfolgreiche Beispiele einer
nahen Vierteln immer mehr zu. Die Ostberliner Alt-
sozialeren Stadtentwicklung, wie etwa Berlin-Kreuz-
bauquartiere Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain
berg in der 8oer Jahren mit der »Behutsamen Stadt-
beispielsweise sind heute quasi “Hartz 4-freie Zonen”.
erneuerung«. Der Grundsatz war hierbei, dass alle
Empfänger von staatlichen Zuwendungen finden dort
Sanierungsentscheidungen mit den Bewohnern abge-
mittlerweile keine bezahlbare Wohnung mehr.
sprochen werden. Auf ärmere Menschen wurde
In Deutschland gibt es im globalen Vergleich wenig
sanierung seiner Wohnung wollte, konnte den Umbau-
Widerstand gegen diese Entwicklungen. Hier richten
Standard reduzieren. Momentan gibt es in Vancouver
sich vor allem Nachbarschaftsinitiativen gegen die
ein spannendes Projekt. Im innenstadtnahen Down-
Rücksicht genommen: Wer keine überteuerte Luxus-
direkte Verdrängung von Mietern, deren Wohnung
town Eastside gibt es seit einigen Jahren deutliche
renoviert und danach teurer vermietet oder verkauft
Aufwertungstendenzen. Darauf hat die Stadt mit dem
werden soll. Mieterorganisationen versuchen zudem,
Bau von Sozialwohnungen auf freien Flächen in der
die Aufwertung auf juristischem Weg einzuschränken
Nähe reagiert. Sprich: Umstrukturierung und steigende
und fordern eine andere Wohnungspolitik ein. Es gibt
Mieten wurden zwar nicht verhindert, aber die räum-
auch andere Protestformen, zum Beispiel Demonstra-
lichen Exklusionseffekte der Gentrifizierung durch den
en garde gazette Gentrifizierung
Gentrifizierung hat überall auf der Welt immer die Wohlhabenden begünstigt und die Quartiere am Leben erhalten. In Manhattan das East Village, in Hamburg das Schanzenviertel, in Berlin Kreuzberg. Die Armen und Alten sollen dort leben bleiben - das Problem ist nur: Wollen die Bohemisten die Schmuddelmenschen mit den begrenzten Portefeuilles wirklich aushalten? (Jungle World, 11/2009)
sozialen Wohnungsbau in zentraler Lage abgeschwächt.
werden, wenn den verantwortlichen Personen klar
Die Szene hat den Kiez attraktiv gemacht, also ist
wird, welche kulturellen Vorteile es mit sich bringt,
sie praktisch mit an der Misere schuld, dass die
eine Mischung verschiedenster Wertvorstellungen,
Investoren das Gebiet erst bemerkt haben. Die Gen-
Lebensweisen und finanzieller Hintergründe in einer
trifizierung ist voll im Gange und nur schwer zu
Stadt zu haben. Kreativität, Freiheit und Toleranz
stoppen. Gentrifizierung heißt immer auch Verdrän-
können sich nur entwickeln, wenn man zulässt, dass
gung, und diese macht sowohl vor der subkulturellen
Menschen sich begegnen.
Szene als vor den Alteingesessenen keinen Stopp, wenn ihr nicht mit gesammelten Kräften entgegen ge-
Ende August 2009 besetzten über 200 Künstler das
treten wird. Vor allem ältere Bewohner fühlen sich
Hamburger Gängeviertel, das jahrelang leerstand
machtlos und glauben nicht daran, die Investoren noch
und langsam verfiel. Die Künstler besetzten die seit
stoppen zu können. Es gibt jedoch eine Vereinigung,
Jahren leerstehenden Gebäude in der Innenstadt
die trotz starker Repressionen, gieriger Investoren und
und richteten Ateliers und Galerien ein. Sie wollten
Gegenkräften aus der Politik der Gentrifizierung
damit sowohl auf die Raumnot Hamburger Künstler
die Stirn bietet. Der „Wir bleiben Alle!“-Kampagne
aufmerksam machen, als auch die Gebäude vor dem
haben sich schon eine Masse an SympathisantInnen
Verfall bewahren. Im September einigte sich die
angeschlossen. Gentrifizierung ist keine Notwenigkeit
Stadt mit den Kreativen auf eine vorübergehende Teil-
und auch kein Gesetz. Politiker und Medien gehen
Nutzung. Demnach darf die Künstler-Initiative im
mit geeinten Kräften gegen alternative Lebensweisen,
Erdgeschoss der nicht vermieteten Häuser ihre Werke
die nicht so recht ins kapitalistische Weltbild passen
ausstellen. Unterstützt wurden sie bei ihrer Beset-
wollen, vor und versuchen die subkulturelle Szene ver-
zung vom Maler Daniel Richter. Der ehemalige Haus-
treiben. Dabei wird meistens vergessen, dass dadurch
besetzer der Hafenstraße gilt als kreativer Superstar
ihre Vorzeigestadtteile so wurden, wie sie heute sind,
der modernen Kunst und Botschafter Hamburgs in der
und dass durch alternative Infrastrukturen eine
Welt. Eigentümer des Viertels ist der niederländische
kulturelle Bereicherung für alle Bewohner entstanden
Investor Hanzevest, der die Gebäude von der Stadt er-
ist. Gentrifizierungsprozesse können verhindert
worben hat. Er will Büros und Wohnungen bauen,
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wenn er das notwendige Geld zusammenbekommt.
zu setzen: Das Bild von der pulsierenden Metropole.«
Rund 80 Prozent der historischen Gebäude sollen
Dieses Bild aber sei, so die Autoren, lediglich ein
dann abgerissen werden. Dabei handelt es sich um
Mittel zum Zweck: »Kultur soll zum Ornament einer
den letzten Rest der alten Arbeiterquartiere in der
Turbo-Gentrifizierung werden.«
Innenstadt. Die Besetzung des Gängeviertels ist nicht das einzige Zeichen von Protest, der sich in Hamburg
»Wir sagen: Eine Stadt ist keine Marke. Eine Stadt
derzeit auf ungewohnt breiter Front rührt. Auch
ist auch kein Unternehmen. Eine Stadt ist ein Ge-
andere Kreative haben sich in Hamburg jetzt gegen
meinwesen. Wir stellen die soziale Frage, die in den
die herrschende Politik gewandt. »Not In Our Name
Städten heute auch eine Frage von Territorialkämpfen
Marke Hamburg« heißt ihr Manifest. Zu den Ver-
ist. Es geht darum, Orte zu erobern und zu verteidigen,
fassern gehören der Schauspieler Peter Lohmeyer,
die das Leben in dieser Stadt auch für die lebenswert
Ted Gaier, Musiker bei den Goldenen Zitronen, und
machen, die nicht zur Zielgruppe der „Wachsenden
Rocko Schamoni, erfolgreicher Romanautor und
Stadt“ gehören. Wir nehmen uns das Recht auf Stadt
seit Jahren eine der zentralen Figuren des Kiez-Under- – mit all den Bewohnerinnen und Bewohnern Hamgrounds. Zusammen mit rund 260 weiteren Erst-
burgs, die sich weigern, Standortfaktor zu sein. Wir
unterzeichnern wehren sie sich gegen eine Verein-
solidarisieren uns mit den Besetzern des Gängeviertels,
nahmung durch Regierende und Marketing: »Viele
(....) mit dem Aktionsnetzwerk gegen Gentrifizierung
europäische Metropolen konkurrieren heute darum,
und mit den vielen anderen Initiativen von Wilhelms-
zum Ansiedlungsgebiet für die kreative Klasse zu wer-
burg bis St. Georg, die sich der Stadt der Investoren
den. Es geht darum, ein bestimmtes Bild in die Welt
entgegenstellen.« (Auszug aus dem Manifest von NION)
»Habgier und Frieden schließen einander aus.«
Erich Fromm
enengarde gardegazette gazetteGentrifizierung Gentrifizierung
Bedingt durch massive Bevölkerungsumschichtungen nach der Wiedervereinigung kam es in ostdeutschen Großstädten zu besonders schneller und heftiger Gentrifizierung.
Hamburgs berühmtester Stadtteil St. Pauli war lange auch der ärmste.
und verödet, bevor hier überhaupt einfach nichts mehr
Mittlerweile leben und arbeiten hier immer mehr Gut- und Bestverdie-
ist, was das Leben lebenswert macht, und alle, die
nende. Die sozialen Gegensätze verschärfen sich. Anfang 2009 wurde
dagegen sind oder im Weg stehen, ihre Schneidezähne
»Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen« veröffentlicht,
aus Schlagstöcken klauben müssen, aber kein Geld
ein Dokumentarfilm von Irene Bude und Olaf Sobczak. Der Film zeigt, dass
haben, sich neue zu kaufen; bevor wir also endlich alle
St. Pauli nicht nur als Ausgeh- und Amüsierviertel, sondern vor allem
zu Tode gefilmt, geregelt, geklagt und verarmt wurden,
als Wohn- und auch Wirtschaftsstandort attraktiv geworden ist. Altbauten
und unsere Überreste sich am Stadtrand türmen, auf
verschwinden oder werden aufwändig saniert, das Mietniveau steigt
dass wir dort die Viertel beleben für H&M in zehn
rasant, Mietwohnungen werden in Eigentumswohnungen umgewandelt.
Jahren, für den ewig wuchernden Kreis der Krake Ka-
Wer sich wehrt oder nicht mehr in das neue Bild passt wird des Ortes
pital; bevor also nur noch Musicalbesucher, Messe-
verwiesen - direkt oder indirekt. Wo bis vor kurzem noch Astra gebraut
fressen und eigentumsgeile Polizeigewaltbeführworter
wurde und es nach Maische roch, arbeiten jetzt zugezogene Manager
durch jene Straßen flanieren, wegen deren Anders-
in verspiegelten Hochhäusern. Touristen strömen ins Prachthotel Empire
artigkeit und Lebendigkeit wir dereinst nach Hamburg
Riverside, in dem die Nacht 250 Euro kostet. Die Wohnungsmieten im
gezogen sind; bevor es also verdammt noch mal so-
Viertel sind seit 2005 um 27 Prozent angestiegen, die Bevölkerung wird
weit ist, bitten wir inständig um zivilen Ungehorsam
einfach ausgetauscht, aus Aschenputtel wird eine Prinzessin. St. Pauli
und kluge Reaktion gegen Mauerbauer, Rausklager,
hatte immer ein Herz für alle – Exzentriker, Kranke, Abgestürzte, Arme,
Draufhauer und Ausbeuter. Sonst singen wir bald alle
diese Menschen werden nun verdrängt. Die Lifestyle-Branche über-
brav im Chor: Aber hier leben, nein Danke. Und sind
nimmt auf Kosten der alten Bewohner ein ganzes Viertel. Der Film gewann
raus.« (»Recht auf Stadt«-Benefizgala, Übel & Gefährlich)
den Dokumentarfilmpreis auf der Hamburger Dokumentarfilmwoche. »Alles was dumm und scheisse ist, das findet hier statt. (....) Hier wird abgemolken. Das ist die Hauptmelkzentrale von Hamburg.« (Rocko Schamoni)
www.esregnetkaviar.de
»Bevor hier das letzte alte Haus abgerissen oder marmorsaniert ist, bevor
wba.blogsport.de
das letzte Kino geschlossen, der letzte Buchladen rausgeekelt, die letzte
www.buback.de/nion
Oma aus ihrer Wohnung ins Heim genötigt wurde und die kaufschwachen
www.empire-stpauli.de
Studenten umgesiedelt sind, am besten gleich mit der kompletten gottverdammten Uni, weil aus der alten kann man bestimmt ein tolles Einkaufsquartier machen – bevor sie hier also alle nicht mehr wohnen und leben können und wollen und nur noch Zaungäste sind, damit die Firma Stadt ihr Säckel schön voll machen kann, um zum Beispiel die ein oder andere Landesbank vor der eigenen Dummgier zu retten oder verlustbringend Krankenhäuser zu privatisieren; bevor hier also alles aus Geldgeilheit und Gleichmachungswahn vernichtet ist und kaltgestellt
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Symbol der Hausbesetzer, einem Gaunerzinken nachempfunden (Foto: Umbruch Bildarchiv)
Frau Schulze aus der Wrangelstraße Rümpft auf einmal ihre Nase Wat woll’n die nur im kaputten Haus? Reparier’n? Da wird doch nüscht draus!
Schlaflose Nächte & 5 aus 36
In den meisten Städten und Gegenden Mitteleuropas
land, 1981 fand in Münster der erste bundesweite
steigen die Mieten immer weiter an, während zugleich
Kongress der Hausbesetzer statt. In der Wendezeit
die Möglichkeiten des Einzelnen sich in der kapitalisti-
wurden in der DDR viele Häuser besetzt, die Ostberliner
schen Verwertungsgesellschaft eine bürgerliche Exis-
Polizei war nicht mehr und die Westberliner Polizei
tenz aufzubauen, sinken – die Arbeitslosigkeit steigt,
noch nicht befugt einzugreifen, es herrschte ein Macht-
Bildung wird immer weniger Menschen zugänglich ge-
vakuum, das natürlich ausgenutzt wurde. Oft war
macht, die Lebensbedingungen werden immer schlech-
die Hausbesetzung ein »politischer Protestakt gegen
ter. Für einige Wenige stellt die Besetzung eines
das politische System« des jeweiligen Staates. Vor
Hauses ein adäquates Mittel gegen diese Entwicklungen
allem bei Räumungen und Demonstrationen kam es
dar. Eine Besetzung ist die Inbesitznahme von leer-
nicht selten zu Gewaltausschreitungen zwischen
stehendem Wohnraum gegen den Willen des Eigen-
Polizei und Besetzern.
tümers. Die Motive für einen sogenannten squat können unterschiedlich sein, der Wunsch nach kostenlosem
Vor allem in Kreuzberg kam es infolge eines flächen-
Wohnraum, eigener Wohnungsmangel, Obdachlosigkeit
deckenden Abrisses von Altbauquartieren und gleich-
oder Protest gegen spekulativen Leerstand und über-
zeitigem Neubau von modernen Großsiedlungen zu
höhte Mieten.
einer extremen Wohnungsknappheit. Abriss und Neubau entwickelten sich nicht in gleicher Geschwin-
»Im Herbst 1970 hatten Studenten, Familien aus Ob-
digkeit und so war die Wohnungsnachfrage größer
dachlosensiedlungen und ausländische Arbeiter
als das Angebot. Straßenzüge sollten aus Kostengründen
im Frankfurter Stadtteil Westend wahrscheinlich zum
nur als Ganzes abgerissen werden, und so mussten
ersten Mal im Nachkriegsdeutschland ein leer stehen-
erst einmal alle Wohnungen »entmietet« werden, was
des Haus besetzt.« (Serhat Karakayali Lotta Continua)
ein langwieriger, jahrelanger Prozess war. Bereits geräumte Wohnungen standen teilweise bis zu zehn
Insbesondere Ende der 70er und in den 80er Jah-
Jahre leer, obwohl zur gleichen Zeit viele junge Leute
ren florierte die Hausbesetzerszene in Westdeutsch-
dringend auf der Suche nach günstigem Wohnraum
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Ihr habt uns so viel schon genommen, was bleibt, das ist die Wut, doch Vorsicht, denn die kommt jetzt zurück. Denn mit jedem Stein, den ihr aus der Mauer reißt, reißt ihr auch aus uns ein Stück. Und glaubt nicht, dass wir zusehen, wenn ihr unsere Träume fresst, eure Luft wird brennen, wenn man uns nicht atmen lässt.
Früchte des Zorns – Unsa Haus
waren. So nahm sich die Hausbesetzerszene dieser
sich die Besetzer über die Legalisierung der Häuser
Wohnungen an, um weiteren Verfall und den fol-
in zwei Lager gespalten: Die einen wollten ihr neues
genden Abriss zu vermeiden. Ihre Forderungen waren:
Wohn- und Lebensverhältnis sichern, während die
Preiswerten Wohnraum erhalten und nur die Bau-
anderen den Besetzerstatus und ihre damit verbun-
maßnahmen durchführen –möglichst in Eigenarbeit
denen politischen Ziele nicht aufgeben wollten. Ab
– die die Bewohner als notwendig erachten.
1983 ging der West-Berliner Senat zu einer Politik der sogenannten »Behutsamen Stadterneuerung«
»Von kommunistischer Hand zentral gesteuert finden
über, die die Entwicklung von Sanierungskonzepten
in diesen Tagen über ganz Deutschland verteilt,
in Absprache und mit der Beteiligung der betroffenen
Hausbesetzungen statt.« heißt es in einem Flugblatt,
Bewohner vorsah.
das der RCDS 1981 in Berlin-Kreuzberg verteilte. In dieser Zeit waren fast 160 Häuser besetzt, bei den
Auch heute gibt es viele besetzte Häuser in ganz
versuchten Räumungen lieferten sich Besetzer und
Deutschland, legendärstes ist das Georg-von-Rauch-Haus
Polizei teilweise dramatische Straßenschlachten. Diese
in Berlin, besetzt seit 1971 und immer noch aktiv.
erste Bewegung endete 1981, als der Berliner Senat
Jeden Mittwoch Volxküche, regelmäßige Konzerte und
die »Berliner Linie« verkündete, die keine Neubeset-
Partys und liebevoll eingerichtete Gästezimmer für
zungen mehr möglich machte. Schon zuvor hatten
internationale Besucher zum Selbstkostenpreis.
en garde gazette Hausbesetzung
(links) Besetzereck in der Oranienstraße am Heinrichplatz, Berlin (Foto: Manfred Kraft/Umbruch Bildarchiv) (mitte) Aus Protest über die Berichterstattung wurde 1990 der Konferenztisch der taz entführt (Foto: Umbruch Bildarchiv) (rechts) Räumung der Mainzer Straße in Berlin, 14. November 1990 (Foto: Umbruch Bildarchiv)
In Köln gibt es die aktive Initiative pyranha, die sich
der Erhalt des Gebäudes durch bauliche Maßnahmen
für ein nichtkommerzielles und selbstverwaltetes
erklärtes Ziel, so können neue Argumentationsper-
Zentrum für Politik, Kunst und Kultur einsetzt. Um auf
spektiven geschaffen werden, manchmal kann so auch
sich und ihre Forderung aufmerksam zu machen,
Spekulanten einen Strich durch die Rechnung ge-
wird auch mal ein Haus besetzt.
macht werden, die nur darauf gewartet haben, dass das Haus in sich zusammenfällt. So kann im besten
Es gibt verschiedene Arten der Besetzung, grund-
Fall bezahlbarer Wohnraum gesichert und bedeutsame
sätzlich wird zwischen einer stillen und einer lauten
Bausubstanz gesichert werden. Eine Scheinbesetzung
bzw. offenen Besetzung unterschieden. Eine stille
schließlich bezeichnet den nicht ernsthaften Versuch
Besetzung geht möglichst unbemerkt von Nachbar und
einer offenen Besetzung. So können zum Beispiel
Polizei von statten, meist um das Haus erstmal vor-
Ordnungskräfte verwirrt werden und von einer echten
zubereiten und zu etablieren. Dem gegenüber steht die
Besetzung abgelenkt werden. Eine Flächenbesetzung
offene Besetzung, rein ins Haus, Transparente aus
kommt meist bei aktuellen politischen Konflikten im
dem Fenster, die Faust empor gereckt und mal schauen,
Rahmen einer direkten Aktion zum Einsatz, und kann
was passiert. Die Öffentlichkeit soll informiert werden,
einen Baustopp zum erklärten Ziel haben. Ein Vorteil ist,
offensiv wird die Besetzung verkündet. So kann viel
dass öffentlich auf die jeweilige Problematik aufmerk-
Aufmerksamkeit erregt werden und relativ schnell
sam gemacht werden kann und dass die Öffentlich-
wird geklärt, ob geräumt oder geduldet wird. Ein Mit-
keit der Fläche, eine sehr polarisierende und den
telweg zwischen still und offen ist vielleicht, einfach
Diskurs anregende Wirkung hat. Bestes und aktuellstes
so zu tun, als hätte man das Gebäude gekauft, offen-
Beispiel hierfür ist die für den 20. Juni 2009 ge-
siv anfangen zu bauen und möglichst authentisch und
plante Besetzung des Tempelhof-Geländes. Dabei sollte
organisiert zu wirken. Bei einer Instandbesetzung ist
auf das gebrochene Versprechen, das Gelände nach
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Stilllegen des Flughafens der Öffentlichkeit zugänglich
Hausbesetzungen wird es auch weiterhin geben.
zu machen, aufmerksam gemacht werden. Und auch
Voraussetzung ist allerdings, dass es weiterhin Leer-
wenn die Besetzung durch ein immenses Polizeiauf-
stand von Häusern und arbeitende linke Gruppen
gebot verhindert wurde, ist dies gelungen.
gibt, da Hausbesetzungen nur selten von Bürgerinitiativen oder Selbsthilfegruppen durchgeführt wurden.
Ein grundlegendes Problem von Hausbesetzungen
Dies gilt in verstärktem Maße für die neunziger
ist folgendes: Die Politik der HausbesetzerInnen, so-
Jahre. Ob aus diesen Besetzungen eine breite Bewe-
wohl der überwiegend »wohnungspolitisch« orientierten,
gung mit gesellschaftlicher Sprengkraft wird - wie
als auch derjenigen, die damit dieses Gesellschafts-
etwa in Frankfurt Anfang der siebziger oder in Berlin
system angreifen oder breite Massen politisieren wol-
Anfang der achtziger Jahre - oder ob Besetzungen
lten, ging davon aus, dass Widersprüche zwischen
eher eine Randerscheinung sind – wie in den neunziger
existierenden Bedürfnissen und ihrer Nichtbefriedigung
Jahren – hängt wesentlich von den gesellschaftlichen
in dieser Gesellschaft eine Veränderung bzw. Revo-
Bedingungen ab. Aber auch, wenn es wieder zu einem
lutionierung fördern. Die Konsequenz, die diese Er-
bundesweiten Aufflammen von Häuserkämpfen
kenntnis für HausbesetzerInnen hat, ist aber nicht die,
kommen sollte, wird ihnen vermutlich eine ähnlich
dass Häuserkämpfe künftig keinen Sinn mehr machen.
kurze Lebensdauer beschert sein, wie beispielsweise
Sie können jedoch weder der Ausgangspunkt für
den Kämpfen der frühen achtziger Jahre. Häuser-
eine grundlegende Revolutionierung der gesellschaft-
kämpfe, Mietstreiks, Bürgerinitiativen gegen Speku-
lichen Verhältnisse sein, noch dürfen sie im Mittel-
lanten und Umstrukturierung sind Teil der Kämpfe
punkt der politischen Aktivitäten stehen.
von Menschen, die sich gegen ihre Vertreibung aus
en garde gazette Hausbesetzung
(links) Die Räumung der Mainzer Straße 1990 war der bisher heftigste Polizeieinsatz gegen Autonome. Die Polizei setzt sogar scharfe Schusswaffen ein: Zwei Leute werden getrof-
Stadtteilen, gegen zu hohe Mieten und ein Umfeld, das nur noch aus Autos und Büros besteht, zur Wehr setzen. Diese Kämpfe werden auch in anderen Bereichen geführt: Am Arbeitsplatz, in den Schulen oder Hochschulen. Für die meisten Menschen, die sich gegen die Vertreibung aus ihren Stadtteilen und teure Mieten wehren, werden Hausbesetzungen aber auch künftig nicht die geeignete Protestform sein. Aber dass ehemals besetzte bzw. selbstverwaltete Häuser oder Straßenzüge heute oft kollektive Zentren der Begegnung und des Austausches sind, zeigt, dass der Kampf nicht umsonst war.
www.rauchhaus1971.de
pyranha.blogsport.de
tempelhof.blogsport.de
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fen. Mindestens 4000 Polizisten sind im Einsatz, auf der anderen Seite kämpfen 500 oder 600 Autonome. Nach der Räumung sieht die Straße aus wie nach einem Erdbeben. (Foto: Umbruch Bildarchiv) (rechts) Nach Gerüchten über weitere geplante Räumungen versammelten sich die Besetzer vor dem Haus Admiralstrasse 20 in Kreuzberg und begannen, Barrikaden zu errichten. (Foto: Manfred Kraft/Umbruch Bildarchiv)
»Wie viele Menschen in der Tradition des zivilen Ungehorsams sehen wir uns moralisch im Recht und politisch in der Pflicht, Produkte der Zerstörungstechnologie Gentechnik symbolisch unschädlich zu machen. «
Im Sommer 2005 wurden in Deutschland erstmals großflächig gentechnisch manipulierte Pflanzen angebaut. Dies geschah gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, denn rund 80% der Menschen in der Bundesrepublik sind gegen die Gentechnik in der Landwirtschaft und in der Nahrung. In Deutschland droht Agro-Gentechnik im großen Stil Einzug zu halten. Die Verantwortlichen wissen, dass damit unumkehrbare Fakten geschaffen werden. Einmal freigesetzt, sind Gentech-Pflanzen nicht mehr rückholbar. Durch Pollenflug verbreitet sich unkontrolliert genmanipuliertes Erbgut. Artfremde Eigenschaften können in verwandte Wildpflanzen auskreuzen. Der Anbau von genmanipulierten Organismen (GMO) bedroht weltweit die traditionelle Landwirtschaft. »Koexistenz«, wie sie Gentechnikbefürworter immer wieder beschwören, funktioniert nicht. In Kanada z.B. ist es praktisch nicht mehr möglich, Gentechnik-freien Raps oder Soja zu ernten. Die Agro-Gentechnik bringt Bauern und Bäuerinnen in Abhängigkeit von großen Saatgutkonzernen. Percy Schmeiser, ein kanadischer Bauer, wurde von Monsanto verklagt, weil auf seinen Feldern patentierter Gentech-Raps gefunden wurde. Von Nachbarfeldern waren Pollen und Fruchtkörner auf seinem Acker gelandet, seine jahrzehntelange Zuchtarbeit war mit einem Schlag zunichte. Obwohl er nie Gentechnik wollte, wurde er verurteilt. Der Anbau von Gentech-Pflanzen gefährdet die biologische Vielfalt. Traditionelle Pflanzenarten werden verdrängt. Das Gift, das bestimmte gentechnisch veränderte Maissorten produzieren, vernichtet nicht nur problematische Schädlinge. Genmanipulierte Organismen stellen eine Gesundheitsgefahr dar. Es ist unmöglich, die gesundheitlichen Risiken für Mensch und Tier einzugrenzen. Gentechnik ist ein Zufallsspiel.
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Freiwillige Feldbefreiung
Gentechnische Konstrukte werden in ein unbekanntes
Dabei sind sie nicht allein. In Afrika, Asien, Amerika und vielen
Genom an zufälliger Stelle integriert. Immer wieder
europäischen Ländern haben Zehntausende von Menschen bereits ähn-
ergeben sich Folgen, mit denen niemand gerechnet hat:
liche Initiativen ergriffen. In Frankreich wurden im letzten halben
Die Stängel von Gen-Soja z.B. platzen bei Dürre und
Jahr Gentechnikgegner in Gerichtsverfahren in Orleans und Versailles
Hitze auf oder Gen-Pappeln blühen zum falschen Zeit-
freigesprochen. Sie hatten Genfelder zerstört. Die Gerichte erkannten
punkt. Viele Wissenschaftler warnen, dass das höchst
an, dass die Aktionen dem Schutz der Landwirtschaft und der Gesund-
dynamische System Eingriffe zum Risiko macht.
heit der Bevölkerung dienen sollten. Nun saß der erste Feldbefreier
Doch es gibt eine Gegenbewegung, »Gendreck weg«,
Jahr 2007 fand bereits die dritte große, zuvor öffentlich angekündigte
im Gefängnis, Michael Grolm, Gentechnikgegner und Berufsimker. Im die Freiwillige Feldbefreiung wurde von Imkern
Feldbefreiung auf einem Genmaisfeld in Brandenburg statt. Mit dabei er-
und Bauern ins Leben gerufen, um sich gegen die Agro-
neut der entschlossene Berufsimker Michael Grolm aus Thüringen.
Gentechnik zur Wehr zu setzen. Inzwischen haben
Weil er als Feldbefreier schon bekannt war, ließ ihm der Genmais-Anbauer
sich Biologinnen, Gärtner, Mütter und Väter, Ärztinnen
per Gerichtsvollzieherin eine einstweilige Verfügung überbringen, die
und Ärzte, Köche und viele weitere Menschen ange-
ihn aufforderte, das Genmaisfeld zu meiden und ihm ansonsten eine hohe
schlossen. Nach öffentlichen Ankündigungen gehen die
Strafe androhte. Der Imker ließ sich nicht aufhalten, ging mit vielen
Feldbefreier auf Gentech-Maisfelder und reißen die
Gleichgesinnten und zahlreichen Journalisten im Schlepptau auf das Feld
gefährlichen Pflanzen aus. Es geht nicht darum, die
und half tatkräftig dabei, Genmaispflanzen unschädlich zu machen.
Bauern zu schädigen, sondern die Gefahr abzuwen-
2008 fand der Zivilprozess um die Missachtung der Verbots-Verfügung
den. Man kann die Aktion als Notwehr und als not-
in Frankfurt statt. Kein guter Tag für den Monsanto-Anwalt, der den
wendigen Akt von Zivilcourage verstehen, um der
Genmais-Bauern vertrat.
Gentechnik-Ausbreitung auf unbelasteten Feldern Einhalt zu gebieten. Damit stehen sie in der Tradition
Anstatt Grolm zur Zahlung der geforderten 10.000 Euro zu verurteilen,
gewaltfreien Widerstandes, des zivilen Ungehorsams.
reduzierte das Gericht auf 1.000 Euro. Womit auch neun Zehntel der
Unterstütze Michael Grolm und »Gendreck weg«
Spenden machen den Widerstand stark. Michael Grolm würde sich wünschen, dass viele Aktive mit täglichen Spenden – z.B. pro Gefängnistag eines Aktivisten 5 Euro – den Widerstand stärken und den Einschüchterungsversuch von Monsanto und Co. zurückweisen. Rechtshilfe Gendreck-weg, Kontonummer 401 687 1300, bei der GLS Bank, BLZ 430 609 67. Schaut Euch die Aktionen um die Haftantritte genauer an! Presseinfo, Fotos, Filme und weitere Termine gibt es unter www.gendreck-weg.de
Es gibt kein »Gendreck weg« ohne viele, aktive Mitstreiter verschiedenster Art: Ein Vorhaben wie dieses, der Gentechnik gewaltfrei und entschlossen entgegen zu treten, kann nur gelingen, wenn viele Menschen es mit Leben erfüllen und das Thema viele Wege in die gesellschaftliche Diskussion findet. »Gendreck weg« freut sich über Jede und Jeden, die/der Zeit und Lust hat, unsere Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen. Menschen, die gerne schreiben oder auf eine andere Weise das Thema Gentechnik und den Widerstand dagegen bekannt machen, sind ebenso herzlich willkommen. Einfach eine E-Mail an: aktion@gendreck-weg.de
Noch etwas kann jeder tun: Ein Brief an die zuständigen Amtsrichter oder Landgerichte senden, mit der Forderung, inhaftierte Feldbefreier sofort frei zu lassen. Informationen, welcher Feldbefreier oder welche Feldbefreierin gerade dringend Eure Unterstützung braucht und die Adressen findet ihr im Internet. Auch eine Briefvorlage gibt es unter www.gendreck-weg.de
Spenden: »Gendreck weg« ist eine Bewegung, die ausschließlich durch Privatspenden finanziert wird. Für Vorbereitung, Pressearbeit und die vielen anderen Auslagen werden finanzielle Mittel benötigt. Bürgschaften: Für eventuelle Gerichtsverfahren sind Bürgschaften eine wichtige Hilfe: Gemeinsam kann man die Kosten für Prozesse zusammen bekommen.
en garde gazette Genfood
»Die große Mehrheit der Verbraucher will keine Agro-Gentechnik. Die Politik propagiert sie trotzdem. Deshalb ist nun ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel, das unseren erfolgreichen Boykott unterstützt.«
Sven Giegold - Attac, Deutschland
Gerichtskosten beim Kläger verblieben. 1.000 Euro,
wer gentechnikfreie Maissorten wie den Golden Bantam anbaut, muss
so hatte es der Gentech-Anwalt gefordert, entsprech-
über den Anbau in der Nachbarschaft informieren und von gentech-
en in diesem Urteil zwei Tagen Haft. Der Feldbefreier
nisch veränderten Pollen geschützt werden, besonders dann, wenn aus
war von Anfang an bereit, diese zwei Tage auch im Ge-
der Ernte neues Saatgut gewonnen werden kann. Privatpersonen und
fängnis verbringen, um seine Entschlossenheit deut-
Betriebe, die Mais anbauen, haben Auskunftsrechte über Anbaustandorte
lich zu machen und erneut für die gentechnikfreie Land-
von Gentechnik-Mais in ihrer Nachbarschaft. Ist der Mais gentechnisch
wirtschaft zu werben. Allerdings verlangte das Ge-
verunreinigt, steht dem Anbauer Schadensersatzanspruch zu. Golden
richt einen Offenbarungseid, bevor die Ordnungshaft
Bantam kann - im Gegensatz zu patentiertem und Hybrid-Saatgut -
in Anspruch genommen werden könnte. Den wollte
weiter vermehrt werden. Je mehr Menschen aktiv ihr Recht wahrnehmen,
Grolm nicht ablegen und musste in Erzwingungshaft.
gentechnikfreien Mais anzubauen und das Saatgut zu vermehren, desto
Wie lange diese dauert, war am Anfang ungewiss.
besser können sie sich gemeinsam schützen.
Haftantritt war Ende August. 27 Tage saß Michael Grolm letztendlich in Haft, bevor er von 17 verschiedenen Initiativen freigekauft wurde. Inzwischen musste er erneut ins Gefängnis, zum Glück nur für 2
www.gendreck-weg.de
Tage. »Von Anfang an hätten die Gentechnik-Konzerne
www.saveourseeds.org
auf die Anklagebank gehört. Aber wenn ich jetzt ins
www.bantam-mais.de
Gefängnis gehe, bringe ich sie erneut in die öffentliche Diskussion. Die Mehrheit der Menschen ist überzeugt: Wir müssen die Gentechnik auf den Feldern stoppen. Für sauberen Honig, für unabhängige Bauern, für gesunde Nahrung und eine Zukunft der Gentechnikfreien Landwirtschaft.« (Michael Grolm) Eine andere Gegenbewegung ist »Save Our Seeds«, über 200.000 Privatpersonen und 300 Organisationen in Europa mit insgesamt gut 25 Millionen Mitgliedern unterstützen bereits diese Petition und täglich werden es mehr. Die Initiative wird vom Berliner Büro der Zukunftsstiftung Landwirtschaft koordiniert. Die Stiftung selbst fördert die Züchtung von biologischem Saatgut und Innovationen im ökologischen Landbau. Die Initiative konzentriert sich auf die Reinhaltung allen Saatgutes von gentechnischen Verunreinigungen und fordert strenge Reinheitsvorschriften für Saatgut. Es soll völlig frei von gentechnisch veränderten Organismen sein, auch um die Integrität des ältesten Erbgut der Menschheit zu erhalten, das seit über 8000 Jahren entwickelt von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Zukunftsstiftung Landwirtschaft hat auch »Aktion Bantam-Mais« ins Leben gerufen, seit 2006 haben sich mehr als 50 000 deutsche Kleingärtner dieser Aktion angeschlossen und Mais der Sorte Golden Bantam gesät. Sie signalisieren damit ein klares Nein zur Gentechnik. Bei dieser Sorte Mais handelt es sich um samenfestes Gemüse, das heißt aus ihm kann direkt Saatgut gewonnen werden. Der Anbau kommt der Errichtung eines Damms gegen die grüne Gentechnik gleich. »Wo Bantam steht, wächst keine Gentechnik.« Das gilt nicht nur für den eigenen
Do it yourself
Mit Bantam durchs Jahr Saatgut bei einer Bezugsquelle kaufen oder per Postkarte bestellen. Gleich mit Postkarte oder Mail an »Save our Seeds« den eigenen Anbaustandort melden und in die Goldene Bantam-Karte eintragen lassen. Postkarte an die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner schicken. Weitere Mitmachkarten und Plakate bestellen und verteilen. Mit einer Spende zur Finanzierung der Aktion beitragen Falls Gentechnik-Mais in der Nachbarschaft angebaut werden soll, genaue Informationen verlangen und den Anbauer darauf hinweisen, dass er in seiner Nachbarschaft gentechnikfreien Bantam-Anbau gefährdet. Formulare und Unterstützung bei »Aktion Bantam-Mais«. Anfang bis Ende Mai (nach dem letzten Frost) Mais an sonnigem, nährstoffreichem Ort in einem Block und Abständen von 45 cm aussähen oder einsetzen und immer etwas feucht halten. Im Mai unsere Petition unterzeichnen und allen Freunden und Bekannten davon erzählen. Bantam mit einem Plakat erkennbar machen. Gemeinsame PflanzAktionen organisieren, nicht nur im eigenen Garten. Im September den Süßmais in der Milchreife ernten (Körner sind noch hell, weich und innen milchig) und frisch genießen. Zur Konservierung notfalls kurz kochen und dann einfrieren, sonst verliert er seine Süße. Die frühesten und schönsten Kolben als Saatgut vom Munde absparen und abreifen lassen. Im Oktober, wenn die Hüllblätter braun werden, die Saatgut-Kolben ernten, die Blätter zurückziehen und an einem warmen, luftigen Ort zum Trocknen aufhängen. Im Frühjahr 2010: Eigenes Saatgut verteilen und aussäen. Die Anbaustandorte bei »Save our Seeds« melden.
Garten, sondern auch für die Nachbarschaft. Denn
en garde gazette Genfood
»Ich bin ein freier Mensch, weil ich wenig habe, jedenfalls weniger als die meisten in Deutschland, und doch so unendlich viele Möglichkeiten. Wagenleben heißt, das Leben wagen.«
Free-living Jonson
(oben) Wagenplatz Klabauta in Darmstadt. (rechts) Anja und Alis Wagen, K端chenfenster.
en garde gazette Wagenleben
»Die Plätze sind zu Begegnungsstätten für viele Menschen geworden, deren Perspektiven anders aussehen, als die der totalen Konsum-Welt, bestehend aus Plastik, Computer und Genmanipulation.«
Ich treffe Anja und Ali vom Wagenplatz Klabauta in Darmstadt in ihrem gemütlichen Wagenkomplex, bestehend aus 3 zusammengebauten Wagen und einem Salon, der alles verbindet. Ali wohnt seit dreizehn Jahren in Darmstadt auf dem Platz, Anja zog vor neun Jahren dazu. Insgesamt wohnen 28 Erwachsene und 8 Kinder hier, drei wurden auch direkt im Wagen geboren. Die Essenz ist ein interessantes Interview über die Beweggründe für ein Wagenleben und schöne Einblicke in den Alltag am Rande der Stadt.
28 - 29
Plenumserklärung
en garde gazette Wagenleben
(oben) Der gemeinschaftliche Toilettenwagen. (unten) Der Badewagen für den ganzen Platz und Wasserstelle. Nicht im Bild: Der OutdoorSwimming-Pool.
Wann seid ihr in den Wagen gezogen?
Du siehst es also nicht mehr so idyllisch?
Ali: Vor dreizehn Jahren. Nach meiner Ausbildung
Anja: Nein, überhaupt nicht. Ich dachte, wenn man
zum Landschaftsgärtner wollte ich eigentlich in
in einem Wagen lebt, dann entwickelt man innerlich
Heidelberg eine Weiterbildung im Bereich Baumpfle-
ein Gefühl von Freiheit, Inzwischen glaube ich, wenn
ge und Baumchirurgie machen. Ich wollte meinen
man dieses Gefühl nicht in sich hat, dann hat man
Wohnmobilbus ausbauen, um während der Fortbildung
es auch auf einem Wagenplatz nicht. Seine Struktur
darin zu wohnen, leider wurde ich auf der Schule
nimmt man mit, eine zwanghafte oder ängstliche
nicht genommen. Parallel dazu hatte ich den Wagen-
Struktur hat man auf dem Platz auch, da ändert die
platz Klabauta kennen gelernt. Ich war mit meiner
Umgebung nichts daran, das ist nur der Anstrich.
damaligen Wohnsituation nicht zufrieden und wollte
Alle die uns besuchen, finden es immer sehr schön,
schon immer selbst gestalten können, wo und wie
ich genieße es auch, hier zu leben, aber nach 9 Jahren
ich wohne. Ich habe es dann einfach probiert.
Wagenleben ist es ein anderes Gefühl, als ich es mir damals vorgestellt habe.
Anja: Ich habe in Tübingen studiert und den Wagenplatz dort über Kulturveranstaltungen kennen ge-
Wolltet ihr bewusst aus dem Konsum, dem Kapitalis-
lernt, zu dem Zeitpunkt gab‘s dort aber einen Einzugs-
mus oder der Gesellschaft aussteigen?
stopp, die Plätze sind relativ schnell voll. Nach dem
Ali: Früher wollte ich am liebsten im Wald wohnen,
Studium wollte ich nach Berlin, auf einem Wagenplatz-
heute hat sich das alles etwas relativiert, inzwischen
fest vom Klabauta habe ich dann Ali kennen gelernt
weiß ich, im Wald wohnen wäre auch nicht so mein
und wir haben uns verliebt. Ich bin dann zwar trotz-
Ding. Ich fühle mich schon als Konsument, ich interes-
dem noch ein Jahr nach Berlin, danach bin ich aber
siere mich für Technik und Computerkram, ich habe
gleich hier auf den Platz gezogen. Ich habe schon früh
eine Kamera und Musikinstrumente, ich will Dinge be-
angefangen, immer weniger haben zu wollen. Schon
sitzen, die mir wichtig sind. Trotzdem versuche ich
mit 15 wollte ich am liebsten eremitenmäßig leben,
immer zu überlegen und abzuwägen, was brauche ich
völlig ohne Besitz. Von Wohnung zu Wohnung und
wirklich und was nicht? Viele Dinge, die auf dem
Zimmer zu Zimmer habe ich dann immer mehr Besitz
Wagenplatz einfacher sind, finde ich auch viel prakti-
abgespeckt und so war Wagenleben für mich die
scher. Ich koche viel lieber auf einem Gas- als einem
logische Konsequenz aus einem langen Entwicklungs-
Elektroherd, ich mag es, mit Essig anstatt Spülmittel
prozess. Das war schon immer mein Ideal, mit mög-
abzuwaschen und so das Wasser bedenkenlos vor die
lichst wenig leben zu können, und so unabhängig wie
Tür kippen zu können. Braucht man wirklich ständig
möglich zu sein. Ich finde, Konsum ist auch eine
Shampoo oder geht auch Lavaerde? Ein bisschen Be-
Form von Abhängigkeit, ich wollte das einfach nicht
quemlichkeit möchte ich zwar, aber ich kann auch auf
mehr. Als ich in Tübingen gesehen habe, dass Leute
viele Sachen verzichten.
im Wagen leben, habe ich mir das sehr idyllisch vorgestellt und dachte, das will ich auch. Inzwischen sehe ich das nicht mehr so, aber ich will auch nicht anders leben.
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»Wir wollen eine Welt, in der sich der Mensch als Teil des Ganzen versteht, also die vorhandenen Reichtümer nicht als Eigentum betrachtet, sondern als Allgemeingut, und verantwortlich damit umgeht.«
Plenumserklärung
Seid ihr näher an der Natur?
Was macht für euch den Reiz am Wagenleben aus?
Ali: Ja, das stimmt, wenn es regnet oder stürmt ist
Anja: Mir tut es gut, in einer Gesellschaft innerhalb einer Gesellschaft
man mittendrin und erlebt es hautnah. Man macht
zu leben und dort abtauchen zu können. Ein Dorf in einem großen Dorf,
sich Sorgen, ob die Solarzellen halten oder die Dach-
ein Rückzugsort, der mir sehr wichtig ist. Hier sind Menschen, auf die
pappe wieder reisst und es ins Bett regnet.
man sich verlassen kann, es ist wie ein Schutzraum für mich. Verkehr, Lärm, Menschenmassen, riesige Supermärkte, das ist alles schrecklich
Anja: Einmal ist das komplette Dach der Küche weg-
für mich, dem setze ich mich nur ganz gezielt aus, zu Hause mag ich es
geflogen. Nachdem Ali bei strömendem Regen auf
dann gerne klein, einfach und bescheiden. Und natürlich zahlen wir
dem Dach war und es repariert hatte, regnete es
hier sehr wenig Miete, 50 Euro pro Person kommen in unsere Platzkasse,
dann im Flur durch die Decke. Weil wir aber Spargel
aus der die Pacht, Wasser und Klo abpumpen bezahlt wird. Die niedri-
gekocht hatten und endlich essen wollten, haben wir
gen Lebensunterhaltungskosten ermöglichen einen Lebensstil, wo man
einfach den Tisch in die Mitte gezogen, wo es am
sich nicht extrem stressen muss. Und wir haben die Freiheit, uns die
wenigsten durchgeregnet hat und erst mal in Ruhe
Arbeit ein bisschen aussuchen zu können und müssen nicht den ganzen
dort gegessen.
Tag malochen.
Ali: Meistens passiert so was ja Samstag Abend
Ali: Wir sind hier auf dem Platz auch einfach näher untereinander,
oder Sonntags, wenn man keine Ersatzteile kaufen
natürlich gibt es hier Leute, die man mag und welche, die man nicht mag,
kann, deswegen habe ich jetzt immer Dachpappe
wie überall sonst auch, aber man kann sich aufeinander verlassen. Das
und Abdeckplane irgendwo.
steht im Gegensatz zu dieser Anonymität in Städten, wo sich keiner mehr für seinen Nachbarn interessiert. Das Leben hier ist viel natürlicher
Was unterscheidet euer Leben am meisten von dem
und menschlicher, man lebt zusammen auf einem kleinen Fleckchen
in einer Wohnung oder in einem Haus?
Erde, man versucht sich untereinander zu helfen und freut sich mit den
Anja: Wenn man mal eine Woche weg ist, vor allem
anderen wenn zum Beispiel hier ein Baby geboren wird.
im Winter, hat man es natürlich nicht sofort warm, wenn man wieder da ist, das Heizen dauert dann na-
Vermisst ihr manchmal irgendeinen Komfort?
türlich schon seine Zeit. Ich finde aber, das hat auch
Ali: Ein großes Thema ist immer der Strom. Wir haben nur Solarstrom,
seinen eigenen Charme, man muss dann erstmal mit
in den Wintermonaten gibt es eben weniger Strom. Dann müssen wir
vielen dicken Pullis einen heißen Kaffee oder Kakao
schon überlegen, wer kann jetzt an den Computer, können wir heute
trinken und 2 Stunden warten. Uns sind einmal sämt-
Abend noch eine DVD gucken oder besser nicht. Das nervt manchmal
liche Konservendosen rundgefroren und aus den Re-
schon. Da ist dann schon mal an der spannendsten Stelle im Film der
galen gekullert und die Milch-Tetrapaks waren kom-
Strom weg.
plett durchgefroren, die musste ich dann in Scheiben schneiden und in den Topf legen für den Kakao. Das
Anja: Das stimmt. Andererseits finde ich es gut, damit zurecht zu kom-
Wagenleben ist viel humorvoller finde ich, so etwas
men. Alles ist endlich. Irgendwann gibt es die Ressourcen nicht mehr
erlebt man in einer Wohnung nicht.
und ich muss trotzdem weiterleben. Wenn man das auf Krisensituationen
en garde gazette Wagenleben
Blick aus der K端che zum Nachbarwagen.
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»Die Vollkasko-Gesellschaft schaut oft auf freie Menschen wie auf Aussätzige. Als würden die Talentlosesten in einen Raum gepfercht und bei Arbeitslager und Brot gezwungen ihr Leben viereckig und grau abzusitzen.«
Free-living Jonson
en garde gazette Wagenleben
überträgt, glaube ich, dass wir mit manchen Sachen einfacher umgehen
(oben) Anjas ehemaliger Wagen ist jetzt Arbeits-
können, weil wir das sozusagen üben. Mit wenig auskommen oder
zimmer und Bibliothek.
ohne Strom leben. Das ist für mich auch eine Form der Unabhängigkeit,
(unten) Die lichtdurchflutete Küche mit zahl-
ich finde das gut. Natürlich passiert es uns auch, dass wir uns Dinge anschaffen, also konsumieren, ich bin Büchersammlerin, Ali liebt Technik. Zu viel geht sowieso nicht, da bekommen wir Platzprobleme. Was hat sich in all den Jahren verändert auf dem Platz in der Politik und von den Leuten? Ali: Nachdem der Platz 1998 legal wurde, sind erst einmal viele Leute weggezogen, denen das dann hier zu langweilig wurde. Das ist ja dann fast wie ein normales Leben. Ich fand es am Anfang auch komisch, ich bin immer morgens zur Arbeit und wusste nicht, ob abends mein Wagen noch steht. Auf einmal war der Platz legal, das war eine Umstellung. Anja: Ich glaube der Platz hat sich mit den Jahren etabliert, hier wohnen viele Leute mit Kindern, die ihre Wagen zusammen gebaut haben und einen ganz normalen Alltag leben. Je nach Perspektive kann man das positiv oder negativ beurteilen. Linkspolitisches Engagement ist sehr randständig. Seit drei Jahren veranstalten wir regelmäßig das Kulturfestival Musenknutsch, wir wurden viel fotografiert, es wurde ein Film gedreht, wir wollten uns bewusst nach außen öffnen. Wir sind ein Teil der Stadt und deswegen dürfen die Leute auch kommen und gucken. Das ist auf jeden Fall eine Veränderung. Viele Leute vom Wagenplatz sehen das aber auch sehr kritisch und finden es sehr störend, wenn so viele Menschen hier durch latschen und alles ungefragt fotografieren. Es ist für uns aber auch eine Möglichkeit, den Menschen zu zeigen, dass alles hier gar nicht so schlimm ist, wie es vielleicht aussieht. Welche Reaktionen zeigen die Darmstädter in Bezug auf den Wagenplatz? Ali: Es gibt das komplette Spektrum, manche finden es toll, manche Kleingärtner in direkter Nachbarschaft haben sich aber auch schon sehr aggressiv uns gegenüber verhalten. Inzwischen sind sie aber ganz froh, wenn sie uns mit Holzabfällen aus ihren Gärten versorgen können. Sie müssen nicht zur Deponie fahren und wir können heizen. Anja: Ganz am Anfang gab es einmal einen Brandanschlag auf einen Wagen, das haben wir aber direkt dem Kleingärtnerverein gemeldet, seither gab es keinen Ärger mehr. Das wurde dann wohl in ihre Satzung aufgenommen: Brandanschläge sollten unterlassen werden. Anja: Als wir noch auf der anderen Seite der Brücke wohnten, standen jeden Tag kleinere Gruppen oben und haben zu uns runter gestarrt. Wir hatten schon den Verdacht, dass jemand dort Führungen anbietet und haben dann auch oben eine kleine Installation mit Fernglasattrappen gemacht, um den Leuten ihr Verhalten mal bewusst zu machen.
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reichen, selbst eingebauten Fenstern.
Alis ehemaliger Wagen wurde zum Wohn- und Schlafzimmer umfunktioniert.
en garde gazette Wagenleben
Wenn jemand Neues auf den Platz ziehen möchte,
Anja: Ich habe manchmal das Gefühl, andere Menschen fühlen sich durch
wird dann abgestimmt oder darf jeder hier wohnen?
die Art, wie wir leben, angegriffen. Ich sehe es nicht als Widerstand,
Ali: Das ist ein ziemlich zäher Prozess, wir haben
es wird aber von außen oft so gesehen. Manche entwickeln eine Art
mehr oder weniger regelmäßig unser Plenum und wer
schlechtes Gewissen, wenn wir erzählen, wo wir wohnen, andere neh-
Interesse hat, sollte sich dort vorstellen. Dann wird
men es nicht ernst. Ich werde von vielen gefragt, die ich sehr selten sehe:
erst einmal stundenlang darüber diskutiert, in welcher
Und, wohnst Du immer noch im Wagen? So als wäre das eine wider-
Form jetzt abgestimmt werden soll. In den dreizehn
ständlerische Trotzphase, die irgendwann vorbei ist. Vielleicht war es
Jahren, die ich jetzt hier wohne, hat sich daran nichts
das vor 9 Jahren auch ein bisschen, aber meine Motivation hat sich
geändert. Es werden natürlich auch Leute abgelehnt,
sicherlich gewandelt. Es ist interessant, dass mir immer wieder unter-
manchmal aus Platzgründen, manchmal tauchen aber
stellt wird, ich sei noch nicht erwachsen, denn als Erwachsener könne
auch echt absurde Gestalten hier auf.
man nicht so leben.
Anja: Wir sehen uns auch in keinster Weise als Auf-
Wie zentral ist denn eure Wohnsituation für euer Leben?
fangbecken für Alkoholiker, Drogensüchtige oder
Ali: Es spielt schon immer irgendwie mit, es schränkt eben auch zum Teil
Prostituierte.
ein bisschen ein, wie schon gesagt beim Strom oder im Winter, es ist also immer präsent, dass es ein bisschen anders ist als ein Leben in einer
Gab es schon einmal von Seiten eines Arbeitgebers
normalen Wohnung. Ich will aber nicht, dass mein Leben nur daraus be-
Vorurteile?
steht auf dem Platz zu wohnen, ich habe ja noch so viele andere Interessen.
Ali: Ich binde nicht jedem sofort auf die Nase, dass ich auf einem Wagenplatz wohne, ich habe eine ganz
Vielen Dank für das Gespräch.
normale Adresse. Ich erzähle davon, wenn es sich ergibt, hänge es aber nicht an die große Glocke. Nicht, weil ich nicht möchte, dass es jemand weiß, sondern weil für mich das Leben hier inzwischen relativ normal ist und ich nichts Besonderes darin sehe, hier zu wohnen. Deswegen muss ich es anderen gegenüber auch nicht betonen. Vielleicht ist es für Kinder in der Schule eher ein Problem. Anja: Die Mütter hier gehen aber auch sehr offensiv mit dem Thema um, da wird eben dann die ganze Kindergartengruppe eingeladen oder riesige Kindergeburtstage gefeiert. Es kommt auch darauf an, wie das Kind selbst damit umgeht, ob es relativ selbstsicher ist und ob es das Leben hier als normal empfindet. Ali: Spätestens nach der Grundschule haben die Kinder hier auch ihren eigenen Wagen, das ist dann natürlich schon wieder supercool, wenn man Freunde einladen kann und seine Ruhe hat. Ist der Wagenplatz für euch ein Widerstandsymbol gegen die normale Art zu leben? Ali: Ich sehe das für mich selbst nicht als Widerstand, es kommt meiner Vorstellung, wie ich leben möchte einfach am nächsten. Ich habe damit aber nicht die Absicht, andere Menschen zur Umkehr zu bewegen.
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Anja und Ali vor ihren Wagen auf dem Klabauta.
»Das überall anwendbare Grundkonzept der Reclaim
ausgeht und die Begeisterung für die zumindest tem-
The Streets-Party ist denkbar einfach: die zeitlich
poräre Eroberung autonomer Zonen und deren selbst-
begrenzte Aneignung von öffentlichem Raum unter
bestimmte vielfältige Ausgestaltung, hält weiterhin an.
Einsatz von Körper, viel Kreativität und Musik – zu freundlich und fröhlich, um umstandslos eingekesselt
Reclaim The Streets entstand, als eine Gruppe im Zu-
und geräumt zu werden, gleichzeitig jedoch als Stö-
sammenhang mit dem Aufkommen der Anti-Stra-
rung des Autoverkehrs und des Konsumentenalltags
ßenbau-Bewegung in Großbritannien, im Herbst 1991
wirksam genug, um nicht wie beispielsweise die
in London begann, direkte Aktionen gegen den Auto-
Love Parade in den Reigen der erlebnisgesellschaft-
verkehr zu organisieren. Ein zerstörtes Auto in der
lichen Kulturevents eingegliedert zu werden.«
Park Lane symbolisierte den kommenden Angriff auf
(Marion Hamm »Reclaim The Streets – Globale Protes-
die Auto-Herrschaft, über Nacht wurden neue Rad-
te und lokaler Raum«)
wege auf die Straßen Londons gemalt und es kam zu subversiven Spaßaktionen an Autoreklamen in der
Reclaim the Streets wurde Ende der 90er Jahre zum Synonym für eine andere Art des Protests auf der Straße, für die Verbindung von Spaß und Widerstand, direkter Aktion und Kunst, für die kreative Wiederaneignung von Plätzen und Lebensräumen. Ausgehend von Großbritannien fanden Reclaim The StreetsPartys in vielen Städten der ganzen Welt statt, wobei unterschiedliche Anlässe gewählt und verschiedene Inhalte mit dem Mittel der Straßenparty transportiert wurden. Dabei hat Reclaim The Streets globale wie lokale Protestkulturen verändert, gleichzeitig wurde und wird auch das Konzept der Straßenparty weiterentwickelt und den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Nicht immer und überall waren sie so große Erfolge, wie jene Reclaim The Streets-Partys, die inzwischen zu Legenden der globalen Protestbewegungen geworden sind. Oft ist nicht mehr viel von dem enthalten, was Reclaim The Streets zu Beginn sowohl inhaltlich wie strukturell und organisatorisch ausgemacht hat, und manchmal ist »Reclaim The Streets!« auch nicht mehr als ein hoffnungsvoller Aufruf zur kreativen Beteiligung an einer Aktion geblieben. Doch die Inspiration, die von Sätzen wie »Spaß kann auch Widerstand machen«
en garde gazette Reclaim The Streets
ganzen Stadt. 1994 wurde vom Criminal Justice Act der Gesetzestext zur Strafverfolgung und öffentlicher Ordnung verschärft. So wurden ziviler Ungehorsam, alternative Wohn- und Lebensformen sowie das unerlaubte Abspielen von »repetitiven Rhythmen« in der Öffentlichkeit kriminalisiert. Dagegen bildete sich eine breite Allianz, die auch zum Ausgangspunkt für die Neugründung von Reclaim The Streets wurde. In der Camden High Street in London fand im Mai 1995 die erste Reclaim The StreetParty statt: »Auf einer vollgestopften Straße krachen zwei Autos ineinander und blockieren die Fahrbahn. Die Fahrer steigen aus und fangen an zu diskutieren, plötzlich hat einer der beiden einen Hammer und beginnt auf das Auto des Anderen einzuschlagen. Die Passanten auf dem engen Gehweg zwischen der Straße und den Schaufenstern der Läden sind erstaunt. Plötzlich springen einige Leute aus der anonymen Menge am Straßenrand hervor, verspritzen Farbe, hüpfen auf die Autos. Und aus einer U-Bahn-Station strömen weitere 500 Menschen auf die Straße. Ein riesiges Banner wird über den beiden zerstörten Autos
Das erklärte, gemeinsame Ziel ist, auf lustvolle Art und Weise, die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
go.stop.act.
entrollt: »Reclaim The Streets – free the city – kill the car« Die Straße wird von der Menge übernommen. Die Leute tanzen zur Musik aus einem Soundsystem, das von Fahrrädern angetrieben wird. In der Mitte der Straße wird auf einer langen Tafel umsonst Essen verteilt, Kinder spielen auf einem Klettergerüst, das auf die Kreuzung gestellt wurde. Das war die Geburt der Straßenparty als Taktik, und sie verbreitet sich rasch über die ganze Welt – manchmal nahmen Zehntausende teil, manchmal ein paar hundert. Das magische Aufeinandertreffen von Karneval und Rebellion, Spiel und Politik ist solch ein starkes Rezept und relativ einfach zustande zu bringen, etwas das jeder tun kann.« (Notes from Nowhere »Direct Action, Street Reclaiming«) Reclaim The Streets ist ein Netzwerk, ohne feste Strukturen, desorganisiert. Kurzfristig werden Veranstaltungen mit festivem Charakter organisiert, die Ziele sind meist offen. Ein bisschen wie die Love-Parade, nur eben antikapitalistisch und illegal. Eine nicht-militante Straßenblockade
(ganz links) Am 13. April 1968 eskalieren überall angeheizt durch das Attentat auf Rudi Dutschke viele Vietnam-Demonstrationen. (links) Erster Einsatz des »Polizei-Wasserwagen« am 1. September 1950. (oben) In Nürnberg zieht in den 50er Jahren ein Mann tagelang alleine mit einem selbstgemalten Schild durch die Straßen, um für eine Volksbefragung zu werben, durch die eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen verhindert werden soll. (unten) Im Sommer 1964 tauchen auf der Düsseldorfer Königsallee einige anständig gekleidete Herren mit Protestschildern auf, die an Werbung für Sonderangebote erinnert.
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»Für kurze Zeit wird die Straße wieder zu einem Lebensraum. Wenn genug Leute mitmachen, werden wir die kritische Masse überschreiten, ab der wir etwas bewegen können. Wir sind der Verkehr!«
gegen die Privatisierung des öffentlichen Raumes, denn
Critical Mass Stuttgart
symbolische Grenzen zu überschreiten und gut zu kommunizieren. Sonst
die Straße ist in erster Linie für alle Menschen da.
kann eine solche Reclaim The Streets-Party schnell zum Karneval
Reclaim The Streets stellt einen Rahmen, der mit In-
verkommen. Die Offenheit des Protestes ist Stärke und Schwäche des
halten gefüllt werden kann, zur Bundestagswahl gab
Party-Protestes zugleich. Man muss sich darauf einlassen, ohne klare
es das Motto: »Widerstand hat keine Wahl!« Im Juli gab
Konfrontation mit Feindbildern. Es geht um Protest und es soll Spaß ma-
es eine Aktion gegen die Fahrpreiserhöhung der
chen und vor allem den Austausch fördern. Ob Nulltarif für die öffent-
Berliner Verkehrsbetriebe. Direct Action fordert dazu
lichen Verkehrsmittel, Organisation von Solidaritätspartys oder die kritische
auf, sich die eigene Verantwortung für gesellschaft-
Auseinandersetzung mit der Globalisierung – wer etwas bewegen will,
liche Veränderungen und immer schneller werdende
findet Gleichgesinnte. Das übergeordnete Ziel ist das gemeinschaftliche
Prozesse, die sowieso nur noch sehr schwer zu beein-
Aneignen des öffentlichen Raumes und das Stören der Ordnung. Reclaim
flussen sind, bewusst zu machen. »Die Straßen gehören
The Streets kann auch als eindeutige Oppositionsform gegen das Auto als
uns. Holen wir sie uns für einige Stunden zurück.«
häufigstes Transportmittel, das Stadtplanung und Nutzung des öffentlichen Raumes bestimmt, verstanden werden.
Das eigentlich subversive an dieser Form des Protestes liegt nicht in abstrakt-kapitalistischer Rhetorik
Eine weitere Möglichkeit zur Wiederaneignung ist die Critical Mass, dort
oder dem militanten Angriff auf Machtzentren. Wie
treffen sich weltweit regelmäßig einige Dutzend bis zehntausend Rad-
subversiv die Straßenparty wird, hängt davon ab, ob
fahrer, um so ihren Anspruch auf einen Teil des Straßenraumes zu erhe-
es gelingt, herrschende Codes zu benutzen oder zu
ben. Die Budapester Critical Mass, die größte weltweit, hat bis zu
verschieben, von der Bereitschaft der AktivistInnen,
80.000 Teilnehmer. Scheinbar zufällig treffen viele nicht motorisierte
en garde gazette Reclaim The Streets
(links) 1960 protestieren Studenten vor dem französischen Kulturzentrum auf dem Westberliner Kurfürstendamm gegen die Explosion einer französischen Atombombe in der Sahara. (mitte) Die Studentenbewegung setzt Humor als Waffe und Mittel der Entlarvung ein, hier stellt sich ein Student hinter Polizei-Stacheldraht als wildes Raubtier dar. (rechts) 1968 regt sich heftiger Widerstand gegen den Vietnam-Krieg.
Verkehrsteilnehmer und machen mit gemeinsamen und unhierarchischen Protestfahrten durch Innenstädte durch ihre bloße Menge und das konzentrierte Auftreten auf ihre Belange aufmerksam. Die erste Fahrraddemo fand 1992 in San Francisco statt, in Deutschland startete die erste Demo 1997 in Berlin. Die Critical Mass ist bei ihren Fahrten von Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Vorstellungen geprägt. Durch das eher zufällige Zusammentreffen ist sie stets ein sozialer Ort und soziales Experiment ständig wechselnder Dynamik. Die auf den ersten Blick eher vordergründige verkehrspolitische Kritik und das Zelebrieren des Radfahrens erhält so auch ein Bild, das eine friedliche Masse zeigt die zusammen kommuniziert, agiert und reagiert. Somit ist sie ein soziales Gefüge mit immer wieder neuen Herausforderungen. Obwohl kein direkter anarchistischer Hintergrund besteht, gibt es emanzipatorische Ansätze durchaus libertärer Art. Die Critical Mass ist unhierarchisch, selbstorganisiert, unkommerziell und es gibt keine Veranstalter oder Führungspersonen. Die Fahrten sind zwar durch einen Urheber angekündigt, jedoch ist der Ablauf nicht kontrolliert. Alle sind angehalten,
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sich wie auch immer einzubringen und aus einem
Menschen verschiedene Bedeutungen: Fahrrad fahren, nette Leute ken-
Selbstverständnis heraus verantwortungsbewusst zu
nenlernen, Autos verdrängen, die Stadt neu entdecken, sich bemerkbar
verhalten. Es wird ganz bewusst auf eine behördliche
machen und vieles mehr. Jeder ist für sich und sein Verhalten selbst
Anmeldung oder Unterstützung verzichtet, da die Teil-
verantwortlich. Wer nicht mitfahren will, bleibt zuhause. Wer vorne mit-
nahme im Straßenverkehr als Verkehrsteilnehmer
fährt hat vielleicht die Chance, die Route mit zu bestimmen und wird
auch keine Erlaubnis benötigt. Vergebliche Versuche
vielleicht von der Polizei für den Verantwortlichen gehalten. Vor allem
der Repressionsorgane, VeranstalterInnen zu finden,
soll die Critical Mass allen Beteiligten Spaß machen.
die es allerdings so nicht gibt, führten dadurch wiederholt zu Maßnahmen, die Critcal Mass in ihrem Be-
Eine andere Art, die Straße zurück zu erobern, ist das Tanzguerilla.
wegungsspielraum einzuschränken und zu erweiterten
Organisiert werden die spontanen Treffen über einen internen Mailver-
Repressionen, wie es auch weltweit die Vergangen-
teiler, am verabredeten Ort wird dann getanzt, bis die Sohlen glühen.
heit gezeigt hat. Aus der Sichtweise der Critical Mass
Jeder zu seiner eigenen Musik aus dem Mp3-Player oder gemeinsam vor
ist allerdings die Teilnahme im Straßenverkehr ein
dem Ghettoblaster.
Recht und kein Privileg, damit heißt es immer noch auf der ganzen Welt: »Still we ride«. Durch Ver-
Egal wie – es gibt viele Möglichkeiten, sich Freiräume wieder zurück
kleidungen, Kostüme und Großpuppen werden die
zu erobern, lasst uns auf die Straße gehen!
Critical Mass-Fahrten oft zu bunten, karnevalähnlichen Umzügen. Die Touren haben für verschiedene
en garde gazette Reclaim The Streets
(links) Am Ostersamstag 1968 bei einer Vietnam-Demonstration blockieren in Nürnberg immer wieder Demonstranten den Verkehr und mißachten die energischen Gesten des Polizisten. (rechts) Auf einer Kaffeehausterrasse im Zentrum von Hannover wird im Sommer 1965 ein Kabarettist festgenommen, der mit Helm und ABC-Schutzmaske »luftschutzmäßiges Verhalten« demonstrieren will. Wie ungewöhnlich und aufsehenderregend solche Aktionen damals noch sind, zeigt der Umstand, dass die Polizei von einem Passanten in der Annahme alarmiert wird, es handele sich um einen Geistesgestörten.
Do it yourself Reclaim The Streets Grundsätzlich ist es gut, einen Wagen mit Soundsystem dabei zu haben, um gehörig auf Euch aufmerksam zu machen. Er sollte möglichst keine Mängel aufweisen, und es sollte glaubwürdig vermittelt werden, dass der Wagen von jemandem »ausgeliehen« wurde, ohne dass jemand »Offizielles« davon wusste. So besteht die Chance, den Wagen stehen zu lassen und ohne Probleme zurück zu bekommen. Das Soundsystem kann aber auch gut auf Lastenfahrrädern transportiert werden. Auch bei der Anlage ist es wichtig, einen Besitzer zu haben, der »keine Ahnung« davon hatte, dass das System für eine »illegale« Aktion benutzt werden sollte. Es ist nicht unbedingt eine 220V-Anlage mit Generator nötig. Eine (entsprechend dimensionierte) Autoendstufe und eine LKW-Batterie tut es auch. Wenn die Aktion zu teuer wird, gibt es die Möglichkeit Soli-Partys zu veranstalten, und so etwas Geld in die Reclaim The Streets-Kassen zu spülen. Am besten für mehrere Soundsysteme sorgen, dass die Parade nicht langweilig wird, wenn eine Anlage wegverhaftet wird. Um eine Beschlagnahme zu verhindern, ist es empfehlenswert Menschenketten zu bilden und zwischen Polizei und Anlage zu tanzen.
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»Nationalistische, antisemitische und rassistische Positionen sind weiterhin in dieser Gesellschaft fest verankert, deswegen verachten wir jeglichen positiven Bezug auf Deutschland und eine deutsche Identität.«
Pink Rabbit
Wer bist du und gegen was richtet sich dein Protest? Ich bin Pink Rabbit – ein rosa Häschen. Die Naturfreundejugend Berlin hat mich zur Symbolfigur einer antinationalen Kampagne gemacht. Der Aufhänger ist das »Gedenkjahr« 2009: 60 Jahre Grundgesetz, 20 Jahre Mauerfall und »friedliche Revolution«, 2000 Jahre Varusschlacht werden als die Erfolgsgeschichte »der Deutschen« gefeiert. Pink Rabbit stört diese Inszenierungen und weist als Symbol mit Wiedererkennungswert zugleich darauf hin, an welchen Stellen und mit welchen Mitteln Menschen auf die Nation eingeschworen werden. Das Ziel ist es, Nationalismus erneut zum Problem zu machen und auf die Allgegenwärtigkeit von Nation und Nationalismen aufmerksam zu machen. Was bedeutet dir Deutschland als Lebensraum? Wo siehst du dein Zuhause, hast du auch eine Heimat? Allein schon der Begriff »Lebensraum« ist mit seinen Konnotationen problematisch. Er ist schließlich ein Kampfbegriff der kolonialen Bewegung und wurde später von den Nationalsozialisten als Begründung ihres Vernichtungskriegs in Osteuropa genutzt. Zunächst: Deutschland ist, wie jeder andere Nationalstaat auch, eine Konstruktion, eine Erfindung. Dass die Nation der Identifikationsrahmen für Menschen ist, ist ein relativ junges Phänomen – genauso wie die Gleichsetzung von Heimat und Nation. Die Kampagne versucht, die Selbstverständlichkeit nationaler Identifikation zu durchbrechen und den Unsinn derselben sichtbar zu machen. Der Slogan der Kampagne ist »Pink Rabbit gegen Deutschland«. Daran kann man schon sehen, dass Deutschland eine gewisse Bedeutung für die Kampagne hat. Auch wenn sie sich gegen Nationalismus im Allgemeinen richtet, setzt sie – im Sinne eines situierten Anti-Nationalismus – beim Besonderen an und das ist Deutschland. Der deutsche Nationalismus stellt nämlich ein besonderes Problem dar. Zum einen, weil er immer noch oft auf völkischen Argumentationsfiguren basiert, die eine besonders krasse Form des Nationalismus sind. Die von Deutschen ausgeübten Verbrechen im 20. Jahrhundert haben eigentlich die Abschaffung des deutschen Staates nahe gelegt. Der Nationalsozialismus war kein Irrweg oder geschichtlicher
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(links) Umbenennung der Mohrenstraße in Möhrenstraße in Berlin. (mitte) Auf dem Soldatenfriedhof Strausberg lockt Pink Rabbit Reservisten bei der Grabpflege aus der Reserve. (rechts) Pink Rabbit stänkert bei Steinbach und Schäuble. (ganz rechts) Der Hase auf der Stauffenberg Premiere.
Zufall, sondern eine Praxis in der Logik des aggressiven völkischen deutschen Nationalismus. Die Mehrheit der Deutschen fühlte sich eins mit Führer und Staat. Alle anderen wurden ausgegrenzt und ermordet: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, SozialdemokratInnen, KommunistInnen, Homosexuelle und für krank und behindert erklärte Menschen. Zunächst in Deutschland und dann in ganz Europa. Jüdisches Eigentum wurde »arisiert«, Zwangsarbeit hielt die deutsche Wirtschaft auch im Krieg am Laufen. Was die Deutschen während der zwölfjährigen Zeit des Nationalsozialismus zusammenhielt, war dieses gemeinsame Raub- und Mordprojekt. Diese historischen Verbrechen sollten eine Identifikation mit Deutschland als Nation eigentlich unmöglich machen. Aber so ist es leider nicht: Die Geschichte des Nationalsozialismus wurde bekannterweise über einen sehr langen Zeitraum verdrängt oder Täter als Opfer verkauft. Erst in den 60/70er Jahren wurde dies in öffentlichen Debatten problematisiert. Seit den 1990er Jahren sind diese Debatten weitestgehend verstummt. Ein positiver Nationalbezug in Form eines Gefühls moralischer Überlegenheit, dass auf der vermeintlichen Leistung einer »Bewältigung« der Vergangenheit gründet, wurde zunehmend auch für Linke und Liberale anschlussfähig. Dies schlug sich nicht zuletzt in der Debatte um die Nichtbeteiligung am Irakkrieg 2002 nieder: durch einen neuen Nationalismus mit anti-amerikanischem Touch inszenierte sich ausgerechnet Deutschland als »Friedensnation«. Hinzu gesellt sich das ermüdende Mantra,
en garde gazette Pink Rabbit
dass ein gewisser, »gemäßigter« Patriotismus doch
Ernsthaftigkeit zu berauben. Mit einer kleinen Übertragungsleistung
gesund sei, da Menschen nun einmal in Kollektiven
wird dann vielleicht auch die Lächerlichkeit nationaler Inszenierungen
lebten und sich mit ihnen identifizieren müssten.
selbst sichtbar. Dann ist viel geschafft – denn die Nation ist auf ihre alltägliche Inszenierung angewiesen.
Zur Heimat von Pink Rabbit könnte man ein kleines Zitat von einem unserer Transparente an die Hand ge-
Zum Zweiten möchte Pink Rabbit zum zivilen Ungehorsam und »selbst
ben: »Heimat ist da, wo die Rechnungen hinkommen.«
stören« aufrufen. Drittens sollen die Aktionen durch Originalität und
Heimat können FreundInnen sein oder das Haus der
Witz öffentliche Aufmerksamkeit erregen, was bisher auch ganz gut ge-
Kindheit – nicht aber eine Nation. Vielleicht ist der Be-
lungen ist. Die Berichterstattung in der Presse ist für eine Kampagne
griff Heimat aufgrund all der problematischen Kon-
zu einem derart unprominenten Thema bemerkenswert. Viertens sollen
notationen insgesamt nicht mehr als positive Referenz
durch die Aktionen möglichst interessante Bilder produziert werden,
zu verwenden.
die dann im Internet und den Online-Communities verbreitet werden, um damit Leute zu erreichen, die vielleicht nicht aus einem politischen
In meiner Arbeit geht es auch um die Intention zivilen
Spektrum kommen, das kritische Debatten über Nationalismus kennt.
Ungehorsam als Mittel einzusetzen, um seine Ziele zu
Die Kampagne versucht somit auch, neue mediale Möglichkeiten zur
erreichen. Du verhältst dich ja auch eher ungehorsam,
Verbreitung kritischer Inhalte zu nutzen.
glaubst du, dadurch mehr erreichen zu können? Die Interventions-Form will mehrere Ziele zugleich
Was möchtest du mit deinen Aktionen erreichen? Möchtest du aufklären,
erreichen. Zum Einen sollen nationale Inszenierungen
zum Selberdenken anregen, oder bist du einfach nur wütend und kannst
konkret gestört werden. Im besten Fall kommt eine
nicht anders?
Veranstaltung tatsächlich zum Platzen und die Leute
Wenn die Aktionen zum Nachdenken anregen, haben wir eine ganze
ärgern sich – mindestens jedoch soll mein Auftritt
Menge erreicht. Sicherlich ist auch ein aufklärerischer Impuls dabei,
irritieren. Allein mein Aussehen wirkt auf einige Zu-
sonst würde die Kampagne auf Textproduktion und Erklärungen gänzlich
schauende seltsam, deplatziert und vermag auf einen
verzichten und auch nicht versuchen, die mediale Öffentlichkeit zu er-
Schlag jeden nationalen Pathos zu zerstören bzw. seiner
reichen. Gleichwohl sind wir der Meinung, dass nicht allzu viele mit diesem
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Thema anzusprechen sind. Vielen erscheint die Nation
Was ist gefährlich am »neuen deutschen Selbstbewusst-
und ein positiver Bezug darauf vermutlich zu selbst-
sein« und an flaggenschwenkenden Fußballfans?
verständlich. Wie bereits gesagt, versucht die Kam-
Das haben wir ja schon zum Teil zu beantworten ver-
pagne deshalb mehreres zugleich.
sucht. Der deutsche Nationalismus ist aufgrund der maßlosen Verbrechen, die Deutsche verübt haben, ein
Was ist deine stärkste Waffe?
besonderes Problem. Und die Behauptung, ein posi-
Ironie und Parodie als Mittel der Kritik. Ich erwecke
tiver Patriotismus sei in irgendeiner Form notwendig
mit meinem Auftritt meist zunächst Sympathien und
und gesund, ist nicht nur unsinnig, sondern höchst
bringe manchmal selbst die Staatsmacht zum Lachen.
gefährlich. Durch das Flaggenschwenken von Fußball-
Es gab einige Polizeibeamte, die sich mit mir ablichten
fans wird der Gebrauch von Flaggen als nationales
lassen wollten. Das ist ein großer Vorteil: Die Staats-
Symbol wieder als »ganz normal« und harmlos darge-
macht blickt zu spät, dass sie es eigentlich mit einem
stellt. Das ist es, wie jede andere Art symbolischer
Störfaktor zu tun hat. Durch Witz produzieren die Ak-
positiver Bezugnahme auf die Nation und insbesondere
tionen auch Sympathien bei Leuten, die dem Thema
auf Deutschland, aber überhaupt nicht!
Anti-Nationalismus nichts abgewinnen können. Die Hoffnung ist, dass es kein zu starkes Auseinanderfal-
Woher kommt deiner Meinung nach dieser neue un-
len von Form und Inhalt gibt – das also eine Ver-
gezwungene Patriotismus? Ist das der Wunsch nach
bindung zwischen der Störaktion und dem Thema,
einem stärkeren Wir-Gefühl?
auf das wir aufmerksam machen wollen, bestehen
Da fällt eine kurze Antwort sehr schwer. Wir haben
bleibt und dadurch im besten Falle eine Reflexion
zu diesem Themenkomplex einen sehr langen Text
auf Nationalismus hervorruft. Allerdings macht Pink
verfasst, der auf www.pink-rabbit.org gelesen werden
Rabbit letztendlich Symbolpolitik und bleibt auf einer
kann. Letztlich haben wir 17 Seiten dafür gebraucht
diskursiven Ebene. Dies ist als Politikform natürlich
obwohl wir uns eigentlich kurz fassen wollten. Aus
beschränkt und dessen sind wir uns sehr wohl bewusst.
unserer Sicht ist dieser neue Patriotismus gar nicht so
en garde gazette Pink Rabbit
(links) Bei der Ausstellung »60 Jahre – 60 Werke« verschafft Pink Rabbit dem Motto von Schwitters Gehör: » Kunst darf nicht dienen!« und jubelte den geladenen Gästen ein klitzekleines weiteres Werk dieses großen deutschen Künstlers unter: »Pinocchio« von A.H. (Adolf Hitler)aus dem Jahre 1940. Damit wollte er auf die Werke, die man während dieser Zeit den jüdischen Bürgern abnahm und in ganz Europa zusammenraubte, aufmerksam machen, die zum Teil heute noch in den Magazinen der deutschen Museen liegen. (mitte) Pink Rabbit reagiert auf den Satz: »Wir sind das Volk«. (rechts) 2010 macht sich Pink Rabbit wieder aus dem Staub und hofft, genügend Denkanstöße hinterlassen zu haben.
ungezwungen – sonst müsste er nicht so oft betont werden. Der Wunsch
mehr ist als die dem Sinngehalt nach absurde Formu-
nach einem stärkeren Wir-Gefühl – genau das ist das Problem. Dass
lierung, man sei »stolz« auf Deutschland. Nationalis-
Menschen, anstatt sich aus politischen Gründen zu kollektivieren, um
mus manifestiert sich in tagtäglichen Praktiken und
soziale Kämpfe auszutragen, sich mit der Nation als großem Kollektiv
Ritualen. Und auch Erinnerungspraktiken, wie ganz
identifizieren.
aktuell das »Gedenken« an die »friedliche Revolution« und den Mauerfall, sind Teil nationaler Geschichts-
Du sagst: »Nationen sind nichts Naturgegebenes, sondern müssen in den
schreibungen und nationaler Inszenierungen. Dazu
Köpfen der Menschen erzeugt werden«, doch wie kriegt man sie dort
kann man sicherlich noch viel mehr sagen und vor
wieder raus?
allem auch viel mehr politisch machen. Aber wie gesagt:
Gute Frage! Eine Möglichkeit, die uns einfällt: durch Diskussionen, Inter-
die Kampagne hatte einen bestimmten Anlass und
ventionen, Brüche. Scheinbar Selbstverständliches – wie die Nation –
das Rabbit wird sich – nicht zuletzt, weil es ganz schön
als gar nicht selbstverständlich erscheinen zu lassen. Nation und Staat sind
müde ist – erstmal aus dem Staub machen. Aber
historische Konstrukte, die sich in teilweise grausamen alltäglichen Prak-
meine FreundInnen und Helfershelfer von der Natur-
tiken wie Abschiebungen, diskriminierende Gesetzgebungen, institutio-
freundejugend Berlin bleiben auch in den kommenden
nalisierten Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und der Stabilisierung
Jahren an Themen wie Nation oder Rassismus dran.
einer zwangsheteronormativen Matrix materialisieren. Sie gestalten unsere tagtägliche Lebensrealität. Gerade deshalb sind sie auch schwer
Vielen Dank für das Interview, lieber Hase, mach‘s gut!
aus unseren Köpfen rauszukriegen. Was machst du nach deinem Einsatz im großen Gedenkjahr 2009? Wo treffen wir dich 2010? Oder glaubst du genug Denkanstöße hinterlassen zu haben und machst dich einfach aus dem Staub? Die Kampagne war von Anfang an auf das Gedenkjahr 2009 beschränkt. Sie wollte darauf aufmerksam machen, dass Nationalismus
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www.pink-rabbit.org
en garde gazette Flash Mobs
»Immer neue Ankömmlinge tauchten aus den Tiefen der Tunnelbahn auf. Niemand wusste, woher sie kamen und was sie vor hatten. Es gab nichts, wofür oder wogegen sie demonstriert hätten. Als die Menge bis auf beinah tausend Köpfe angeschwollen war, setzte sie sich ohne Marschordnung, ohne Parolen, ohne vorgefassten Plan in Richtung Ralambshovspark in Bewegung.«
Eine neue Bewegung erobert die Städte. Wildfremde Menschen verabreden sich per Internet und proben den öffentlichen Aufstand. Flash Mobs bringen das Spiel zurück in die Stadt und eröffnen eine temporäre autonome Zone. Soziologen sind sich sicher, dass die Mobs uns weiter begleiten werden und uns sogar in die Zukunft treiben. Es gibt zwei Arten von solchen Menschenaufläufen, den sogenannten Smart Mob (den schlauen Mob) und den Flash Mob (den spaßversessenen Blitzmob). Beide organisieren sich übers Internet und Handy, sie kommen ohne Führer und ohne steile Hierarchien und setzen auf die Genialität, die in der Masse ruht. Zum Smart Mob, der Begriff stammt vom amerikanischen Medientheoretiker Howard Rheingold, schließt man sich zusammen, um bessere Verhältnisse zu schaffen. Auf den Philippinen jagten im Januar 2001 Hunderttausende Bürger den korrupten Präsidenten Estrada aus dem Amt. Sie riefen nachts mittels Internet und Handy eine gewaltige AntiEstrada-Demonstration zusammen. Amerikanische Soziologen nannten diese Ereignisse einen verblüffenden Ausbruch »symbiotischer Intelligenz.« Rheingold sieht eine große Zukunft für den Smart Mob, warum schreibt er in seinem Buch »Smart Mobs – The next social revolution«. Der Smart Mob ist eine Form der Selbststrukturierung der sozialen Organisation und laut Rheingold ein Indiz für die Entwicklung der Kommunikationstechnologien. Entgegen den üblichen Konnotationen eines Mobs, verhält sich die Menge intelligent und effizient, weil sie ein stetig wachsendes Netzwerk verbindet.
50 - 51
Hans Magnus Enzensberger
»Flash-Crowds demonstrieren die Fähigkeit größerer Gruppen von gleichgesinnten Menschen, sich unverzüglich zusammenzufinden, aus was für Gründen auch immer. Ich glaube, dass einige Leute die apolitischen Mobs als eine Art ‚Proof of Concept‘ ansehen, beispielsweise für einen späteren, politischen Mob. Zurzeit testen viele Leute aus, wie laut ihre Stimmen zu hören sind.«
Rob Zazueta
en garde gazette Flash Mobs
Den Flash Mob treffen wir jedoch viel häufiger an,
Nachzügler des Smart Mob, dem der Inhalt fehlt.
als den Smart Mob. Er ist ein zappeliges, spaßiges
Was genau macht den Reiz eines Flash Mobs dann
Geschöpf, entstanden in der Hitze eines Augenblicks.
aus? Mobber meinen, die diebische Freude am
Geboren wurde er in New York, Menschen verab-
Wissensvorsprung, der kleine Glücksschauer des
reden sich zu einer auffällig merkwürdigen Aktion,
Konspirativem, die Geborgenheit einer Stamm-
sie treffen sich in Hotelwartehallen, Bahnhöfen, auf
gemeinschaft, die man nicht einmal kennt. Der Flash
Rolltreppen oder Bahnsteigen. Mal sind es nur 50,
Mob ist die aufgekratzte Kehrseite der brütenden,
manchmal mehrere Tausende. Sie imitieren Vogelstim-
feindseligen Alltagsmasse, des Dull Mob, der unsere
men, tanzen zu einem stillen Soundtrack, fallen sich
Städte besiedelt.
weinend in die Arme, applaudieren minutenlang oder trommeln mit Schuhen auf dem Boden. Nach einer
Im Flash Mob lichtet sich die Welt für Sekunden – es
Minute verpufft die ganze geballte Energie, der Mob
flackern Witz, ein Plan, eine Pointe und im Glücksfall
löst sich urplötzlich wieder auf, als hätte es ihn nie
Talent durch die Trübnis. Gemeinsam sind die Mob-
gegeben, und hinterlässt bei umstehenden Passanten
ber frech und schneiden den Überwachungskameras
einige Verwirrung.
Fratzen. Im Spaßmob schlummert das Potenzial der guten Tat, des Hilfsmobs, aber dieses Potenzial ist noch
52 - 53
Eine Regel lautet: »Get in, get out«. Es muss schnell
nicht erwacht. Vorerst reicht es nur zu kollektiven
vorbei sein, nur Stoff für Gerüchte bleibt und wider-
Geh- und Sprechversuchen, zu Dada-Theaterspreng-
sprüchliche Zeugenaussagen. Der Flash Mob will nicht
seln. Der Spaßmob erinnert an einen Werbespot
mehr sein als ein Blinddate unter vielen Selbstdarstel-
ohne Produkt. Ein Mob findet immer draußen statt,
lern, eine blinkende Leuchtreklame, eine La-Ola-Welle
falls sie sich doch ins Innere wagen, kom-men sie
am Straßenrand. Nicht mehr und nicht weniger. Der
dem Saalverbot zuvor, indem sie sich in Windeseile
Schriftsteller Hakim Bey nennt diese Interaktionsfor-
verdrücken. Das alles hat etwas Kindliches, Verstohle-
men Temporäre Autonome Zone.
nes, Diebisches an sich.
Smart Mob und Flash Mob haben also eigentlich
Neu ist der sogenannte Carrot Mob, hier wird das
nicht viel gemeinsam. Der Smart Mob will die Zukunft
Prinzip des Boykotts umgedreht und Geschäfte be-
anpacken, der Flash Mob will bloß einen ganz kurzen
lohnt, die etwas zum Positiven hin ändern wollen. Un-
Augenblick der Gegenwart feiern. Der Smart Mob
ternehmen können sich bewerben und angeben,
hat ein politisches Ziel und lebt von gesellschaftlicher
wie viel sie für energiesparende Maßnahmen ausgeben
Unruhe, der Flash Mob hat bloß zu viel Energie, die
würden. Der Carrot Mob gibt dann dem gewählten
er loswerden muss. Der Smart Mob lebt von Wut, Un-
Ladeninhaber die Chance, sein Image und seine Be-
gerechtigkeit und Unterdrückung – den Nöten seiner
kanntheit zu steigern. Es wird ein Datum und eine
Teilnehmer. Er will Veränderung. Der Flash Mob lebt
Uhrzeit verabredet mit der Aufforderung an genau
von der Langeweile, der Leere – dem Unbehagen
diesem Tag, ab genau dieser Uhrzeit dort einzukaufen.
seiner Teilnehmer. Er will Zerstreuung. Der politische
35% des dann erzielten Umsatzes nutzt der Geschäfts-
Mob gehört den Hungrigen, pauschal gesagt, den
inhaber, um seinen Laden energieeffizienter umzu-
unterentwickelten Nationen. Der Spaßmob gehört
bauen und so langfristig seine CO2-Bilanz zu senken
den Satten, also uns; er ist der aufgeputschte westliche
und so das Klima zu schützen.
Für das Verhalten in öffentlichen Räumen gibt es gesellschaftliche Nor-
tionen, wie etwa beim G8-Gipfel
men. Jede Abweichung wird kritisch beobachtet und als Gefährdung der
in Genua, wurden nur über Handys und dynamische
öffentlichen Ordnung angesehen. Aus diesen gesellschaftlichen Zwängen
Websites koordiniert – ohne eine übergeordnete
heraus entwickelte sich eine neue politische Kunstform, das Radiobal-
Steuerungsinstanz.
lett. Dabei brechen mehrere Menschen gleichzeitig und in gleicher Form mit gesellschaftlichen Normen in der Öffentlichkeit. Das erklärte Ziel
Ideal wäre, wenn alles politische Geschehen der Zu-
ist Aufmerksamkeit und Irritation, Zuschauer sollen nach Erklärungen
kunft Smart-Mob-Geschehen wäre. Spielerisch wür-
für das »unnormale« Verhalten suchen. Menschen können so für politi-
den sich kollektive Intelligenzen organisieren. Egal wie:
sche Themen sensibilisiert werden. Beim Radioballett koordiniert sich eine
Die Horde, der Schwarm, die Meute sind unsere
zufällig verteilte Menschenmenge über das Radio, das jeder per Mp3-
Zukunft. Herde sind wir, Herde werden wir bleiben.
Player empfängt. Es wird eine Geschichte erzählt und Handlungsanweis-
Aus dieser Gewissheit steigt die schlimmste Fantasie:
ungen für alle HörerInnen gegeben, wie etwa laufen, springen, in der
Vielleicht werden wir am Ende weder den Übermut
Sonne sitzen oder schlafen. So kann bei einem Radioballett zum Thema
des Flash Mob noch die Wut des Smart Mob spüren,
Rassismus die Ausgrenzung zumindest ausschnitthaft erfahrbar gemacht
sondern nur noch Altersschwäche. Die meisten Deut-
werden. Zwar werden erst einmal keine Informationen nach außen
schen wären dann sheeple (sheep und people) sein,
gegeben, sondern die Teilnehmer probieren sich in nicht-genormten, über-
eine müde Supermeute von Alten und die wenigen
raschendem Verhalten aus.
Jungen, die es dann noch gibt, treiben uns wie grimmige Schäferhunde zu unseren Schlafplätzen.
Zur Zeit hört man oft den Begriff Social Swarming. Gemeint ist damit die Möglichkeit mittels neuer, mobiler und urbanitärer Technologien selbst mit einer großen Gruppe von Unbekannten gemeinsam und koordiniert zu handeln. Schon immer haben Gruppen von Menschen
www.flashmob.twoday.net
gemeinsam gehandelt, neu ist die Geschwindigkeit und die Flexibilität
www.flash-mob.de
der Gruppenprozesse, die durch die neue Interaktion möglich sind.
www.flash-mobbers.net
Das haben auch Globalisierungsgegner erkannt. Ihre großen Protestak-
www.carrotmob.org
Do it yourself
Organisation: Schicke eine Email oder eine SMS an Deinen Freundes- und Bekanntenkreis mit der Bitte um Weiterleitung. Die Nachricht fordert dazu auf, exakt zu einer bestimmten Zeit (die Uhren sollen nach der Atomuhr gestellt werden: www.ptb.de) an einem bestimmten Ort sein, um genauere Informationen zu erhalten. Oder das genaue Verhalten kann auch schon in der Email oder SMS beschrieben sein, genauso wie die genaue Dauer des Flash Mobs. Außerdem sollen die Teilnehmer während der Aktion nicht miteinander sprechen, sich danach schnell auflösen und einzeln weitergehen. Es kann sinnvoll sein, alternative Treffpunkte zu verabreden, falls Polizei oder Medien bereits am ersten Treffpunkt sind, sowie unter Umständen auch ein alternativer Aktionsort. Wenn viele Leute erwartet werden oder um die Spannung zu steigern, können die Teilnehmenden auch an verschiedene Orte bestellt werden (z.B. am Geburtsdatum orientiert).
Performance: Die Möglichkeiten eines gemeinsamen Flash Mobs sind grenzenlos: Im Museum vor einem bestimmten Bild umfallen und eine Minute liegen bleiben, in einem Geschäft unsinnige Fragen stellen, auf einem öffentlichen Platz in Jubel oder Verzweiflung ausbrechen, Gesänge anstimmen, beten, lachen, Kopfstand machen. Meist ist es das Stilmittel der Dekontextualisierung, das hilft, Handlungen »von ihrem Sinn zu befreien« und verwirrende, sinnfrei erscheinende Performances zu erfinden. Verhaltensweise, Sätze, Gegenstände an einem Ort und zu einer Zeit zur Aufführung zu bringen, wo sie normalerweise nie vorkommen oder verwendet werden würden. Oder durch massive Übertreibungen bestimmte Verhaltensweisen karikieren. Hierzu bietet sich das Spiel mit der großen Anzahl von Teilnehmern an. Eine lange Warteschlange an einem Ort etwa, an dem sonst nie Menschen für irgendetwas anstehen, sorgt für enormes Aufsehen. Oder eine gaffende Menge, die auf irgendetwas wartet oder zeigt. Auch können Umstehende eingebunden werden, indem man Gegenstände oder Zettel, die für den Flash Mob verwendet wurden, nach der eigentlichen Aktion an die verwunderten Zuschauer (vielleicht sogar mit einer kurzen Aufforderung, was jetzt damit zu tun ist) weitergegeben werden.
en garde gazette Flash Mobs
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WERDE AKTIV || TIP #1
Verlassene Geschäfts- und Betriebsräume, ungenutzte Ladenlokale und zugeklebte Schaufenster sind bundesweit in den Städten zu einem gewohnten und oft traurigen Anblick geworden.. Das Einkaufsverhalten der Menschen hat sich geändert, die Nachfrage nach kleinen Geschäftsräumen in den Stadtteilen abgenommen. Geschäftspassagen in den Innenstädten und Einkaufszentren am Stadtrand sind vielfach an die Stelle des klassischen Einzelhandels getreten. Zusammen mit Bewohnern können neue Ideen und Wege gefunden werden, um dem Leerstand entgegen zu wirken. Vielerorts gibt es sogenannte Zwischennutzungsagenturen, um innovative Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Leere Geschäftsräume setzen eine Abwärtsspirale in Gang, die am Ende das gesamte Viertel verändern können. Langfristige Mietverhältnisse zu etablieren, ist das Ziel der Zwischennutzungsagenturen, die sich als Moderator zwischen Vermietern und Nutzungsinteressierten versteht. Durch die Zwischennutzung von leer stehenden Räumen soll ein neuer Mietermarkt erschlossen und neue Möglichkeiten des Gebrauchs eröffnet werden. Es gibt viele unterschiedliche Formen der Zwischennutzung: für Existenzgründer, die eine mehrmonatige Anmietung als Probelauf für ihre Geschäftsidee nutzen.
Oder zum Beispiel eine Ausstellung oder ein soziales Projekt mit vorübergehender Anmietung, so lange ein Ladenlokal nicht dauerhaft vermietet werden kann. Oder vielleicht auch für ein Fest oder eine zeitlich befristete Veranstaltung. Die Städte haben noch viel Platz: Jede Menge Baulücken, verlassene Kasernen und ungenutzte Hafengebiete; alte Bahntrassen oder aufgegebene Industriestandorte. Spontan oder offiziell rufen Menschen soziale Projekte ins Leben oder entwickeln alternative Wohnformen, legen Gärten an oder verdienen richtig Geld, zum Beispiel mit den angesagten Strandbars. Einen guten Überblick über die Szene und mehr als 200 Links zu Projekten in Deutschland, Österreich und der Schweiz bietet die Basler Website www.zwischennutzung.net
Mehr Infos unter www.en-garde.com/werde_aktiv
en garde gazette Tipps
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Adagio im Krieg
Starker Stoff
Ein Musiker trotzt dem Irrsinn des Bürger-
Welche Chemikalien landen üblicherweise in Kleidungsstücken? Was
kriegs im belagerten Sarajevo: Als er von sei-
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les über Stoffe und ihre Verarbeitung bietet die dritte Auflage unserer
granate 22 Menschen tötet, trifft er eine mutige
Textil-Fibel: komplett überarbeite und aktualisiert, mit einem Lexikon
Entscheidung.
der Fasern, Pflege-Tipps, Informationen über Öko-Siegel und Bezugs-
Steven Galloway: Der Cellist von Sarajevo.
adressen für faire Kleidung.
Luchterhand Verlag, 19,95 Euro.
Greenpeace Magazin: Textil-Fibel 3, 2009, 146 Seiten, 9,90 Euro, siehe auch »Das kleine Warenhaus«
Wagenburg Leben in Berlin Das Anliegen dieser Ausstellung ist es, Men-
Grüne Mode
schen zusammenzubringen, die in den heute
Der Trend zu mehr Nachhaltigkeit hat die Modebranche erfasst: »Grü-
noch in der Stadtlandschaft Berlins existie-
ne« Kleidung gibt es in vielen Kaufhäusern und wird allmählich er-
renden Wagenburg-Siedlungen leben, und
schwinglich. Junge Designer beweisen, dass »öko« schick sein kann und
ihnen eine Plattform zu bieten, von ihrem Le-
bereichern die Modenschauen in aller Welt mit innovativen Kollekti-
ben, ihrer Geschichte, von ihren Hoffnungen
onen. Die Hamburger Autorin und langjährige Greenpeace-Magazin-
und Träumen zu erzählen.
Redakteurin Kirsten Brodde beschreibt den Wandel in der Textilbran-
Kreuzbergmuseum, 31.10. - 16.12.2009, Mi-
che, stellt Macher und Marken vor und gibt Tipps für einen moralisch
So 11-18 Uhr, Eintritt frei
sauberen Kleiderschrank. Kirsten Brodde: Saubere Sachen. Ludwig Verlag, München 2009, 256
David gegen Goliath
Seiten, 16,95 Euro.
Percy und Louise Schmeiser aus Kanada kämpfen seit mittlerweile 1996 gegen den
Weltmacht Monsanto
Chemie- und Saatguthersteller Monsanto.Um
Die französische Journalistin Marie-Monique Robin beschreibt detail-
die Vorherrschaft vom Acker bis zum Teller
liert, wie der US-Konzern Monsanto schon seit Jahrzehnten an Pro-
zu erlangen, schreckt Monsanto vor Nichts
dukten verdient, die Mensch und Umwelt schädigen: Beispielsweise
zurück. Dieser Film macht Mut. Mut all den-
überzieht der Agrarkonzern ganze Landstriche in aller Welt mit gen-
jenigen, die fürchten, man hätte als Einzelner
manipulierten Pflanzen. Früher zählte das Unternehmen zu den Liefe-
keine Macht gegen die Politik, die Großkon-
ranten des Ultragifts Agent Orange, das die US-Regierung mit furcht-
zerne oder die Wirtschaft. »David gegen Mon-
baren Folgen in Vietnam einsetzte.
santo« beweist das Gegenteil.
Marie-Monique Robin: Mit Gift und Genen. DVA, München 2009, 646
Percy Schmeiser: David gegen Monsanto, DVD,
Seiten, 19,95 Euro.
16 Euro, Bertram Verhaag Ein Wintermärchen Leben außer Kontrolle
Robs drückt sich an der Scheibe die Nase platt. Es hat immer noch nicht
Dieser Dokumentarfilm zeigt die Folgen der
geschneit. Seine Sehnsucht nach der Kälte treibt ihn hinaus. Der Zehn-
fortschreitenden Genmanipulation bei Pflan-
jährige macht sich auf die Suche nach einem Eskimomädchen, das den
zen, Tieren und Menschen. Weltweit bieten
Menschen den Winter bringen kann. Ein einfühlsames, wunderschön
nur eine Handvoll idealistischer Wissen-
illustriertes Wintermärchen zum Vorlesen.
schaftler der Industrie die Stirn und untersu-
Juli Zeh: Das Land der Menschen. Schöffling & Co., Frankfurt 2008, 74
chen die Auswirkungen transgener Tiere und
Seiten, 16,90 Euro.
Pflanzen auf die Umwelt. Leben außer Kontrolle, DVD, 19,90 Euro, Bertram Verhaag und Gabriele Kröberv Mehr Medienempfehlungen unter www.en-garde.com/medien
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en garde gazette Aktivistenkontakt
KONTAKTE 1
CHRISTIAN SCHÄFER Betreiber des Aktionsnetzwerks »Es regnet Kaviar« Bernhard-Nocht-Straße 51 · 20359 Hamburg c.schaefer@esregnetkaviar.de
2, 3 ALI & ANJA Wagenplatz Klabauta Wagenleben Klabauta e.V. · Weidenweg 1 · 64289 Darmstadt klabauta@gmx.de · www.musenknutsch.de
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MAX MASSE Student Politikwissenschaft, Critical Mass Stuttgart cmstuttgart@geocities.com
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ELLA VON DER HAIDE Landschaftsgärtnerin, Filmemacherin Ulmenstraße 1 · 82049 Pullach info@eine-andere-welt-ist-pflanzbar.de
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MICHAEL GROLM Imker, Gründer von »Gendreck weg« Gendreck Weg · Maurenstraße 9 · 38300 Wolfenbüttel Rel 0175 86 66 76 9, Fax 0761 40 04 22 6 aktion@gendreck-weg.de
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PINK RABBIT Kampagne der Naturfreundejugend Berlin Naturfreundejugend Berlin · Gryphiusstraße 23 · 10245 Berlin www.naturfreundejugend-berlin.de Tel 030 32 53 27 70 · Fax 030 32 53 27 71
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CARSTEN JOOST Architekt, Initiativkris »Mediaspree versenken!« mediaspreeversenken@gmx.de
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BENEDIKT HAERLIN Agragingenieur, Gründer der Bantam-Initiative Marienstraße 19-20 · 10117 Berlin Tel 030 24 0471 46 · Fax 030 27 59 03 12 info@bantam-mais.de
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ANETTE EBERHARDT Freie Künstlerin, Initiativkreis »Mediaspree versenken!« mediaspreeversenken@gmx.de
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CAROLA MASER Studentin Soziologie, Flash Mob-Initiatorin c.maser@gmail.com
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CHRISTOPH WARTENBERG Gründer des Fahrradverleihs »Radlust«, ehemaliger Hausbesetzer c.wartenberg@gmail.com
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en garde ist eine offene Plattform, mit dem Ziel politisches und zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern und alternative und ökologische Lebensweisen zu stärken. Dies soll möglichst frei und offen geschehen, einerseits im Web um die Vernetzung und die Kommunikation zwischen den einzelnen Organisationen, Initiativen, Aktivisten und allen interessierten Menschen herzustellen und zu fördern. en garde gazette stellt eine Ergänzung dar, der Erlös aus dem Verkauf geht zu 25% an eine Organisation, über die unter www.engarde.de abgestimmt werden kann. Disclaimer: Die hier beschriebenen Aktionen, Methoden, Techniken werden, soweit sie strafbare Handlungen umfassen, keinesfalls zur Nachahmung empfohlen. Das Magazin dient rein wissenschaftlichen und dokumentarischen Zwecken. In einzelnen Fällen ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt.
en garde gazette entstand im Rahmen der Masterarbeit von Anna Schlecker an der Hochschule Mannheim, Fakultät für Gestaltung, SS 2009 Redaktion en garde gazette Anna Schlecker · Seckenheimer Straße 60 · 68165 Mannheim www.anna-schlecker.de · anna.schlecker@gmx.de Ausgabe en garde gazette #1, »Lebensräume«, November 2009 Gestaltung und Layout Anna Schlecker Druck Eigenproduktion Papier Cover: Fotokarton, 300 g/qm Innen: Zeitungsdruckpapier, 49 g/qm Typographie KofiPure, gesponsort von fontfarm www.fontfarm.de Bindung Buchbinderei Schrimpf, Mannheim Auflage 5 Exemplare Kontakt anna.schlecker@gmx.de
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