KRANK UND OHNE MEDIZINISCHE VERSORGUNG IN DEUTSCHLAND
GESUNDHEITSREPORT 2023
2
Ärzte der Welt
Aufklären und überzeugen
Benachteiligte Menschen medizinisch zu versorgen
Die Advocacy-Arbeit ist integraler Bestandteil des
und das Recht auf Gesundheitsversorgung politisch
Programms: Wir informieren politische Entschei
durchzusetzen – das sind die wichtigsten Ziele von
dungsträger*innen und die Öffentlichkeit über Miss-
Ärzte der Welt. Als Médecins du Monde 1980 in
stände und setzen uns auf politischer Ebene für
Frankreich gegründet, besteht die Organisation heute
strukturelle und nachhaltige Lösungsansätze ein.
aus 17 Sektionen, die im jeweils eigenen Land und in
Dabei profitieren wir von den Erfahrungen, die wir
76 Ländern weltweit humanitäre Arbeit leisten. Ärzte
bei der Arbeit mit unseren Patient*innen machen,
der Welt e. V. wurde als deutsche Sektion des Netz-
sowie von der Vernetzung auf kommunaler und
werks im Jahr 2000 gegründet.
Bundesebene.
Das Inlandsprogramm von Ärzte der Welt Deutschland
Viele Menschen haben zu diesem Bericht beigetragen:
Nicht nur in Ländern des Globalen Südens, sondern
unsere Patient*innen, die ehrenamtlichen Mitarbei
auch in Europa setzen wir uns mit Gesundheitspro-
ter*innen und hauptamtlichen Kolleg*innen, unsere
grammen für benachteiligte Menschen ein. Im Rah-
Kooperationspartner Ambulante Hilfe e. V. in Stutt-
Dank
men des deutschen Inlandsprogramms bieten wir
gart und hoffnungsorte hamburg sowie die Abteilung
kostenlose medizinische und psychologische sowie
für Infektions- und Tropenmedizin des Klinikums der
psychiatrische Behandlungen an und ermöglichen
Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Patient*innen durch individuelle Sozialberatungen
Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank.
Zugang zu weiterführender fachärztlicher Versorgung, dem regulären Gesundheitssystem und zusätzlichen Unterstützungsangeboten. Langfristiges Ziel der Projekte ist, Patient*innen nach Möglichkeit in die medizinische Regelversorgung zu (re-)integrieren. Das Angebot beruht auf dem Engagement zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeitenden.
Finanziell unterstützt wird die Publikation durch die Deutsche Postcode Lotterie. Vielen Dank für die Unterstützung und das Vertrauen.
Unsere Kooperationspartner:
3
4
HINTERGRUND
6
ZAHLEN AUF EINEN BLICK
8 UNSERE POLITISCHEN FORDERUNGEN
10 UNSERE MEDIZINISCHEN PROJEKTE
12 UNSERE PATIENT*INNEN
16 GESUNDHEITSZUSTAND
UNSERER PATIENT*INNEN
19 FOKUSTHEMA:
KREBSERKRANKUNGEN
21 FAZIT UND AUSBLICK 22 METHODIK 24 IMPRESSUM
14 LEBENSSITUATION
UNSERER PATIENT*INNEN
15 BARRIEREN UNSERER
PATIENT*INNEN IM GESUNDHEITSWESEN
INHALT
Titelbild: Beratung in der Anlaufstelle von open.med Berlin-Lichtenberg Foto: © Max Avdeev
4
HINTERGRUND Nicht alle in Deutschland lebenden Menschen sind
Solange Beitragsschulden bestehen, haben Versi-
krankenversichert. Und es gibt Menschen, die medizi-
cherte lediglich Anspruch auf einen reduzierten
nische Hilfe nicht in Anspruch nehmen können, ob-
Umfang an Leistungen. Aufgrund von Änderungen
wohl sie krankenversichert sind oder ein Recht auf
im Rahmen des GKV-Versichertenentlastungsge-
Kostenübernahme haben. Wie viele Menschen davon
setzes (SGB V §188, 191, 323) können Beitrags-
betroffen sind, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen
schulden gemeinsam mit anderen Faktoren trotz
von mehreren hunderttausend Personen aus. Ange-
Versicherungspflicht zu einem Ausschluss aus der
bote von Hilfsorganisationen sind für die betroffenen
gesetzlichen Krankenversicherung führen.
Personen oftmals die einzige Möglichkeit, sich medizinisch behandeln und beraten zu lassen. Dieser Be-
Migrant*innen aus EU-Mitgliedsstaaten
richt verdeutlicht die Barrieren, die es in Deutschland
Bei einem vorübergehenden Aufenthalt in
beim Zugang zum regulären Gesundheitssystem gibt,
Deutschland sollte die medizinische Versorgung
und zeigt, wie diese abgebaut werden können. Darü-
durch die Europäische Krankenversicherungskarte
ber hinaus wird anhand von Daten unserer
(EHIC) sichergestellt sein, sofern die Person in
Patient*innen die Lebenssituation und die gesund-
ihrem Heimatland versichert ist. Oft ist eine EHIC
heitliche Lage von Menschen ohne (ausreichenden)
jedoch nicht vorhanden. In der Praxis wird die EHIC
Krankenversicherungsschutz beschrieben, die in den
wegen Unsicherheit und einem erhöhten Aufwand
Datenquellen der amtlichen Gesundheitsberichter-
von Leistungserbringer*innen häufig nicht akzep-
stattung häufig nicht enthalten oder unterrepräsen-
tiert. Selbst wenn diese Art der Versicherung
tiert sind. Ziel dieses Berichts ist es, einen Beitrag
besteht und akzeptiert wird, ist eine Kostenüber-
dazu zu leisten, dass die aufgezeigten Barrieren
nahme nur bei unmittelbar erforderlichen medizi-
abgebaut und die Bedarfe der genannten Bevölke-
nischen Behandlungen möglich.
rungsgruppen von der Gesundheitspolitik hinreichend berücksichtigt werden. Dies soll dazu beitra-
Nicht-erwerbstätige EU-Bürger*innen, die mehr
gen, dass alle Menschen in Deutschland ihr Recht auf
als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre, in
Gesundheit verwirklichen können.
Deutschland gemeldet sind, sind seit dem Erlass
Wer hat aufgrund von gesetzlichen Regelungen keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung?
aus dem Jahr 2016 von Sozial- und Gesundheits-
des sogenannten Leistungsausschlussgesetzes leistungen weitestgehend ausgeschlossen (SGB II §7, SGB XII §23). Auch eine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung ist für sie ausgeschlossen (SGB V, § 5 Abs. 1 Nr. 13 i. V. m. § 5
Menschen ohne Krankenversicherung oder mit Beitragsschulden Unversicherte haben keinen Anspruch auf Kos-
Abs. 11). Sie können – für einen Monat und nur einmal innerhalb von zwei Jahren – sogenannte Überbrückungsleistungen erhalten, die auch
tenübernahme, wenn sie medizinische Dienst-
eingeschränkte Gesundheitsleistungen bei akuten
leistungen in Anspruch nehmen. Lediglich im
Krankheiten und Schmerzen enthalten. Kürzlich
Notfall oder bei nachgewiesener Mittellosigkeit
wurde jedoch vom Bundessozialgericht entschie-
kann das Sozialamt die Kosten tragen. Kinder,
den, dass Krankenhäuser im Härtefall auch nach
deren Eltern keine Krankenversicherung haben,
Ablauf dieses Monats Behandlungskosten vom
sind ebenfalls unversichert und haben keinen
Sozialamt erstattet bekommen
Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen und medizi-
(https://tinyurl.com/BSG-Urteil).
nischer Versorgung.
5
Menschen, die im Asylverfahren sind oder mit einer Duldung in Deutschland leben § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) beschränkt den Anspruch auf medizinische Leistungen auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände, Schwangerschaft und Geburt sowie Impfungen. Außer in Notfällen muss vor einem Arztbesuch in vielen Bundesländern ein Antrag auf Kostenübernahme beim Sozialamt gestellt werden. Andere Bundesländer und einzelne Kommunen haben hingegen die elektronische Gesundheitskarte für Asylsuchende eingeführt, die bürokratische Hürden senkt. Alle weiteren Gesundheitsleistungen können nach einer Einzelfallprüfung § 6 AsylbLG gewährt werden, wenn sie für die Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Die Behandlung chronischer und psychischer Krankheiten, Leistungen für Pflegebedürftige und Hilfen für Menschen mit Behinderung müssen für jeden Einzelfall in oft langwierigen Verfahren beantragt werden.
Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus
Behandlung in der Anlaufstelle von open.med Berlin-Lichtenberg Foto: © Max Avdeev
Für Menschen, die ohne gesetzlich vorgeschriebenen Aufenthaltstitel und ohne Duldung in Deutschland leben, besteht ebenfalls ein gesetzlicher Anspruch auf eingeschränkte Leistungen nach AsylbLG. Auch sie müssten einen Antrag auf Kostenübernahme beim Sozialamt stellen. Das Sozialamt ist jedoch aufgrund der sogenannten Übermittlungspflicht (AufenthG, § 87 Abs. 2) verpflichtet, die persönlichen Daten der Person an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Hiermit droht der betreffenden Person die Abschiebung. Nur bei einer stationären Notfallversorgung oder einer Entbindung im Krankenhaus gilt ein sogenannter verlängerter Geheimnisschutz, der verhindern soll, dass die Daten weitergegeben werden.
„MANCHMAL ERGREIFT UNS EINE ERDRÜCKENDE SCHWERE, WENN MENSCHEN, DIE SEHR LANGE KEINEN ARZT AUFSUCHEN KONNTEN, UNSERE RÄUME BETRETEN.“ Dr. Cevat Kara, Projektleiter
ZAHLEN AUF EINEN BLICK 6
2.324
Menschen
776
wurden im Jahr 2022 in unseren
Anlaufstellen und Behandlungsbussen medizinisch beraten.
behandelt und
Patient*innen
kamen im Jahr 2022 erstmalig
88 %
in unsere Projekte in Hamburg oder München und haben der Nutzung ihrer Daten für diesen Bericht zugestimmt.
der neuen Patient*innen waren
nicht krankenversichert.
98 %
10 %
der neuen Patient*innen hatten einen
eingeschränkten Krankenversicherungsschutz.
der neuen Patient*innen waren
von Armut betroffen.
18 %
der neuen Patient*innen lebten in Unterkünften für
Wohnungslose oder Asylsuchende.
34 %
der neuen Patient*innen
waren obdachlos.
7
57 %
der obdachlosen Patient*innen gaben an,
keine Person zu haben, die sie unterstützen kann.
10 %
79 %
benötigten
der neuen Patient*innen für die Behandlung und Beratung eine
Sprachmittlung.
der neuen Patient*innen hatten einen
ungeregelten Aufenthaltsstatus. Bei Erwachsenen waren
chronische Erkrankungen Bluthochdruck, Diabetes und Rückenschmerzen wie
die häufigsten
Behandlungsanlässe.
Bei Heranwachsenden waren
Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und Atemwegsinfektionen die häufigsten
Behandlungsanlässe.
Bei
Frauen gehörten
Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft zu den häufigsten
Behandlungsanlässen.
8
UNSERE POLITISCHEN FORDERUNGEN Ärzte der Welt e. V. fordert von der Bundesregierung eine Strategie, um das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen zu
3. Gesetzliche Einschränkungen im Zugang zu Krankenversicherung und medizinischer Versorgung aufheben
verwirklichen. Dies entspricht nicht nur den men-
Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, sicherzu-
schenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands,
stellen, dass alle Menschen in Deutschland Zugang zu
sondern trägt auch zur individuellen und öffentlichen
grundlegenden Gesundheitsdiensten haben, ohne
Gesundheit bei. Eine solche Strategie sollte folgende
dabei in finanzielle Nöte zu geraten. Einigen Bevölke-
Maßnahmen beinhalten:
rungsgruppen ist das nicht möglich, weil sie gesetz-
1. Gesundheitsförderliche Gesamtpolitik – gesunde Lebensbedingungen schaffen
tungen ausgeschlossen sind. Die Trennung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung lässt
Gesundheit zu fördern ist eine sektorenübergreifen-
weitere Lücken entstehen. Es braucht daher eine
de Aufgabe. Bei allen politischen Maßnahmen, ob im
Reform des aktuellen Krankenversicherungssystems
Bereich Arbeit, Migration, Wohnen oder Energie,
hin zu einer wirklich solidarischen, gesetzlichen Kran-
lich von der Krankenversicherung und von Sozialleis-
sollten immer auch die gesundheitlichen Folgen
kenversicherung, die alle in Deutschland lebenden
mitbedacht werden. Das ist der Kern des „Health in
Menschen einschließt, bedarfsgerecht versorgt und
all policies“-Ansatzes, zu dem sich die Bundesregie-
die durch alle nach ihren Möglichkeiten gerecht finan-
rung bekannt hat. Denn die sozialen Determinanten
ziert wird. Im Einzelnen fordern wir die Bundesregie-
von Gesundheit – also Wohn-, Arbeits- und Umwelt-
rung auf, das Recht auf Gesundheitsversorgung für
bedingungen – entscheiden maßgeblich über die
alle sicherzustellen, indem sie:
Gesundheitschancen. die Übermittlungspflichten nach § 87 AufenthaltsGesundheitsgefährdenden Lebensumständen muss
gesetz und § 11 AsylbLG so ändert, dass Men-
strukturell begegnet werden. Wir fordern eine natio-
schen ohne geregelten Aufenthaltsstatus nicht
nale Strategie zur Überwindung von Wohnungslo-
länger davon abgehalten werden, medizinische
sigkeit und Armut sowie eine Unterbringung von
Versorgung in Anspruch zu nehmen.
Wohnungslosen und Geflüchteten nach men-
die Sozialgesetze so anpasst, dass Migrant*innen
schenrechtlichen Standards. Unsere Forderungen
aus dem EU-Ausland nicht mehr von Leistungen
in Bezug auf die medizinische Versorgung und Unter-
(SGB II, § 7 und SGB XII, § 23) und der gesetzlichen
bringung von Asylsuchenden lesen Sie im Einzelnen in
Krankenversicherung (SGB V, § 5 Abs. 11 S. 2)
unserem Positionspapier:
ausgeschlossen und damit von Gesundheitsver-
aerztederwelt.org/
sorgung abgeschnitten sind.
position-gefluechtete-DE
2. Datenlage verbessern Um die Problematik sozialer Determinanten von
das Asylbewerberleistungsgesetz abschafft und alle geflüchteten Menschen von Beginn ihres Aufenthaltes an in die regulären Sozial- und Krankenversicherungssysteme integriert, wie es bei
Gesundheit und Barrieren im Zugang zu medizini-
den aus der Ukraine geflohenen Menschen gelun-
scher Versorgung besser zu erfassen und darauf
gen ist. Zumindest jedoch
basierend strukturelle Veränderung voranzubringen,
die Leistungseinschränkungen (AsylbLG, §§ 4
müssen geeignete Erhebungsinstrumente – in
und 6) abschafft und Gesundheitsleistungen
Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisa-
analog zur gesetzlichen Krankenversicherung
tionen und Betroffenengruppen – entwickelt werden,
gewährt.
die auch Menschen ohne Meldeadresse miteinschlie-
bundesweit die elektronische Gesundheitskarte
ßen. Die gewonnenen Daten müssen öffentlich zu-
für Geflüchtete einführt.
gänglich sein.
9
Protestaktion der Kampagne GleichBeHandeln vor dem Bundestag in Berlin Foto: © Peter Groth
den Mindestbeitragssatz zur freiwilligen gesetzli-
Um wirklich für alle zugänglich zu sein, muss das
chen Krankenversicherung für einkommens-
Angebot unabhängig von Sprachbarrieren, Versiche-
schwache Personengruppen so absenkt, dass
rungsstatus und Aufenthaltsstatus in Anspruch
niemand aufgrund von Armut von der Kranken-
genommen werden können und (psycho-)soziale,
versicherung ausgeschlossen bleibt.
aufenthalts- beziehungsweise krankenversiche-
die Notfallversorgung im Krankenhaus und ihre
rungsrechtliche Beratung mit pflegerischer und
Finanzierung auch für Menschen ohne Krankenver-
medizinischer Versorgung verbinden. Näheres zu
sicherungsschutz durch eine Reform der Nothilfer-
unseren Forderungen hier:
egelung (AsylbLG, § 6a AsylG und SGB XII, § 25)
aerztederwelt.org/
zuverlässig sichert. Siehe dazu:
position-primaerversorgung
aerztederwelt.org/ position-nothilfe-ohne-papiere
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) sollte dabei eine zentrale Rolle einnehmen. Hierfür sollte
4. Versorgung niedrigschwellig sicherstellen
Versorgungsstrukturen für Personengruppen, die
Solange kein diskriminierungsfreier Zugang zu Ge-
keinen Zugang zur Regelversorgung haben, Teil der
explizit auch der Aufbau von niedrigschwelligen
sundheitsversorgung sichergestellt ist, ist die bundes-
Aufgabenbeschreibung des ÖGD werden. Die Ge-
weite Einführung von Clearingstellen für Gesund-
sundheitsdienstgesetze jener Länder, die dies bislang
heit eine notwendige Maßnahme. Die Beratungsstel-
nicht vorsehen, sind entsprechend zu verändern.
len unterstützen Menschen auf ihrem Weg in das reguläre Gesundheitssystem, indem sie mit ihnen ihre Leistungsansprüche identifizieren und ihnen dabei
5. Diskriminierung und Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem abbauen
helfen, diese durchzusetzen. Solange keine Anbin-
Der Anspruch auf qualifizierte, bedarfsgerechte
dung im regulären Versorgungssystem hergestellt ist,
Sprachmittlung bei Gesundheitsversorgung muss im
sollten sie Kostenübernahmen für notwendige medi-
SGB V und SGB I und SGB X (analog SGB I, § 17 Absatz 2
zinische Behandlung, zum Beispiel in Form eines
und SGB X, § 19 Abs. 1 Satz 2) sowie im AsylbLG explizit
Anonymen Behandlungsscheins ausstellen können.
gesetzlich verankert werden, damit alle Menschen in
In mehreren Bundesländern und Kommunen existie-
Deutschland die Möglichkeit erhalten, sich mit den
ren derartige Projekte bereits, die sich aber in Ausge-
Leistungserbringenden verständigen zu können.
staltung, Ausstattung und Handlungsmöglichkeiten teils stark unterscheiden. Um ihre Qualität zu gewähr-
Damit das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
leisten, bedarf es bundesweit einheitlicher Mindest-
(AGG) auch eindeutig für die Bereiche Pflege und
standards und eine langfristige, stabile Finanzierung.
Gesundheitsversorgung gilt und sich Patient*innen
Unsere Empfehlungen:
wirksam gegen Diskriminierung wehren können,
aerztederwelt.org/
muss gesetzlich klargestellt werden, dass der medizi-
position-clearingstellen
nische Behandlungsvertrag (BGB, § 630a) in den Anwendungsbereich des AGG, § 19 Absatz 1 fällt.
Um den barrierearmen Zugang zu Gesundheitsförderung, -vorsorge und -versorgung für alle zu er-
Jenseits gesetzlicher Veränderung bedarf es gezielter
möglichen, sind niedrigschwellige Primärversor-
Maßnahmen, um Diskriminierungen im Gesund-
gungsstrukturen aufzubauen und barrierearme
heitssektor zu bekämpfen. Antidiskriminierungs-
Informationen bereitzustellen. Die von der Bundes-
trainings, Ombudspersonen und Meldesysteme
regierung geplanten Gesundheitskioske und Pri-
sollten in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens
märversorgungszentren sind ein wichtiger Schritt.
eingeführt werden.
10
UNSERE MEDIZINISCHEN PROJEKTE In Deutschland bietet Ärzte der Welt e. V. in seinen open.med Projekten in Berlin, Hamburg, München und Stuttgart kostenlose medizinische Hilfe und soziale Beratung für Menschen an, die keinen oder Foto: © Ärzte der Welt
nur einen eingeschränkten Zugang zum regulären Gesundheitssystem haben. Bei Bedarf wird eine Sprachmittlung eingesetzt. Ziel der Projekte ist es, strukturelle Lücken im Gesundheitssystem zu überbrücken und die Patient*innen langfristig in die medizinische Regelversorgung zu (re-)integrieren. Das Angebot beruht auf dem Engagement zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeitenden. Im Jahr 2022
Hamburg
wurden in den open.med Projekten in 7.229 Konsul-
Open.med im westend ist eine medizinische Anlauf-
tationen insgesamt 2.324 Menschen behandelt und
stelle im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Ärzte
beraten. Im Folgenden werden die einzelnen Projek-
der Welt betreibt sie in Kooperation mit dem Träger
te vorgestellt und wichtige Entwicklungen aus dem
hoffnungsorte hamburg. Im Jahr 2022 wurden insge-
Jahr 2022 berichtet.
samt 307 Patient*innen behandelt und beraten. Das Team umfasste neben zwei hauptamtlichen Refe rent*innen und einem Sozialarbeiter rund 20 Ehrenamtliche, die dafür sorgten, dass auch Menschen ohne (ausreichenden) Krankenversicherungsschutz medizinische Versorgung erhielten. Die häufigsten
Foto: © Max Avdeev
Staatsangehörigkeiten der Patient*innen waren bulgarisch (63 %), rumänisch (7 %) und ghanaisch (5 %). Durch die Armutsbetroffenheit und prekären Lebensumstände befanden sich die Patient*innen oftmals in sehr problematischen Situationen, die mit
Berlin
einem umfassenden Beratungsbedarf einhergingen. Im Jahr 2022 sollte mit dem Ausbau des sozialen
Die medizinische Anlaufstelle von open.med in Berlin
Beratungsangebotes die Nachhaltigkeit und die
befindet sich im Bezirk Lichtenberg (seit Juni 2023).
Wirkung für den Einzelnen noch stärker in den Blick
Die ehemalige Anlaufstelle im Bezirk Steglitz-Zehlen-
genommen werden. Seit August 2022 konnten die
dorf wird seit April 2022 von Medizin Hilft e. V. mit
Anliegen der Ratsuchenden somit noch zielgerichte-
Unterstützung eines neuen Partners weitergeführt.
ter, insbesondere durch die Vereinbarung von Folge-
Von Januar bis Mitte März wurden dort mit Unterstüt-
Beratungseinheiten, bearbeitet werden. Insgesamt
zung von Ärzte der Welt 177 Patient*innen behandelt
konnten 25 Patient*innen in das reguläre Gesund-
und beraten. Die häufigsten Staatsangehörigkeiten
heitssystem (re-)integriert werden.
der Patient*innen waren deutsch (32 %), serbisch (12 %) und vietnamesisch (6 %). Des Weiteren wurde im Rahmen des Projektes moving.clinic von Juni 2022 bis Januar 2023 in einem umgebauten Linienbus (Medibus) medizinische Behandlung und Beratung an Unterkünften für Geflüchtete angeboten. Dabei wurden 324 Asylsuchende behandelt. Die häufigsten Patient*innengruppen waren Asylsuchende aus Moldawien (26 %), Afghanistan (12 %) und Syrien (11 %).
Foto: © Ärzte der Welt
Foto: © Ärzte der Welt
11
München
Stuttgart
Das Projekt open.med München umfasst eine medizi-
Das Projekt MedMobil Stuttgart sucht mit einem
nische Anlaufstelle und einen Behandlungsbus. Der
Behandlungsbus öffentliche Plätze und Einrichtungen
Behandlungsbus ist am Hauptbahnhof und an einer
auf, die häufig von wohnungslosen und drogenge-
Notunterkunft für Wohnungslose der Stadt München
brauchenden Menschen genutzt werden. Die Ambu-
im Einsatz. Im Jahr 2022 wurden insgesamt 931
lante Hilfe Stuttgart e. V. führt das Projekt in Koopera-
Patient*innen behandelt und beraten. In den vergan-
tion mit Ärzte der Welt durch. Im Jahr 2022 nahmen
genen Jahren ist die Nachfrage bei den Einsätzen und
insgesamt 585 Menschen das Angebot in Anspruch.
Sprechstunden deutlich gestiegen. So haben sich
Der größte Anteil der Patient*innen kam aus osteuro-
beispielsweise die medizinischen Konsultationen in
päischen Staaten (47 %). 36 % der Patient*innen
den Kindersprechstunden von 2020 bis 2022 fast
hatten die deutsche Staatsbürgerschaft und 11 % der
verdreifacht. Aufgrund der hohen Anzahl an Geflüch-
Patient*innen kamen aus Staaten außerhalb der EU.
teten aus der Ukraine wurden im Jahr 2022 am
Anhand der Anzahl der Patient*innen mit deutscher
Hauptbahnhof 13 Sondereinsätze durchgeführt. Zu
Staatsbürgerschaft zeigt sich, dass neben einem
den häufigsten Staatsangehörigkeiten der Patient*in
fehlenden oder eingeschränkten Krankenversiche-
nen im Behandlungsbus gehörte daher neben der
rungsschutz auch allein die Lebenslage wohnungs
bulgarischen (29 %) und rumänischen (24 %) zum
loser und drogengebrauchender Menschen den
ersten Mal die ukrainische (12 %). In der Anlaufstelle
Zugang zum regulären Gesundheitssystem verhin-
kamen die Patient*innen am häufigsten aus Bulgari-
dern kann.
en (20 %), Rumänien (11 %) und Deutschland (10 %). Bürokratische Hürden führten dazu, dass auch ehemalige afghanische Ortskräfte überbrückungsweise die medizinische Versorgung von open.med in Anspruch nehmen mussten. Seit dem Jahr 2021 kommen auch immer mehr Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus aus Vietnam in die Praxis. Herausfordernd war im Jahr 2022 die hohe Anzahl schwerer Fälle und damit einhergehend die hohe Komplexität der medizinischen und sozialrechtlichen Betreuung (auch in Zusammenarbeit mit der Clearingstelle Gesundheit von Condrobs e. V.). Durch die Unterstützung von open.med München konnten mindestens 66 Patient*innen in das reguläre Gesundheitssystem (re-)integriert werden.
12
UNSERE PATIENT*INNEN In unseren Projekten werden Menschen unabhängig
Das Alter der Patient*innen lag zwischen 0 und 78
von Herkunft, Alter, sexueller Orientierung und ge-
Jahren. 16 % der Patient*innen waren minderjährig,
schlechtlicher Zugehörigkeit medizinisch versorgt und
darunter 58 Kinder unter 5 Jahren. Etwa ein Fünftel
sozial beraten. Dieses und die folgenden Kapitel
(18 %) der Patient*innen befand sich im jungen Er-
werfen ein Schlaglicht darauf, wer unsere Angebote
wachsenenalter (18-29 Jahre). Die Mehrheit der Per-
in Anspruch nimmt, warum diese Menschen keinen
sonen, die im Jahr 2022 erstmalig unsere Projekte
oder nur einen eingeschränkten Zugang zum regulä-
aufsuchten, waren Erwachsene zwischen 30 und
ren Gesundheitssystem haben und wie es ihnen
64 Jahren (60 %). Ältere Menschen nahmen unsere
gesundheitlich geht. Hierfür haben wir die Daten von
Angebote hingegen nur selten in Anspruch (6 %).
776 Patient*innen ausgewertet, die im Jahr 2022 erstmalig in unseren Projekten in Hamburg oder
Staatsangehörigkeit
München medizinisch versorgt wurden und der Nut-
In unseren Projekten wurden im Jahr 2022 Menschen
zung ihrer Daten zugestimmt haben. Die Daten der
aus 79 Ländern erstmalig beraten und behandelt.
Patient*innen aus Berlin und Stuttgart konnten aus
Fast die Hälfte (49 %) der Patient*innen waren Staats-
projektspezifischen Gründen nicht in die Auswertung
angehörige anderer EU-Mitgliedsländer beziehungs-
einbezogen werden.
weise des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder der Schweiz (siehe Grafik 2). Am häufigsten kamen
Geschlecht und Alter
die Patient*innen aus Bulgarien (21 %), der Ukraine
Im Jahr 2022 haben etwas mehr männliche als weibli-
(12 %), aus Rumänien (9 %) oder aus Afghanistan
che Patient*innen erstmalig unsere Projekte aufge-
(8 %). Etwa 7 % der Patient*innen hatten die deutsche
sucht (55 % vs. 45 %). Zwischen den Altersgruppen
Staatsbürgerschaft. Bei 44 % der Patient*innen han-
variieren die Anteile jedoch deutlich (siehe Grafik 1).
delte es sich um Drittstaatsangehörige.
Im Kindes- und Jugendalter sowie im jungen Erwachsenenalter nahmen mehr weibliche als männliche Patient*innen unsere Angebote in Anspruch, danach hingegen mehr Männer als Frauen.
Anteil (%) 40
Grafik 1: Patient*innen nach
36
Altersgruppe und Geschlecht
32
30 25
24
20
(n=776; 349 weiblich, 427 männlich)
26
18 14
13
10
7
5
weiblich männlich
0 0-17
18-29
30-44 Alter (in Jahren)
45-64
65+
13
Ablauf des Patientenkontakts
Datenerhebung Patient*innen
Anlaufstelle oder Behandlungsbus
Anmeldung
Sozialanamnese und Beratung
Medizinische Visite
Weitervermittlung
zu Fachärzten oder anderen Hilfsangeboten
Aufenthaltsstatus
keit nicht erfüllten, zum Beispiel weil sie sich länger
Ein Blick auf den Aufenthaltsstatus der Patient*innen
als drei Monate in Deutschland aufhielten und nicht
zeigt, dass es sich bei 71 % der Patient*innen um
regulär erwerbstätig waren. Bei 10 % der Patient*in
deutsche Staatsangehörige, EU-Bürger*innen, die die
nen handelte es sich um Drittstaatsangehörige ohne
Voraussetzungen der Freizügigkeit erfüllten, oder
geregelten Aufenthaltsstatus, also um Personen
Drittstaatsangehörige mit gültigem Aufenthaltstitel
ohne gültigen Aufenthaltstitel oder Duldung. 4 % der
handelte (siehe Grafik 3). Weitere 11 % waren EU-
Patient*innen waren Asylbewerber*innen und gedul-
Bürger*innen, die die Voraussetzungen der Freizügig-
dete Personen.
Grafik 2: Patient*innen nach
Grafik 3: Patient*innen nach
Staatsangehörigkeit (n=775)
Aufenthaltsstatus (n=776)
7%
4%
3%
10 % 35 % 44 % 11 %
49 % 36 % Deutsche Staatsangehörige EU-/EWR-/Schweiz-Staatsangehörige Drittstaatsangehörige
Deutsche Staatsangehörige und Personen mit gültigem Aufenthaltstitel EU-Bürger*innen mit Voraussetzungen der Freizügigkeit EU-Bürger*innen ohne Voraussetzungen der Freizügigkeit Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus Asylbewerber*innen und geduldete Personen Personen mit unbekanntem Aufenthaltsstatus
14
LEBENSSITUATION UNSERER PATIENT*INNEN Die meisten Menschen, die unsere Angebote in An-
Rente beziehungsweise Pension die Haupteinnahme-
spruch nehmen, befinden sich in prekären Lebensla-
quelle. Bei einem Drittel (32 %) der Patient*innen traf
gen. Hierzu gehören monetäre Armut, ungesicherte
keine der genannten Angaben zu. Diese bestritten
Einkommens- und Wohnverhältnisse sowie das Feh-
ihren Lebensunterhalt zum Beispiel durch Erspartes
len von sozialen Kontakten, die sie unterstützen
oder die Angebote karitativer Einrichtungen.
könnten. Im Folgenden wird die Lebenssituation der Menschen beschrieben, die im Jahr 2022 erstmalig
Prekäre Wohnverhältnisse
unsere Projekte aufgesucht haben.
Neun von zehn (88 %) unserer Patient*innen lebten
Armut
Ein Drittel (34 %) der Patient*innen war obdachlos,
in ungesicherten Wohnverhältnissen (siehe Grafik 4).
Fast alle neuen Patient*innen (98 %) waren von mo-
lebte also auf der Straße oder in Notunterkünften.
netärer Armut betroffen. Das heißt, dass ihnen pro
Bei Patient*innen aus anderen EU-Mitgliedsländern
Monat weniger als 60 % des mittleren Einkommens
waren es sogar mehr als die Hälfte (56 %). 18 % der
der Gesamtbevölkerung in Deutschland zur Verfü-
Patient*innen hatten eine temporäre Unterkunft
gung stand. Laut dem Mikrozensus waren in Deutsch-
(zum Beispiel in einer Einrichtung für Wohnungslose
land im Jahr 2022 etwa 15 % der Gesamtbevölkerung
oder Asylsuchende). Ein Drittel (35 %) der Patient*in nen übernachtete bei Freund*innen, der Familie oder
von monetärer Armut betroffen.
am Arbeitsplatz. Bei Drittstaatsangehörigen waren es
Unsicherer Lebensunterhalt
fast die Hälfte (49 %). Nur 12 % aller Befragten gaben
Ein Drittel (34 %) der Patient*innen gab an, haupt-
an, als Besitzer*in oder Mieter*in im eigenen Wohn-
sächlich von der Unterstützung durch Angehörige zu
raum zu leben.
leben. Etwa 14 % der Patient*innen bezogen ihr Einkommen aus irregulären Arbeiten. Bei 8 % der Befrag-
Fehlende soziale Unterstützung
ten waren Flaschensammeln oder Betteln die Haupt-
Mehr als ein Viertel (28 %) der Patient*innen gab an,
einnahmequellen. Von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld
dass sie keine Person hätten, der sie vertrauen könn-
oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsge-
ten, die sie emotional unterstütze und ihnen Hilfe
setz lebten 6 % der Patient*innen. Bei weiteren 6 %
biete, wenn sie es bräuchten. Bei Obdachlosen waren
der Befragten war eine reguläre Arbeit oder eine
es sogar mehr als die Hälfte (57 %).
Grafik 4: Patient*innen nach Wohnsituation (n=756) 12 %
34 %
Auf der Staße oder in Notunterkünften Campieren oder Übernachten in leerstehenden Gebäuden Wohnungsloseneinrichtung, Asylbewerberheim etc.
35 % 1% 18 %
Bei Freund*innen, Familie oder am Arbeitsplatz Besitz oder Miete eines eigenen Wohnraums
15
BARRIEREN UNSERER PATIENT*INNEN IM GESUNDHEITSWESEN Jeder Mensch in Deutschland hat das Recht auf Ge-
Ungeregelter Aufenthaltsstatus
sundheit. Hierzu gehört auch ein diskriminierungs-
Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus haben
freier Zugang zu medizinischer Versorgung. In
grundsätzlich das Recht auf eingeschränkte medizini-
Deutschland gibt es jedoch Barrieren, die eine be-
sche Leistungen. Diese werden häufig jedoch nicht in
darfsgerechte medizinische Versorgung erschweren
Anspruch genommen, da ihnen bei der Kostenerstat-
oder verhindern. Neun von zehn (91 %) unserer neu-
tung aufgrund der gesetzlichen Übermittlungspflicht
en Patient*innen, die Angaben dazu machten, berich-
die Abschiebung droht. Insgesamt hatten 10 % der
teten, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten auf
Patient*innen einen ungeregelten Aufenthaltsstatus,
medizinische Versorgung verzichtet hätten, obwohl
befanden sich also ohne gültigen Aufenthaltstitel oder
sie krank waren. Im Folgenden werden die Barrieren
Duldung in Deutschland.
aufgezeigt, die unsere Patient*innen am Zugang zu
Unzureichende Sprachkenntnisse
medizinischer Versorgung hinderten.
Für die Kommunikation mit Ärzt*innen und anderem
Kein (ausreichender) Krankenversicherungsschutz
Gesundheitspersonal sind ausreichende Sprach-
Ein fehlender oder unzureichender Krankenversiche-
Sind diese nicht vorhanden, kann sich eine Barriere
kenntnisse oder eine Sprachmittlung erforderlich.
rungsschutz kann dazu führen, dass Menschen dar-
im Zugang zu medizinischer Versorgung ergeben. Bei
auf verzichten, gesundheitliche Leistungen in An-
vier von fünf (79 %) unserer neuen Patient*innen
spruch zu nehmen. Insgesamt waren 88 % unserer
musste für die Behandlung und Beratung eine Sprach-
neuen Patient*innen nicht krankenversichert (siehe
mittlung eingesetzt werden.
Grafik 5). Weitere 10 % der Patient*innen waren krankenversichert, hatten aber nur Anspruch auf
Unzureichendes Wissen
eingeschränkte medizinische Leistungen. Hierzu
Mehr als die Hälfte (57 %) unserer neuen Patient*in
gehörten unter anderem Krankenversicherte mit
nen gab an, dass sie fehlendes Wissen über das
Beitragsschulden und Asylsuchende.
Gesundheitssystem beziehungsweise über die eigenen Leistungsansprüche am Zugang zu medizinischer Versorgung hinderte.
Grafik 5: Patient*innen nach Krankenversicherungsschutz (n=758) 10 %
2%
Bürokratische Prozesse Ein Viertel (23 %) unserer neuen Patient*innen berichtete, dass sie administrative Probleme oder Schwierigkeiten mit dem Sozialamt beziehungsweise der Krankenkasse als Barriere im Zugang zu medizinischer Versorgung erlebten.
Kein Krankenversicherungsschutz Eingeschränkter Krankenversicherungsschutz Regulärer Krankenversicherungsschutz 88 %
16
GESUNDHEITSZUSTAND UNSERER PATIENT*INNEN Die Gründe, warum Menschen medizinische Hilfe bei
Gesundheitszustand „In Ordnung“ beziehungsweise
uns suchen, sind vielfältig und unterscheiden sich
„Schlecht oder sehr schlecht“ sei. Beide Anteile stie-
unter anderem nach deren Alter, Geschlecht und
gen mit fortschreitendem Alter.
Lebenssituation. Dieses Kapitel gibt einen Überblick bedarfe unserer neuen Patient*innen aus dem Jahr
Ärztlich festgestellter Gesundheitszustand
2022. Das nächste Kapitel richtet den Fokus auf
In unseren medizinischen Visiten werden die ärztli-
Patient*innen mit Krebserkrankungen, um zu ver-
chen Diagnosen und Behandlungsanlässe anhand
deutlichen, welche Barrieren es in Deutschland für
eines internationalen Klassifikationssystems (ICD-10)
über den Gesundheitszustand und die Behandlungs-
Menschen mit schweren Erkrankungen im Zugang zu
dokumentiert. Im Folgenden werden die zwölf häu-
gesundheitlicher Versorgung gibt und welche Folgen
figsten Diagnosen beziehungsweise Diagnosegruppen
diese haben können.
der ersten medizinischen Visite der neuen Patient*in
Selbsteingeschätzter Gesundheitszustand
Diese entsprechen etwa 80 % aller Diagnosen aus
Wenn Menschen das erste Mal zu uns kommen, wer-
ist zu berücksichtigen, dass in basismedizinischen
den sie unter anderem gefragt, wie sie ihren allge-
Sprechstunden schwer zu diagnostizierende Erkran-
nen aus dem Jahr 2022 beschrieben (siehe Grafik 7). den Erstvisiten. Bei der Interpretation der Ergebnisse
meinen Gesundheitszustand einschätzen. Etwa die
kungen (zum Beispiel psychische Störungen) und
Hälfte (56 %) der neuen Patient*innen schätzte ihren
tendenziell erst bei Folgeuntersuchungen erkannte
allgemeinen Gesundheitszustand als gut oder sehr
Krankheiten (zum Beispiel Krebs) untererfasst sein
gut ein. Mit zunehmendem Alter sank der Anteil von
können.
81 % bei den unter 18-Jährigen auf etwa 40 % bei den über 44-Jährigen (siehe Grafik 6). Jeweils 22 % der Patient*innen berichteten, dass ihr allgemeiner
Anteil (%) 100 80
8 11
Grafik 6: Patient*innen nach 20
22 36
17
60
allgemeinen Gesundheitszustand (n=371)
33
81 63
20 0
selbsteingeschätztem
25 27
40
26
53
37
41
45-64
65+
Schlecht oder sehr schlecht In Ordnung Gut oder sehr gut
0-17
18-29
30-44 Alter (in Jahren)
17
SARS-CoV-2-Tests
8
Psychische Störungen
6
Verletzungen und Vergiftungen
6
Untersuchungen und Impfungen
4
Schwangerschaftsuntersuchungen
4
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
5
Haut und Unterhaut
5
Stoffwechsel
5
Atmungssystem
7
Verdauungssystem
9
Muskel-Skelett-System
9
Herz-Kreislauf-System
14 0
5
Anteil (%)
10
15
Grafik 7: Die zwölf häufigsten Diagnosegruppen bei der ersten medizinischen Visite (n=1.315 Diagnosen)
Herz-Kreislauf-System
Muskel-Skelett-System
Etwa jede siebte (14 %) Diagnose bei der Erstvisite
Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems machten
betraf das Herz-Kreislauf-System (ICD-10: I00-I99,
9 % der Diagnosen aus (ICD-10: M00-M99). Bei Heran-
R00-R09). Mit fortschreitendem Alter stieg der Anteil
wachsenden und jungen Erwachsenen im Alter von
von 5 % bei den 0- bis 17-Jährigen auf 39 % bei den
18 bis 29 Jahren wurden mit 2 % beziehungsweise 6 %
über 64-Jährigen (siehe Grafik 8). Bei fast der Hälfte
etwas seltener muskoskelletale Probleme diagnosti-
(49 %) der Herz-Kreislauf-Diagnosen handelte es sich
ziert als in den höheren Altersgruppen (10-12 %). Fast
um Bluthochdruck (ICD-10: I10-I15).
jede zweite (46 %) Muskel-Skelett-Diagnose bezog sich auf Rückenschmerzen (ICD-10: M54).
Verdauungssystem
Anteil (%) 40
39
8
Fast jede zehnte (9 %) Diagnose entfiel auf Erkrankungen des Verdauungssystems (ICD-10: K00-K93, R10R19). Zwischen den Altersgruppen unterschieden sich
30
die Anteile nur geringfügig. 22
Atmungssystem
20
Etwa 7 % der Diagnosen bezogen sich auf Atemweg10
5
6
serkrankungen (ICD-10: J00-J99). Bei Heranwachsen-
8
den waren Atemwegserkrankungen mit 17 % die zweithäufigste Diagnosegruppe. Dabei handelte es
0 0-17
18-29
30-44
45-64
65+
Alter (in Jahren)
Grafik 8: Anteil der Diagnosen, die das Herz-Kreislauf-System betreffen, an allen bei der Erstvisite gestellten Diagnosen (n=1.315 Diagnosen)
sich fast immer um akute Atemwegsinfektionen. In den höheren Altersgruppen beliefen sich die Anteile auf 4-7 %. COVID-19-Infektionen (ICD-10: U07.1) machten 1 % der Diagnosen bei der Erstvisite aus.
18
Stoffwechsel
Untersuchungen und Impfungen
Auf Erkrankungen des Stoffwechsels entfielen 5 % der
Allgemeine Untersuchungen und Impfungen machten
Diagnosen (ICD-10: E00-E90). Ältere Patient*innen
4 % der Diagnosen aus (ICD-10: Z00-Z04, Z23-Z28).
hatten deutlich häufiger Stoffwechselprobleme als
Diese waren bei Heranwachsenden mit 23 % die
jüngere: Bei 45- bis 64-Jährigen und über 64-Jährigen
häufigste Diagnosegruppe. Ältere Patient*innen
betraf etwa jede zehnte (9 % beziehungsweise 11 %)
wiesen hingegen nur selten entsprechende Behand-
Diagnose den Stoffwechsel. Meistens wurde dabei
lungsanlässe auf (0-2 %).
Diabetes diagnostiziert. In den jüngeren Altersgrup-
Verletzungen und Vergiftungen
pen betrugen die Anteile 0-2 %.
Insgesamt 6 % der Diagnosen waren Verletzungen
Haut und Unterhaut
und Vergiftungen zuzuordnen (ICD-10: S00-T98). Mit
Bei weiteren 5 % der Diagnosen handelte es sich um
Abstand am höchsten war der Anteil mit 17 % bei
Hautprobleme (ICD-10: L00-L99). Hierzu gehörten
jungen Männern im Alter von 18 bis 29 Jahren.
unter anderem Infektionen und Entzündungen der Haut. Zwischen den Altersgruppen unterschieden
Psychische Störungen
sich die Anteile nur geringfügig.
Etwa 6 % der Diagnosen betrafen psychische Störun-
Infektiöse und parasitäre Krankheiten
wachsenden und über 64-Jährigen fielen die Anteile
Ebenfalls 5 % der Diagnosen entfielen auf bestimmte
mit jeweils 1 % deutlich niedriger aus als in den ande-
infektiöse und parasitäre Erkrankungen (ICD-10:
ren Altersgruppen mit 6-8 %.
gen und Erkrankungen (ICD-10: F00-F99). Bei Heran-
A00-B99). Ausgeprägte altersspezifische Unterschiede
SARS-CoV-2-Tests
in den Anteilen waren nicht zu beobachten.
Testungen auf SARS-CoV-2 machten 8 % der Diagno-
Schwangerschaftsuntersuchungen
sen aus (ICD-10: U99). Bei Heranwachsenden waren
Bei Frauen bezogen sich 10 % der Diagnosen auf
SARS-CoV-Testungen mit 15 % die dritthäufigste
Untersuchungen in Zusammenhang mit einer
Diagnosegruppe.
Schwangerschaft (ICD-10: Z30-Z39). Angaben zur Dauer der Schwangerschaft lagen für 53 Frauen vor.
Chronische Erkrankungen
Im Durchschnitt kamen diese in der 16. Schwanger-
Wenn eine Krankheit länger als sechs Monate andau-
schaftswoche das erste Mal zu uns.
ert oder andauern wird, klassifizieren unsere Ärzt*innen diese als chronisch. Insgesamt handelte es sich bei fast einem Drittel (32 %) der Diagnosen um chronische Erkrankungen – darunter am häufigsten um Bluthochdruck, Diabetes und Rückenschmerzen. Mit fortschreitendem Alter stieg der Anteil von 6 % bei 0- bis 17-Jährigen auf 54 % bei über 64-Jährigen (siehe Grafik 9).
Anteil (%) 60
8
54 49
50 40 29
30
chronische Beschwerden festgestellt
19
20 10
Grafik 9: Anteil der Diagnosen, bei denen wurden, an allen bei der Erstvisite gestellten Diagnosen (n=1.315 Diagnosen)
6
0
0-17
18-29
30-44
45-64
Alter (in Jahren)
65+
19
FOKUSTHEMA: KREBSERKRANKUNGEN In unseren Projekten werden regelmäßig Menschen
die weiterführende Diagnostik in einer Klinik organi-
mit schweren Erkrankungen vorstellig, deren adäqua-
siert. Als wir die Patientin dorthin begleiteten, wur-
te Versorgung und Beratung für unsere Teams eine
den wir zunächst abgewiesen, weil die Patientin
große Herausforderung darstellen. Hierzu gehören
keine Krankenversicherung hatte und das Personal
unter anderem Krebserkrankungen, deren Diagnostik
bei der Anmeldung in der Klinik nicht wusste, wie die
und Therapie in der Regel aufwändig und teuer sind.
Behandlung von Patient*innen abgerechnet werden
Darüber hinaus können präventive Maßnahmen
soll, deren Kosten von einer Clearingstelle übernom-
bestimmte Krebsarten verhindern beziehungsweise
men werden. Nach einigen Gesprächen wurde
deren Heilungschancen durch eine frühzeitige Erken-
Frau A. letztlich aufgenommen und die Diagnostik
nung erhöhen. Ein eingeschränkter Zugang zu prä-
durchgeführt.
ventiven Leistungen und medizinischer Versorgung kann somit schwerwiegende gesundheitliche Folgen
Einen Tag später musste Frau A. aufgrund starker
für die Betroffenen haben. Dies soll im Folgenden
Beschwerden erneut ins Krankenhaus, wo es zu-
anhand von Fallbeispielen aus unseren Projekten
nächst wieder hieß, dass sie aufgrund des fehlenden
verdeutlicht werden.
Krankenversicherungsschutzes nicht behandelt werden kann, es sei denn, sie hinterlegt 300,- Euro
rau A., 32 Jahre, F Gebärmutterhalskrebs Als Frau A. unseren Behandlungsbus aufsuchte, klag-
als Sicherheitsleistung. Wir haben das Klinikpersonal darauf hingewiesen, dass sie verpflichtet sind, die Patientin zu behandeln, da es sich um einen Notfall
te sie über starke Regelblutungen und Bauchschmer-
handelte. Frau A. erhielt daraufhin mehrere Strah-
zen. Frau A. stammte aus Rumänien und kam regel-
lentherapien, ihr Gesundheitszustand verschlechter-
mäßig zum Arbeiten nach Deutschland. Eine Kranken-
te sich aber zunehmend. Wenige Wochen später
versicherung hatte sie weder in Deutschland noch in
verstarb sie an ihrem Krebsleiden.
Rumänien. Vor einigen Jahren war sie zeitweise in Deutschland krankenversichert.
HPV-Impfung Zwei Tage bevor Frau A. zu uns kam, wurde der
Eine Impfung gegen humane Papillomviren
Rettungsdienst in die Notunterkunft gerufen, in der
(HPV) kann Gebärmutterhalskrebs verhindern.
sie zu diesem Zeitpunkt lebte. Dieser führte die
Krankenversicherte können sich im Kindes-
Beschwerden auf die Periode zurück – allerdings
und Jugendalter sowie häufig auch im Erwach-
ohne die Patientin zu untersuchen. Nach unserer
senenalter kostenlos gegen HPV impfen lassen.
medizinischen Visite wiesen wir die Patientin als Notfall in ein Krankenhaus ein. Dort wurde festgestellt, dass sie Gebärmutterhalskrebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Wir haben uns daraufhin um die Übernahme der Behandlungskosten durch die Clearingstelle gekümmert und einen Termin für
20
Gesetzliches Krebsfrüherkennungsprogramm
Herr Z., 72 Jahre, Darmkrebs Herr Z. meldete sich telefonisch in unserer Praxis.
In Deutschland gibt es ein gesetzliches Krebs-
Er klagte über Schmerzen im und Blutungen aus dem
früherkennungsprogramm. Dieses beinhaltet
Verdauungstrakt. Da er keine Krankenversicherung
Früherkennungsuntersuchungen für Brust-
hatte, konnte Herr Z. keine reguläre Gesundheitsver-
krebs, Darmkrebs, Gebärmutterhalskrebs,
sorgung in Anspruch nehmen. Herr Z. war deutscher
Hautkrebs und Prostatakrebs. Für Krankenver-
Staatsbürger und arbeitete selbstständig im IT-/
sicherte sind diese Angebote in der Regel
EDV-Bereich. Ursprünglich hatte Herr Z. eine private
kostenlos.
Krankenversicherung. Diese verlor er vor 20 Jahren aufgrund von Beitragsschulden. Wir informierten Herr Z., dass er bei starken Be-
rau M., 50 Jahre, F Brustkrebs
schwerden den Notarzt rufen könne, und baten ihn, zeitnah in unsere Praxis zu kommen. Eine Woche
Frau M. kam wegen Brustschmerzen in unsere Praxis.
später kam Herr Z. in unsere Sprechstunde, wo unter
Etwa 10 Jahre zuvor ist Frau M. von Bulgarien nach
anderem eine Blutprobe entnommen wurde. Diese
Deutschland gezogen. Ihren Lebensunterhalt bestritt
ergab einen bedrohlich niedrigen Hämoglobinwert,
sie durch irreguläre Beschäftigungen ohne Arbeits-
woraufhin wir dem Patienten empfahlen, schnellst-
verträge. Eine Krankenversicherung hatte sie weder
möglich ein Krankenhaus aufzusuchen. Mit Zustim-
in Deutschland noch in Bulgarien.
mung von Herrn Z. veranlassten wir die Einweisung in die Notaufnahme. Dort wurde eine Darmkrebser-
In unserer medizinischen Visite wurde bei der Pati-
krankung diagnostiziert.
entin ein Knoten in der Brust ertastet. Daraufhin wurden eine Röntgenuntersuchung und eine Gewe-
Herr Z. verbrachte zehn Wochen im Krankenhaus,
beentnahme in kooperierenden Einrichtungen ver-
wo die Krebserkrankung mit einer Chemo- und einer
anlasst. Die entnommene Gewebeprobe enthielt
Strahlentherapie sowie mit einem operativen Eingriff
Krebszellen, die eine Operation zur Entfernung der
behandelt wurde. Danach wurde er nach Hause
betroffenen Brustteile notwendig machten. Auf-
entlassen und berichtete, dass seine neue Betreue-
grund von Komplikationen nach der ersten Operati-
rin sich darum kümmert, dass er in die Krankenver-
on musste die Patientin ein weiteres Mal operiert
sicherung reintegriert wird.
werden. Die Nachsorge für die Operationen erfolgte in unserer Praxis. Unser Team organisierte die Termine für die Behandlung der Patientin und kümmerte sich um die Sprachmittlung. Die Clearingstelle übernahm die Kosten für die Gewebeentnahme und die Operationen. Die Kosten für die Hormonbehandlung konnten weder von der Clearingstelle noch von der Patientin aufgebracht werden. Deswegen übernahmen wir die Kosten vorübergehend. Laut ihrer Schwester hat sich Frau M. letztlich entschieden, nach Bulgarien zu ziehen, wo sie eine Chemotherapie bekam. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich aber weiter.
„ OFFIZIELL BIN ICH NUN AUCH WIEDER EIN MENSCH.“ Zitat von Herrn Z.
21
FAZIT UND AUSBLICK Nach wie vor gibt es in Deutschland gesetzliche Rege-
Empfang in der Anlaufstelle von open.med Berlin-Lichtenberg Foto: © Max Avdeev
keinen festen Wohnsitz. Menschen ohne festen Wohn-
lungen, die den Zugang zu präventiven Leistungen und
sitz haben häufig keinen oder nur einen erschwerten
medizinischer Versorgung erschweren oder verhin-
Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Gründe hier-
dern. Hinzu kommen weitere Barrieren wie Sprachbar-
für sind unter anderem bürokratische Barrieren, Stig-
rieren, Diskriminierung, Stigmatisierung und bürokrati-
matisierung und Diskriminierung. In den etablierten
sche Hürden, die dazu führen können, dass Menschen
Datenquellen der Gesundheitsberichterstattung sind
das reguläre Gesundheitssystem nicht (bedarfsge-
Menschen ohne Meldeadresse unterrepräsentiert oder
recht) nützen können. Für Menschen, die keinen oder
nicht vertreten, was ihre Berücksichtigung bei evidenz-
nur einen eingeschränkten Zugang zum regulären
basierten gesundheitspolitischen Entscheidungen
Gesundheitssystem haben, bleiben Angebote von
limitiert. Nicht zuletzt hatte fast ein Viertel unserer
Hilfsorganisationen oftmals die einzige Möglichkeit,
Patient*innen keinen gültigen Aufenthaltstitel. Für
medizinische Versorgung und Beratung zu erhalten.
diese Menschen stellt vor allem die gesetzliche Übermittlungspflicht eine Barriere im Zugang zu gesund-
In unseren medizinischen Anlaufstellen und Behand-
heitlicher Versorgung dar, da sie Gefahr laufen, abge-
lungsbussen haben wir im Jahr 2022 über 2.000 Men-
schoben zu werden, wenn sie medizinische Leistungen
schen medizinisch versorgt und beraten. Fast alle
in Anspruch nehmen.
unserer neuen Patient*innen hatten keinen oder nur einen eingeschränkten Krankenversicherungsschutz.
Deutschland hat sich in völkerrechtlich verbindlichen
Dies lässt vermuten, dass es in Deutschland trotz Kran-
Verträgen (zum Beispiel dem UN-Sozialpakt und der
kenversicherungspflicht zahlreiche Menschen gibt, die
EU-Grundrechtecharta) verpflichtet, allen in Deutsch-
nicht oder nicht ausreichend krankenversichert sind.
land lebenden Menschen ein gesundes Leben und
Die erhobenen Daten unserer Patient*innen erlauben
einen diskriminierungsfreien Zugang zu bedarfsge-
Rückschlüsse darauf, welche Bevölkerungsgruppen ein
rechter Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Der
erhöhtes Risiko für einen erschwerten oder verwehr-
vorliegende Gesundheitsreport zeigt, dass Deutsch-
ten Zugang zum regulären Gesundheitssystem haben.
land diese Verpflichtung bisher nicht erfüllt. Er zeigt
Zu unseren Patient*innen gehörten Menschen jegli-
aber auch, dass es einige Barrieren im Zugang zu
cher Altersgruppen. Fast alle unserer Patient*innen
gesundheitlicher Versorgung gibt, die abgebaut wer-
waren armutsgefährdet, was aufgrund der Kosten, die
den können. Wir fordern daher politische Entschei
für eine Krankenversicherung oder eine medizinische
dungsträger*innen auf, entsprechende Maßnahmen
Behandlung aufgewendet werden müssen, eine Barri-
umzusetzen beziehungsweise zu forcieren, damit alle
ere im Zugang zu medizinischer Versorgung sein kann.
in Deutschland lebenden Menschen ihr Recht auf
Darüber hinaus hatten 88 % unserer Patient*innen
Gesundheit verwirklichen können.
22
METHODIK
Behandlung in der Anlaufstelle von open.med Berlin-Lichtenberg Foto: © Max Avdeev
Dieser Bericht basiert auf Daten, die in unseren In-
Dies kann dazu führen, dass Fragen und Antworten
landsprojekten erhoben wurden. Die Datenerhebung
anders formuliert beziehungsweise verstanden wer-
erfolgte im Rahmen der Erstaufnahme der Patient*in
den, als sie gemeint waren. Letztlich ist zu beachten,
nen sowie deren medizinischen Visiten und sozialen
dass unsere Angebote an Bedarfe angepasst werden,
Beratungen. Hierfür wurde eine elektronische Pa
die sich aus regionalen Rahmenbedingungen (zum
tient*innendatenbank mit standardisierten Fragen
Beispiel Versorgungsstrukturen) und aktuellen Ereig-
und Eingabefeldern verwendet. Die Eingabe und
nissen (wie Fluchtbewegungen) ergeben. Die Werte
Speicherung der Daten erfolgten pseudonymisiert.
der berichteten Indikatoren können sich somit zwi-
Die Patient*innen, auf deren Daten dieser Bericht
schen den Projekten unterscheiden und zeitliche
basiert, haben der Nutzung ihrer Daten durch Ärzte der
Vergleiche nur eingeschränkt möglich sein.
Welt e. V. zugestimmt. Die Auswertung der Daten erfolgte in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin der Ludwig-Maximilians-
Die im Bericht geäußerten Standpunkte spie-
Universität (LMU) München. Hierfür wurden das Statis-
geln die Meinung von Ärzte der Welt wider und
tikprogramm Stata und Microsoft Excel verwendet.
repräsentieren nicht notwendigerweise die Position des Klinikums der Ludwig-Maximilians-
Bei der Interpretation der Daten sind mehrere Punkte
Universität (LMU) München sowie der Koopera-
zu berücksichtigen. Zum einen steht in unseren Pro-
tionspartner von Ärzte der Welt. Die Verant-
jekten die Versorgung der Patient*innen und nicht
wortung für die in diesem Bericht enthaltenen
die Datenerhebung im Vordergrund. Das heißt, dass
Informationen und Ansichten liegt ausschließ-
Fragen nur gestellt werden, wenn sie situativ ange-
lich bei Ärzte der Welt. Ärzte der Welt über-
messen sind. Die berichteten Indikatoren basieren
nimmt keine Verantwortung für die Nutzung
somit teilweise nur auf Subgruppen der Patient*innen.
der darin enthaltenen Informationen.
Zum anderen erfolgt die Kommunikation mit den Patient*innen bei Bedarf mit einer Sprachmittlung.
23
„IN DEN VERGANGENEN ZWEI JAHREN HAT SICH DIE NACHFRAGE NACH BEHANDLUNGEN IN UNSERER EINRICHTUNG DEUTLICH ERHÖHT. AUCH BEOBACHTEN WIR SCHWERERE ERKRANKUNGEN. ES KANN NICHT DIE AUFGABE EINER NGO SEIN, ORIGINÄRE AUFGABEN DES STAATES ZU ÜBERNEHMEN.“ Dr. Marianne Stix, Allgemeinärztin
Herausgeber © 2023 Ärzte der Welt e. V. V.i.S.d.P.: Dr. med. Peter Schwick (Vorstandsvorsitzender) Landsberger Straße 428 D-81241 München info@aerztederwelt.org www.aerztederwelt.org Kooperationspartner Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Leopoldstraße 5 80802 München
Autor*innen Gianni Varnaccia, Janina Gach, Dr. Johanna Offe, Carolin Bader, Christian Stegmüller, Susanne Eikenberg, Lena Rimbach, Jacqueline Evers, Annemarie Weber, Dr. Cevat Kara, Monica Ilea, Andrea Günther Zitiervorschlag Ärzte der Welt e. V. (2023) Gesundheitsreport – Krank und ohne medizinische Versorgung in Deutschland. Ärzte der Welt e. V., München Datenanalyse Dr. Günter Fröschl, Gianni Varnaccia
Medizin Hilft e. V. Ambulanz für Menschen ohne Kranken versicherung (ehemals open.med) Teltower Damm 8a 14169 Berlin info@medizin-hilft.org
Redaktion Stephanie Kirchner
Ambulante Hilfe e. V. Kreuznacherstraße 41 A 70372 Stuttgart medmobil@ambulantehilfestuttgart.de
Stand Oktober 2023
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