Graffiti in Euphoria

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1 / Christoph May

Exposé May, Christoph / Magister Artium

Graffiti in Euphoria – mentale Repräsentationsformen geographischer Räume: konkrete und psychische Landnahme-Strategien in Sprache, Werken und Körperposen von Sprühern Komparatistik / Kultur- und Bildwissenschaft

Prof. Dr. Reinhart Meyer-Kalkus / Neuere dt. Literaturwissenschaft Dr. Ulrike Schneider / Deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte

Heraus aus der Realität des Tages und hinein in die Euphorie der Nacht. Graffiti-Sprüher aus aller Welt wechseln jetzt ihre Identität. Sie erobern fremdes Gelände, jagen dort Züge und Wände; sie versprühen geheime Pseudonyme und feiern in siegreichen Posen ihren Triumph. Fame is the Name of the Game! Tags darauf kommt die Inszenierung ans Licht: polymorphe Farbcodes zeugen allerorten vom nächtlichen Reigen. Als professionell dokumentierte Show aus Schriftbild und Hip-Hop-Dramaturgie gelangt Graffiti weltweit zu Kommentar und Kritik. Den Choreographien der anonymen Männer geht eine enorme Faszination für konkrete und psychische Landnahmen voraus; das Begehren, Räume durch eine komplexe Symbolik aus Codes und Körpersprache zu vereinnahmen. Ich möchte die Text- und Videoproduktion aus 30 Jahren Berliner Graffiti-Szene deshalb auf ihre raumgreifende Rhetorik und Bildsprache hin analysieren. Um den Hergang der Inszenierung und internationale Analogien aufzuzeigen, werde ich ein Archiv mit etwa 3500 Photos erstellen und kategorisieren. Zudem will ich mittels eines begleitenden Online-Blogs die populärkulturellen Formen mentaler Landnahme direkt am Bild dechiffrieren. Graffiti ist vor allem eine

Bildkultur,

weshalb

ich

meine

analytische

Arbeit

im

Sinne

Geisteswissenschaften eng mit Archiv und Blog im Internet verknüpfen will.

Fertigstellung der Promotion: September 2015

der

Digitalen


2 / Christoph May 2. Forschungsthema In den vergangenen 10 Jahren hat die Graffiti-Kultur eine enorme Beschleunigung erfahren. Während ich Ende der Neunziger noch Alben und Kartons voll analog entwickelter Schnappschüsse gesammelt habe, pflegen Sprüher und Crews heute Blogs mit jeweils hunderten Videos, Photos, Interviews und Reiseberichten. Die Digitalisierung der Aufnahmetechnik hat Graffiti-Archive mit vielen Millionen Bildern hervorgebracht, die neben den gesprühten Hand- und Wandschriften (Styles) en détail den gesamten Prozess dokumentieren: weltweite Schleich- und Wanderwege, die Suche nach verbotenem Gelände, Hoffnung auf Züge und Wände, Observierung, Vermummung und Guerilla-Taktik, dann endlich Zugriff, Action!, zahllos versprengte Graffiti (Bomben, Tags), wildes Posen, Tänze und Show-Einlagen für die Kameras, schließlich Rückzug oder Flucht. Illegales Graffiti ist strafrechtlich schwer zu verfolgen: Polizei und Deutsche Bahn rüsten auf (Kamera-Drohne, Aerosol-Alarm), woraufhin die Sprüher mit Farbe aus Feuerlöschern kontern, ihre Kommunikation verschlüsseln und sich im Klettern und Schauspiel üben. Diese Subkultur-Authentizität wird von der Industrie umgarnt. Sie sponsert internationale Graffiti-Battles und -Festivals, benennt Sprühfarben nach namhaften Malern (LOOMIT Apricot, MAD C Psycho Pink, CAN2 Cool Candy) oder lässt sich eine Sonder-Edition Sneaker gestalten. Daheim werden zunehmend auch die Körper der Freundinnen bemalt und vermarktet (Graffiti-onGirls–Kalender), obwohl Frauen in der männlich dominierten Jugendkultur kaum präsent sind. Graffiti ist eine Kultur der Bilder. Sie fluten das Bewusstsein der sprühenden Jugend und prägen unmittelbar ihr Verhalten. (1) Ich will deshalb Texte, Photos und Videos der Berliner Szene auf bewusste und unbewusste Ausdrucksformen mentaler Landnahme hin untersuchen. Auf meist städtischem Terrain wird in schweißtreibendem Tempo eine Show-Realität aus Farbe, Codes, Performance und Aufnahmetechnik erzeugt; eine inszenierte, flüchtige Realität mit ShowCharakter. (2) In einem zweiten Schritt möchte ich die populärkulturellen Identifikationsmuster der Performing Kids entschlüsseln und offenlegen; ihre theatrale Dramaturgie, ihre Körperposen und Pseudonyme zum Sprechen zu bringen. Mir scheint, als forderten ihre einladenden Gesten die anderen Sprüher direkt dazu auf, ihnen nachzufolgen und mitzuspielen. (3) Stellt Kolonialisierung künftig ein Angebot dar? Ein unterhaltsames Adoleszenz-Paket aus High-Tech, Suspense und Action? Üben sich die Sprüher hier in der repräsentativen Rolle von Gastgebern (Hosts)? Auch als Training für ihr Berufsleben: hostkoloniale Strategien im Graffiti antizipieren die Konzeptionen ökonomischer Landnahme im expansiven Kapitalismus. (4) Symbolischer Landraub im Big Sexy Land: bevorzugen die Eindringlinge bestimmte Psychogeographien? (5) Graffiti on Girls, Walls and Trains: wie funktioniert die Fetischisierung der begehrten Objekte? Kann die Abwesenheit der Frau als Abwehr gedeutet werden? (6) Homophobie versus Homoerotik: Mann und Meute, Sieg und Emotion, Old-Boys-Networks. (7) Multiplayer: Doppel- und Parallelleben, Geheimidentität versus Biorhythmus. (8) Graffiti-Styles als Sprach- und Resonanzkörper, Speicher und Ort der Erinnerung.


3 / Christoph May 3. Stand der Forschung Aktuell spielt Graffiti in den Kulturwissenschaften keine prominente Rolle. Die bedeutendste Dissertation – The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and Identity in London and New York – stammt von Nancy Macdonald aus dem Jahr 2001. Sie untersucht, weshalb Graffiti bei Sprayern nicht als Spiel, sondern als harte Arbeit gilt, gar als Karriereschritt. Sie fragt nach der Abspaltung der Graffiti-Szene von der “Outside World“ und nach dem persönlichen Zugewinn, den die Subkultur für die Jugend bereithält. Ihrer These zu Graffiti als Karriere-Übung möchte ich im Werk und Lebenslauf von Berliner Künstlern nachforschen, die aus der Graffiti- direkt in die GalerieSzene oder an die Kunsthochschule gewechselt sind. Hier fällt auf, dass die erlernten LandnahmeStrategien zwar verfremdet, aber doch allesamt fortgeführt und sogar verfeinert werden. Erst die authentische Performance im Öffentlichen Raum legitimiert die Indoor-Vernissage, den Open Space oder das Urban-Hacking-Seminar: das exzessive Repetitiv der Kunst- und Projektarbeit goutiert das raumgreifende Training im ehemaligen Panic Land Graffiti. In meiner Analyse der Schilderungen von Sprühern über ihr nächtliches Doppel- und Parallelleben will ich Macdonalds These von der “publicly private parade“ ausbauen und aktualisieren. Ihre Studien zu Graffiti “as a tool for making masculinity“ bilden das soziologische Fundament für meine Thesen über den Mann in der Meute, männliche Emotionen im Siegestaumel und die Produktion von Authentizität in den Old-Boys-Networks. Mein Begriff der Show-Realität geht auf ihr Konzept einer “World of Difference“ zurück. Wo die Ethnographin qualitative Feldforschung betreibt und Interviews auswertet, gilt mein Interesse der literaturtheoretischen Interpretation von schriftlichen Dokumentationen, Quellen, Selbstzeugnissen und literarischen Verarbeitungen der Szene in Magazinen, Conversation Threads, Essays, Romanen und autobiographischen Texten. Mein zweiter Schwerpunkt liegt auf der ikonologisch-ikonographischen Analyse des Bildmaterials. Aby Warburgs wandernde Bilder werden heute als Fluten wahrgenommen. Digitale Online-Archive – die Macdonald vor dreizehn Jahren nicht zur Verfügung standen – bedürfen neuer AnalyseMethoden, die sowohl das Bild im Einzelnen, bewegte Bilder, als auch Bildmengen bewältigen können. Mit Hilfe von Warburg bis Tom Holert (Regieren im Bildraum, 2008) will ich die populärkulturelle Metaphorik der dokumentarischen Bilder deuten und verstehen lernen. In einem eigens erstellten Archiv mit etwa 3500 Photos und einem separaten Blog für die direkte Analyse am einzelnen Bild sollte es mir möglich sein, die Methoden auf ihre Anwendbarkeit hin zu prüfen; eine Art Praxis-Test für die Digital Humanities. Mir stellt sich zudem die Frage, ob und wie die enorme Symbolkraft der Bilder auf das Verhalten der Sprüher zurückwirkt? Ist die mediale Bildproduktion bereits zu einem Selbstzweck geworden, die realen Graffiti an der Wand bald obsolet? Je professioneller zum einen die digitale Dokumentation und zum anderen die Show selbst, desto entbehrlicher vielleicht die tatsächliche Markierung eines Ortes.


4 / Christoph May Mein drittes Augenmerk gilt einer kulturtheoretischen Konzeptualisierung. Aus dem AtmosphärenBegriff von Bonz (Das Kulturelle, 2012), der “situative[n] Identität von Driftern und Spielern“ bei Rosa und den Essays von Preciado über Architektur, Sexualität und Multimedia möchte ich meine Idee von der Show-Realität weiterentwickeln. Den Begriff habe ich in meiner Magisterarbeit über Show-Realismus und Teilnehmende Beobachtung in 'Deutschboden' (Moritz von Uslar, 2010) eingeführt. Ich will ihn um aktuelle Landnahme-Thesen von Theweleit erweitern. Theweleits Untersuchungen über vorhomerische, amerikanische Mythenbildung und ihre Kolonisten – vom griechischen Jason über Hernán Cortés, John Smith bis hin zu Jake Sully (James Cameron: Avatar) – haben mich zu der Annahme geführt, dass der männlichen Motivation im Graffiti konkrete und psychische Landnahme-Strategien zugrunde liegen. Zudem vertritt er die These, Landraub und Kolonialisierung würden meist über den Körper der Frau vollzogen (Buch der Königstöchter. Von Göttermännern und Menschenfrauen, 2013). Nun verbreitet sich seit etwa 2005 unter Sprühern eine Art neue Kulturtechnik. Sie bemalen die nackten Körper ihrer sonst abwesenden Frauen mit den gleichen Graffiti-Pseudonymen wie auf Wänden und Zügen (shriiimp.com). Eine komplexe Analyse, die sowohl das Subkultur-Spiel, die neuen Männlichkeiten (Läubli/Sahli, 2011), ihre Körpersprache als auch die Rolle der Frau in den Blick nimmt, könnte zeigen, dass Theweleits Vermutung auch in den Transformationsprozessen postsozialistischer Gesellschaften zum Tragen kommt. Vom Mental Mapping zum Mental Landtaking: moderne Männerphantasien (Theweleit, 1977/78) haben eine jahrtausendealte Tradition. Diesbezüglich wäre es auch hilfreich, eines der populärsten aller kulturellen Phänomene mit in die Analyse einzubeziehen: die Pornographie der Gesellschaft (Lewandowski, 2012) hat strukturell und strategisch verblüffend viel mit Graffiti gemein. Die Playboys und -girls beider Kulturen inszenieren ihre Landnahme-Lust nach bewährten Prinzipien von Entertainment, Konsum und Körperästhetik. Sie inszenieren sich als “Multitasker, die theoretisch alles beherrschen, viele Identitäten simulieren und auch wieder verleugnen können, ohne selbst große Ansprüche zu stellen“ (Hentzschel). Wie hat sich Graffiti in Berlin und anderen Rebellischen Städten (Harvey, 2013) bis heute entwickelt? Meine Arbeit unternimmt einen literatur-, bild- und kulturwissenschaftlichen Versuch, das zu beantworten und obendrein reich und anschaulich zu bebildern.


5 / Christoph May 4. Ziele und Arbeitspogramm (Methodik) Arbeitsprogramm Am Anfang steht die Fertigstellung meiner Text- und Literatur-Sammlung zu Graffiti in Berlin: Magazine, Romane, Essays, Reportagen, Biographien, Conversation Threads, Kommentar-Ketten und zahlreiche Videoproduktionen – z.B. wurden allein im Dezember 2013 zwei neunzig-minütige Graffiti-Dokumentationen auf U- und S-Bahnen veröffentlicht (Berlin Kidz, Damagers), in denen Berliner Sprüher in Interviews und Song-Lyrics zur Sprache kommen –. Ich möchte die verschiedenen Textformen systematisieren, gegebenenfalls transkribieren und aufbereiten. Wenn das getan ist, beginne ich mit der Analyse. Ich arbeite direkt an den Quellenzitaten: auf jedes Textbeispiel folgt unmittelbar die Interpretation. Zuerst untersuche ich ihren jeweiligen Inhalt, anschließend befasse ich mich mit ihrer Metaphorik und ihrem Sprachstil. Wie bringen die Protagonisten ihre Beobachtungen zum Ausdruck? Wie sprechen sie über ihr Verhältnis zum Körper, über Ängste und Lüste oder über ihr Frauenbild? Worin gleichen ihre redundanten Jagdund Kampfberichte den ökonomischen Erzählungen von Leistung, Erfolg und Druck? Mittels immanenter Textinterpretation bestimme ich die Symptome und Funktionsformen der szenesprachlichen Darstellung und kann Zusammenhänge direkt am Beispiel diskutieren. Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Analyse von Männlichkeiten. Um die Rituale und Kommunikationsformen von Sprühern besser einordnen zu können und meine Idee von ihren zur Landnahme ladenden, hostkolonialen Gesten auszubauen, möchte ich mich in weiterführende transkulturelle und teils postkoloniale Theorien einlesen: die Produktion von Präsenz (Gumbrecht, 2012), Soziale Beschleunigung und Entfremdung (Hartmut Rosa, 2013), Post Porn Politics (Stüttgen, 2009). Den analytischen Passagen folgen kulturkritische Erkundungen über die Strategien zur Erzeugung von Gegenwart, über Fiktion, Realität und Show-Realität und schließlich über die sichtbaren und psychischen Methoden der Landnahme. Hier interessieren mich vordergründig die Konzeptionen ökonomischer Landnahme bei Harald Welzer, Klaus Doerre und anderen. Neben Fragen zu “reaktionären Tendenzen“ dieser Kunstform (Ästhetik ohne Widerstand, 2012 / Ästhetik der Unterwerfung, 2013), zur Verlusterfahrung und gemeinsamen Trauernarrativen, kommen hier auch die Erkenntnisse aus meinen Bildanalysen zum Tragen. Die Analyse von Bildern flankiert und speist meine kritische Arbeit am Text mit konkretem Anschauungsmaterial. In den vier Jahren, die ich mit meinem Graffiti-Archiv beschäftigt war (siehe 3.2.), konnte ich viel Erfahrung zu Dokumentation und Umgang mit Photos sammeln, die ich jetzt in die Promotion mit einbringen will. Im Unterschied zu ueberdose.de, auf dem ausschließlich die Schriftbilder präsentiert wurden, möchte ich nun ein Archiv anlegen, welches vorrangig das soziokulturelle Prozedere der Sprüher dokumentiert. Hierfür will ich etwa 2000 Photos sammeln und in kleinen Serien von 30 bis 70 Bildern arrangieren. Die einzelnen Bilder werden im Sinne Warburgs assoziativ, aber nachvollziehbar miteinander in Beziehung gesetzt. So können die BildStrecken auch Verhaltensroutinen und das Prozesshafte bestimmter Abläufe darstellen.


6 / Christoph May In einem weiteren Schritt will ich die Entwicklung der Berliner Graffiti-Schriften in Bildern veranschaulichen. Dazu plane ich, die Werke ausgewählter Sprüher chronologisch nebeneinander zu stellen. Diese Langzeitstudien sollen zeigen, wie sich der sog. Style, also die Typographie der Schriftbilder, während einer Sprüher-Karriere entwickelt (ca. 500 Photos). Für den Ein- und Überblick in die Diversität der Schriftstile einer ganzen Stadt will ich eine prägnante Auswahl von Werken sämtlicher Sprüher Berlins alphabetisch zugänglich machen (ca. 1000 Photos). Für die Analyse der Photos will ich mich in zeitgenössische Methoden zur Bildbetrachtung einarbeiten. Neben der kunsthistorischen Herangehensweise (Ernst Gombrich) habe ich hier die Theorie des Bildakts von Horst Bredekamp (2010) im Auge, mit der ich die “Eigenaktivität“ der dokumentarischen Bilder im Graffiti bestimmen will. Bezüglich der Untersuchung von Bildmengen sollen mir die Thesen zum Umgang mit dem politischen und ökonomischen Medienbild von Tom Holert dienlich sein. Welche Ansätze werden zudem in den Visual Culture Studies (Mitchell u. a.) und der Bildanthropologie (Belting) diskutiert? Um diese Herangehensweisen direkt an ausgewählten Photos anwenden zu können, werde ich ein separates Analyse-Blog führen. In einer nahezu täglichen Interpretationsübung von etwa 20 Minuten will ich mich hier über drei Jahre lang in Methoden zur Bildinterpretation üben und bspw. schauen, wie fruchtbar sie jeweils für die Untersuchung am Einzelbild sind, wie nützlich für die Betrachtung von Bildmengen. An einer Reihe von Film-Stills ließe sich die Dramaturgie der Videos beschreiben. In wiederkehrenden Bildfolgen und -mustern will ich ihre semantischen Eigenschaften hervorheben und in der Gegenüberstellung mit anderen, auch fachfremden Bildern ihren populärkulturellen Referenzen nachspüren. Damit der Switch zwischen Print- und Online-Medium die Lektüre wesentlich bereichert, sollen Struktur und Inhalt der Bildauswahl eng mit dem Aufbau der schriftlichen Arbeit verknüpft werden. Technisch kommt hier die direkte Verlinkung zu Inhalten durch Bilderkennungs-Software oder QRCodes zum Einsatz bzw. deren Einbettung im Hypertext (Augmented Reality). So möchte ich mit meiner Arbeit auch einen konkreten Beitrag zur Diskussion um neue Ansätze für die Digitalen Geisteswissenschaften leisten.


7 / Christoph May Ziele und Relevanz des Vorhabens Das Tempo, ihr Stillschweigen und die Plötzlichkeit jugendlicher Bewegungen erscheinen uns oft atemberaubend und wunderlich zugleich. Nach fünfzig Jahren in Gemeinschaft hat sich Graffiti in der Welt manifestiert und ist dank ausgedehnter Adoleszenz, expansiver Festival-Wirtschaft und einem dichten Old-Boys-Network weit verbreitet und nicht mehr exklusiv jugendlich. Neben vielen anderen bietet Graffiti heute ein unterhaltsames Betätigungsfeld für die verspielte MedienGesellschaft des 21. Jahrhunderts. Es dient ihr zugleich als Rückzugs- und Repräsentationsraum, als dankbare Test- und Vergleichsökonomie für die Industrie wie als permanentes Trainingsfeld für sog. Massively Multiplayer On- and Offline Role Playing Games (MMORPG). – Manche dieser einführenden Thesen wirken eventuell leicht überzeichnet. So möchte ich betonen, welche Bedeutung Graffiti heute für die Gesellschaft hat und wie wichtig es sein wird, die beschleunigten Prozesse und Identitätsspiele der Bewegung genau zu verstehen. Eine komplexe und exakte Analyse dieser Schrift- und Bildkultur, welche auch nach soziokulturellen Gründen fragt, bildet die Grundlage für eine kulturkritische Diskussion, die sich nicht länger aus Spekulationen speisen sollte. Beispielsweise gestaltet sich der gesellschaftspolitische Umgang mit Graffiti seit Jahrzehnten entsprechend drakonisch bis hilflos. Zur polizeilichen Ermittlungsgruppe GiB (Graffiti in Berlin) gehören etwa 30 (!) Personen. Väter, Richter, Repressionen: würde man verstehen, dass die nicht minder energischen Zugriffe dieser Sonderkommission unmittelbar der Befriedung konkreter Bedürfnisse von Sprühern nach Action, Suspense und Bestrafung dienlich sind, müsste man sich eingestehen, dass derlei Institutionen womöglich entschieden dazu beitragen, das Graffiti-Spiel am Laufen zu halten, ja sogar zu beschleunigen. Statt einer Auflösung möchte ich eine Umschulung vorschlagen: vom Feind zum Freund, vom Ermittler zum Vermittler. Diese und weitere Themen wie die Eventisierung von Männlichkeit, die stete Wandlung des Eigentumsbegriffs oder der inadäquate, teils willkürliche Einsatz in Strafverfolgung und -vollzug werden nicht breit genug diskutiert. Um Unwissenheit und Mythenbildung über Graffiti entgegenzuwirken, gilt es zuvorderst, die zugrundeliegenden Abläufe detailliert und sorgfältig zu erforschen und zu analysieren. Die Ergebnisse meiner Arbeit möchte ich sowohl der Wissenschaft wie auch den bildungs- und gesellschaftspolitischen Diskursen zugänglich machen, sie veröffentlichen und zum Download anbieten. Insbesondere bin ich an der gelungenen Liaison von Print- und Onine-Medium interessiert und werde hierfür einen Verlag engagieren, der mit den neuesten Publikationsformen vertraut ist. In der 2010 gegründeten verUnstaltungsreihe.wordpress.com will ich eine weitere Vorlesungsreihe initiieren, um die Ergebnisse der Arbeit vorzutragen und mit Experten ins Gespräch zu kommen. Zu guter Letzt möchte ich mit Hilfe eines sachkundigen Freundes Kurzvorträge samt PhotoMaterial in 20minütigen Videos zusammenfügen, online zur freien Verfügung und erneut zur Diskussion stellen.


8 / Christoph May 5. Literatur Alain Bieber: Cityleaks: Urban Hacking Academy/School Cologne, rebelart.net 2013. Bonz Bonz, Jochen: Das Kulturelle, München 2012. Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Clausberg, Karl: Warburg, Meskalin und die Sterne - Bildräume des Distanzbewusstseins, in: Bisanz, Elise / Heidel, Marlene: Bildgespenster. Künstlerische Archive aus der DDR und ihre Rolle heute, Bielefeld 2014. Cooper, Martha / Chalfant, Henry: Subway Art, New York 1995. Cooper, Martha: Tag Town, Sweden 2008. Emde, Annette / Krolczyk, Radek: Ästhetik ohne Widerstand, Texte zu reaktionären Tendenzen in der Kunst, Mainz 2012. Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008. Läubli, Martina / Sabrina Sahli: Männlichkeiten denken, Bielefeld 2011. Lewandowski, Sven: Die Pornographie der Gesellschaft, Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens, Bielefeld 2012. Macdonald, Nancy: The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and and Identity in London and New York, UK 2001. Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, Frankfurt/Main 2008. Preciado, Beatriz: Pornotopia. Architektur, Sexualität und Multimedia im 'Playboy', Berlin 2012. Theweleit, Klaus: CA: Buch der Königstöchter. Von Göttermännern und Menschenfrauen. Mythenbildung vorhomerisch, amerikanisch, Frankfurt am Main 2013. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte (Band 1), Frankfurt am Main 1977. Theweleit, Klaus: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors (Band 2), Frankfurt am Main 1978.


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