Kritik & Klassenkampf 01/2019

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Gedanken zu sozialrevolutionärer Theorie & Praxis 1

Kritik & Klassenkampf 01/2019


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Hey, Hallo und herbstlich willkommen!

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Unsere letzten beiden größeren Publikationen sind für AKK-Verhältnisse nun doch schon etwas lange her. Nachdem wir unser Strategiepapier Der kommende Aufprall endlich auch in Druckform präsentieren konnten und in der Frankfurter Student‘innenzeitung Diskus letztes Jahr die gesammelten Kritiken verschiedenster politischer Gruppen miteinander ins Gespräch gebracht haben, haltet ihr jetzt mal wieder die neueste Ausgabe unseres kleinen, aber feinen Heftes, der Kritik & Klassenkampf in den Händen.

Keine ellenlangen theoretischen Ergüsse diesmal! Keine Bibliothekslektüre für den Lesekreis, sondern Futter für den gemütlichen Klönschnack bei Coffee&Cigarettes: Dafür haben wir euch hier ein buntes Potpourri an Themen und Texten zusammengestellt, die uns als Gruppe in der letzten Zeit beschäftigt haben und die wir euch hiermit zur Lektüre empfehlen wollen. Und um den in den vergangenen Jahren öfter mal gedroppten Vorwurf zu entkräften, wir seien ja, trotz Namensänderung, nicht mehr als eine aus der akademischen Kloake emporgekommene Theoriegruppe, freuen wir uns, euch mit dem einen oder anderen Text ebenfalls einen kleinen Einblick in unsere politische Praxis geben zu können. Aber, der Reihe nach: Fangen wir von vorne an und zwar von ganz vorne: Anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution waren wir im vergangenen Jahr bei einer Podiumsdiskussion im Leipziger Institut für Zukunft zu Gast. Unsere Genoss‘innen dort baten uns, zu erzählen, welche Bedeutung wir diesem historischen Versuch heute noch für eine emanzipatorische Politik beimessen. In unserem Eingangsstatement auf dem Podium gingen wir dieser Frage nach – das Ergebnis findet ihr in Textform in diesem Heft. Ebenfalls im vergangenen Jahr, genauer gesagt vom 28.-30. 2017 fand in Berlin der erste Selber Machen-Kongress statt. Verschiedene linksradiale Gruppen haben bundesweit dazu eingeladen, über Perspektiven linksradikaler Politik jenseits von identitär aufgeladenen Post- und Popantifakonzepten zu diskutieren. Stichwort: Statt Freizeitaktivismus und reinen


Kampagnen im Alltag verankerte Basis-Arbeit. Einen kurzen Einblick in dort diskutierte Thematiken sowie die unterschiedlichen, durchaus auch gegensätzlichen Herangehensweisen und Perspektiven liefert das im Nachgang des Kongresses veröffentlichte Reflexionspapier der an dem Kongress beteiligten Gruppen.

Apropos Basis-Arbeit und Reflexion: im vergangenen Juni haben wir zum ersten Mal zu einem öffentlichen Treffen ins centro in Rödelheim eingeladen. Ziel war es, zusammen mit interessierten Genoss‘innen im Rahmen des workers‘ club über unsere eigene Form der Proletarisierung als - zumeist prekär - lohnabhängig Beschäftigte und gleichfalls politisch aktive Menschen auszutauschen und Fragen nach möglichen Perspektiven der Organisierung in diesem Feld zu diskutieren. Für alle, die das prinzipiell ganz dufte finden, aber selbst nicht teilnehmen konnten, da das Wetter an diesem Samstag einfach zu sommerlich warm war oder aber Rödelheim „echt weit weg ist“, haben wir das Ganze in einem kurzen Erfahrungsbericht für euch festgehalten.

Und dann noch: Mit dem Konzept des Workers‘ Club haben wir das Rad zwar nicht neu erfunden, dennoch hat diese Idee einiges an Potential zur Förderung der Selbstorganisation fernab sozialdemokratischer und reformistischer Gewerkschaften, findet Thorsten Bewernitz in seinem Beitrag Über die Gewerkschaft hinaus? Klassenpolitik muss praktisch werden. Der Debattenbeitrag erschien zuerst in der ak – analyse&kritik. Eine Auswahl der Beiträge zu dieser Debatte in der ak erscheinen im Oktober dieses Jahres in dem Buch Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Und um nicht beständig immer nur auf der hypothetischen Ebene zu verbleiben, freuen wir uns, dass unsere Genoss‘innen der Angry Workers of the World aus London uns kurzerhand ihre eigenen praktischen Erfahrungen aufgeschrieben und zur Veröffentlichung bereitgestellt haben.

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Wo wir schon beim Aufschreiben sind.

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Genau das tun unsere Freund‘innen des Online Magazins transitmagazin aus Halle/Saale nämlich ebenfalls liebend gerne. Neben viel hustle, welchen die Strukturen vor Ort durch das dort ansässige Zentrum der identitären Bewegung haben, widmen sie sich jedoch auch anderen spannenden Themen, wie die hier abgedruckte Reportage über einen Besuch bei den streikenden Arbeiter‘innen des Automobilzulieferers Neue Halberg Guss bei Leipzig eindrucksvoll dokumentiert.

Zu guter Letzt noch eine Frage: wann habt ihr eigentlich das letzte Mal was von AfE gehört? Auch wenn das eine oder andere Nostalgiker‘innenherz nun vielleicht bitterlich enttäuscht sein wird: Die Rede ist nicht vom alten Elfenbeinturm, sondern vielmehr vom sogenannten Arbeitsfeld Erziehung. Keinen blassen Schimmer, was das sein soll? Macht nichts, dafür haben die Genoss‘innnen, die allesamt in Erziehungsberufen arbeiten bzw. es zukünftig tun werden, auf den letzten Seiten kurz und knapp zusammengefasst, was sie darunter verstehen und wieso sie es für sinnvoll erachten, sich in diesem Bereich zu organisieren. Die Bilder in diesem Heft entstanden bei Reisen durch Leningrad, Moskau, Swerdlowsk und Offenbach. Die brutalistisch schön gestaltete Kirche halten wir für einen hervorragenden Ort, um nach der Revolution das Kreuz durch einen roten Stern zu ersetzen. So, genug der einleitenden Worte. Wir wünschen eine erkenntnisreiche Lektüre und hoffen, dass die hier abgedruckten Texte euch genauso sehr zum Nachdenken und zu Diskussionen anregen wie uns. Bei Anregungen, Kritik, Liebeserklärungen oder Drohbriefen, schreibt uns wie gewohnt einfach eine Mail an akk.ffm@free.de (den pgp-Schlüssel findet ihr auf unserem blog: http://akkffm.blogsport.de/contact/) oder sprecht uns bei unseren Veranstaltungen direkt an. xoxo, eure Antifa Kritik und Klassenkampf, im Herbst 2018


INHALTSANGABE 1 RPR,O:EGKRLIF S.8 2 NBPDS-M-K2017 S.18 3 AWOTW S.34 4 DUELROIZDK S.48 5 DW‘C–RÜEEV S.54 6 ÜDGSH?ENKPMPW–WCWEAD S.60 7 JG‘SUNÜLHBG–SMVBC? S.68 8 100JOR–WB? S.80

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RPR,O:EGK


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GKRLIF........


Roter Pauker Redux, oder: Es gibt kein richtiges Lehren im falschen Das Arbeitsfeld Erziehung (AfE) ist ein Zusammenschluss linker Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten – über Berufsgrenzen hinweg. Wir verfolgen das Ziel einer Organisierung nach Interessen, nicht nach Köpfen. Dementsprechend ist uns nicht nur egal, ob du Sozial-

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pädagog‘in, Sozialarbeiter‘in, Erzieher‘in oder Lehrer‘in bist,für einen dieser Berufe studierst oder in diesem Bererich jobbst, sondern auch (fast) egal, welcher (progressiven) linken Strömung du angehörst. Was zählt, sind die gemeinsamen Probleme am Arbeitsplatz. Unsere Praxis besteht z.Zt. aus einer kollektiven, solidarischen Reflexion solcher Probleme und der Kritik ideologischer Konzepte in unserem Berufsfeld, ausgehend von einem materialistischen, nicht einem idealistischen Bewusstsein. Der folgende Text ist ein Produkt dieser Auseinandersetzung. Da er aus der Perspektive von Lehrer‘innen geschrieben ist und aufgrund der politischen Heterogenität von AfE kann er den Zusammenschluss als ganzen jedoch nur bedingt repräsentieren.

In vielen Köpfen spukt immer noch die Chimäre der linken Lehrer bzw. des linken Studienrates herum – ein Klischee, das mindestens so altbacken ist wie die Figur, die es imaginiert. Nun gibt es allerdings tatsächlich einige objektiv linke oder kritische Menschen in diesem Berufsfeld, die das Verhältnis zwischen ihren Überzeugungen und ihrem Verhalten am Arbeitsplatz auf unterschiedlichste Art und Weise gestalten. Es gilt also, die Frage nach den Aufgaben sozialistischer Lehrer, die der Sozialistische Lehrerbund in den siebziger Jahren stellte, vor dem Hintergrund der heutigen Verhältnisse neu zu stellen und nach Möglichkeit zu beantworten.

„Weil du auch ein Arbeiter bist“ Organisation als Lohnabhängige Natürlich sind Menschen im Lehrberuf keine Arbeiter im konventionellen Sinne, und nehmen sich nicht als solche wahr. Selbst verbeamtete Eigenheimsbesitzer‘innen sind aber lohnabhängig, und in Zeiten, in


von Antifa Kritik und Klassenkampf

denen die Schuldenbremse vielerorts Verfassungsrang hat, werden Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber zunehmen. Die erste Aufgabe für alle Kolleg‘innen, insbesondere die linken, ist eine, die sie mit allen Lohnabhängigen teilen: die Organisation als Gruppe am Arbeitsplatz. Ob dies innerhalb oder außerhalb der GEW geschieht, ist gleichgültig. Klar ist nur, dass es nicht genügt, auf eine Interessensvertretung durch einen idealerweise engagierten Personalrat zu hoffen:

es gilt, alle – materiellen (Besoldung, Beihilfe etc.), – politischen („Bildungsreformen“, Erlasse etc.) und – juristischen (Beamten- und Schulrecht) Faktoren

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die uns betreffen, zu reflektieren, gemeinsame Interessen wahrzunehmen und gemeinsam mit allen Kolleg‘innen auf ihre Durchsetzung hinzuwirken. Dies liegt außerhalb des Aufgabenbereiches und der Wirkungsmöglichkeiten einzelner Personalräte. Diese Praxis ist nicht neu und hat auch einen Namen: die Schaffung von Klassenbewusstsein.

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(K)Eine Arbeit wie andere – gegen besondere Erwartungen an unseren Beruf Dass viele Lehrer‘innen diesen Begriff und diese Praxis aus Borniertheit verpönen, ist eines. Leider haben aber auch viele Linke von diesen Dingen keinen Begriff oder finden sie unwichtig und verwenden sehr viel Energie darauf zu versuchen, ihre Unterrichtspraxis nach ihren Überzeugungen zu gestalten (dazu unten mehr). Auch fragen Linke, die in anderen Berufen arbeiten, eher „Wie unterrichtest du?“ als „Wie organisierst du dich?“ Es bestehen überzogene Erwartungen an Linke als die besseren Menschen, die auf einen unangenehmen Leistungsdruck hinauslaufen. Die Vorstellung, man könne in den gegenwärtigen Verhältnissen ausgerechnet in einer Institution wie der Schule etwa antiautoritär agieren, ist bestenfalls naiv. Natürlich ist der Lehrberuf nicht nur irgend ein Job und benötigt bestimmte Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale wie Empathie und Menschenfreundlichkeit, die heutzutage jedoch schlichtweg Einstellungsvoraussetzung sind und vom Staat eingefordert werden. Man stelle sich aber trotzdem einmal vor, Genoss‘innen in anderen Arbeitsbereichen danach zu fragen, ob sie beim Ausliefern von Paketen oder beim Bau von Zahnprothesen antiautoritär agieren. Die Situation als Linke‘r in diesem Beruf ist zutiefst widersprüchlich. Diese Widersprüche zu reflektieren ist Aufgabe derer, die sie aushalten müssen.

Einfluss der bürgerlichen Sozialisation Linker auf ihre Meinungen zu Bildung und Erziehung Die oben angesprochenen Erwartungen haben ihren Ursprung in der bürgerlichen Sozialisation eines Großteils derer, die sich in der linken Szene tummeln. Dabei ist diese Szene keineswegs herrschaftsfrei:


Roter Pauker Redux, oder: Es gibt kein richtiges Lehren im falschen von Antifa Kritik und Klassenkampf

genau wie in bürgerlichen Familien wird Herrschaft hier aber subtil ausgeübt. Vielleicht ist die Abneigung gegen als autoritär wahrgenommene Lehrer‘innen am Ende nur ein Ausdruck von Standesdünkel. Anweisungen geben, laut sein, auf die Gültigkeit der eigenen Urteile bestehen – all das gilt als unfein in einer Szene, die viel zu oft im Konjunktiv spricht und auf gute Diskursmanieren pocht. Am Gymnasium sozialisiert, verbleiben Szenelinke gedanklich dieser Institution verhaftet, an der die Zwänge, die auf die relativ privilegierten Schüler‘innen wirken, so vielfältig und vermittelt sind, dass offener Zwang meist nicht nötig ist. Von der Realität an Berufsschulen, den Bedürfnissen von Kindern mit Lernschwierigkeiten oder emotional-sozialem Förderbedarf, der Perspektive von Kindern postmigrantisch-proletarischer Herkunft haben sie keine Vorstellung – höchstens einen abstrakten Begriff. Es gilt also, die Fixierung auf das Gymnasium zu überwinden und bei allen Überlegungen zum Thema Bildung die ganze Gesellschaft mit ihrer Funktionsweise und den von ihr gebildeten Klassen in den Blick zu nehmen.

Die Systemfrage (es gibt kein richtiges Lehren im falschen) In der allgemeinen Wahrnehmung – auch unter Kolleg‘innen – wird die Trennung zwischen linken und rechten Lehrer‘innen anhand ihrer Antwort auf die Frage nach dem richtigen System vorgenommen. Dem richtigen Bildungssystem. Als rechts gilt ein Beharren auf dem dreigliedrigen Schulsystem, als links die Befürwortung der integrierten Gesamtschule. Bezogen auf die IGS wird dann nochmals unterschieden aufgrund der Befürwortung oder Ablehnung von äußerer Differenzierung (nach Leistungsstärke getrennte Lerngruppen in verschiedenen Fächern: gilt als rechts) und innerer Differenzierung (Kinder aller Leistungsniveaus werden in einem Klassenraum unterrichtet: gilt als links). Aus genuin linker Sicht ist es aber unmöglich, sich hinter irgend eines dieser Tickets zu stellen. Selbstverständlich ist der Fortbestand des dreigliedrigen Schulsystems ein bizarrer Anachronismus. Auch sind bürgerliche Vorstellungen von Leistung zu hinterfragen. Gleichzeitig entspringt die unbedingte Befürwortung von IGS und Binnendifferenzierung einem liberalen Idealismus, der davon

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ausgeht, gesellschaftlicher Fortschritt hinge von Bildung ab und eine befreite Gesellschaft könne im Klassenraum verwirklicht oder vorbereitet werden. Nun sind aber auch Großbritannien und die USA mit ihren formell inklusiven Bildungssystemen eindeutig Klassengesellschaften und der befreiten Gesellschaft kaum näher als Deutschland. Das gleiche gilt auch für die vielgepriesenen skandinavischen 14 Länder, die von ihrer atypischen Gesellschaftsstruktur und ihrem relativen Reichtum profitieren (bei einer geringen Bevölkerungsdichte und großem Reichtum ist es einfach, gesellschaftliche Widersprüche zu befrieden und eine materiell, sozial und kulturell relativ homogene Schüler‘innenschaft gemeinsam zu unterrichten.) Unter den hiesigen Bedingungen läuft aber gemeinsamer Unterricht für alle darauf hinaus, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche heftig im Klassenraum manifestieren, wo sie nicht gelöst werden können und die psychische Gesundheit der einzelnen Lehrkraft heftig angreifen können. In einem falschen Gesellschaftssystem gibt es kein richtiges Schulsystem.

„Politischer Unterricht“ Der Staat und die linke Szene teilen die Befürchtung bzw. Hoffnung, Linke im Lehrberuf könnten ihre Einstellung den Schüler‘innen vermitteln. Dieser Vorstellung zu entsprechen ist weder wünschenswert noch möglich. Wer erinnert sich nicht an mal mehr, mal weniger mit dem Unterrichtsinhalt in Verbindung stehende Monologe von Lehrer‘innen, die das Bedürfnis verspürten, „zu sagen, wie es ist“ und damit gelangweilt oder genervt haben? Auch hoffen viele Kolleg‘innen aus dem sozialdemokratisch-grünen Spektrum regelmäßig, den Schüler‘innen mit „diesem tollen Artikel aus der SZ / TAZ / ...“ die Augen zu öffnen. Die Aussage der mit hohen Erwartungen kopierten Artikel geht aber oft an den Kids vorbei oder ist ihnen egal. Die Vermittlung einer Meinung scheitert also meist – zum Glück, denn dieses Vorgehen hat etwas unangenehm autoritäres. Zudem ist die Auffassung, linke Lehrer‘innen sollten zu diesem Mittel greifen, Folge des geisteswissenschaftlichen Überschusses in der Linken: viele Fachinhalte haben keinen explizit politischen Bezug und einen solchen bei Themen wie dem Zellaufbau, chemischen Reaktionen oder Differentialgleichungen herzustellen wäre absurd. Natürlich ist es fraglich, ob sich Linke angesichts der vielen


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konservativen Polterer und liberalen Wachrüttler‘innen politische „Neutralität“ wahren sollten, was im Übrigen unmöglich ist. Ziel ist aber das Ermöglichen von Erkenntnissen und Erfahrungen (zum Beispiel der Selbstermächtigung, der Solidarität etc.), und nicht die Vermittlung von Meinungen.

Brave new world Der letzte vielversprechende Versuch einer linken Organisierung von Lehrer‘innen fand in den 1970ern im Sozialistischen Lehrerbund statt. Es ist aber nur bedingt möglich, heute an die Perspektive und die Forderungen des SLB anzuknüpfen. Die Genoss‘innen fanden sich damals mit Kolleg‘innen, Ausbilder‘innen und anderen Vorgesetzten konfrontiert, denen man die Sozialisierung in Nazideutschland anmerkte. Inzwischen findet der zweite Generationenwechsel seit dieser Zeit statt. Methodik und Didaktik haben sich grundlegend geändert und in vielerlei Hinsicht linken Forderungen aus den 70ern angeglichen. Man kann dies als Erfolg sehen. Vieles wurde jedoch im schlechten realisiert:

Das heutzutage in vielen Bereichen hegemoniale Ziel des selbstorganisierten Lernens läuft auf Vereinzelung und neoliberale Selbstdisziplinierung der Schüler‘innen hinaus.

Die Kolleg‘innen in den 70ern forderten kollektive Unterrichtsplanung ; heute treiben Schulleitungen oft gegen den Willen der Kolleg‘innen die Bildung von Jahrgangsteams voran, deren regelmäßige Sitzungen nicht entlohnt werden und die durch ihre forcierte Arbeitsteilung zur Dequalifizierung und Entmündigung der Kolleg‘innen führen. Der Frontalunterricht autoritärer Lehrer‘innen war Linken in den 70ern zu recht ein Graus. Heute aber führen die Erwartungen seitens der Schulleitung und Ausbilder‘innen hinsichtlich innovativem Unterricht zu intensiver Arbeitsbelastung für Kolleg‘innen, während ständige Gruppenarbeit und weitere Tricks aus der methodischen Zauberkiste viele Kids nur noch nerven.

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Es war immer ein linkes Anliegen, Hierarchien aufzubrechen und einen gleichberechtigten Umgang mit den Schüler‘innen zu pflegen. Die heute oft angestrebte Degradierung der Lehrer‘innen zu „Lerncoaches“, die die vereinzelt arbeitenden Schüler‘innen nur noch überwachen und „motivieren“, d.h. bei Stange halten, entmündigt aber beide. Die hier 16 vorgegaukelte flache Hierarchie ist so aufrichtig wie das Du bei IKEA. Wer Hierarchien ablehnt, darf sie nicht verschleiern, da Schüler‘innen Interessensgegensätze unbedingt erkennen sollten. Nur so können sie eine oppositionelle Haltung entwickeln. Insgesamt muss man leider feststellen, dass viele Ideen aus den 1970ern eher zum postmodernen Kapitalismus passen als zu einer postkapitalistischen Gesellschaft zu führen. Die methodischen, didaktischen und pädagogischen Vorgaben sind einer unversöhnlichen ideologiekritischen Analyse zu unterziehen.

Lernziel Was also sind die Aufgaben linker Menschen im Lehrberuf? Wer seine Überzeugungen nicht als unverbindliches Hobby ansieht und die oben beschriebenen Fallstricke vermeiden will, sollte

1.

Solidarität üben. Das geht über das verständnisvolle Anhören von Leidensgeschichten im Lehrer‘innenzimmer hinaus und bezieht alle an der Schule arbeitenden Menschen ein.

2.

Klassenbewusstsein bilden (s.o.).

3.

Sich den Zusammenhang zwischen


Roter Pauker Redux, oder: Es gibt kein richtiges Lehren im falschen von Antifa Kritik und Klassenkampf

der Klassengesellschaft und dem Bildungssystem bewusst machen und bei allen Überlegungen und Handlungen als Lehrkraft berücksichtigen. 17

4.

Die Ideologie hinter zeitgenössichen Trends in der Schule erkennen und bei jeder Gelegenheit skandalisieren.

5. Aus der Geschichte lernen und historische Ansätze zu einer linken Praxis in diesem Berufsfeld analysieren. 6.

Den Lehrplan gegen den Strich lesen, entsprechende Unterrichtseinheiten entwickeln und mit anderen teilen.

All dies geschieht effektiver, und manches setzt schlichtweg voraus, dass Linke im Lehrberuf ihre Vereinzelung überwinden. Bildet euch. Bildet andere. Bildet Basisgruppen.


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NBPDS-M-


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M-K2017 .......


Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017 Liebe Genoss‘innen, liebe Freund‘innen, zu Ende des Selber-Machen-Kongresses in Berlin ist unter Gruppen des Vorbereitungskreises die Idee entstanden, im Nachgang der Konferenz ein Papier zu veröffentlichen. Die Idee war es, die Diskussionsstränge, die in Berlin, aber auch in der vorherigen Strategiedebatte

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aufgekommen sind, zusammenzufassen, um eine Grundlage für eine weitergehende überregionale Diskussion und Bezugnahme zu schaffen. Dieser Prozess hat nun lange gedauert und der Kongress ist eine Weile her. Trotzdem halten wir den Text weiterhin für eine Art saErgebnis bzw. Zwischenstand der überregionalen Diskussion und daher wichtig für unsere weitergehende Arbeit. Wir hoffen darauf, dass er Fragen benennt, vor denen ihr auch in eurer Praxis oder in Diskussionen steht und dass deren Beantwortung uns in der Entwicklung von Basisarbeit und überregionaler Organisierung einen Schritt weiter bringt.

Wie kam es zum Kongress? Was war der Hintergrund? Im Frühjahr 2017 fanden sich an die 600 Menschen in Berlin zusammen, um unter dem Titel ‚Selber Machen‘ über Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie zu diskutieren. Der im Bethanien stattfindende Kongress sollte an die Strategiedebatte in der radikalen Linken anschließen, die seit einigen Jahren wieder verstärkt geführt wird, und diese weiterführen. Der vorliegende Text soll dazu dienen, die Diskussionsstränge, Kontroversen und offenen Fragen, die auf der Konferenz deutlich wurden, nachzuzeichnen. Dies erachten wir für sinnvoll, da so Positionen besser eingeordnet werden können. Dabei geht es uns nicht darum, sich selbst oder uns gegenseitig in Schubladen zu stecken. Vielmehr soll der Text ermöglichen, dass wir uns im Diskussionsprozess besser verstehen und Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede erkennen können. Denn oft sprechen wir miteinander, benutzen die gleichen Begriffe und merken erst mit der Zeit, dass wir Unterschiedliches meinen. Zudem soll dieser Text dazu anregen, auch über überregionale Konferenzen hinaus die Diskussion weiterzuführen, die eigene Praxis zu reflektieren und strategische Überlegungen miteinander zu teilen. Wir


von den Kongressteilnehmer‘innen

verstehen diesen Text auch als einen Aufruf an Gruppen, die sich mit ähnlichen Gedanken rund um Selbstorganisation und Basisarbeit als Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels beschäftigen, auf die aufgeworfenen Fragen zu antworten oder Diskussionsstände und Erfahrungen aus der Praxis zu teilen. Vor allem 2012 oder 2013 hat ein Nachdenken über die bisherige Praxis der radikalen Linken begonnen – gespeist aus einem Gefühl der Wirkungslosigkeit, während es immer drängender wurde, politische Wirkung zu haben. Kampagnen und Events wie M31, Blockupy oder die Rojava-Solibewegung haben eine produktive Irritation über die eigene Praxis ausgelöst und die Fragen in den Raum gestellt, ob das, was man da macht, wirklich etwas bringt, oder ob man nicht ganz anders arbeiten müsste. Dieses Nachdenken hat in ziemlich unterschiedlichen Zusammenhängen und an vielen Orten unabhängig voneinander stattgefunden. In Teilen der radikalen Linken kam es zu Anfängen einer neuen Praxis der Basisarbeit, andererseits widmeten sich Gruppen der Debatte in Form von Strategietexten. Die Debatte beginnt zunächst mit der Problemwahrnehmung bezüglich der aktuellen Praxis der radikalen Linken. Eine effektive Gegenmacht gegen die autoritäre Krisenpolitik, wie die Troika-Diktate und gegen den globalen Aufschwung von Faschist‘innen wird immer drängender. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese Gegenmacht jedenfalls in der BRD nirgends zu sehen ist und die Praxis der radikalen Linken gegen die derzeitigen Tendenzen ziemlich hilf- und ratlos ist. Ziel des Kongresses war es, einen Rahmen zu bieten, in dem Erfahrungen ausgetauscht werden können und über Perspektiven, Strategien und Methoden diskutiert werden kann. Es sollte ausdrücklich ein Ort geschaffen werden, „an dem Impulse für die langwierigen Aufbauprozesse zustande kommen, denen wir alle uns in den kommenden Jahren widmen werden müssen – wenn wir gegen Staat, Kapital und reaktionäre Krisenlösungsstrategien wirkliche Alternativen von links zur Debatte stellen wollen.“ Dabei stand die Perspektive der Selbstorganisation von unten und in allen Lebensbereichen im Vordergrund. Hierzu deckten Workshops zahlreichen Themengebiete ab, von Selbstorganisation und kollektivem

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Kampf im lokalen Autonomen Zentrum, auf der Arbeit, im Stadtteil, in der Fankurve, als Frauen* oder PoC. So sollte ein Überblick geschaffen werden, an welchen Orten bereits Selbstorganisierungsprozesse stattfinden und Möglichkeiten diskutiert werden, wie diese Fäden zusammenzubringen sind – auch damit an anderen Orten selbstorganisierte Strukturen aufgebaut werden können, mit dem Ziel des Aufbaus 22 einer wirkmächtigen Gegenmacht. Ein gemeinsames Verständnis der Begriffe Autonomie, Basisorganisierung und Gegenmacht war nicht Ausgangspunkt der gemeinsamen Diskussion. Vielmehr wurden in den Gesprächen über die verschiedenen Praxen und die damit verbundenen Ziele unterschiedliche Perspektiven deutlich. Die genannten Begriffe sind zunächst einmal überzeugend, weil es darum gehen soll, Gesellschaft von unten, also von der Basis aus zu gestalten. Weil die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen sollen. Allerdings schwingen verschiedene Bedeutungen in den Begriffen mit, was zu Kontroversen während der Konferenz führte.

Kontroversen in den Diskussionen In den Diskussionen auf der Konferenz zeichneten sich verschiedene Positionen ab, die hier zum Teil vereinfacht als gegensätzlich beschrieben werden. Sie sind nicht immer trennscharf voneinander abzuheben, bewegen sich aber zwischen den hier beschriebenen Polen. Wir glauben, dass anhand dieser Pole versucht werden kann, die eigenen politischen Praxen und die dahinter stehenden Strategien einzuordnen. Wir halten es für wichtig, in einen Diskussionsprozess zu gehen, der danach fragt, ob und wie diese unterschiedlichen Ansätze im Hinblick auf eine gesamtgesellschaftliche Perspektive strategisch miteinander verbunden werden können.

Wer ist das Subjekt der Selbstorganisierung und welche Rolle hat die radikale Linke dafür? Auf der Konferenz kamen Gruppen zusammen, die Basisarbeit und Selbstorganisierung als strategische Notwendigkeit für Gesellschaftsveränderung betrachten. Den Hintergrund für eine Vielzahl von


Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017 von den Kongressteilnehmer‘innen

Kontroversen bildet die Frage nach dem Subjekt der Selbstorganisierung und der Rolle der radikalen Linken dabei. Je nach politischem Ansatz wird diese Frage verschieden beantwortet und es ergeben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen und Standpunkte in Bezug auf Themen wie Organisierung, Analyse gesellschaftlicher Bedingungen, Strategieentwicklung und Inhalt der Praxis. Dies wurde etwa bei der Abschlussdiskussion deutlich, bei der darüber diskutiert wurde, ob der Inhalt unserer politischen Arbeit unsere eigene Selbstorganisierung oder darüber hinaus auch die Initiierung der Selbstorganisierung anderer sein sollte.

Selbstorganisierung verstanden als die Selbstorganisierung der radikalen Linken als Subjekt Einer der Ansätze versteht unter Selbstorganisierung die Selbstorganisierung der radikalen Linken als primäres Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung. Innerhalb dessen lassen sich wiederum verschiedene Ausprägungen voneinander abheben, die im Folgenden unter den Begriffen Politisierung des eigenen Alltags, subkulturelle Ausrichtung und autonome Alltagsstrukturen beschrieben werden. Auch hier gilt wieder, wie bereits oben erklärt, dass die Ansätze nicht gegeneinander stehen müssen, sondern hier nur für die Vereinfachung einer Verortung verschiedener Praxen so trennscharf dargelegt werden. Der Ansatz, der die Politisierung des eigenen Alltags von radikalen Linken in den Vordergrund stellt, kritisiert linksradikale Szenen- und Kampagnenpolitik mit der Forderung, im eigenen Alltag anzusetzen: dort, wo wir leben und arbeiten. Der Alltag soll politisiert werden, der‘die Linksradikale selber als politisches Subjekt verstanden werden, welches sich entlang der eigenen Betroffenheiten (Amt, Miete, Arbeit, Kinderbetreuung, Bildung, etc.) organisiert. Der Schwerpunkt wird auf die soziale Frage gelegt und die Politisierung des eigenen Alltags als strategisches Ziel gesehen. Organisierung mit anderen soll da stattfinden, wo ich arbeite, wo ich wohne, Reproduktionsarbeit mache, etc. Dabei war eine wichtige Frage, wie eine solche Organisierung im Reproduktionsbereich aussehen kann. Eine Praxis, die andere Menschen politisieren und organisieren will, wurde in dieser Argumentation

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häufig abgelehnt und als autoritär, instrumentalisierend, manipulativ, elitär, etc. kritisiert. Da es aber auch gegenteilige Meinungen gab, bleibt die Frage zu klären, ob und wie eine gezielte Politisierung anderer aus solchen ‚eigenen‘ linksradikalen Alltagsstrukturen stattfinden kann bzw. sollte.

24 Die subkulturelle Ausrichtung einer Selbstorganisation der radikalen Linken zeichnet sich in erster Linie durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von Szenestrukturen aus. So sollen etwa autonome/selbstverwaltete Zentren Räume darstellen, die einen Rückzug ermöglichen und Sicherheit und Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen bieten. Das Pflegen einer linksradikalen (je nach subkultureller Ausrichtung verschieden ausgeprägten) Kultur und Ästhetik in Form von Konzerten, Veranstaltungen, Symbolen und Farbgebungen wird als wichtiger Teil einer Selbstbestärkung betrachtet, die notwendig ist, um die eigene Radikalität nicht zu verlieren. Diese subkulturelle Form des Selbstorganisierungsansatzes ist in der Regel verbunden mit weitverbreiteten Praxisansätzen wie Demos, Kampagnen, Infoveranstaltungen und autonomen Kleingruppen. Der letzte Ansatz versteht unter Selbstorganisierung vorwiegend den Aufbau von autonom-verwalteten Alltagsstrukturen. Bei diesem Ansatz geht es darum, alternative Strukturen zu entwickeln und auszubauen, die nach eigenen Prinzipien funktionieren und die sich potenziell zusammenschließen können, um so ein Netzwerk der Autonomie aufzubauen. Im Unterschied zur Politisierung des eigenen Alltags geht es hierbei nicht um die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz oder im Mietshaus, die zum Beispiel zu Streiks oder Mieter‘innenprotesten führt, sondern um die Schaffung von eigenen parallelen und nachhaltigen Alltagsstrukturen, wie Kommunen, Kollektivbetriebe, solidarische (Land-) Wirtschaft oder entsprechende Strukturen für Gesundheit und Pflege. Bei allen drei hier dargelegten Ausprägungen, die sich unter dem Verständnis von Selbstorganisation als Selbstorganisation der radikalen Linken vereinen, stellt sich die Frage, wie aus dem Aufbau subkultureller und/oder autonomer Strukturen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive entstehen kann. Teilweise war die Antwort darauf, dass der langsame Aufbau und die Verbindung von autonomen Strukturen eine Strahlkraft


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entwickelt, die auf weitere Teile der gesellschaftlichen Basis wirkt. Jedoch blieb die Frage, wie vermieden werden kann, dass autonome Strukturen mit dem Kapitalismus gut ‚koexistieren‘ oder zu isolierten Aussteiger‘innen-Inseln werden. Auf diese Ambivalenz wies John Holloway bereits in seinem Eröffnungsvortrag hin, indem er den Titel der Konferenz Selber Machen einer kritischen Betrachtung unterzog. Do it yourself könne verstanden werden als eine Art Aussteigen, um es dann einfach selber anders bzw. besser zu machen. Diese Praxis des ‚do it yourself‘ könne auch mit dem Kapitalismus koexistieren, und führe nicht zwangsläufig dazu, eine gänzlich andere Gesellschaft aufzubauen. Im Gegensatz dazu versteht Holloway die Selbstorganisierung nicht als Selbstzweck, sondern als Strategie für die Überwindung des Kapitalismus. Wer sollte das für uns tun, wenn nicht wir selbst? Da wir aber noch keine Antwort auf die Frage nach dem “Wie“ haben ist eine Politik des Dialogs notwendig. Linke sollten sich gemeinsam Fragen stellen und auf Menschen zugehen, um kollektive Lösungen zu finden, anstatt auszusteigen und sich in kleinen Projekten zu isolieren. Das ‚do it yourself‘ werde in diesem Sinne mehr zu einem do it ourselves‘.

Selbstorganisierung verstanden als die Selbstorganisierung der Gesellschaft Der zweite Ansatz richtet den Fokus über die eigene Selbstorganisierung hinaus auf eine Politisierung und Organisierung anderer. Als Subjekt der Gesellschaftsveränderung und Selbstorganisierung wird hier die Mehrzahl derjenigen gesehen, die von diesem System unterdrückt werden, die noch nicht organisiert sind und noch keine Möglichkeit hatten, sich ein emanzipatorisches Bewusstsein anzueignen. Die Selbstorganisierung von unten ist somit strategisches Ziel und Inhalt der politischen Praxis. Hierbei wird nicht unbedingt im eigenen Alltag von Linksradikalen angesetzt, sondern dort, wo Potenziale zur Basisorganisierung gesehen werden. Dieser Ansatz ist verbunden mit einer Kritik an abstrakter Kampagnen- und Szenepolitik, sowie der Kritik, dass der Aufbau von selbstorganisierten, linksradikalen (Szene-) Strukturen die Gefahr birgt, sich weiter zu isolieren und den Abstand zur Gesellschaft zu vergrößern.

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Gruppen, die die Selbstorganisierung der Gesellschaft anstoßen wollen, setzen entweder vorwiegend auf Intervention in bestehende Kämpfe und Konflikte und deren Verbindung bzw. Radikalisierung oder Ausweitung. So wird etwa danach gefragt, wo es Arbeitskämpfe gibt, die unterstützt oder in die interveniert werden könnte. Diese Interventionen sollen Selbstorganisierungsprozesse anstoßen und unterstützen sowie die 26 Entwicklung eines emanzipatorischen politischen Bewusstseins ermöglichen.. Beispiele aus der Praxis sind die Organisierung von StreikCafés, Vermittlung von Erfahrungen mit Gewerkschaften und Arbeitskämpfen, Öffentlichkeitsarbeit für Kämpfende oder die Verbindung mit Kämpfenden an anderen Orten. Andere Gruppen setzen auf die Entwicklung von Basisarbeit unabhängig von bereits bestehenden Kämpfen, um die Bedingungen zur Entstehung von Kämpfen zu verbessern und Strukturen der Selbstorganisierung auszubauen. Dabei stehen mehrere Fragen im Vordergrund: Unter welchen Bedingungen entwickelt sich Selbstorganisierung? Welche konkreten Methoden werden gebraucht, um solche Prozesse anzustoßen? Darüberhinaus stellt sich das grundsätzliche Problem, Paternalismus und ein Abrutschen in reformistische Sozialarbeit zu verhindern. Aber wie können Menschen aus ihrer Passivität geholt werden und die Lücke der Beteiligung geschlossen werden, wenn alle immer so viel zu tun haben mit Lohnarbeit, Familie, etc.? Bei der Bestimmung von potenziellen Orten, an denen Organisierungsprozesse angestoßen werden können, kam zudem die Frage auf, was für einen Einfluss die unterschiedlichen politischen und sozialen Rahmenbedingungen (z.B. ökonomische Krise; Auswirkungen der Troika in Griechenland und ‚Krisenprofiteur‘ Deutschland; Privatisierung des Gesundheitssystem, etc.) auf die Selbstorganisierungsprozesse haben. Wie können Erfahrungen aus anderen Ländern auf hiesige Kontexte übertragen werden? Wie müssen wir die Analyse der politischen und sozialen Lage in unsere Überlegungen zur Selbstorganisierung miteinbeziehen?


Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017 von den Kongressteilnehmer‘innen

Organisierung von revolutionären Kräften Die unterschiedlichen Standpunkte zur Frage, wer sich für was selbstorganisiert und wie wir uns gesellschaftlichen Wandel vorstellen, beeinflusst auch die Frage, ob die Organisierung von revolutionären Kräften als eine Notwendigkeit gesehen wird. Als revolutionäre Kräfte bezeichnen wir hier in Abgrenzung zu reformistischen Gruppen diejenigen 27 Gruppen, deren Ziel eine Überwindung der herrschenden Verhältnisse ist und die auch ihre politische Praxis dementsprechend ausrichten. In diesem Kapitel versuchen wir wieder schablonenhaft die verschiedenen Einstellungen zur Frage der Organisierung von revolutionären Kräften nachzuzeichnen. Bei dem Ansatz der Selbstorganisierung verstanden als Selbstorganisierung der radikalen Linken liegt der strategische Fokus auf dem Aufbau von lokalen Projekten, Initiativen und einer lockeren Vernetzung dieser – mit dem Zweck des Skillaustauschs und der gegenseitigen Unterstützung. Viele eher autonome Gruppen kritisieren die Forderung nach einer verbindlichen überregionalen Organisierung, weil Organisierung oder eine revolutionäre Organisation mit Autorität, Hierarchie und Bevormundung gleichgesetzt wird. Auch wird von vielen eher szenebezogenen linksradikalen Gruppen eine Rolle als Initiativkraft, die gezielt Menschen ansprechen und Organisierungsprozesse anstoßen will, abgelehnt, weil diese ebenfalls als autoritär, bevormundend, instrumentalisierend oder manipulativ empfunden oder das revolutionäre Potenzial in der Gesellschaft infrage gestellt wird. In Hinblick auf das Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Wandels treten bei diesem Ansatz offene Fragen auf: Wie stellen wir uns die Ausweitung der Selbstorganisierung vor? Ist es eine sinnvolle Vorstellung, dass einzelne Projekte eine Strahlkraft entwickeln, die weitere Selbstorganisierungsprozesse anstößt? Also etwa Kollektivbetriebe oder Stadtteilorganisierungen mehr oder weniger automatisch aus einem gesellschaftlichen Prozess ‚hervorgehen‘? Was können wir dazu tun, damit diese ‚Strahlkraft‘ entsteht, also wie können wir eine gegenöffentliche Vermittlung befördern? Eine andere Perspektive auf die Frage nach der Organisierung von revolutionären Kräften ist eine eher sozialrevolutionäre Perspektive. Mit Verweis auf Beispiele der letzten Jahre wird davon ausgegangen, dass Massenaufstände und soziale Bewegungen bei entsprechenden An-


lässen spontan entstehen, in denen die Rolle von organisierten revolutionären Kräften als marginal bis unbedeutend angesehen wird. In der Abschlussdiskussion wurde dies polemisch so formuliert, dass die Massenaufstände etwa in Ägypten oder Griechenland vor einigen Jahren ja nun auch nicht durch linksradikale Organisationen aus der Taufe gehoben worden seien, sondern durch ökonomische und 28 politische Krisenprozesse entstanden. Und wir uns nicht einbilden sollten, durch unsere Basisarbeit einen deutschen Taxim oder Syntagma zu schaffen. Eine revolutionäre Organisierung oder Organisation mit dem Ziel, gesellschaftliche Bewegungen und Organisierung zu initiieren bzw. aufzubauen wird daher nicht als notwendig erachtet. Hier müssen wir uns fragen: Kann es uns genügen, auf die notwendigen Kristallisationspunkte für eine Massenerhebung zu warten und deren Ausgang mehr oder weniger sich selbst zu überlassen? Glauben wir, dass aus Massenaufständen zwangsweise emanzipatorische Prozesse und letztlich ein gesellschaftlicher Wandel folgen? Was können wir hier aus den Beispielen der letzten Jahre lernen? Zuletzt waren Gruppen oder Einzelpersonen vertreten, die eine Organisierung als Initiativkräfte als notwendig erachten, was verschieden begründet wurde. Zum einen ließe sich bei fast allen längerfristigen sozialen und revolutionären Erhebungen in der Vergangenheit (mit Verweis auf Spanien, Russland, Räterepublik BRD, Rojava, Chiapas) die entscheidende Bedeutung der Vorarbeit organisierter revolutionärer Kreise beobachten. Durch solche Arbeit sei es zwar nicht möglich, einen Zeitpunkt für einen Massenaufstand zu bestimmen oder als Führung einer Bewegung linear auf diesen zuzuarbeiten. Das Ziel sei vielmehr, die Bedingungen und Möglichkeiten zu verbessern, damit sich Menschen wehren, organisieren, sich ein politisches Bewusstsein aneignen und Widerstände somit nachhaltig werden. Zudem wird davon ausgegangen, dass die radikale Linke in Anbetracht des organisiert vorgehenden Systems des Kapitalismus (sowie verschiedenen anderen ebenfalls organisierten Gegner‘innen wie Faschist‘innen, Islamist‘innen, etc.) eine Form der Organisierung finden muss, die verbindlich, nachhaltig und überregional funktioniert, um in der Lage zu sein, strategisch zu handeln. Fast überwiegend wurde die Auffassung geteilt, dass es sich hierbei weder um eine autoritäre zentralistische Organisation noch um den Aufbau


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einer Massenpartei handeln soll, sondern das Ziel einer solchen Arbeit sein sollte, selbstorganisierte Strukturen der Gesellschaft von unten zu initiieren bzw. aufzubauen. Dieser Ansatz sieht als Ausgangspunkt eines revolutionären Prozesses gesellschaftliche Basisorganisierung, die von der radikalen Linken als Initiativkräfte angestoßen werden. Er richtet den Fokus über die eigene Selbstorganisierung auf eine Politisierung und Organisierung anderer, für deren Zweck sich die radikale Linke als Initiativkräfte organisieren muss. Welche Form eine solche Organisierung annehmen soll, bleibt eine offene Frage: Wollen wir eine Organisation, Organisierung, Plattform oder Konföderation? Welche Konzepte stehen hinter diesen Begriffen? Gibt es eine gemeinsame Symbolik bzw. ein offenes Auftreten als Organisation oder geht es mehr um einen lockeren Prozess? Wie kann vermieden werden, dass ein bürokratischer Apparat entsteht? Wie kann vermieden werden, dass überregionale Organisierung lokale Praxis hemmt anstatt sie zu stärken? Brauchen wir eine gemeinsame Erzählung bzw. Ideologieproduktion, um auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten?

Bedingungen für Selbstorganisierung, revolutionäre Perspektive und konkrete Methoden In der Diskussion um eine Neuausrichtung linksradikaler Praxis, in deren Zuge viele Gruppen ihren Fokus auf Basisarbeit und die Stärkung von Selbstorganisierungsprozessen der gesellschaftlichen Basis richten, stellen sich Fragen nach den Bedingungen für Selbstorganisierungsprozesse und der notwendigen Verbindung mit einer revolutionären Perspektive. Denn Basisarbeit und Selbstorganisierung stellen für sich genommen keine neuen politischen Praxisfelder dar und sind nicht per se linksradikal. Es existieren bereits ähnliche Projekte, die auch wir als Methoden der Basisarbeit anstreben, wie z.B. Stadtteilläden, die oft von Kirchen oder religiösen Verbänden getragen werden. Projekte basisdemokratischer Teilhabe gewinnen an Popularität, oft jedoch als Instrumente zur Legitimierung neoliberaler Stadtplanung oder Quartiersverwaltung. Aber auch in Nachbarschaften entstehen selbstorganisierte Strukturen, z.B. in Form von Bürgerinitiativen, die sich gegen Entwicklungen in ihrem Stadtteil organisieren. Diese vorhandenen Strukturen bergen Chancen: wir können und sollten analysieren, unter welchen Bedingungen,

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an welchen Orten bzw. zu welchen Anlässen Projekte gesellschaftlicher Selbstorganisierung entstehen, um daraus die Möglichkeiten abzuleiten, eben solche Prozesse anstoßen und politisieren zu können. Gleichzeitig besteht die Gefahr, sich in die Bandbreite oft sozialarbeiterischer Tätigkeit einzureihen, letztlich ‚ehrenamtlich‘ eigentlich staatliche Aufgaben zu übernehmen, dienlich zu sein für eine neoliberale Quartiersverwaltung 30 und sich so in der lokalen Basisarbeit zu verlieren. Hier gilt es auch vor dem Hintergrund weiterer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu prüfen, wo es in diesem System überhaupt Lücken für revolutionäre Selbstorganisierung und auch das Bedürfnis dazu gibt. Eine Entwicklung, die sich auch in den Diskussionen auf der Konferenz beobachten ließ, ist die zunehmende Konzentration linksradikaler Akteure auf den Stadtteil als Ort der gesellschaftlichen Selbstorganisierung, während in der linken Geschichte mit dem Proletariat als revolutionärem Subjekt Organisierung lange als Organisierung gegen die Arbeit am Arbeitsplatz gedacht wurde. Während revolutionäre Organisierung von unten in Betrieben u.a. durch den starken Einfluss reformistischer Gewerkschaften und flexibilisierten Arbeitsplätzen erschwerten Bedingungen ausgesetzt sind, scheint mit der Idee, sich im Stadtteil zu organisieren, der Gedanke einherzugehen, dass gesellschaftliche Kämpfe in vielen Bereichen des Lebens stattfinden (Arbeit, Reproduktion, Miete, Diskriminierung). Der Stadtteil wird in dieser Folge als der Ort gesehen, an dem verschiedene Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten zusammenkommen. Der Stadtteil wird so zu einer Art Ausgangsort, um eine Organisierung von Arbeiter‘innen, Arbeitslosen, Mieter‘innen, usw. zu erreichen und unterschiedliche soziale Kämpfe zu verbinden. Von bisherigen revolutionären Erfahrungen – aktuell z.B. in Rojava – kommt zudem der Gedanke, dass der Kern einer selbstverwalteten Gesellschaft Räte auf der Ebene des Stadtteils sein werden, weshalb es sinnvoll erscheint, dort mit der Basisorganisierung zu beginnen. Die Priorisierung des Kampffeldes Arbeit existiert also in ihrer klassisch linken Tradition nicht mehr, trotzdem stellt es im Kampf gegen den Kapitalismus und der Praxis einiger Gruppen eine zentrale Säule dar. Eine wichtige Frage ist daher, wie eine Verbindung von Stadtteilorganisierung und Organisierung in bzw. gegen die Lohnarbeit aussehen kann.


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Den Punkt, der die hier beschriebenen Ansätze von sozialarbeiterischen oder reformistischen Ansätzen unterscheidet, sahen viele Teilnehmer‘innen in der Politisierung von Menschen – teilweise auch konkreter: politischer Bildungsarbeit -, die mit entsprechenden Methoden der Basisarbeit einhergehen muss. Also ein Prozess, der neben dem Aufbau von organisierten Strukturen im Stadtteil Menschen auch die Möglichkeit bietet, ihre eigene Situation in Verbindung mit den gesellschaftlichen Ursachen zu bringen und daraus die Motivation zu entwickeln, kollektiv und emanzipatorisch gegen diese Ursachen zu kämpfen. Die Frage auf die die oben genannten Feststellungen hinauslaufen, lautet also: Wie können wir die lokalen, kollektiven und widerständischen Alltagspraxen, die bei konkreten Problemen in der Gesellschaft ansetzen, mit einer revolutionären Perspektive verbinden? Wie kann in der Lokalen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufgezeigt werden? Was macht Basisarbeit revolutionär? Die Diskussionen schlossen Debatten um Methoden und Praxen der Basisarbeit mit ein, die sowohl von politischer Bildungsarbeit handeln als auch von der dauerhaften Einbindung der Menschen und persönlichen Beziehungen: Wie schaffen wir es, im Gespräch mit den Menschen über ihre Alltagsprobleme konkret auf die Auswirkungen des Kapitalismus zu sprechen kommen? Wie schaffen wir es, konkrete Beziehungen zu den Leuten aufzubauen und wie müssen diese Beziehungen aussehen, die ja nicht nur reine Politbeziehungen sein können? Wie kann politische Bildungsarbeit emanzipatorisch und auf Augenhöhe in der Basisarbeit aussehen? Erfahrungen, die diese Fragen relevant machen, sind z.B. eine Bürgerinitiative, die ihre Struktiuren nach einem erfolgreichen Kampf gegen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen dazu nutze, gegen den Zuzug von Geflüchteten zu mobilisieren. Oder auch die Erfahrung von z.B. ‚Zwangsräumung verhindern!‘, dass Menschen oft überhaupt nur dann kämpfen, wenn sie ein konkreter Anlass direkt betrifft, eine Organisierung und Politisierung darüber hinaus sich jedoch schwierig gestaltet. Von verschiedenen Teilnehmer‘innen wurde hier die wichtige Rolle einer revolutionären Kultur stark gemacht, die durch die Kraft von Bildern und Symbolen, aber auch durch kulturelle Wärme in Form von Umgangsweisen, Musik, politischem Liedgut eine Kollektivität schaffen kann,

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die auch über einen konkreten Kampf hinaus ‚zusammenschweißt‘. An diesem Punkt wurde auch die Wichtigkeit einer konkreten Utopie betont, um gemeinsam ein langfristiges Ziel zu verfolgen, sowie das Verweisen-Können auf positive Beispiele und in diesem Zuge die Wichtigkeit einer internationalistischen Perspektive, um das Gefühl von Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu überwinden.

32 Schluss Wir haben versucht, in diesem Text die Grundzüge der vielen Debatten einzuordnen, die auf der Konferenz geführt wurden und die wir als grundlegend für eine weitere Diskussion um linksradikale Strategie erachten. Natürlich kommen damit vermutlich viele Einzelheiten und wichtige Positionen, Beiträge, Diskussionen, usw. zu kurz. Wir stellen uns den Text als eine Art Grundgerüst vor, der mit der Einladung einhergeht, Kritik, eigene Positionen und Ziele der jeweiligen Praxis zu formulieren – an dem Geschriebenen hier, zu Diskussionen auf der Konferenz oder als Begründung oder Reflektion der eigenen Praxis und Strategie. Um so dieses Gerüst mit euren Inhalten und Erfahrungen aus der Praxis zu füllen. Dass viele Fragen auf der Konferenz und auch hier im Text nur angerissen werden konnten und offen bleiben, sehen wir auch als ein Zeichen eines positiven Suchprozesses innerhalb der radikalen Linken, den wir weiterführen sollten. Unser Wunsch ist es, solche strategischen Diskussionen auch außerhalb der ‚großen Konferenzen‘, aber trotzdem durch überregionale Bezugnahme führen zu können. Wir denken, die schriftliche Form kann unsere persönlichen Begegnungen dahingehend ergänzen, ein tieferes Verständnis für die verschiedenen Praxen von anderen Gruppen zu bekommen und letztlich Diskussionen zu vereinfachen. Unsere (methodische) Trennung der verschiedenen Ansätze soll nicht zu einer Vertiefung der Gräben zwischen verschiedenen Gruppen führen. Vielmehr geht es uns darum, auch bei inhaltlichen Differenzen Verständnis zu entwicklen, Gemeinsamkeiten zu finden und eine mögliche strategische Verbindung verschiedener Ansätze zu diskutieren. In knackig aus der Auswertung des Kongresses:


Nachbereitungspapier des Selber-Machen-Kongresses 2017 von den Kongressteilnehmer‘innen

„Also skizziert eure Diskussionen, veröffentlicht sie, bezieht euch aufeinander! Und neben all dem Theoretischem, vergesst die Praxis nicht! Vernetzt und organisiert euch weiter, tauscht Erfahrungen aus und lernt voneinander. Wir hoffen der ‚Selber-Machen‘-Kongress 2017 war auch für euch Motivation und Anstoß für die fortlaufende Auseinandersetzung rund um Theorie und Praxis von Selbstverwaltung und Basisorganisierung!“

33 Solidarische Grüße, einige Teilnehmer‘innen des Selber-Machen-Kongresses 2017

Der Text wird unterstützt von: Internationalistisches Zentrum Dresden Radikale Linke Berlin Komitee für eine revolutionäre Perspektive (Münster) Hände Weg vom Wedding Antifa Kritik & Klassenkampf (Frankfurt)


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AWOTW...


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Angry Workers of the World Dear sisters and brothers, Some comrades from Frankfurt got in touch recently, wanting to set up a solidarity network. They approached us with some concrete questions. We want to use the opportunity to reflect more generally on our limited experiences with 36 our solidarity network initiative so far and about the political direction we want to take steps towards. We do this against the current background of post-election ‘Corbyn-mania’ and a surge in political activities focused on the Labour Party. The first part of this text briefly explains our opposition to the focus on electoral activities, whether that be through the Labour machinery or in the more post-modern form of ‘ municipalism’ [2] – despite the fact that locally in our area, the election circus had less of an impact, given that most workers here are not allowed to vote anyway. And as an alternative to this electoral turn, the second part focuses on our political proposals towards a locally rooted class organisation. We then go on to talk in more detail about our concrete experiences with the solidarity network in west London. Wir haben die Antwort der angry workes of the world auf unsere Fragen für euch im Folgenden übersetzt. Den englischen Originaltext findet ihr auf ihrem blog: https://angryworkersworld.wordpress.com/2017/06/24/ from-solidarity-networks-to-class-organisation-in-timesof-labour-hallucinations/

Die Klassenlinie fahren: proletarische Selbstverteidigung, Arbeiter‘innenmacht und die politische Organisation Zuerst wollen wir das Solidarity Network in eine größere Perspektive auf die Organisierung der Arbeiter‘innenklasse einbetten. Dabei werden drei unterschiedliche Facetten dieses Prozesses deutlich, die wir so weit wie möglich verbinden wollen: Das SN ist eine erste Anlaufstelle für Probleme mit dem proletarischen


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Alltag und vermittelt gegenseitige Hilfe etwa bei Ärger mit staatlichen Organen (Jobcenter, Ausländerbehörde), mit Vermieter‘innen und Chef‘innen, aber auch bei rassistischer und sexistischer Gewalt durch andere Proletarier‘innen. Dabei verfolgt es konsequent eine Klassenlinie: wir brauchen keine Expert‘innen oder bürgerlichen Repräsentant‘innen der Community. Direkte Aktion und Solidarität sind unsere wichtigste Ressource, und die unterschiedlichsten Lebensbereiche haben einen Klassencharakter, wie etwa das Bildungs- und Gesundheitssystem. Während große Gruppen von Proletarier‘innen [in einzelnen Momenten] direkt Macht ausüben können, z.B. durch Demos oder Blockaden, liegt die organische kollektive Macht in ihrer Zusammenarbeit. Die größte Herausforderung für solidarische Netzwerke liegt in der engen Zusammenarbeit mit Basisgruppen an den Arbeitsplätzen. Nicht nur in praktischer Hinsicht, da wir unter den gegebenen Umständen oft auf solidarische Unterstützung von außen angewiesen sind, um das Klima der Angst in den Fabriken, Lagern etc. zu durchbrechen und aktiv zu werden, wenn die Kräfteverhältnisse dort sehr ungünstig sind. Die Zusammenarbeit ist auch eine Frage der Politisierung: das solidarische Netzwerk kann helfen, alle Aspekte der proletarischen Existenz am Arbeitsplatz hervorzukehren, die von Gewerkschaften meist ignoriert werden, z.B. die häusliche Lage oder staatliche Repression. Wir wollen nicht zwischen der ökonomischen Rolle der Betriebsgruppen und der sozialen Rolle der solidarischen Netzwerke unterscheiden. Tatsache ist, dass der Arbeitsplatz auch eine hohe soziale Bedeutung hat. Die tägliche Nähe ermöglicht es Proletarier‘innen, über andere Aspekte ihrer Unterdrückung zu sprechen; mehr als etwa die räumliche Nähe zu Nachbarn oder zu Wartenden in einer Schlange im Jobcenter. Zudem beeinflusst der zunehmende Druck von außen auch das Kräfteverhältnis zwischen Arbeiter‘innen und Chef‘innen: Verstärkte Abschiebungen oder Leistungskürzungen führen zu erhöhter Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Die Mobilisierung von migrantischen Arbeiter‘innen in den USA hat gezeigt, dass die beste Gegenwehr gegen das Migrationsregime in Streiks liegt, die seine wirtschaftliche Basis angreifen. Langfristig können nur Kämpfe im Produktionsprosess zeigen, dass die Arbeiter‘innenklasse nicht nur das System blockieren kann, sondern die Art und Weise verändern kann, wie wir diese Welt und unsere Beziehungen herstellen.

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Was ist die Rolle einer politischen Klassenorganisation in diesem Prozess? Für uns liegt die Hauptaufgabe eines politischen Kollektivs in der Dokumentation von Erfahrungen und der Reflektion des Zusammenarbeit des Solidarischen Netzwerkes mit den Betriebsgruppen 38 aus revolutionärer Perspektive – in Form einer lokalen Arbeiter‘innenzeitung. Das bedeutet, lokale Erfahrungen in historische Prozesse oder globale Auseinandersetzungen einzubetten. Indem diese Zeitung regelmäßig an Arbeitsplätzen, Jobcentern und anderen Orten der proletarischen Existenz verteilt wird, dient sie auch der Erweiterung der Organisation. Die Redaktionsarbeit ist ein Prozess der Selbstbildung für militante Arbeiter‘innen, die dem solidarischen Netzwerk oder einer Betriebsgruppe beigetreten sind: die umfassende Unterdrückung in der Klassengesellschaft zu erkennen ist eines – ein anderes aber nach den Gründen dafür und Mitteln dagegen zu fragen. Die Zeitung dient gleichzeitig dem Fokus auf lokale Erfahrungen und der Horizonterweiterung, etwa durch die Diskussion mit militanten Arbeiter‘innen aus anderen Regionen und die Koordinierung praktischer Schritte. So in etwa stellen wir uns die Beziehung zwischen dem solidarischen Netzwerk und den Betriebsgruppen, zwischen proletarischer Erfahrung und Arbeiter‘innenmacht vor. Praktisch sind wir aber noch weit entfernt von der oben beschriebenen Synergie. Im folgenden wollen wir unsere konkreten Erfahrungen reflektieren und auf einige Schwierigkeiten eingehen.


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Erfahrungen des West London Solidarity Network Wir arbeiten und wohnen in einer klassenmäßig ziemlich homogenen Gegend (Greenford, Southall, Park Royal). Die meisten hier gehören zur Arbeiter‘innenklasse und fast die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Migrant‘innen der ersten Generation, meist aus Osteuropa oder vom indischen Subkontinent. In der Regel ist der Arbeitsplatz nicht weit von der 39 Wohnung entfernt. Oft ist die Auswahl von Arbeitsplätzen durch unzureichende Sprachkenntnisse eingeschränkt, der Zugang zu Sozialleistungen durch den Aufenthaltsstatus. Jahre der Sparpolitik haben ihre Spuren bei staatlichen Stadteilzentren und Beratungsangeboten sowie den üblichen NGOs hinterlassen: sie sind überlastet oder für die Massen neu eingewanderter nicht erreichbar. Abgesehen von ein paar sozialistischen Genoss‘innen gibt es in der Gegend keine nennenswerte (radikale) Linke und es ist schwer, Londoner Linksradikale zu mobilisieren, um Arbeiter‘innen in dieser fernen und fremden Vorstadt zu unterstützen. [6] Aufgrund all dieser Faktoren befinden sich Arbeiter‘innen hier als Individuen in einer sehr schwachen Position, während sie als Kollektiv potentiell über sehr viel Macht verfügen, da der größte Flughafen und die größte Stadt Europas auf ihre Zuarbeit angewiesen sind. Wir bezweifeln dass unser solidarisches Netzwerk in zentrumsnäheren Gebieten Londons ähnlich viel Zuspruch hätte, da diese stärker von der Mittelschicht durchzogen und weniger durch migrantische Arbeiter‘innen geprägt sind. Das müssen wir beachten, wenn von den konkreten Bedingungen für die Gründung solidarischer Netzwerke, Betriebsgruppen und Arbeiter‘innenzeitungen die Rede ist. Viele, die sich an das Netzwerk wenden, tun dies aus einer sehr schwachen Position heraus, kennen ihre rechtliche Position nicht oder empfinden eine große Unsicherheit beim Umgang mit den Autoritäten. Was den ersten Schritt anbelangt haben wir uns mit einer gewissen Dienstleistungsposition abgefunden – wir sind auch da um kurzfristig zu informieren und zu helfen. Wenn nötig geben wir juristische Ratschläge, weisen aber auf die Grenze und / oder Kosten juristischer Prozesse hin.


Die ersten Fälle für unser Netzwerk entwickelten sich natürlich durch Kontakte bei der Arbeit: Kolleg‘innen waren von Visa-Agenturen verarscht oder von Zeitarbeitsfirmen abgezockt worden. Dies beantwortet teilweise die Frage von Frankfurter Genoss‘innen [Das sind wir! Anm. d. Red.] nach dem Verhältnis zwischen unserem Aktivismus und unserem Leben. Wir arbeiten in schlecht bezahlten Jobs, wohnen zur Miete, sind mehr40 heitlich Migrant‘innen und haben oft Probleme mit den Autoritäten. Wir glauben jedoch nicht, dass das Verhältnis zwischen Arbeiter‘innen und Aktivist‘innen automatisch ungleich und verzerrt ist, wenn diese nicht im Niedriglohnsektor arbeiten, solange ihr Aktivismus eine klassenbewusste Perspektive hat. Unser Schwerpunkt lag ursprünglich auf Aktionen am Arbeitsplatz und der Zeitung. Wir luden zu monatlichen Filmvorführungen in einem – etwas versteckten – örtlichen Stadteilzentrum ein, wo wir dann auch über Probleme an der Arbeit, mit Vermieter‘innen und Jobcentern redeten. Wir brachten in unserer Gegend etwa 80 Plakate pro Monat an, aber meist kam außer unseren Freund‘innen nur eine Person zur Vorführung. Nur zwei kamen mit konkreten Problemen, von denen eine eben obdachlos geworden war und die andere Arbeit suchte. Im Frühjahr 2017 beschlossen wir, das Format der Treffen zu ändern. Wir entwarfen zwei Plakate, von denen eines die Grundzüge einer revolutionären proletarischen Position in ein paar Sätzen zusammenfasste, während das andere Leute direkt aufforderte, mit ihren Problemen zu uns zu kommen, aber auch klar machte, dass es um gegenseitige Hilfe als Arbeiter‘innen ging und nicht um ein professionelles Beratungsangebot. [7] Diese Plakate hängten wir in proletarischen Wohngebieten, an Bushaltestellen und in Industriegebieten auf. Wir geben eine Telefonnummer für Kontakt an und treffen uns nun wöchentlich an leichter zugänglichen Orten: eine Indische Teestube in Southall, ein von Einkaufszentren umgebener McDonald‘s und dem Café eines 24 Stunden geöffneten Supermarktes in Park Royal. Der Zuspruch war etwas überwältigend. Das Infotelefon wurde täglich angewählt. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Zeiten härter werden und alle Autoritäten und Ausbeuter‘innen – von Sprachschulen zu Vermieter‘innen und Chef‘innen – migrantische Arbeiter‘innen als Freiwild ansehen, vor allem nach der gegen Migrant‘innen gerichteten Propagandaorgie im Zuge des Brexit-Referendums.


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Aber auch die veränderte Methode und die neuen Treffpunkten könnten ein Grund für den gestiegenen Zuspruch sein. Die meisten Leute rufen an, bevor sie zum Treffen kommen, andere kreuzen einfach so auf. Fast alle sind migrantische Arbeiter‘innen und kommen aufgrund individueller Probleme – nur eine spanischsprachige Reinigungskraft kam als Räpresentantin mehrerer Kolleg‘innen, blieb allerdings leider nicht in Kontakt. Hier sind einige der Anliegen, die Leute zu uns führten:

Drohende Räumung (Familie aus Polen)

Grundlose Kündigung (Gastro-Arbeiter aus dem Senegal)

Mobbing durch das Management aufgrund von Krankheitstagen (ältere, abstammungs britische Arbeiterin)

Problem mit Mietzuschüssen (Arbeiter aus Indien)

Unterbezahlung (Arbeiter aus Ostasien)

Verweigerung eines Sprachzertifikats durch eine Sprachschule (Schüler‘innen aus Rumänien)

Nicht vergüteter Unterricht (Lehrer aus Rumänien)

Probleme mit dem Steuerbescheid (selbstständiger Bauarbeiter aus Polen)

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Die offenen Treffen sind oft lebhaft – hier ein Bericht von einem Treffen in der Indischen Teestube: N. leitet eine Tagespflegeeinrichtung und kam mit drei Frauen, von denen eine ein Problem mit dem Arbeitgeber, einer Pflegefirma, hatte. Sie ist dort seit 11 Jahren angestellt und arbeitet in der Küche. Sie ist dieses 42 Jahr am Herz operiert worden, bekam dann eine Lungenentzündung und schließlich vermuteten die Ärzt‘innen TBC – sie ist also seit einiger Zeit arbeitsunfähig. Der‘die Arbeitgeber‘in hatte sich selbst zu einem Gespräch in der Wohnung der Arbeiterin eingeladen. Wir waren uns einig, dass ein Treffen in der am Arbeitsplatz, also einem neutraleren Ort, besser sei. Wir ermutigten sie auch darauf hinzuweisen, dass ihre offizielle Beschwerde wegen Mobbing durch Vorgesetzte vor zwei-drei Jahren keine Folgen hatte, was ihrer Gesundheit nicht zuträglich gewesen ist. Die Firma hat die Frau darauf hingewiesen, dass sie ein‘e Kolleg‘in oder gewerkschaftlichen Beistand zu dem Gespräch hinzuziehen kann – sicher keine schlechte Idee, auch wenn es kein Abmahngespräch ist. Jemand von uns sollte mitkommen … Die Familie aus Polen kam auch, mit ihrem Baby (die Teestube ist kein besonders kindgerechter Ort, aber momentan der einzige, den wir haben). Ihr Mietzuschuss wurde seit November 2016 „aufgrund zu hoher Zahlungen“ entzogen – sie mussten Widerspruch einlegen. Das Verfahren zieht sich bis jetzt hin und aufgrund der ausbleibenden Zahlungen haben sich Mietschulden angehäuft. Der‘die Vermieter‘in beantragte eine Räumung (der Antrag wurde glücklicherweise aufgrund von Formfehlern zurückgewiesen). Er‘sie hat ihnen auch mit „Abschiebung“ gedroht... Wir betonen immer wieder, dass wir selber Arbeiter‘innen in dieser Gegend sind und das alles freiwillig machen, um ein solidarisches Netzwerk aufzubauen. Wir reden über unsere Sicht auf die Situation vor Ort, die Kombination aus gegen Migrant‘innen gerichtete Propaganda und niedrigen Löhnen. Oft geben wir Leuten unsere Zeitung an die Hand, die eine revolutionäre Position stark macht. Nachdem dreimal Leute in ihren Fällen nicht weiter aktiv werden wollten, nachdem ein erster Brief an Vermieter‘in oder Arbeitgeber‘in folgenlos geblieben war, verfassten wir einen kurzen Flyer, der vor der Illusion warnte, nach einem einzigen Brief würde alles wieder gut.


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Gleichzeitig glauben wir nicht, dass wir Leute in prekären Bedingungen zu Aktionen drängen. Natürlich können Initiativen negative Folgen haben. Zum Beispiel schrieb uns der oben erwähnte Vermieter, der der polnische Familie mit ihrer Räumung und Abschiebung gedroht hatte und sich nicht um die Sicherheit ihrer Wohnung kümmerte (er bezichtigte sie sogar, die Brandmelder gestohlen und die Stromleitungen beschädigt zu haben) einen Brief, nachdem wir ihn kontaktiert hatten: „Ich beantworte 43 Ihren Brief, da ich eine besondere Beziehung zu den besagten Mietern habe, die vorher mit ihrem Kind keinen festen Wohnsitz hatten. Jedoch sieht die Sache nun, da Sie sich eingemischt haben, anders aus und die Räumung wird kommen.“ In dem Brief erwähnt er auch seine guten Beziehungen zur sozialdemokratischen Stadteilverwaltung. In dieser Hinsicht fühlen wir uns für die Lage der Familie mitverantwortlich und wir müssen eine effektive Gegenwehr leisten. In allen Fällen, in denen wir aktiv wurden, hat sich das buchstäblich ausgezahlt (vgl. Beispiele im Anhang) Wir versuchen, mit Leuten in Kontakt zu bleiben, nachdem ihr Fall gelöst wurde und planen Freizeitveranstaltungen, zu denen wir sie einladen können. Mangels Erfahrung hat sich aber noch nicht gezeigt, ob Leute bereit sind, in Kontakt zu bleiben und andere zu unterstützen nachdem ihnen geholfen worden ist. Momentan agieren wir noch im Rahmen der üblichen Soli-Arbeit und sind mit den damit einhergehenden Herausforderungen konfrontiert, d.h. wir müssen die Unterstützungsarbeit und auf eine breitere Basis stellen und den Diskurs über Probleme auf einer grundsätzlicheren Ebene führen. Unsere Aktivitäten am Arbeitsplatz laufen noch auf einer sehr kleinen und internen Ebene, wir konnten bisher also kaum sehen, ob die beiden sich entwickelnden Organisationen einander berühren und verstärken können. Wir haben eine Basis in zwei recht großen Lagern und Fabriken, in denen es brodelt, aber noch nichts überkocht. Wir laden einzelne Kolleg‘innen zu Treffen des solidarischen Netzwerkes ein und hoffen, zukünftig Proletarier‘innen aus dem Netzwerk zu Aktionen vor den Arbeitsplätzen mobilisieren zu können. Eine andere Art, das Netzwerk zu erweitern, ist unsere Intervention in lokalpolitische Konflikte, die einen sozialen Charakter haben. Aktuelle Beispiele sind der Widerstand gegen die Schließung eines Freizeit- und Vergnügungszentrums und den Verkauf des Geländes an Investoren,


die Schließung des örtlichen Jobcenter und die Erweiterung des Flughafens Heathrow. Diese Themen werden oft als Gemeindethemen bezeichnet, was problematisch ist, da die Gemeinde aus unterschiedlichen Klassen und Milieus besteht und voller Widersprüche steckt. Auch in solch bescheidenen örtlichen Auseinandersetzungen ist es uns

44 wichtig, eine klare Klassenlinie zu verfolgen. Konkret bedeutet das:

Bezüglich der Flughafenerweiterung stellen wir uns gegen die gewerkschaftliche Position, die das ökologisch katastrophale Projekt unterstützt, da diese „Arbeitsplätze schafft.“ Anders als die meisten bürgerlichen Umweltaktivist‘innen, konzentrieren wir unsere Aktivitäten auf die zigtausend schlecht bezahlten Arbeiter‘innen in Heathrow. Wir lassen uns nicht auf die kapitalistische Erpressung – Jobs oder Gesundheit – ein. Kapitalistische Entwicklung bedeutet Tod und Zerstörung, aber um dagegen zu wirken, müssen wir die Macht der Arbeiter‘innen ausbauen, indem wir Alltagskämpfe am Arbeitsplatz generalisieren. Wir weisen auch auf den internationalen Charakter von Logistik und Luftfahrtindustrie hin und auf die sich daraus ergebende Möglichkeit internationaler Solidarität.


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Was die Schließung des Job Centers anbelangt unterstützen wir die dort Angestellten bei ihrem Kampf gegen Jobverluste und Versetzungen, weisen aber auf die Hierarchie zwischen ihnen und arbeitslosen Proletarier‘innen hin und stellen klar, dass erste einmal Vertrauen bei letzteren (die die Angestellten des Jobcenters notwendigerweise als Agent‘innen der Sanktionsmaschinerie wahrnehmen) aufgebaut werden muss, bevor es zu wirklicher Solidarität kommen kann. Wir haben Treffen und gemein- 45 same Aktionen beider Seiten vorgeschlagen.

Im Falle des Freizeit- und Vergnügungszentrums sind wir mit einer Vielzahl von Interessen und Widerstandsformen gegen die Entwicklung des Areals konfrontiert. Manche sind aus politischen Gründen gegen die Privatisierung und Kapitalisierung von öffentlichem Land. Hiesige Proletarier‘innen sind eher besorgt um den Verlust von Lebensqualität, den die Schließung bedeutet, während andere Angst vor erhöhtem Verkehrsauf kommen und der „Verschandelung“ ihrer Aussicht durch hohe Wohnblocks haben. Dementsprechend reichen die Antworten auf die Frage „Was tun“ von Protestmärschen zum kommunalen Rathaus über die Zusammenarbeit mit der (konservativen) Opposition bis zur Organisierung und Einbeziehung der im Zentrum arbeitenden. Vor Ort haben wir es mit einer sozialdemokratischen Stadteilregierung zu tun, die schon oft kommunalen Besitz verkauft und Deals mit Investor‘innen geschlossen hat.

Diese punktuellen Beispiele dienen nur dazu zu zeigen, dass Kiez, Stadtteil oder Gemeinde keine politisch neutralen Begriffe sind, sondern durch ihre Verschleierung von Klassengegensätzen eine spezifische Strategie nahelegen, die langfristig in die schlammigen Gewässer von klassenübergreifenden Allianzen und der Zusammenarbeit mit Institutionen führt.


Abschließend lauten unsere mittelfristigen Ziele:

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Ausweitung des solidarischen Netzwerkes auf 70-80 Arbeiter‘innen die bereit sind, an ihrem Arbeitsplatz aktiv zu werden und diesen zu blockieren, die vielen Arbeiter‘innen in der näheren Umgebung darüber zu informieren oder den Konflikt auf andere Weise zu erweitern. Aufbau eines Netzwerkes von etwa einem Dutzend Betriebsgruppen, die verschiedene Arten des offenen und verdeckten Klassenkampfes aus probieren und die Ergebnisse miteinander diskutieren.

Die Durchsetzung von Forderungen nicht nur gegenüber Unternehmer‘innen, sondern auch kommunalen Autoritäten durch die zahlen- mäßige Stärke des solidarischen Netzwerkes und den von organisierten Arbeiter‘innen ausgeübten wirtschaftlichen Druck. Dies wäre ein Schritt in Richtung einer örtlichen Gegenmacht, die den Einsatz lokaler Ressourcen bestimmen kann.


von Angry Workers of the World in London Übersetzung: Antifa Kritik und Klassenkampf

Die Zahl der Arbeiter‘innen, die die Zeitung herstellen und verteilen, auf 20 zu erhöhen, sowie allgemein die Zahl derer, die ihre Selbstbildung vorantreiben und am Aufbau eines Netzwerkes ähnlicher Kollektive im Vereinigten Königreich und darüber hinaus mitwirken wollen. Wir arbeiten an einer Verankerung in den uns umgebenden Quadratkilometern, hoffen aber, Teil von etwas Größerem zu werden.

47 Wir sind uns bewusst, dass wir von einer Verwirklichung dieses Szenarios weit entfernt sind. Wir akzeptieren, dass der beschriebene Prozess nicht gleichmäßig voranschreiten wird und auch externen Faktoren unterliegt. Beispielsweise könnte eine Veränderte Migrationspolitik dazu führen, dass Arbeiter‘innen nicht mehr in der angstvollen Akzeptanz ihrer Lage verharren, sondern sich und andere aktiv verteidigen. Auch ein plötzliches Anwachsen der Inflation nach dem Brexit in Kombination mit der Unfähigkeit der Regierung, diese durch eine Erhöhung des Mindestlohnes auszugleichen


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DUELROIZ


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ZDK............


Diskussionen um eine linksradikale Organisierung in Zeiten der Krise Das Strategiepapier Der kommende Aufprall der Antifa Kritik und Klassenkampf wird in der aktuellen diskus-Ausgabe 2.16 von verschiedenen Genoss‘innen und Zusammenhängen diskutiert. Wir wollen hier einen kurzen Überblick über diese Debatten im diskus geben.

50 Uns geht es in Der kommende Aufprall um das Aufwerfen eines linksradikalen Organisierungskonzepts, das statt linker Event- und Szenepolitik als Antwort auf Krisenstrategien des Kapitals für eine sozialrevolutionäre Gesellschaftsveränderung eintritt. In unserem Papier stellen wir zunächst dar, wie die kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesse notwendig soziale Widersprüche erzeugen und dass weder Sozialpartnerschaft noch Austeritätspolitik diese befrieden können. Uns geht es darum, die momentan stattfindenden vereinzelten Interessenskämpfe im Alltag sowie die Kämpfe von politischen Gruppen um das große Ganze in Klassenkämpfen zu verbinden und darüber Klassenbewusstsein zu erzeugen. Klassenkämpfe sind Kämpfe um materielle Bedürfnisse, bei denen auch die Reproduktionssphäre und andere Herrschaftsverhältnisse mitzudenken sind. Wir schlagen im Kampf für die Interessen und Bedürfnisse der Klasse der Lohnabhängigen eine auf drei Ebenen gelagerte Form der Organisierung im Sinne einer Selbsttätigkeit vor 1. Organisation nach Interessen im unmittelbaren Lebensumfeld und solidarische Vernetzung mit ähnlichen Basisgruppen auf einer lokalen Ebene, 2. Eine überregionale Verbindung dieser Kämpfe, um eine politische Konstante herzustellen, 3. Den Aufbau eines Büros als Kommunikationsknotenstern für die Verbindung der Kämpfe, Austausch über und Förderung der Selbstorganisierung. Ziel einer solchen Organisierung muss es unseres Erachtens sein, die Selbsttätigkeit der Kämpfenden zu fördern, ganz in dem Sinne, dass Emanzipation das Selbsttätigwerden in der Geschichte bedeutet. Ziel unserer Strategie ist es, klassenbewusst eine emanzipatorische Gegenmacht zu Staat und Kapital aufzubauen, die insbesondre in Krisenzeiten eine praktische wie theoretische Alternative zu reaktionären Lösungsvorschlägen bieten kann.


von Antifa Kritik und Klassenkampf

Seit der Publikation unseres Strategiepapiers sind bereits knapp drei Jahre vergangen, in dieser Zeit haben wir viele Diskussionen mit Genoss‘innen in verschiedenen Städten geführt. Damit unser Strategiepapier und auch die Diskussionen darüber nicht in kleinen Kreisen verbleiben und in Vergessenheit geraten, waren wir sehr erfreut, diese Diskussion im Rahmen einer diskus-Ausgabe weiterführen zu können.

51 So geht es in dem ersten Artikel des Genossen von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft aus Berlin um drei Punkte seines Dissens mit unserem Papier. Das Ausbleiben proletarischer Kämpfe könne erstens nicht nur auf ein Strategiedefizit der Linken zurückgeführt werden, zweitens werde nicht deutlich, was im Zeitalter der digitalen Vernetzung der Nutzen einer, die proletarischen Kämpfe verbindenden Organisation sein könnte und drittens neigten wir zum Organisationsfetisch, denn revolutionäre Strategien sind bei weitem nicht auf Organisationsfragen zu reduzieren, so die Kritik in dem Beitrag. In unserem Text haben wir die Bedeutung von Kämpfen im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion hervorgehoben: Bestimmte kapitalistische Entwicklungstendenzen führen dazu, dass ein immer größerer Teil der gesellschaftlichen Arbeitszeit auf diesen Bereich entfällt, weshalb das Kapital dort auch besonders angreifbar wird. Der Bereich der Reproduktionsarbeit ist ein klassisches Feld feministischer Kämpfe, deren Bedeutung für eine kommunistische Strategie und Praxis wir unterstrichen. Drei Genoss‘innen von der translib* Leipzig stellten dies auf die Probe und kamen zu dem Ergebnis, dass feministische Kämpfe in unserem Papier zu stark auf ökonomische Aspekte reduziert seien und andere Dimensionen des Feminismus so unterbelichtet blieben. In ihrem Beitrag Der halbierte Blick haben sie ihre feministische Kritik an unserem Papier dargelegt. Emanuel Kapfinger geht in seinem Beitrag auf einen weiteren im kommenden Aufprall zwar angerissenen aber nicht ausbuchstabierten Aspekt ein: den der Selbstverwaltung. Dabei geht er sowohl auf Aspekte der Ökonomie, der Politik und der Kultur ein. Auch der Frage, was ausgelassenes Feiern mit Revolution zu tun hat, wird in seinem Text nachgegangen. Diese kulturrevolutionären Aspekte der gesellschaftlichen und individuellen Befreiung kommen auch in dem Text Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik des Kollektivs aus Bremen zur Sprache. Auch ihnen geht unsere Kritik


nicht weit genug. Eine revolutionäre Strategie auf Höhe der Zeit müsse schon bedenken, dass das Kapital heute alle Sphären der Gesellschaft eingenommen habe und es daher nicht nur auf Kampfstrategien im ökonomischen Bereich ankomme. Die Genoss‘innen aus Bremen legen hier theoretische und praktische Überlegungen vor, die den unseren sehr nahe stehen. Gerade zu einem Zeitpunkt, an dem 52 unsere Diskussionen mit anderen Linken abklangen und wir uns fragten, wie es nun weitergehen könnte, kamen diese Genoss‘innen aus einer anderen Stadt und völlig unabhängig zu ähnlichen strategischen Einsichten und brachten so frische Energie in die Diskussion und forderten ein, dass es bei dieser nicht bleiben könne. Lenin bemerkte in seiner Schrift Staat und Revolution einmal, dass sein Idealbild des Sozialismus in der Umgestaltung der ganzen Gesellschaft in eine Fabrik liege. Aufgrund einer Fußnote am Ende unseres Textes wurden wir von einigen Leuten so verstanden, als würden wir diese nun in ein riesiges (sozialistisches) Büro transformieren wollen. Wir haben aber niemals eine Neugründung des Sozialistischen Büros vorgeschlagen. Dies wäre uns schon aufgrund dessen großenteils linkssozialdemokratischen Programms zuwider. Vielmehr ging es uns darum, den vom SB entwickelten aber niemals vollständig umgesetzten Arbeitsfeldansatz für die heutige Organisationsdebatte fruchtbar zu machen. Nach der Veröffentlichung entdeckten wir, dass das Hans-Jürgen-Krahl-Institut bereits während des …ums Ganze- Kongresses 2010 einen ganz ähnlichen Vorschlag gemacht und sich auch ansonsten bereits eingehend mit diesem Organisationsansatz auseinandergesetzt hat. In ihrem Artikel Zur Kritik des Sozialistischen Büros stellen sie den Stand ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit diesem Thema vor. Der letzte Text von Florian Geisler und Alex Struwe aus dem Umfeld der diskus- Redaktion widmet sich einigen Gretchenfragen der Theorie, die unser Papier mit sich bringt und will einen Beitrag zur Lösung dieser leisten. Ähnlich wie die translib sehen sie Mängel in dem von uns verwendeten Totalitätsbegriff.


Diskussionen um eine linksradikale Organisierung in Zeiten der Krise von Antifa Kritik und Klassenkampf

Diese Beiträge haben uns noch einmal wichtige Anstöße gegeben, Aspekte unseres Papieres klarzustellen, weiterzuentwickeln und weitere Fragen bezüglich des weiteren Vorgehens in der Debatte um sozialrevolutionäre Strategie und Organisierung aufzuwerfen, was wir im Nachwort der Ausgabe diskutieren. Uns ist bewusst, dass die Organisationsfrage nicht nur theoretisch sondern immer auch praktisch zu beantworten ist. Wie es gelingen kann, dass aus den kleinen alltäglichen, 53 sozialen Kämpfen ein Bewusstsein für die eigene Klassenpositionierung sowie die Fähigkeit zum Widerspruch und Widerstand entsteht, muss in der Praxis erprobt werden. Deshalb stehen wir inzwischen an dem Punkt des Eingangszitats von Der kommende Aufprall von Camus „jedes geschichtliche Unternehmen [ist] […] nur ein mehr oder weniger vernünftiges und begründetes Abenteuer […]. Zuerst jedoch ein Wagnis.“ Nun heißt es: Streiten wir uns, solidarisieren wir uns, organisieren wir uns! Seien wir realistisch, tun wir das uns Mögliche.


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Der Workers‘ Club – Reflexionen über einen ersten Versuch Wie ihr sicher wisst, suchen auch wir seit längerem nach Wegen heraus aus dem alltäglichen Elend und hin zum Kommunismus. In Zeiten wie diesen, in denen die Revolution in weite Ferne gerückt ist, sehen wir – auch das ist sicher nichts Neues – einen wichtigen Schlüssel in neuen Klassenpolitiken, die mit dem Aufbau selbstorganisierter Strukturen einhergehen. Damit wollen wir uns in die Lage versetzen, radikale 56 Kämpfe auf breiter Basis und entlang von Bedürfnissen führen zu können. Bei der Suche nach geeigneten Formen der Organisierung stehen wir im engen Austausch mit verschiedenen Gruppen, die zu ähnlichen Themen arbeiten, spannende Gedanken formulieren oder sich praktisch ausprobieren. Unsere Suche hat uns auch den Blick in die Vergangenheit werfen lassen, wobei wir dem Konzept der Worker Center in Kontakt gekommen sind. Dabei handelt es sich um eine Organisationsform, die seit den 1970er Jahren in der US-amerikanischen Arbeiterbewegung verfolgt wird. Mit dem Workers‘ Club, wie wir das Center nennen wollen, soll ein Ort geschaffen werden, der den Austausch unter Arbeitenden ermöglicht, um so Vereinzelung und gefühlter Ohnmacht etwas entgegensetzen zu können. Der Workers‘ Club dient außerdem als Plattform, von der aus eine gemeinsame Organisierung nach Arbeitsfeldern ausgehen kann sowie Kämpfe geführt werden können. Darüber hinaus strebt der Workers‘ Club eine stadteilübergreifende Vernetzung an und kann so auch Themen wie Mieten oder Wohnverhältnisse in den Fokus nehmen. Somit könnte daraus ein Ort realer Vernetzung und Solidarität entstehen, der durch die Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse weggebrochen ist. Letzten Endes sollen Workers‘ Clubs, anders als Gewerkschaften, aber nicht nur dazu befähigen, einzelne Kämpfe zu führen. Vielmehr sollen sie einen Beitrag dazu leisten, eine gemeinsame Kultur zu etablieren, sich gemeinsam (weiter-) zu bilden und ein Bewusstsein über den geteilten, gemeinsamen Problemzusammenhang, das Klassenbewusstsein (wieder-)herzustellen. Sie sollen somit ein Ort sein, an dem Kämpfe nicht nur geführt, sondern auch diskutiert, interpretiert und dokumentiert und weitergeführt werden. Aus der Diskussion rund um neue Klassenpolitik innerhalb der radikalen Linken sind verschiedene Initiativen hervorgegangen, die allesamt versuchen, alternative Formen der Selbsorganisierung voranzutreiben, die


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zugleich das Potential innehaben, nicht nur einzelne partikuläre Erfolge zu erzielen, sondern Widerstand erfahrbar zu machen und diese Erfahrung weiterzutragen und weiterzutreiben. Darunter etwa unsere Londoner Genoss‘innen von Angry Workers of the World, die mit dem Projekt des Solidarity Networks ein ähnliches Vorhaben verfolgen. Dieses Projekt ist mittlerweile schon recht weit ausgereift und durchdacht – wogegen wir mit unserem Versuch noch an einem schwierigen 57 Anfang stehen: Wird es angenommen werden? Schaffen wir es damit, einen gemeinsamen Bezug zwischen linksradikalen Aktivisten herzustellen, der sich entlang von realen Arbeits- und Lebensverhältnissen orientiert? Wir wollen dabei vermeiden, ein äußeres Verhältnis zu den Dingen zu entwickeln und als Aktivist‘innen ein Thema zu bearbeiten. Es geht uns auch nicht darum, bloß irgendwen zu agitieren. Das Proletariat ist nicht nur die Arbeiterin vom Band bei Opel. Wir selbst sind die Proletarisierten und bei unseren ersten wackeligen Versuchen auf dem Weg in Richtung Workers‘ Club wollen wir also zunächst einmal über die eigenen Bedürfnisse sprechen. Deshalb laden wir euch alle ein, gemeinsam über Probleme proletarischer Reproduktion zu sprechen und die Möglichkeit konkreter Interventionen und Kämpfe zu entdecken. Beim letzten Treffen am 27. Oktober 2018 ging es dabei um den öffentlichen Sektor, genauer gesagt: vor allem um Lehre, Erziehung, pädagogische und soziale Berufe. Bei einem ersten Treffen im Juni haben wir uns bereits einen ersten Überblick über geteilte Problemlagen verschafft. Erste Fragen lauteten dabei:

Wo arbeiten wir Linke? Wie sehen unsere Arbeits- und Reproduktionsverhältnisse aus? Welche materiellen Konflikte haben wir am Arbeitsplatz?

Ziel war es, durch eine erste Bestandsaufnahme und einen Erfahrungsaustausch langfristig auch die Möglichkeit konkreter Interventionen und Kämpfe auszuloten. Zu unserem ersten Treffen kamen mehrere Leute zusammen, die in verschiedenen Arbeitsverhältnissen (Vollzeit, Teilzeit, Mini-/Studijob) im öffentlichen Sektor tätig sind, namentlich im Bereich Soziale Arbeit,


Erziehung und Bildung. In den Gesprächen über die Probleme, mit denen man in diesen Verhältnissen konfrontiert sieht, ergab sich folgendes Bild: Zum einen unterscheiden sich unsere Situationen nicht nur anhand verschiedener Sektoren, sondern auch anhand des Beschäftigungsverhältnisses. Dabei bewegen sie sich zwischen den beiden Polen einer sehr starken Absicherung (Beamtentum) und guten 58 Bezahlung einerseits und einer von kurzfristigen (projektbezogen, Studijob) und/oder schlecht bezahlten Arbeit geprägten Sphäre der ‚Prekarität‘. Aus diesen beiden Polen ergeben sich unterschiedliche Schwierigkeiten im Hinblick auf (mögliche) Kämpfe: So bringt es die Arbeit am zweiten Pol (Prekarität) mit sich, dass es häufig nicht für der Mühe wert erachtet wird, sich in die Anstrengungen eines Arbeitskampfes zu verstricken, da von Vorneherein keine Zukunft in diesem Beschäftigungsverhältnis angestrebt wird. Nehmen die schlechten Bedingungen zu sehr Überhand, schaut man sich lieber nach dem nächsten Job um, anstatt für bessere Bedingungen zu kämpfen. Die Arbeit am anderen Pol (Vollzeit) birgt dagegen die Schwierigkeit, Lohnarbeit und Privatleben unter einen Hut zu bekommen. Aufgrund der vielen Zeit und Energie, die für die Lohnarbeit verausgabt werden, bleiben wenig Kapazitäten für Freizeit und auch politische Arbeit. Gleichzeitig besteht an diesem Pol häufig eine hohe Identifikation mit der Lohnarbeit. Dieses Problem wird besonders im öffentlichen Sektor sichtbar. Für diesen Sektor, also Schule, Universität und Sozialarbeit, ergaben sich zudem spezielle Probleme. Gerade hier findet häufig eine starke Identifikation mit dem Arbeitsinhalt statt; die Arbeit selbst wird häufig als Politische verstanden. Diese Arbeit wird nicht nur subjektiv für sinnvoll, richtig und wichtig gehalten, sondern beinhaltet auch Verantwortung gegenüber Anderen, wie Klient‘innen, Schüler‘innen oder Lehrer‘innen. Damit verschwimmt auch die Trennung zwischen Lohnarbeit, Politik und Privatem. Die hohe Identifikation und starke emotionale Verbundenheit führt so zu Doppelbelastungen und Selbstausbeutung und steht Kämpfen daher häufig diametral gegenüber.


Der Workers‘ Club – Reflexionen über einen ersten Versuch von Antifa Kritik und Klassenkampf

Zudem herrscht besonders im öffentlichen Sektor häufig Unklarheit darüber, an wen (welche) Forderungen zu richten sind – an unmittelbare Vorgesetzte (bspw. Prof.), Organisationsleitungen (Dekanat/Präsidium) oder an den Staat (Länder/Bund). Auch dies stellt eine Hürde in Bezug auf mögliche Arbeitskämpfe dar. Gleichzeitig wird von diesen zur Abwehr der Forderungen die Verantwortung ebenso unklar hin und hergeschoben nach dem Motto: „Wir würden ja, wenn das Land uns mehr 59 Geld gibt“. Insgesamt zeigte sich somit, dass insbesondere die hohe Identifikation mit der Arbeit und den Arbeitgeber‘innen ein fehlendes proletarisches Bewusstsein in Bezug auf die eigene Lohnarbeit zum Ausdruck bringt. Dies ist sicherlich vor allem für den öffentlichen Sektor ein zentrales Problem. Da beim ersten Treffen sich eine Fokussierung auf den öffentlichen Sektor abgezeichnet hat, wollen wir uns diesem nun verstärkt zuwenden. Der öffentliche Sektor stellt dabei jedoch nur ein Arbeitsfeld von vielen dar, die es in Bezug auf ihren Zusammenhang mit der Totalität kapitalistischer Verhältnisse zu analysieren gilt. Dabei geht es uns nicht um eine abstrakt-wissenschaftliche Beschreibung, sondern darum Risse, also Möglichkeiten für Kämpfe und Organisierung offenzulegen. Dies ist nur möglich, wenn die Menschen, die alltäglich innerhalb dieser Verhältnisse um ihre Reproduktion kämpfen, ihre konkreten Erfahrungen in die Diskussion einbringen. Beim nächsten Treffen möchten wir aufgrund der Erfahrungsberichte von letztem Mal und euren Beiträgen die Diskussion vertiefen: Welche Probleme ergeben sich für Kämpfe und Organisierung im öffentlichen Sektor und worin steckt ihr Potential? Sind die vermeintlich flachen Hierarchien ein Hindernis für Kämpfe oder bieten sie die Möglichkeit Statusgruppen-übergreifender Bündnisse? Wie können Kämpfe im sozialen Bereich stattfinden ohne das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeiter‘innen und Klient‘innen zu beschädigen – oder letzteren körperlich zu schaden (siehe als Positivbeispiel: Charité Berlin)? Liegt in der Erfahrung der unmittelbaren Beschneidung von Bedürfnissen (siehe Pflegedebatte) die Möglichkeit der Politisierung? Als Einstieg wird es ein Inputreferat zur Kritik der politischen Ökonomie des öffentlichen Sektors geben.


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Über die Gewerkschaft hinaus? Eine Neue Klassenpolitik muss praktisch werden Das Verhältnis zu den Gewerkschaften des DGB ist für viele Linke und Linksradikale die Gretchenfrage: Handelt es sich um die sinnvolle Klassenorganisation, die so agiert, wie der Stand der arbeitenden Klasse es zulässt und in die es zu intervenieren gilt oder sollte man ihn meiden wie der Teufel das Weihwasser, weil der gewerkschaftliche Weg nur Reformismus 62 und Sozialpartnerschaft heißen kann? Es geht hier nicht um die endgültige Antwort auf diese Frage, sondern darum, wie man sowohl trotz wie auch mit den Gewerkschaften des DGB zu einer neuen praktischen Klassenpolitik kommen könnte.

Ergänzung statt Konkurrenz: Das Konzept Worker Center Was wir für eine praktische Klassenpolitik brauchen, ist eine Organisationsform, die bewusst eine starke Minderheit der organisierten wie nicht organisierten Arbeitenden bündelt, sich daher nicht als Gewerkschaft versteht, mit dieser nicht konkurriert, aber durchaus über sie hinausgeht, indem sie Kämpfe radikaler und auf breiterer Basis führt. Geschichte und Praxis der Arbeiterbewegung halten dafür zahlreiche Konzepte zur Verfügung, wie etwa Arbeiterräte, Betriebskomitees, das Umherschweifen der Situationist‘innen sowie Formen von Selbstaktivierung als Erfahrungsaustausch, militante Untersuchung und Organizing. Konkret sinnvoll erscheint mir eine Organisationsform, die man seit den 1970er Jahren der US-amerikanischen Arbeiterbewegung abschauen kann – die Worker Center. Folgen wir den Ausführungen Martina Benz’ (1), so können wir als Vorteile in der aktuellen Situation festhalten: Erstens agieren Worker Center vorrangig im prekären Bereich, zweitens sind sie geeignet, migrantische und geschlechtliche Themen mit zu bearbeiten, drittens kommt die Konzeption einem der aktuellen praktischen Schwerpunkte der Neuen Klassenpolitik entgegen, nämlich der Stadtteilarbeit. Worker Center können bei den Themen Mieten und Wohnverhältnisse, Rechtsberatung und Kultur, Erwerbslosenberatung usw. aktiv werden. Viertens können Worker Centers als reale Räume den sozialen Ort ersetzen, den das Beschäftigungsverhältnis heute normalerweise nicht mehr bietet. Wenn sich militante In-


von Torsten Bewernitz

itiativen von Arbeiter‘innen als Worker Center verstehen, wird die Konkurrenzsituation mit dem DGB ausgehebelt, ohne das deswegen Abstriche in den Ansprüchen eines Arbeiterradikalismus gemacht werden müssen. Wie die Gewerkschaften im DGB sich dann verhalten, ist eine andere Frage. Aber das wird erstens lokal sehr unterschiedlich sein und zweitens werden sie, wenn starke Worker Center Arbeitskämpfe führen, oft nicht anders können, als sich anzuschließen, und sei es nur, um 63 Gesicht zu wahren. Und selbst wenn nicht: Mit dem Konzept ist die Sympathie vieler Mitglieder an der Basis wahrscheinlich. Diese Mitglieder bauen Druck auf die Gewerkschaften auf. Ein Netzwerk von Worker Centers gibt in diesem Sinne gerade auch den Gewerkschaftslinken bis hin zu kritischen Hauptamtlichen die Möglichkeit, in ihrem Sinne zu agieren und hr beträchtliches Know-how einzusetzen, ohne deswegen mit ihrer Gewerkschaft zu brechen. Sie bekommen mit unabhängigen Worker Centers eher die Gelegenheit, in konkreten Kämpfen in ihrem Sinne auf den DGB und seine Einzelgewerkschaften einzuwirken.

Fünftens: Es ergibt auch deswegen Sinn, als Worker Center zu agieren, weil der Begriff der Gewerkschaft in der Erfahrung der Überausgebeuteten (5) etwas anderes bedeutet, als wir meist darunter verstehen: Entweder, sie wissen gar nicht, was das ist oder sie haben damit schlechte Erfahrungen gemacht, weil sie sich als Leiharbeiter‘innen, Werkvertragler‘innen oder allgemein in prekären Bereichen nicht ernst genommen oder sogar verarscht fühlen. Das gilt sogar für engagierte, inhaltlich gewerkschaftsnahe prekäre Arbeiter‘innen. Im besten Falle ist für sie die Gewerkschaft ein Verein von Hauptamtlichen, die ihnen helfen – mit ihnen selbst hat das aber nichts zu tun. Worker Center dagegen könnten im Sinne des Organizing zu einer Selbsthilfestruktur werden, die von Anfang an Stellvertreterstrukturen ausschließt. Worker Center haben nicht nur die Aufgabe, Arbeitskämpfe zu führen, sondern auch eine gemeinsame Kultur zu etablieren und eine inhaltliche Nachhaltigkeit der geführten Kämpfe zu gewährleisten, das heißt: sie zu dokumentieren, zu interpretieren und den Austausch darüber zu organisieren. Daraus muss eine entsprechende Bildungsarbeit kreiert werden.


Die Basis der Neuen Klassenpolitik mit der Debatte um eine Klassenpolitik sind zahlreiche Initiativen entstanden, die auf bestehenden alternativen Konzepten der Selbstorganisation von Arbeitenden aufbauen: In Hamburg hat die Gruppe Zweiter Mai begonnen, nach dem Vorbild der Industrial Workers of the World (IWW) mit Wilhelmsburg Solidarisch erfolgreich ein solidarisches Netzwerk aufzubauen. (2) Nach diesem 64 Modell ließe sich ein bundesweites oder gar europäisches und dann globales Netzwerk von unabhängigen militanten Worker Centers aufbauen. Die Frankfurter Antifa Kritik und Klassenkampf (akk) hat mit dem ausführlichen Text Der kommende Aufprall einen ähnlichen Entwurf vorgelegt, der sich am Syndikalismus und der Praxis des Sozialistischen Büros orientiert. (3) Ich möchte anschließend an die Ausführungen der akk eine weitere Organisationsform ins Spiel bringen: Eine Koordination von Worker Centers könnte ähnlich dem Buko Internationalismus funktionieren: Ein lockerer Zusammenschluss von Organisationen, die zu dem Thema Arbeit, Armut, Kapital praktisch kämpfen. Ein jährlicher öffentlicher Kongress im Stil der BuKo-Kongresse könnte zusätzlichen Drive geben. Alle diese (und weitere) Entwürfe haben starke Gemeinsamkeiten: Sie wollen eine linksradikale Szene-Subkultur durch einen konkreten Klassenbezug und die Selbstorganisierung der Arbeitenden ersetzen. Dieser erstaunlichen Produktion von Konzeptpapieren für eine Erneuerung der radikalen Linken müssen Taten folgen, bevor weitere Gruppen dieselben Thesen erneut in Positionspapieren formulieren, bis sie niemand mehr lesen will. Für eine Neue – oder überhaupt eine – Klassenpolitik reicht es nicht aus, wenn jede Kleingruppe nun kurz ihr Interesse am Klassenkonflikt bekundet: Wir müssen auch weg von dem Kleingruppenkonzept und lernen, in Kategorien von Massenorganisationen zu denken, die eine soziale und politische Wirksamkeit entfalten. Ferner gibt es einige alte und einige neue alternative Gewerkschaftsgründungen, die zu integrieren sind: Auf der einen Seite sind dies FAU und IWW, auf der anderen die Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) sowie die Frankfurter Hochschulgewerkschaft unter_bau, dazu gehören auch weitere Mittel- und Unterbauinitiativen an verschiedenen Hochschulen. Hinzu kommt das linksgewerkschaftliche Spektrum mit Organisationen, Initiativen und Publikationen wie TIE global, express, labournet, aktion ./. arbeitsunrecht, neue, teilweise transnationale Streik-Soli-Kreise


Über die Gewerkschaft hinaus? Eine Neue Klassenpolitik muss praktisch werden von Torsten Bewernitz

(wie im Fall amazon), regionale gewerkschaftliche Zukunftsforen oder jour fixes, die im transnational social strike-Netzwerk organisierten Gruppen, das ExChains-Projekt, Zeitschriften wie wildcat, kosmoprolet und das lower class magazine. Und nicht zu vergessen sind die bestehenden Erwerbsloseninitiativen bzw. die ehrenamtlichen Beratungsstellen, die sich gegen die Zumutungen von Hartz IV wenden.

65 Des Weiteren sind die neuen migrantischen Organisationen sowohl von Geflüchteten wie auch von Arbeitsmigrant‘innen aus dem krisengeschüttleten Süd- und Südosteuropa (wie Marea Granate und Grupo de Acción Sindical) zu integrieren sowie möglicherweise die Reste der Euro-MayDay-Bewegung als gewerkschaftsähnlichem Organisierungsversuch der prekär Beschäftigten. Die aufgezählten Initiativen und Organisationen können zur Basis eines neuen undogmatischen und praxisorientierten Arbeiterradikalismus werden. Eine von diesen geformte Föderation könnte direkte Aktionen in großem Maßstab realisieren, statt sie nur zu propagieren. Neben der Frage, wer inhaltlich bereit ist, ein solches Projekt mit zu initiieren, ist die zweite Frage, wer die Arbeiter‘innen sind, mit denen wir kämpfen wollen oder können. Hier ist durchaus ein gewisses Dilemma zu konstatieren: Der gewerkschaftliche Grundgedanke basiert darauf, dass Arbeiter‘innen durch ihre Rolle als Arbeitskraftverkäufer‘innen eine gewisse Macht im Kapitalismus haben, sobald sie kollektiv handeln. Diese Macht ist aber in der Arbeiterklasse ungleich verteilt: Gut qualifizierte, spezialisierte und entsprechend auch gut entlohnte Arbeiter‘innen (Angestellte gehören dazu) haben in der Regel durch das Zusammenspiel dieser Faktoren eine recht hohe Arbeitermacht – sie sind ein wesentlicher Bestandteil der berüchtigten Mittelschicht. Dieser Teil des Proletariats ist zwar relativ mächtig, aber nur wenig an Veränderungen interessiert. Im Gegenteil ist dies der Teil der Arbeiterklasse, der ein Interesse daran hat, die Verhältnisse zu konservieren und daher auch zu rechten Lösungen neigt, um den aktuellen Lebensstandard zu halten.


Die aktuelle Praxis und die Mitgliederstruktur klassenkämpferischer linker Organisationen ist auf prekäre Arbeitsverhältnisse ausgerichtet – und das ist auch sinnvoll. Denn erstens finden wir im prekären Segment des Proletariats diejenigen, die objektiv ein Interesse an Veränderung haben (müssten) und zweitens ist diese Schicht der Arbeiterklasse keineswegs so ohnmächtig, wie oft behauptet wird. Einzelne 66 Segmente der prekären Beschäftigung (Kommunikation, Transport, Logistik) sind hochgradig angreifbar und die Ohnmacht resultiert eher aus fehlender Organisierung. Dem prekären Segment der Arbeiterklasse fehlt die Erfahrung ihrer Macht. Genau hier können radikale Worker Center ansetzen. Das prekäre Segment zu organisieren, ist auch deshalb Gebot der Stunde, weil dieses das migrantische, multiethnische, vielgeschlechtliche Gesicht der Arbeiterklasse der Zukunft trägt. Aktuell sehen wir uns vor einer Diskrepanz zwischen Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung: Die Arbeiterklasse ist multi- und transnational und zunehmend weiblich und in einem Prekarisierungsprozess begriffen, und diese Tendenzen werden unweigerlich zunehmen. (4) Die Arbeiterbewegung dagegen – und das gilt auch für die radikale Arbeiterbewegung – ist immer noch weiß, männlich und in weiten Teilen eurozentristisch. Wenn sich diese Diskrepanz nicht auflöst, hat die Arbeiterbewegung, so wie sie jetzt ist, ihre Existenzberechtigung verloren und muss runderneuert werden.

Neu beginnen! Der Vorschlag, sich mit syndikalistischen Gewerkschaften, dem linksgewerkschaftlichen Umfeld, lokalen klassenkämpferischen Gruppen usw. in eine flächendeckende Struktur von Worker Center zu verwandeln, heißt, eine starke Parallelstruktur zum DGB zu entwickeln, die in Arbeitskämpfen über Betriebsratsarbeit und Tarifpolitik hinausgeht (ohne den DGB von der Pflicht zu entbinden, dies auch zu tun). Das wäre etwas völlig Neues. Es wurde lange genug über eine Neue Klassenpolitik diskutiert, es kommt darauf an, sie zu beginnen. Die Infrastruktur und Erfahrungen der genannten Gruppen und Organisationen kann und sollte davon ein wesentlicher Bestandteil sein. Wenn die genannten Organisationen an einem Strang ziehen, lässt sich eine mehrtausendköpfige Basis gewinnen,


Über die Gewerkschaft hinaus? Eine Neue Klassenpolitik muss praktisch werden von Torsten Bewernitz

die die praktische Möglichkeit für eine große Organisierungs- oder Mobilisierungskampagne hat. Der nächste Schritt muss sein, nach dem Vorbild des Organizing eine Kartierung der Gruppen vorzunehmen, die für ein solches Projekt in Frage kommen, um sich sodann in ausführliche Gespräche miteinander zu begeben und das vorgeschlagene oder ein ähnliches Konzept praktisch umzusetzen und damit eine völlig neue Form von Arbeiterbewegung zu schaffen, die endlich wieder eine „wirkliche Bewegung“ sein kann.

Torsten Bewernitz ist Politikwissenschaftler und Gewerkschaftsaktivist und seit Kurzem Redakteur des express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Dieser Text erschien zuerst in der ak – analyse & kritik (ak 638) vom 15.5.2018 und ist außerdem abgedruckt in dem Buch Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus, das im Oktober im Bertz und Fischer Verlag Berlin erscheinen wird.

Anmerkungen: (1) Martina Benz: Zwischen Migration und Arbeit. Worker Centers und die Organisierung prekär und informell Beschäftigter in den USA. Münster 2014. (2) Zweiter Mai hat Materialien der IWW übersetzt: Seattle Solidarity Network: Solidarische Netzwerke. Ein Leitfaden. http://zweiter-mai.org/files/2016/01/seasol-leitfaden-web-final.pdf (3) Antifa Kritik und Klassenkampf: Der kommende Aufprall. Auf der Suche nach der Reißleine in Zeiten der Krise. http://akkffm.blogsport.de/images/DerkommendeAufprall_web.pdf (4) Marcel van der Linden: Aufstieg im Niedergang. https://www.jungewelt.de/artikel/309842.aufstieg-im-niedergang.html (5) Empörung reicht nicht. Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts, ak 601 https://www.akweb.de/ak_s/ak601/27.html

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Jetzt geht‘s ums nackte Überleben Halberg Guss – Streik mit Vorbildcharakter? Seit mittlerweile 19 Tagen wird der Automobilzulieferer Neue Halberg Guss GmbH in Leipzig bestreikt. Zwischenzeitlich drohte die Situation zu eskalieren. Nach wie vor ist die Lage sehr angespannt und die Belegschaft äußerst kämpferisch. Wir besuchten die Streikenden, um unsere Solidarität auszudrücken und um mit den Kolleg‘innen ins Gespräch zu kommen.

70 Als wir am späten Samstagnachmittag den Streikposten vor dem Betriebsgelände der Neuen Halberg Guss am Rande von Leipzig betreten, treffen wir zunächst nicht auf eine Menge wütender Arbeiter. Die Stimmung entspricht eher der verkaterten Ruhe nach einer langen Party. Ein paar Männer schauen Fußball, anderen sitzen im Schatten, langgestreckt auf Plastikstühlen und plaudern. Bernd Kruppa, der uns am Infostand der IG Metall in die Arme läuft, wirkt trotzdem aufgekratzt und klärt uns auf: Die letzten Tage sei es hier „wie in Nordirland“ zugegangen, aber jetzt bräuchten die „Kumpel mal eine Mütze Schlaf“ und seien fast alle nach Hause gefahren. Kruppa ist der Geschäftsführer der IG Metall Leipzig und führt uns über das Gelände. Es ist zum Zeitpunkt unseres Solidaritätsbesuchs der 17. Tag des unbefristeten Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter von Halberg Guss, einem Gießereibetrieb mit etwa 700 Beschäftigten am Rande von Leipzig.

Machtkampf zwischen Großkonzernen – dazwischen: Die Belegschaft Anfang 2018 hatte der Konzern Prevent, einer der größten VolkswagenZulieferer, die Neue Halberg Guss GmbH mit Stammsitz in Saarbrücken aufgekauft. Zwischen Prevent und Volkswagen schwelt seit Jahren ein intensiver Streit um Preise und Lieferbedingungen. Prevent verfolgt die Taktik, Zulieferer-Firmen von VW aufzukaufen, um eine Mono polstellung gegenüber dem Automobilkonzern einzunehmen und die Preise hoch zu treiben. Die Lage spitzte sich zu und Volkswagen kündigte die Verträge.


von Loti Gimpel und Tamer Le Gruyere

Daraufhin gab die Prevent-Geschäftsführung bekannt, Halberg Guss in Leipzig bis zum Ende des Jahres 2019 schließen zu wollen. Der Streit zwischen den beiden Großkonzernen wird auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen. Die Geschäftsführung dürfte aber nicht damit gerechnet haben, dass die Kolleg‘innen vor Ort wild entschlossen sind, entweder den Standort zu erhalten oder den Preis für die Schließung massiv nach oben zu treiben. Kruppa erklärt das so:

„Wir sollen auf dem Altar der kapitalistischen Interessen geopfert werden. Da stellen wir uns dazwischen. Wir werden alles tun, um unseren Arsch so teuer wie möglich zu verkaufen.“

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Ohne Sozialtarifvertrag geht nichts Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Schließungspläne wählten die Gewerkschaftsmitglieder eine Tarifkommission und beschlossen die Forderungen für einen Sozialtarifvertrag. Zum Forderungskatalog gehört ein arbeitgeberfinanzierter Fonds, aus dem Abfindungen und Maß72 nahmen zur Vermittlung in neue Stellen finanziert werden sollen sowie finanz ielle Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder. Was nicht sonderlich revolutionär klingt, bekommt einen anderen Charakter, wenn man sich das finanzielle Volumen vor Augen führt, das den Streikenden vorschwebt. „Wir reden hier über 250 Millionen“, erklärt Kruppa. Nachdem die Geschäftsführung auf die Verhandlungsaufforderungen nicht einging und auf zwei Warnstreiks nicht reagierte, rief die IG Metall Leipzig ihre Mitglieder am 14.Juni zur Urabstimmung über einen unbefristeten Streik auf. Das Ergebnis war überwältigend und mehr als eindeutig: 98,4% der IG Metall Mitglieder der Neue Halberg Guss GmbH stimmten für einen unbefristeten Streik. Niemand stimmte dagegen: Die fehlenden Stimmen ergaben sich aus Krankheit und Urlaub.


Jetzt geht‘s ums nackte Überleben Halberg Guss – Streik mit Vorbildcharakter? von Loti Gimpel und Tamer Le Gruyere

„Es geht ums nackte Überleben – das schweißt zusammen“ Wir setzen uns mit Kruppa und dem Kollegen Helge an einen Tisch im Schatten. Gegenüber zeigt der Beamer immer noch die Sportschau, aber niemand schaut zu; es laufen nur Interviews und Wiederholungen einiger Szenen der beendeten Partie. Helge stellt jedem von uns eine 73 Flasche Bier vor die Nase und öffnet sie der Reihe nach. Vom Tisch nebenan kommt Kindergeschrei. Offenbar verlegen die Familien der Streikenden auch ihr gemeinsames Abendessen hier her. Was der Streik mit den Kollegen gemacht hat, wollen wir wissen. Helge antwortet: „Jetzt geht’s ums nackte Überleben und das schweißt zusammen.“ Manche von den Kollegen würde man nicht wieder erkennen, „jetzt wo die Kacke am Dampfen“ sei. Gerade bei den „Höhergestellten“, von denen man den Eindruck gehabt habe, dass sie manchmal „auf einen herab gucken“, sei das so. Kruppa ergänzt: Die Leute hätten nun die Gelegenheit sich wirklich kennenzulernen. Im Betriebsalltag sei das kaum noch möglich, jetzt aber könnten sie sich austauschen und machen gemeinsame solidarische Erfahrungen: „Die denken jetzt übers Leben nach“. Im Betriebsalltag sind die verschiedenen Abteilungen voneinander getrennt. Allein das wirkt schon einer kollektiven Solidarisierung entgegen. Aber der Streik durchbricht diese Vereinzelung. Für die Dimension rassistischer Zuschreibungen scheint das durchaus auch zu gelten. Kruppa über Arbeiter‘innen mit und ohne Migrationshintergrund: „Das Dilemma ist: die kennen sich nicht“. Der Streik eröffnet eine Möglichkeit, das zu ändern und gemeinsame Interessen zu entdecken.


Organisation, Disziplin, Kommunikation Seit dem 14. Juni ging mit Beginn der Frühschicht im Werk nichts mehr. „Es ist eine anstrengende Situation“, sagt Kruppa. „Wir sind im unbefristeten Streik. Das heißt, wir sind rund um die Uhr vor den Toren. Organisation, Disziplin und Kommunikation sind die Erfolgsfaktoren 74 eines Streiks. Wir führen den Streik sehr diszipliniert und legen viel Wert auf Kommunikation nach innen und nach außen.“ Tatsächlich sind die Entschlossenheit, der Einfallsreichtum und die Geschlossenheit der Beschäftigten beeindruckend, wie die Reaktionen der Streikenden auf verschiedene Provokationen der Geschäftsführung zeigen. In der ersten Woche war die Zufahrt zum Werk komplett blockiert, vorfahrende LKWs, die bereits fertig produzierte Motorblöcke aus dem Werk abholen wollten, mussten wieder umdrehen, da die Streikenden Ketten bildeten und damit die Einfahrt zum Hof blockierten. Eine drohende Räumung wurde dadurch verhindert, dass vor dem Werkstor eine Dauerdemonstration angemeldet wurde und die Streikenden zeitweise von links nach rechts (und wieder zurück) liefen. Die Geschäftsführung bemängelt zudem, dass die Stromzufuhr im Werk sabotiert worden sei. Neuerdings lobt sie sogar Prämien für diejenigen aus, die die Saboteure namentlich benennen und/oder die Stromzufuhr im Werk wiederherstellen.


Jetzt geht‘s ums nackte Überleben Halberg Guss – Streik mit Vorbildcharakter? von Loti Gimpel und Tamer Le Gruyere

Drohende Eskalation Während der zweiten Streikwoche drohte die Situation zu eskalieren. Wieder fuhren LKW vor, vereinzelt gab es Rangeleien mit dem privaten Sicherheitsdienst und eine Polizeihundertschaft bezog Position. Offensichtlich hatte die Anwältin von Halberg Guss vor Gericht eine einstweilige Verfügung erwirkt, die die Streikenden zur Räumung der 75 Zufahrt zwang. Auch die Polizei, die sich in den ersten Streiktagen kooperativ zeigte, meinte es nun ernst und kündigte an, die freie Zufahrt zum Werk notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Nach der dritten Aufforderung der Polizei und intensiven Verhandlungen entschied man sich schließlich dazu, die Einfahrt zu räumen, allerdings unter der Bedingung, dass vorerst kein Lastkraftwagen auf das Werksgelände fährt und keiner den Hof verlässt. Dies ließ sich allerdings nur bis zum Folgetag aufrechterhalten. Am 26. Juni fuhren sechs LKW auf den Hof, um die letzten Motorenblöcke abzuholen. Die Streikleitung reagierte erneut kreativ. Denn durch die Einschaltung des Gewerbeaufsichtsamtes wurde das Verladen der Produkte untersagt, da die eingesetzten Streikbrecher nicht die nötige Einweisung in die Arbeitssicherheit erhalten hätten. Zudem wurde ein Lieferwagen, der offensichtlich einen Bauzaun auf das Gelände bringen wollte, um es weiträumig abzusichern, erneut blockiert. Die Stimmung war aufgeheizt, unter lautstarken Protesten verließen die Laster aber schließlich das Gelände. Auch wenn die Szenerie am heutigen Nachmittag sehr entspannt wirkt, so versichern Helge und Kruppa, dass die Belegschaft weiterhin hoch motiviert sei, den Streik fortzusetzen. Anstrengender als dreimal die Woche Schichtarbeit sei der Streik auch nicht und schließlich gehe es ja für die einzelnen Kollegen ums Ganze. Tatsächlich erzielen die Provokationen der Geschäftsführung in keiner Weise den gewünschten Effekt, die Zermürbung der Streikenden. Im Gegenteil sind wir beeindruckt von der kämpferischen Entschlossenheit der Streikenden. Nach wie vor läuft im Werk keine Maschine, nach wie vor ist der Streikposten ununterbrochen besetzt und die Möglichkeit, dass irgendjemand aus der Belegschaft auf die Bestechungsversuche der Geschäftsführung eingeht, scheint ausgeschlossen. Auf dem Gelände finden sich unzählige Grußbotschaften und Solidaritätserklärungen, nachts lodern die Feuertonnen mit gespendetem Holz und vorbeifahrende Autofahrer‘innen bekunden ihre Sympathie durch Hupen.


Unterstützung aus der Bevölkerung „Hier sind Leute aus der Bevölkerung, die fragen, ob wir was brauchen, aber mir fällt nüscht ein.“ Am Tisch steht plötzlich der IG-Metall Kollege vom Infostand mit zwei jungen Menschen, die äußerlich eher – so scheint es – einem linksalternativen studentischen Milieu entstammen. 76 Kruppa antwortet: „Liebe! Und Schlaf! Habt ihr das mitgebracht?“ Alle lachen. Die beiden bieten an, Bier und Bratwürste vorbei zu bringen. An der Verpflegung mangelt es nicht, das zeigen die prall gefüllten Essens- und Getränkevorräte, aber: „Gut wäre, wenn ihr möglichst viele Leute herholt. Nehmt euch die Streikzeitung mit und verbreitet die Infos in euren Netzwerken. Es geht um die politische Unterstützung. Es ist offensichtlich, dass hier unterschiedliche Lebenswelten aufeinanderprallen, man könnte auch über das entfremdete Verhältnis einer subkulturell geprägten Linken zu Alltagskonflikten, Arbeitskämpfen und Menschen außerhalb ihrer Blase nachdenken. Offenkundiger ist allerdings die Erkenntnis, dass Solidaritätsbesuche eine hervorragende Möglichkeit sein können, genau diese Barriere zu überwinden – allerdings nur, wenn sie erwartungsfrei erfolgen, keine überzogenen Hoffnungen zu Grunde liegen und man bereit ist, nicht nur die eigene politische Agenda zu verfolgen. Denn auf dem Streikposten finden sich gesellschaftliche Realitäten und Milieus wieder, die außerhalb eines Streiks schwer unter einen Hut zu kriegen sind. Oder in Kruppas Worten: „Das ist eine Gießerei hier, das sind schwere Jungs, Hartmetaller. Wir spiegeln hier das gesamte Ensemble der gesellschaftlichen Beziehungen wider, in jeder Hinsicht.“


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Ausblick Ein Machtfaktor könnte auch die große Solidaritätswelle sein, die den Streikenden entgegenschwappt. Die vielfältigen Sympathiebekundungen und Grußbotschaften aus der Bevölkerung und aus anderen Betrieben sind sehr erfreulich und begrüßenswert und auch wichtig für die Streikmoral. Jedoch sollte es mehr als skeptisch stimmen, wenn der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) bei seinem Besuch die „Solidarität der Staatsregierung“ erklärt, „Raubtierkapitalismus“ beklagt und ein Loblied auf die „Soziale Marktwirtschaft“ anstimmt. Es ist müßig daran zu erinnern, was er und seine Partei unter Sozialer Marktwirtschaft verstehen: Hartz 4, massive Ausweitung des Niedriglohnsektors, Förderung von Leiharbeit, Werkverträgen und Befristungen, Waffenexporte, Abschaffung des Asylrechts und Tod im Mittelmeer. Duhlig versucht einen guten marktwirtschaftlichen von einem bösen Raubtierkapitalismus zu trennen, als ob es im Kapitalismus nicht grundsätzlich um den staatlich legitimierten Raub des durch Arbeitskraft geschaffenen Mehrwerts ginge. Daran zu erinnern, könnte ebenfalls die Aufgabe einer Linken sein, die bei Alltagskonflikten nicht am Rand stehen, sondern mitmischen will. Die Streikenden sind gut damit beraten, auf ihre eigene Kraft zu vertrauen und so lange weiter zu streiken, bis die ersten Fernwirkungen eintreten, die sich jetzt bereits ankündigen. Das ist auch der Plan von Kruppa:

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„Wir haben jetzt die ökonomische Wirkung, die ein Streik haben muss. Er muss hart und unerbittlich geführt werden, damit er am Ende auch den notwendigen Druck auf den Verhandlungsgegner ausübt. In dem Moment, in dem wir ökonomische Fernwirkung erzielen und wo das hier nicht mehr nur regional ist, sondern Produktionsschwierigkeiten bei


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den großen Automobilproduzenten auftreten, dann spielen wir nicht mehr Regionalliga, sondern Champions League.“ Der von Marx beschriebene Doppelcharakter der Gewerkschaften, also der Kampf der Gewerkschaften innerhalb des Lohnsystems sowie gegen das Lohnsystem, ist in der Nachkriegs-BRD zugunsten einer sozialpartnerschaftlichen Befriedungspolitik immer weiter ins Hintertreffen geraten. Die sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften haben daher seit langer Zeit mit Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen. Umso erfreulicher und unterstützenswerter ist daher der Streik bei Halberg Guss, der Schule machen und bis dato Vorbild für eine mutige und kämpferische Gewerkschaftspolitik sein sollte.

Wir wünschen den Streikenden bei Halberg Guss auf ihrem Weg viel Erfolg, Mut und Durchhaltevermögen!

Dieser Text wurde uns freundlicherweise von den Autor‘innen zur Verfügung gestellt. Erstveröffentlichung am 04.07.2018 in: Transit – Debattenmagazin für Halle und Umgebung https://transit-magazin.de/2018/07/jetzt-gehts-ums-nackte-ueberleben/

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100 Jahre Oktoberrevolution – was bleibt? Anlässlich des Jubiläums der Oktoberrevolution wurde die Antifa Kritik und Klassenkampf nach Leipzig eingeladen, um dort darüber zu diskutieren, welche Relevanz die Oktoberrevolution heute überhaupt noch für linke Praxis hat. Konkret wurden wir gefragt, welches Verhältnis wir als AKK zur Oktoberrevolution haben.

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Im Grunde lässt sich diese Frage einfach beantworten: Wir haben in diesem Sinne kein Verhältnis zur Oktoberrevolution, dass wir aus diesem revolutionären Projekt unsere heutige Praxis ableiten würden. Direkte historische Anknüpfungspunkte sind eher andere, die in einem direkteren Bezug zum gegenwärtigen Stadium kapitalistischer Vergesellschaftung in der BRD stehen, wie etwa das Sozialistische Büro der 70er Jahre (vgl. unser Strategiepapier: Der kommende Aufprall). Überhaupt kommen die meisten Menschen wohl nicht von der Oktoberrevolution zur Politik, sondern umgekehrt, als Kommunist‘innen wenden wir uns den geschichtlichen Unternehmungen der kämpfenden Klasse zu und suchen daraus zu lernen und daran anzuknüpfen; am Bild der geknechteten Vorfahren nähren wir unseren Hass wie den Kampfeswillen. Und so begreifen wir die Oktoberrevolution als kantianisches Geschichtszeichen: als ein Ereignis, das die in der menschlichen Geschichte noch nicht eingelöste Hoffnung aufschimmern lässt und den revolutionären Enthusiasmus aufs Neue entfachen kann. Sie entfaltet ihre Kraft dort, wo sie uns weder als nostalgisches Eingedenken antiquierender Geschichte noch als geschichtsvergessene Anpassung ans je Gegenwärtige in der leeren Fortschrittshoffnung der befreiten Enkel gegenübertritt. Die Erfahrungen der kämpfenden Klasse fallen uns nicht so zu, wie die Geschichte den Siegern immer zufällt. „In jeder Epoche“, schreibt Walter Benjamin in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte, „muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ In der unter Linken verbreiteten Scheu, sich positiv auf die Versuche der russischen Revolutionär‘innen zu beziehen, schimmert jene letzte Einsicht der herrschenden Klasse durch: dass so etwas nicht mehr passieren dürfe. Die noch immer herrschende Klasse artikuliert es in ihrem Diktum vom Ende der Geschichte und lässt es dort zur perfiden Konsequenz ausreifen, wo sie Sowjetunion und Nationalsozialismus in eins wirft.


von Antifa Kritik und Klassenkampf

Nun hatte die Oktoberrevolution soziale und ökonomische Bedingungen, die nicht mit den heutigen zu vergleichen sind. Auch ist die Linke marginalisiert und alles andere als kurz davor, den Winterpalast zu stürmen. Aber auch daran erinnert uns die Oktoberrevolution, dass die Revolution ohne die Eroberung und Zerschlagung der Staatsapparate nicht zu machen ist. Im Zurückschrecken der Linken vor der Diskussion dieser Fragen der Macht liegt vielleicht ihre größte derzeitige Schwäche. Es wäre jedoch auch ein sehr bürgerliches Verständnis der Revolution, wollte man in ihr nur den revolutionären Höhepunkt sehen, die revolutionäre Ergreifung der Macht. Es war nicht einfach der Staatsstreich der Bolschewiki, ebensowenig, in falscher Gegenüberstellung, eine spontane Massenerhebung, die dann durch die Bolschewiki korrumpiert worden sei, sondern: dessen Vorbereitung durch massenhafte Erhebung, einer längeren Kampftradition, die Gründung von Fabrikkomitees, Arbeiter‘innenund Soldat‘innenräten sowie, nicht gering zu schätzen, einige externe Faktoren, und dann die Entschlossenheit der Bolschewist‘innen, die 1917 möglich gemacht haben. Die Revolution jedoch, das lässt sich allemal als Fazit ziehen, ist ein langer Prozess, der Jahrzehnte davor beginnt, und diesen Prozess gilt es auf breiter Ebene zu organisieren. Ein anschauliches, wenngleich so wenig übertragbares wie als Ideal uneingeschränkt gültiges Beispiel ist Rojava. Auch dort wurden Jahrzehnte lang parallel zu staatlichen und repräsentativen Institutionen Rätestrukturen aufgebaut, die schon große Teile des Lebens selbstverwaltet haben, sodass im historischen Augenblick der schwankenden syrischen Staatsmacht diese die staatlichen Strukturen auch tatsächlich ersetzen konnten. Allerdings erschöpfen sich diese Rätestrukturen vor allem in der basisdemokratischen politischen Selbstverwaltung angesichts der diffundierenden Zentralmacht, während gleichzeitig die ökonomischen Verhältnisse weitgehend unangetastet bleiben und die heilige Familie kaum angegriffen wird. Insofern die kurdischen Gebiete außerdem von der BRD völlig verschiedene ökonomische Ausgangsbedingungen vorweisen, sind sie auch als Blaupause kaum zu gebrauchen.

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Dennoch: In der BRD stehen Kommunist‘innen mit dem Aufbau einer realen Gegenmacht womöglich nicht einmal am Anfang. Weder konnten in den letzten Jahren im Abwehrkampf gegen den Klassenkampf von oben Erfolge erzielt, noch eine emanzipatorische Antwort auf die Krise gegeben werden, die nicht zwischen mehr Keynesianismus oder mehr Ordoliberalismus stecken bleibt. Stattdessen geht die Reaktion mit Macht daran, zur entscheidenden Kraft zu werden und schickt sich inzwischen gar 84 an, die Betriebe zu erobern. Politaktivismus, Kampagnenarbeit und kurzfristige Mobilisierungen, mit denen Werbung für den Kommunismus (#supergeil) gemacht werden soll und den linken Aktivist‘innen die revolutionäre Attitüde feilgeboten wird, sind der falsche Reflex dieser Ohnmachtserfahrung.


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V.I.S.D.P: Kak Foad Almana Mariwan 60666 Frankfurt am Main


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www.akkffmblogsport.de

Kritik & Klassenkampf 01/2019


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