Interkultureller_Unterricht__Inszenierung_der_Einheit_des_Differenten

Page 1


Thomas Geier Interkultureller Unterricht


Bildung und Gesellschaft Herausgegeben von Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer und Albert Scherr

Die Reihe Bildung und Gesellschaft bietet einen Publikationsort für Veröffentlichungen, die zur Weiterentwicklung sozialwissenschaftlicher Bildungsforschung beitragen. Im Zentrum steht die Untersuchung der gesellschaftlichen Voraussetzungen, Bedingungen, Formen und Folgen von Bildungsprozessen sowie der gesellschaftlichen Hintergründe und Rahmenbedingungen institutioneller und außerinstitutioneller Bildung. Dabei wird von einem Bildungsverständnis ausgegangen, das Bildung nicht mit den Organisationen und Effekten des sog. ,Bildungssystems’ gleichsetzt. Vielmehr verstehen wir Bildung als Oberbegriff für Lern- und Entwicklungsprozesse, in denen Individuen ihre Fähigkeiten und ihre Autonomiepotenziale entfalten. Die Reihe ist sowohl für empirisch ausgerichtete Arbeiten als auch für theoretische Studien offen. Überschneidungen mit dem Gegenstandsbereich der Sozialisations-, Kindheits-, Jugend-, Erziehungs- und Familienforschung sind damit im Sinne einer produktiven Überschreitung gängiger Grenzziehungen durchaus beabsichtigt. Die Reihe will damit nicht zuletzt zur interdisziplinären Kommunikation zwischen der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung beitragen.


Thomas Geier

Interkultureller Unterricht Inszenierung der Einheit des Differenten


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt | Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18013-7


Inhalt

Vorwort

9

Einleitung

A

11

Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

15

1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

17

1.1 Ausländerpädagogik als Reaktion auf frühe Arbeitsmigration 1.2 Interkulturelle Pädagogik als kritische Reaktion auf Ausländerpädagogik 1.3 Kulturtheoretische Begründungen Interkultureller Pädagogik v. Nieke 2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft und Antidiskriminierungspädagogik 2.1 2.2 2.3 2.4

Das Modell einer MuItiethnischen (-kulturellen) Gesellschaft Institutionelle Diskriminierung InklusionJExklusion statt Integration Konsequenzenfür Pädagogik und Erziehungswissenschaft

17 25 30 44 .47 49 57 61

3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

65

4. Bezug zur neueren Migrationstheorie: Transmigration und Transnationalisierung

76

5. Zusammenfassung und Pointierung

83


Inhalt

6

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirischrekonstruktiven Fallstudie

91

1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven

Hermeneutik

92

1.1 Epistemologie und Empirie, Erfahrungswissenschaften 1.2 Objektive statt subjektive Hermeneutik 1.3 Ausdrucksgestalten, Protokoll, Sinn

92 94 95 98

1.4 Struktur-, Regel- und Normbegriff 1.5 Strukturmodell von Lebenspraxis, Sequenzialität, Fallspezifik 1.6 Krise , Routine, Emergenz 1.7 Latente Sinnstrukturen, Deutungsmuster 1.8 Bildungsprozesse, Subjektivität 1.9 Offenheit, Antisubsumtionslogik 1.1 0 Fallbestimmung 1.11 Strukturhypothese, Generalisierung und Strukturbestimmung des Falles

101 102 104 104 105 107 108

2. Zur Rekonstruktion Interkulturellen Unterrichts

110

3. Falldarstellung Unterrichtseinheit Praktische Philosophie

115

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts......... 117 1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierung und Entpersonalisierung - " Es sollen nicht nur die befragt werden, die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben . " (Miniatur I)

120

2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? " ... an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen " (Miniatur 11)

146

3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht" Wozu gehör ' ich denn eigentlich ? " (Miniatur III)

163

4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten" Vor allem mit der Frage der Religion. " " So Kulture n, das ist irgendwie nicht modern. " (Miniatur IV)

178


7

Inhalt

D

Theoretische Würdigung im Kontext Reßexiver Erziehungswissenschaft

203

1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

204

1.1 Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischer Praxis 1.2 Antinomien pädagogischer Praxis 1.3 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur I im Rahmen der Professionalisierungstheorie 2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominante und fragile Ordnungen 2.1 Identitäts- und Diskurstheorie 2.2 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur 11 im Rahmen der Identitäts- und Diskurstheorie 2.3 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur III im Rahmen der Identitäts- und Diskurstheorie 3. Interkultureller Unterricht als Inszenierung der Einheit des Differenten 3.1 Inszenierung oder Bewährungsmytbos? 3.2 Reformulierung der Strukturlogik aus der Gruppendiskussion: Miniatur IV 3.3 Inszenierungspraxis Interkulturellen Unterrichts 3.4 Bewährungsmytbos Interkulturellen Unterrichts

E

Fazit und Ausblick

205 210 213 216 216 220 226 229 229 231 233 234 239

Literatur

245

Hinweise zur Transkription

257

Anhang Unterrichtsprotokoll I

259

Unterrichtsprotokoll 11

269

Protokoll Gruppendiskussion

285



Vorwort

DieseArbeit hat als Dissertation der FakultätBildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen zur Promotion zum Dr. phil. vorgelegen und ist für die Veröffentlichung geringfügigüberarbeitetworden. An dieser Stelle, also ganz am Anfang, gebührt erst einmal den beiden Gutachtenden mein herzlichster Dank. Frau Prof. Dr. Dietzel-Papakyriakou sensibilisierte mich von Beginn an für die vielgestaltigen Dimensionen des Migrationsthemas und diskutierte mit mir dessen bildungsbezogene Auswirkungen. Zugleich unterstützte sie mich gegen jeden Trend darin, ein einzelfallbezogenes Verfahren im Rahmen der Objektiven Hermeneutik anzuwenden, das extensiv und damit ausgesprochen zeitaufwändig ist. Prof. Dr. Ullrich Bauer begleitete dieses Vorgehen aus der Perspektive des kritischen Soziologen mit forschendem Enthusiasmus. Sie beide haben mich gemeinsam fachlich und menschlich unterstützt. Dank gebührt ebenso meinem persönlichen Umfeld. Stellvertretend für alle und doch mit gebührendem Abstand möchte ich meiner Frau Vera Timmerberg dafür danken, auch diesen Weg mit mir gegangen zu sein . Meinen Eltern danke ich, mir diesen Weg ermöglicht zu haben. Rückblickend hat sich bestätigt, dass Forschung bedeutet, sich in Zirkeln zu bewegen. Von der Entwicklung der Fragestellung über die Erhebung von Daten, den methodischen Zuschnitt, die Formulierung der Ergebnisse bis hin zu deren theoretischer Erörterung in der fachlichen Disziplin gibt es gerade, ungerade und auch Holz-Wege. Viele sind lohnenswert gewesen, gegangen zu sein, andere weniger. Nachträglich könnte man dazu neigen, all das als Masterplan ansehen zu wollen, den man nicht nur vorher nicht kannte, manchmal auch nicht sah, sondern dessen Schmied einem ebenso unbekannt zu sein schien. Besser lässt sich aber, etwas sachlicher und nüchterner, von Krisen sprechen, in die Forschung diejenigen hinein zieht, die sich mit ihr beschäftigen. Ich bin auch aufdie eigene Forschungstätigkeit bezogen dazu geneigt, das krisentheoretische Modell von Lebenspraxis anzunehmen, wie es Ulrich Oevermann entwickelt hat, wonach Krisen zur Voraussetzung haben, erst dann vollgültige Krisen zu sein, wenn in Entscheidungssituationen genuin kein Kriterium zur Verfügung steht, sondern dies erst entwi-


10

Vorwort

ekelt werden muss. Dies trifft aus meiner Sicht konstitutiv aufForschungspraxis zu und hier haben mir viele geholfen, in Krisen Entscheidungen fällen zu können. Die Rekonstruktionsarbeit selbst ist als soziale auch darauf angewiesen, Mitstreiter zu finden. Auch diesbezüglich danke ich all denjenigen Freunden und Studierenden, die mit mir unermüdlich Transkripte extensiv lasen und sich haben anstecken lassen, die Fragen Interkultureller Pädagogik textnah aufzuwerfen und am Material zu beantworten. Stellvertretend für alle sei herzlich Dr. Marion Pollmanns, Elke Holländer, Magnus Frank, Tamara Blocks und Jens Zöller gedankt. Bei der gemeinsamen Arbeit habe ich mich am Ideal von Lehrforschungsprojekten orientiert, die in der jetzigen Hochschulstruktur - insbesondere im Lehramtsstudium - so unangemessen unterrepräsentiert sind. Indem zukünftigen Lehrern eine forschende Tätigkeit strukturell nicht mehr zugemutet wird, werden sie um die Chance gebracht, mündig zu sein und selbstständig Wissen zu generieren. Stattdessen werden sie so oft ausschließlich mit bereits aufbereitetem Wissen konfrontiert, dessen Forschungszusammenhänge sie wenig kennen lernen. Sie sollen somit bloß Anwender eines Wissens werden, an dessen Entstehung sie kaum noch beteiligt und zu dessen Reflexion sie selten aufgefordert sind. Denjenigen also, die sich dagegen zusätzlich für rekonstruktionslogische Forschung begeistern ließen, gebührt besonderer Dank, denn ohne sie gäbe es die Ergebnisse dieser Arbeit nicht. Ebenfalls gäbe es deren Ergebnisse nicht, wenn mir die Akteure keinen Einblick in ihre Lebenspraxis gewährt hätten. So möchte ich zum Abschluss auch Ihnen danken, dies getan zu haben. Was der getreu am Wortlaut orientierte Leser der protokollierten Unterrichtspraxis extensiv tun kann, ist den Akteuren in der Praxis nicht möglich. Sie müssen unter Handlungsdruck entscheiden, was der Rekonstrukteur, vom Handlungsdruck entlastet, problematisieren und kritisieren kann. Dies sollte stets mit der gebührenden Achtung vor den Akteuren und ihrer Praxis geschehen sein .


Einleitung

Migration bestimmt Gesellschaft in ihrem Wandel. Begleitet wird dieser nicht nur durch öffentliche hoch aufgeladene Debatten über kulturelle Zugehörigkeit, sondern auch durch den pädagogischen Diskurs der 80er und 90er Jahre rund um die Themen von Inter- und Multikulturalität, der sich in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends bis heute weiter fortsetzt. Konzepte wie diejenigen Interkulturellen Lernens oder Interkultureller Bildung (vgl. Krüger-Potratz 2005) haben Eingang in die verschiedenen pädagogischen Praxisfelder gefunden. Mit der Ausarbeitung allgemeiner und fachbezogener Didaktiken (vgl. ReichIHolzbrecherlRoth 2000) sind interkulturelle Themen und Fragestellungen auch insbesondere für die allgemeinbildende Schule so ausgeführt worden, dass sie in die jeweiligen Curricula einmünden können. Ein eigenständiges Fach Interkulturalität oder Multikulturalität lässt sich jedoch bisher nicht finden . Dennoch gibt es Fächer, in deren Curriculum ausdrücklich interkulturelle Themen als Unterrichtsgegenstände oder als so genannte Querschnittsaufgaben enthalten sind . In Nordrhein-Westfalen (NRW) wurde beispielsweise das Fach Praktische Philosophie eingeführt, das nach fünfjähriger Erprobungsphase seit 2002 in allen Schulformen der Sekundarstufe I vertreten ist. An den Kursen des Faches müssen all diejenigen Schülerinnen und Schüler! teilnehmen, die entweder den Religionsunterricht aus Gewissensgründen abgewählt haben, oder die Angehörige einer Religion sind, die nicht im Fächerkanon vertreten ist. Das Curriculum- verspricht zudem, kulturell heterogene Orientierungen der Schülerschaft zu berücksichtigen. Wenngleich er nicht explizit, expressis verbis als Interkultureller Unterricht ausgewiesen ist, so lässt er sich folglich dennoch als solcher begreifen. Daraus, dass es sich bei Praktische Philosophie um ein ganz alltägliches Fach wie alle anderen handelt, darfman ebenso schließen, dass es eine dementsprechend langjährige Erfahrung mit Interkulturellem Unterricht in der Schule geben muss. So ist es umso erstaunlicher, wie wenig empirische Forschung darüber weiß, was

2

Zugunsten der Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form für den Plural verwendet, wenn beide Geschlechter gemeint sind. Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW: Kemcurriculum ,,Praktische Philosophie". Juni, 1997. Fundort : http://www.1fs.nrw.de/index.html Datum : 10.01.2006.

T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


12

Einleitung

passiert, wenn interkulturelle Konzepte pädagogisch praktisch werden. Wie sieht die praktische Wirklichkeit diesseits der theoretischen Konzepte, die fiir sie erstellt wurden, aus?' Keinesfalls lässt sich, weder aus Konzepten noch aus den von der Fachdisziplin Interkulturelle Pädagogik entwickelten Programmen in Bezug zur Allgemeinen Didaktik (vgl. Holzbrecher 1997) bruchlos auf die pädagogische Praxis Interkulturellen Unterrichts schließen. Insofern gibt es keinerlei empirisches Wissen darüber, wie unter den Bedingungen von Schule und Unterricht auch die lebensweltlich relevanten Themen der Interkulturellen Pädagogik, wie etwa Heterogenität und kulturelle Differenz, verhandelt werden. Es ist zudem nicht bekannt, welche Artikulationsräume sich fiir Schüler daraus ergeben und wie sie diese nutzen bzw. gestalten. Um Theorie und Praxis also überhaupt sinnvoll aufeinander beziehen zu können, muss sich allererst einmal ein Bild über die empirische Wirklichkeit des Interkulturellen Unterrichts gemacht werden. Eine exemplarische Studie über die Praxis Interkulturellen Unterrichts im Fach Praktische Philosophie liegt bisher allerdings nicht vor. Gleichwohl Schule unter interkulturellen Fragestellungen zwar gelegentlich empirisch untersucht worden ist (vgl. etwa Kiesel 1996, Walter 2001, Weißköppel 2001), gibt es jedoch keine rekonstruktionslogische Studie, die sich möglichst detailliert und offen ihrem Gegenstand nähert und das Unterrichtsgeschehen als ein Fall interkultureller Bildungspraxis zu lesen sich vorgenommen hat. Hieran knüpft nun das leitende Erkenntnisinteresse dieser Arbeit an, in einer empirischen Untersuchung Interkulturellen Unterricht im Fach Praktische Philosophie in Fallstudien zu rekonstruieren, indem unter der Voraussetzung forschungsmethodischer Offenheit die Frage aufgeworfen wird, was denn überhaupt Interkultureller Unterricht sein kann. Oder auch: Wie sich eigentlich Interkultureller Unterricht in schulpädagogischer Praxis diesseits einer konzeptuellen Programmatik seitens pädagogischer Theorie vollzieht. Forschungsleitend war zudem die Frage, wie in einer pluralen und hinsichtlich ihrer Lebenswelten und Lebenslagen ausdifferenzierten Gesellschaft Interkulturalität im Unterricht thematisiert wird." Forschungspraktisch ist dem Anliegen mit dem Feldforschungsinteresse entsprochen worden, Unterricht im Fach Praktische Philosophie zu beobachten und audiovisuell aufzuzeichnen. Aus den Aufzeichnungen wurden Textprotokolle erstellt, 3

4

Das mag zwn einen an der stark theoretisch-konzeptualistischen Weise liegen, mit der innerhalb der Interkulturellen Pädagogik dominant gearbeitet wird. Auch aus der jüngst stattgefundenen Diskussion über Unterricht im Kontext von Migration und schulischem Wandel (vgl. Fürstenau u. a. 2009) lässt sich wenig auf den konkreten Unterricht empirisch schließen. Nonnenmacher hat in der Didaktik der Sozialwissenschaften in einer europäisch vergleichenden empirischen Studie in vier Ländern Politikunterricht rekonstruiert, in dem das Thema Migration verhandelt wurde (Nonnenmacher 2008).


Einleitung

13

die anschließend rekonstruktionslogisch mittels Objektiver Hermeneutik' interpretiert worden sind. Die vorliegende Arbeit stellt daraus exemplarisch Fallminiaturen der schulischen Praxis vor. Als Untersuchungsgegenstand stand dabei zunächst das konkrete Unterrichtsgeschehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. In Einzellfallstudien" wurden aus den jeweiligen Protokollen die mit Interkultureller Pädagogik assoziierten Themen wie Differenz, Heterogenität, Fremdheit, Anderssein sinnlogisch rekonstruiert und damit am empirischen Material konkretisiert. Es sollte dabei nicht subsumtionslogisch vorgegangen werden, um nicht, wie soeben dargestellt, ex ante den Primat der Theorie gegenüber der Praxis auszuspielen. Vielmehr stand das übergeordnete Ziel im Vordergrund, gegenstandsnah aus den Mikroprozessen schulischer Interaktion heraus, die didaktische Behandlung der Themen und die Dynamik der Interaktionslogik des Unterrichts empirisch zu erforschen. Die so gewonnenen Ergebnisse lassen sich allenfalls ex post, im Anschluss an weitere Studien, zu einer später möglichen Theorie Interkulturellen Unterrichts synthetisieren. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich also zunächst um eine explorative Einzelfallstudie, bei der das Allgemeine des pädagogischen Konzepts im besonderen Fall des Unterrichts studiert wird . Um die allgemeine Relevanz von Fragestellung und empirischem Erkenntnisinteresse im Kontext der Theorie und des Diskurses Interkultureller Pädagogik verorten zu können, wird folglich im ersten Teil der Arbeit die Interkulturelle Pädagogik in ihren Entwicklungslinien der unterschiedlichen Positionen nachgezeichnet. So spannt das Kapitel A den Bogen von den frühen Formen der Ausländerpädagogik - als historisch erste pädagogische Reaktion der Nachkriegszeit auf die damalige Arbeitsmigration - bis zu differenzierteren und reflektierteren Positionen Interkultureller Pädagogik heutiger Entwicklung auf. Schwerpunkte dabei sind einerseits ihre gesellschaftstheoretischen und andererseits ihre kultursoziologischen Bezüge. Es wird insbesondere deutlich, dass das Faktum gesellschaftlicher Pluralität und Heterogenität nicht ausschließlich und spezifisch durch Migration entsteht, sondern es sich um einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandel von Ausdifferenzierungsprozessen handelt, in dessen Kontext Schule und Unterricht gestellt sind. Vor diesem Hintergrund wurden auch die Fragestellung generiert und die Forschungsmethode gewählt, die im Kapitel B der Arbeit methodolo5

6

Ulrich Oevermann hat die Forschungsmethodologie der Objektiven Hermeneutik in einer Vielzahl von Publikationen veröffentlicht. Stellvertretend sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf Oevermann 2000 verwiesen. Als kurze Einführung zur Forschungsmethode bietet sich an: Wemet 2000. Im vorliegenden Fall einer 6 Schulstunden umfassenden thematisch geschlossenen Unterrichtseinheit in der Jahrgangsstufe 9, Gymnasium.


14

Einleitung

gisch begründet und methodisch entfaltet werden, um ihre Gegenstandsadäquatheit auszuweisen. Die auf diesem Wege ebenfalls gewonnene Fallbestimmung führt anschließend zur Darstellung von Fallminiaturen der schulischen Praxis Interkulturellen Unterrichts, der sich das Kapitel C widmet. Die auf diese Weise plausibilisierten Rekonstruktionen erfahren im sich anschließenden Kapitel D ihre theoretische Würdigung. Die rekonstruierte pädagogische Praxis, die in Interaktionen sich ausgestaltenden Selbst- und Fremdzuschreibungen, die Aneignungsweisen durch die Schüler und die Macht, welche die Institution über dominante und fragile Ordnungen im Unterricht ausübt, werden nicht nur im Rahmen der Identitäts- und Diskurstheorie verortet, sondern auch insgesamt vor dem Hintergrund der pädagogischen Professionalisierungstheorie reflektiert. Die theoretischen Würdigungen lassen sich in einer Reflexiven Erziehungswissenschaft, hier einer reflexiven Interkulturellen Pädagogik, kontextualisieren. Sie führen zur abschließenden Frage, ob es sich beim empirisch rekonstruierten Konzept Interkulturellen Unterrichts um eine pädagogische Inszenierung oder einen Bewährungsmythos handelt. Die Frage resultiert aus der durch die Rekonstruktion gewonnenen Fallstruktur einer, emblematisch so genannten, Inszenierungspraxis des Unterrichts. Neben den Ergebnissen zu Subjektivierungsweisen und kulturhomogenenArtikulationsräumen, vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Heterogenität, lässt sich anband der immanenten Ansprüche der rekonstruierten Bildungspraxis zeigen, dass sie unterlaufen werden. Anstatt Differenz und Heterogenität gelungen zu thematisieren, wird im Unterricht durch die beteiligten Akteure die Einheit des Differenten bloß inszeniert. Abschließend werden kursorisch im Ausblick der Arbeit in Kapitel E Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungen, Anknüpfungspunkte an theoretische Positionen geliefert und Möglichkeiten des Reflexivwerdens pädagogischer Praxis im Rahmen von Hochschuldidaktik aufgezeigt. Die Arbeit verfolgt damit im Kontext Interkultureller Pädagogik auch ein Forschungsinteresse, wie Auernheimer es im Anschluss an eine von ihm gezogene Bilanz von drei Jahrzehnten Interkultureller Pädagogik formuliert: Zukünftige Aufgaben der Interkulturellen Pädagogik lägen vor allem in Forschungen, welche ,,[d] ie Implementation der Interkulturellen Programmatik in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern [...] weiter untersucht [...]" (Auernheimer 2004, S. 14).


A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Die Interkulturelle Pädagogik ist in sich vielgestaltig und heterogen und keinesfalls als eine einheitliche Fachdisziplin anzusehen. Auch wenn sie zwar keine lineare Fortschrittsgeschichte aufzuweisen hat, lässt sich dennoch klar eine zunehmende systematische Ausdifferenzierung heutiger gegenüber früheren Ansätzen beobachten. Deren Inhalte lassen sich darüber hinaus nicht nur in ihren wissenschafts-, gesellschafts- und kulturtheoretischen oder -soziologischen Grundannahmen und jeweiligen Programmen unterscheiden, sondern diese nehmen selbstverständlich auch Einfluss darauf, welche Konsequenzen daraus sowohl praktisch-pädagogischer als auch forschend-erziehungswissenschaftlicher Natur zu ziehen sind. Es gibt also keine unter Pädagogen und Erziehungswissenschaftlem konsensfähige Theorie Interkultureller Pädagogik, sondern mehr oder minder elaborierte Theorieangebote unterschiedlicher Provenienz. Das Manko eines einheitlichen Theoriebezugs ist nicht besonders verwunderlich, da es sich bei der Interkulturellen Pädagogik innerhalb der Erziehungswissenschaft, wie sie sich nach 1945 entwickelt hat, noch um eine relativ junge Subdisziplin handelt und sie folglich ebenso institutionell wie fachlich noch um ihre Selbstvergewisserung, ihren Gegenstandsbereich und ihre Theoriebestände ringt. Wenn man sich dannweiter vor Augen führt, dass erst 1964 durch die KMK (Kultusministerkonferenz) der für die Bildungsinstitutionen entscheidende Beschluss, die allgemeine Schulpflicht auch für, nach damaligem Terminus, ausländische Kinder zu empfehlen und gar 1996 erst eine Empfehlung aussprach, die innerhalb der Interkulturellen Pädagogik entwickelten interkulturellen Lernziele doch in schulische Curricula einfließen zu lassen, so wird deutlich, welche junge Geschichte sie auch hinsichtlich ihrer Implementierung im außeruniversitären Bildungssystem hat. Dennoch lässt sich, wenn auch nur in ganz allgemeiner Weise, eine allen Positionen gemeinsame inhaltliche Stoßrichtung ausmachen, thematische Kristallisationspunkte, um die letztlich die Fragestellungen der Interkulturellen Pädagogik kreisen. Denn selbst noch dort, wo ihre Programmatik äußerst kritisch gesehen wird (Diehm/Radtke 1999), geht es um die Frage, "wie eine demokratische Bildung und Erziehung angesichts von sprachlich-kultureller, nationaler und ethnischer Heterogenität innerhalb der Bundesrepublik als Teil eines größeren Staatenbundes - der T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


16

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Europäischen Union - und angesichts der unter dem Begriff der Globalisierung zusammengefassten weltweiten Veränderungen zu gestalten sei, welche Konzepte tragfähig, und welche strukturellen und inhaltlichen Veränderungen dafür notwendig seien" (Gogolin 2006, S. 104). Jenseits eines solchen Minimalkonsenses über einen gemeinsamen Problemkreis, dem sich die Fachdisziplin widmet, lassen sich auch Stichworte, wie ",Ausländerpädagogik' als Zielgruppenpädagogik versus Interkulturelle Pädagogik als Fachrichtung für alle bzw. als Querschnittaufgabe und Schlüsselqualifikation, Defizithypothese versus Differenzhypothese, Kulturrelativismus versus Kulturuniversalismus, Kulturalisierung statt sozialer Positionierung, Perspektivwechsel" (ebd .), finden, anband derer sich die Interkulturelle Pädagogik systematisieren lässt und die sich folglich in den bisherigen Systematisierungsversuchen und Darstellungen der Interkulturellen Pädagogik, trotz aller Verschiedenheit ihrer je eigenen Schwerpunkte (vgl. beispielsweise Auernheimer 2007, Gogolin 2006, NohI2006), finden lassen. Auch für den Argumentationsgang der hier vorliegenden Arbeit zum Interkulturellen Unterricht ist es notwendig, darzustellen, aus welchen Positionen heraus sich die Interkulturelle Pädagogik entwickelt und welche Kritik sie wiederum provoziert hat, um die Theoretisierung der Ergebnisse, die sich aus den empirischen Rekonstruktionen zum Interkulturellen Unterricht ergeben haben, im Kontext der vielstimmigen Fachdisziplin nachvollziehbar diskutieren zu können. Dies macht eine Inventarisierung der die Diskussion bestimmenden Positionen erforderlich. Und auch bei aller forschungsmethodisch gebotenen künstlichen Naivität dem empirischen Material gegenüber, lassen sich aus dem Diskussionsverlaufzur Interkulturellen Pädagogik ebenfalls empirische Perspektiven gewinnen, welche die Aufmerksamkeitsrichtungen, mithin die noch nötige Fallbestimmung, lenken werden.' Dabei wird in der folgenden Darstellung keine vollständige Wiedergabe aller Diskussionslinien angestrebt, sondern eine Gewichtung konträrer und markanter Positionen vorgenommen, um deren inhaltliche Differenzen zu betonen. In einem die Diskussion resümierenden Abschluss sollen dann Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, die zu einer Präzisierung des eigenen Forschungsvorhabens führen und es als solches in den theoretischen Diskussionszusammenhang stellen werden. Die sich hier anschließenden Überlegungen werden vor allem vor dem Hintergrund des Systematisierungsversuches von Arnd-Michael Nohl (NohI2006) formuliert, der ihnen gewissermaßen als Folie dient, wesentliche Informationen zu liefern, und somit einen roten Faden durch die Entwicklungen der Interkulturellen Pädagogik zu liefern. Die Wahl fällt auf seine Systematisierung, weil neben ihrer Aktualität Nohls Ausführungen insbesondere den Zusammenhang zwischen den 7

Zu den forschungsmethodischen Grundbegriffen siehe Kap. B dieser Arbeit.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

17

pädagogischenKonzepten InterkulturellerPädagogik und ihren gesellschaftstheoretischen und kultursoziologisch, bzw. -theoretisch argumentierenden Autoren stets im Zusammenhang mit den ihnen inhärenten, sozialisationsbezogenenAnnahmen, respektive sie stützenderGesellschaftsmodelle, entwickelthat. Nohls Systematisierungist jedoch auch an entscheidendenStellen und passim um zusätzliche Informationen aus weiteren Quellen erweitert worden, immer dann, wenn seine Ausführungender Sache nach als zu eng erschienen sind, um sich ausschließlich darauf zu verlassen.

1.

Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

1.1 Ausländerpädagogik als Reaktion auffrühe Arbeitsmigration

Die Ausländerpädagogik entsteht als erste pädagogische Reaktion auf die damalige Arbeitsmigration" der klassischenAnwerbeländerund zwar erst zu dem Zeitpunkt, als die überwiegendmännlichenso genanntenGastarbeiterihre Kinderund Frauen in die damaligeBundesrepublikDeutschland(BRD) nachholten.Als .Jronie der Geschichte" betrachtet Nohl es, dass die damalige Bundesregierung, die Migration, die sie mit dem Anwerbestopp 1973 eigentlichbeenden wollte, genau damit auf Dauer stellte (Nohl, 2006, S. 16). Denn die migrationspolitische Maßnahme zog eine Verunsicherung über den zukünftigenAufenthaltsstatus der Migranten und den sich dadurch ergebendenNachzug der Familiennach sich.Auf die Strukturendes Schulwesensbezogen lässt sich der Beschlussder KMK von 1964, die allgemeineSchulpflicht auch auf ausländische Kinder zu empfehlen,organisa8

Unter dem soziologischen BegriffMigration ganz allgemein lassen sich sowohl binnenstaatliche als auch nationale Grenzen überschreitende Wanderungsbewegungen von einzelnen Menschen oder Gruppen verstehen. Die Motivlagen bei nationalstaatlich übergreifenden Wanderungen, sowie ihre politischen oder gesellschaftlichen Umstände können von der Arbeitsmigration über Flucht oder Vertreibung und Verfolgung äußerst unterschiedlich sein (vgl. dazu auch A4 der vorliegenden Arbeit). Migrationen in historischer Weise zu betrachten, macht indes deutlich, dass es sich nicht erst um ein Phänomen der jüngeren (Nachkriegs-)Geschichte BRD handelt, sondern schon immer stattgefunden hat (vgl. Gogolin 2006, S. 27ff.). Dadurch erscheint diese Zäsur historisch nicht ganz gerechtfertigt zu sein, liegen die historischen Gründe für diese Welle der Arbeitsmigration der Nachkriegszeit doch schon im Zweiten Weltkrieg, bzw. dessen Verlusten, die männliche Arbeitskräfte dezimierte , wie auch im beschleunigten Wiederaufbau, der im Interesse der Alliierten lag und sich damit schon in der Phase des Kalten Krieges befand . Aus Sicht der Pädagogik ist diese Einteilung jedoch akzeptabel , da erst zu diesem Zeitpunkt eine dezidiert pädagogische Reaktion entstand.


18

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

tionssoziologisch als hauptsächlich strukturgebend begreifen, denn so wurde die zur Homogenisierung - in den Lern- und damit Leistungsvoraussetzungen, d. h. Sprache, Alter etc. - tendierende Schule alsbald mit der Heterogenität der Schülerschaft konfrontiert. Diehm und Radtke erläutern diese Tendenz im engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Funktionen von Schule anhand der Unterrichtsorganisation im historischen Verlauf (vgl. DiehmlRadtke, 1999; S. 105 ff.). Die mit der KMK beschlossene Schulpflicht setzte die Institution Schule plötzlich dem Faktum sprachlicher Heterogenität aus. Organisationsbezogen musste die Schule, deren Akteure diese Ausgangssituation überwiegend als Problemlage wahrnahmen, mit Differenzierung reagieren. Denn eine entscheidende Voraussetzung der ihr Funktionieren garantierenden Homogenität, eine gemeinsame Sprache, war aufeinmal nicht mehr gegeben", Um nun aber dennoch wieder eine homogene Ausgangslage zu schaffen, wurden die älteren Migrantenkinder in Vorbereitungsklassen ausgegliedert, mit dem vorrangigen Ziel , die deutsche Sprache zu erlernen. Bei den jüngeren schien man auf ein schnelles Erlernen zu hoffen (vgl. Nohl, 2006) und beschulte sie gemeinsam mit den inländischen Kindern. Auch im letzteren Falle blieb die Homogenität der Klassen bis auf weiteres sakrosankt. Dafür sorgte insbesondere die so genannte 25%-Klausel eines KMK-Beschlusses, laut derer der Anteil ausländischer Kinder an der Gesamtgröße der Klassen ein Viertel nicht übersteigen durfte - und zwar ungeachtet ihres Leistungsvermögens (vgl. Müller 1974). Die auf diesem Wege nicht mit Schulunterricht versorgten Migrantenkinder, etwa diejenigen, welche aus Stadtteilen mit besonders hohem Ausländeranteil stammten, fing man in so genannten National- undAusländerklassen auf (vgl. Czock 1993). All diese Maßnahmen, so lässt sich sagen, gestalteten Differenzierung größtenteils im Sinne struktureller Separierung. Nicht allein die besonderen bildungspolitischen Umstellungen, sondern auch die Migrationspolitik der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen wurde bestimmt durch eine spezifische Sicht auf Arbeitsmigration als eines temporären Phänomens, wie es sich ja schon in der Wortwahl des Begriffes Gastarbeiter ausdrückt. Ein Gast bleibt eben nur auf absehbare Zeit. Laut Nohl resultierte daraus eine Doppelstrategie der damaligen Bildungspolitik. Zum einen hatte die Beschulung eine Anpassung der Migrantenkinder an das hiesige Schulsystem zum Ziel und zum anderen sollte die Schule auch dafür Sorge tragen, dass deren 9

Es ist allerdings stark zu bezweifeln, dass es eine homogene Schule tatsächlich, also in den Lernvoraussetzungen der Schülerschaft jemals gegeben hat. Oder ob es sich nicht vielmehr um einen organisationsspezifischen Mythos handelt, der als solcher allerdings nicht weniger für die Organisationsprozesse, insbesondere die Vorstellung von Meritokratie, handlungsleitend wäre. Vgl. Gogolin 2006, S. 138; mit Blick auf diesbezügliche Resultate aus erziehungswissenschaftliehen Nachbardisziplinen.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

19

Rückkehrfähigkeit erhalten bleiben sollte: "Die Förderung der Rückkehrfähigkeit ging daher mit der Förderung der Anpassung an die Erfordernisse an die deutsche Schule einher" (NohI2006, S. 19). Praktisch bedeutete dies für die Migrantenkinder, sich vormittags systematisch dem Deutschunterricht zu unterziehen, um ihre Chancen im deutschen Bildungssystem wahrzunehmen, und am Nachmittag dem muttersprachlichen Unterricht beizuwohnen, um ihre Rückkehrfähigkeit zu garantieren und sich damit nicht von der Herkunftskultur zu entfernen. Der Homogenitätsimperativ (vgl. Nohl 2006) der schulischen Regelklasse hatte überdies zur Folge , dass sich mit Bezug auf ihn immer wieder Defizite der Migrantenkinder identifizieren ließen. Die damalige Pädagogik reagiert auf diese an sich schulstrukturell bedingten Defizite insgesamt kompensatorisch mit Förderung im eben beschriebenen Sinne . Die Bildungsstandards standen in dieser Phase ihrerseits allerdings nie zur Disposition, sondern blieben auch das Maß für die migrierten Schüler. Deren Förderung war aber nicht ausschließlich humanpädagogisch motiviert, sondern richtete sich ebenso an gesellschaftspolitischen Erwartungen aus. An ihrem Bildungserfolg sollte sich nämlich zeigen, ob eine befürchtete soziale Destabilisierung im Sinne einer Anomie gesamtgesellschaftlich vermieden werden könne (vgl. kritisch Czock, 1993). Wenn hier bislang von Heterogenität vor allem im Zusammenhang mit Sprachdefiziten die Rede gewesen ist, so erstreckten sich die Defizitannahmen der Ausländerpädagogik bezüglich der Migrantenkinder aber ebenso aufSprachcodedefizite, die mit Bezug zur klassischen soziosprachlichen Untersuchung Basil Bernsteins zum restringierten und elaborierten Sprachcode unterstellt wurden, wie auch Defizite in der Primärsozialisation, beispielsweise durch eine fehlende Bildungsorientierung der Migrantenfamilien, wie Nohl diese anband eines seines Erachtens zentralen Aufsatzes von Harant (Nohl, 2006 n. Harant, 1976 u. 1987 2) belegt. Auch wenn der Bezug zur kulturellen Zugehörigkeit noch nicht so gefestigt, wie er etwa in der Phase der Interkulturellen Pädagogik sei, komme es insbesondere in der frühen Sozialisation laut Harant zu einem ,,kulturellen Widerspruch" (Harant 19872 ebd. S. 248) zwischen Herkunftskultur, vertreten durch die Familie, und der Kultur des Aufnahmelandes, institutionalisiert durch die Schule. Der Widerspruch trete aber eben nicht im Sinne eines wie auch immer gefassten Kulturbezugs sondern eher zwischen den Orientierungen agrarisch - hochindustrialisiert, rural - urban, religiös - säkularisiert in Erscheinung, wie sich dies anband dieses etwas holzschnittartig zugespitzten Modernisierungstableaus fassen lässt. Spätestens zum Schulbeginn kulminierten dann diese Widersprüche, dennje größer die Distanz zwischen Schul- und Familienverhalten desto größer sei die Gefahr der Anomie. Für Nohl steckt hinter dieser Analyse die leitende Vorstellung einer einheit-


20

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

liehen - und das heißt hier vor allem deutschen - Kultur und einer in Nonnen und Werten homogenen deutschen Gesellschaft und darin sieht er eine entscheidende Theorieprämisse der Ausländerpädagogik, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Im Zusammenhang der in Rede stehenden Sprachcodedefizite wird der gemäßigte Kulturbezug der Ausländerpädagogik im Fokus um den Parameter der Schichtzugehörigkeit erweitert. Stefan Harant argumentiere, laut Nohl so, dass sich das soziale Milieu, in dem die Gastarbeiterkinder aufwüchsen, negativ auf ihre Aufstiegschancen auswirkten. Sie erlernten dort einen restringierten Sprachcode der Unterschichten im Gegensatz zu einem mittelschichtspezifischen elaborierten Sprachcode. In der Schule seien die Kinder aber mit genau diesem Sprachcode, den die Lehrer sprechen und in dessen Medium eben auch die Lehrinhalte vermittelt würden, konfrontiert, den sie somit nicht beherrschten. Auch wenn an den Implikationen dieser Defizitanalysen, etwa am engen Zusammenhang zwischen sprachlicher und kognitiver Entwicklung und an der Zuordnung eines spezifischen Maßes an kognitiver Entwicklung nur zu einem Sprachcode Kritik geübt wurde (etwa durch Czock 1993), komplettierten sie, laut Nohl, die Defizitannahmen der Ausländerpädagogik. Insgesamt, aber dominant vor allem der konstatierte Mangel an deutschen Sprachkenntnissen und seine Kompensation anhand der damaligen sprachpsychologisch gängigen Kontrastiv-Hypothese'? zur Erklärung, legten zuvorderst eine technische Lösung des Problems nahe und passen für Nohl damit genau ins Bild der damaligen Pädagogik. Dies alles sind zwar, summa summarum betrachtet, Entwicklungslinien frühen ausländerpädagogischen Denkens und damit aus heutiger fachlicher Sicht Teil der Vergangenheit. Doch lassen sich auch gegenwärtig immer wieder Elemente desselben in der öffentlichen Debatte finden, wenn es beispielsweise in Integrationskursen für Migranten vornehmlich um den Spracherwerb und die Orientierung an Normen und Werten der hiesigen Gesellschaft geht. Spätestens dort stößt man wieder auf das, wenn auch bloß alltagstheoretische, Bild einer homogenen Gesellschaft, die durch das Fremde irritiert wird und sich Integration nur als Assimilation des Fremden vorstellen kann. Worin aber und auf welcher Grundlage soll Assimilation überhaupt stattfinden? Synthetisierungsformen oder Begründungsversuche, etwa gesellschaftstheoretischer Art, lassen sich bis auf eine Ausnahme in der Phase der Ausländerpädagogik nur wenige finden. Sehrader et al. sind deshalb auch für Nohl der erste Versuch, die Ausländerpädagogik in eine Akkulturations- bzw. Integrationstheo10

Während diese noch im Zeichen der Defizitwahmehmung steht, akzeptiert die pädagogische Disziplin heute zwnindest theoretisch die Mehrsprachigkeit der Schüler als ihre Lebenswirklichkeit. Ebenso gibt es Ansätze, sie als besondere Bildungsressource anzusehen (vgl. Gogolin 2006, S. 171ff.).


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

21

rie, fußend auf der Sozialisationstheorie Talcott Parsons und ihrer Spezifizierung durch Claessens (Claessens 1972), einzubetten (Schrader et al. 1976). Die systemfunktionalistische Sozialtheorie Talcott Parsons (Parsons 2002 7 ; 2003 6) geht bekanntlich von einer arbeitsteiligen Gesellschaft, die sich in Systeme und Subsysteme differenziert, aus. Die Einheit eines solchen Sozialsystems in ihrer arbeitsteiligen Differenz, seine Integration, wird gewährleistet, indem dessen Elemente und deren funktionale Beiträge für das Ganze festgelegt werden. Arbeitsteilung ist also laut Parsons systemstabilisierend genau dann, wenn die Elemente funktionieren. Und sie funktionieren, wenn sie sich im Kern auf gemeinsame Normen und Werte beziehen. Fällt ein Gesellschaftsmitglied davon ab, hat es mit Sanktionen zu rechnen, welche dann die Normalität wieder herstellen. Sozialisation ist folglich Unterwerfung unter diese Normen und Werte, die nicht weiter ableitbar sind und auch unkritisierbar bleiben, da sie nicht auf dem Wege rationaler Begründungsverfahren entwickelt wurden. Hier steckt dann auch der assimilationistische Charakter der Theorie und in der Konsequenz ist für Sehrader et al. Integration somit auch immer mit Assimilation verbunden, wobei Integration die Teilhabe an Gesellschaft, die Assimilation Übernahme ihrer Normen und Werte im Sinne der Kultur bedeutet. Claessens betont den besonderen Stellenwert der Familie für den Sozialisationsprozess, denn erst im Medium des familialen Zusammenlebens könnten Werte am besten weitergegeben werden. Auch er sieht die Gesellschaft um gemeinsame Werte herum zentriert. Bliebe die Wertvermittlung jedoch ans abstrakte Erlernen geknüpft, könnte sie nie den Grad von Konkretion erlangen, der für die Transmission von entscheidender Bedeutung sei - nur die Familie könne dies durch Sanktionen in praktischen Handlungssituationen leisten. Insofern leiste die Familie also ihren funktionalen Beitrag für die Gesellschaft, da sie entscheidend für die Sozialisation ihrer Mitglieder ist. "Indem Kinder in die Familie hineinwachsen, werden sie also zugleich in die Gesellschaft einsozialisiert" (NohI2006, S. 33). Dies gelte auch noch dann, wenn Normen der Gesellschaft und Familien auseinanderfallen. Denn: "Es kann hier also das Paradoxon ,gelebt' werden, daß bei häufiger praktischer Unter- oder Hintergehung von gesellschaftlichen Normen die Autorität der darüberstehenden Werte grundsätzlich nicht berührt sondern eher sogar gestärkt wird" (Claessens 1972, S. 178; Noh12006, S. 33 R. w. i. 0 .). Sozialisation bedeutet folglich Tradierung und Internalisierung von kulturellen Elementen, die Sehrader et al. wiederum in drei Phasen einteilen: Soziabilisierung, Enkulturation und sekundäre soziale Fixierung. Soziabilisierung ist verknüpft mit einer Phase, in der generell ein Urvertrauen in die Sozialität entstehen soll, worauf während der Enkulturation in einer "spezifisch kulturell geprägten Familie und nähere[r] Ver-


22

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

wandtschaft" (Schrader et al. 1976, S. 76. Noh12006, S. 33) das Kind eine kulturelle Rolle - eine Basispersönlichkeit (sozusagen als Deutscher, Franzose etc.) übernehme, die im späteren Verlauf unrevidierbar sei. Im familiären Milieu soll idealiter aber ebenso die übernahme sozialer Rollen, die außerhalb der Familie gespielt werden müssen, eingeübt werden. In diesem Zeitraum finde die sekundäre soziale Fixierung statt, womit instrumentelle Fertigkeiten und Kenntnisse gemeint sind, welche zentral seien, berufliche und erwachsene Pflichten in der Gesellschaft übernehmen zu können. Hier kann es zu Konfrontationen zwischen Schule in ihrer Funktion als Sozialisationsinstanz gesellschaftlicher Erwartungen und der Familie als Sozialisationsagent kommen. Es kommt also zum folgenden Passungsverhältnis: "Die Familie übt das Kind genau in jene Werte und Normen ein, deren Einhaltung in der Gesellschaft erwartet wird. Wenn also die familial erworbene kulturelle Rolle zu der Gesellschaft und deren Werten passt, wird das soziale System der Gesellschaft stabilisiert, Integration vollzieht sich quasi automatisch" (Nohl 2006, S. 34). Familiensozialisation und gesellschaftliche Sozialisation sind aber gleichermaßen kulturalisiert, denn ,,[s]ofern das Kind die kulturelle Rolle eines Deutschen in der Familie eingeübt hat und später dann in die deutsche Gesellschaft einsozialisiert wird", verläuft die Sozialisation problemlos. "Doch wenn das Kind in die kulturelle Rolle eines Türken oder Italieners eingeübt wird, dann aber als Migrant in die deutsche Gesellschaft einsozialisiert wird, wird die Lage kompliziert" (ebd .). Wenn also die in der Familie sozialisierten Normen und Werte diejenigen sind, welche zur Gesellschaft passen, gibt es keine Integrationsprobleme und das soziale System bleibt stabil. Wird ein Kind als Migrant oder in einer anderen Kultur erzogen, tauchen Probleme in beide Richtungen auf. Nohl moniert, dass diesen komplizierten Sozialisationsverhältnissen in der Theoriebildung nicht derart entsprochen werde, angesichts einer durch Migration sich verändernden Gesellschaft deren zentrale Prämissen auf ihre Gültigkeit hin kritisch zu prüfen, sondern stattdessen die Autoren am vorgestellten Sozialisationsmodel vielmehr festhielten und sie dadurch für den so genannten Kulturkonflikt in der Sozialisation theoriegenetisch den Grundstein legten. Auf diese erwähnten sozialisationstheoretischen Prämissen aufbauend, konzipieren Sehrader et al. weitergehend drei idealtypische Enkulturationsprozesse, wobei sie ein weiteres Sozialisationsmedium, die Minderheitensubkultur, hinzufügen. Kinder, die sowohl in Schule als auch in der Familie im Herkunftsland sozialisiert wurden, haben eine monokulturelle Enkulturation abgeschlossen, der eine monokulturelle Basispersönlichkeit entspreche, welche eindeutig determiniert sei. Eine Akkulturation könne sich demnach nur noch auf instrumentelle Fertigkeiten und nicht mehr auf eine Veränderung von Wertorientierungen hinsichtlich des


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

23

Aufnahmelandes beziehen. So werde eine Minderheitensubkultur gebildet, welche die Situation der für ihre Mitglieder neuen Gesellschaft durch die Werte des Herkunftskontextes begreift . Kommen Kinder bereits im Vorschulalter ins Aufnahmeland, wiesen sie ein Enkulturationsdefizit sowohl bezüglich der Heimat- und Fremdkultur als auch der Minderheitensubkultur auf, da ihre Enkulturation unterbrochen worden sei. Es sei mit einer kulturell diffusen Basispersönlichkeit in diesem Typ zu rechnen. Die Kinder blieben in beiden Kontexten fremd, ihre Identifikation changiere damit von Situation zu Situation. Wachsen Kinder hingegen in der Minderheitensubkultur und in der Fremdkultur auf, übernähmen sie eine vorläufige kulturelle Mischrolle und eine vorläufige Basispersönlichkeit, die für eine weitere Strukturierung offen sei. Hier könne es zu einer Assimilation kommen. "Mit dem Grad der Einsozialisierung in den Herkunftskontext" sinken "die Chancen des Kindes , zu einem ,Neu-Deutschen' zu werden" (NohI2006, S. 37). In der Klassifikation, die sich anband der Idealtypen ergibt, sieht Nohl die entscheidende Leistung, aufGrund dessen die Akkulturationstheorie von Sehrader et al. dominant von Pädagogen rezipiert wurde. Sie machte es nämlich möglich, eine Gruppe von vormals diffus Unbekannten für die pädagogische Arbeit differenziert adressierbar zu machen. Die Probleme, die sich durch die Migrationssituation für die Kinder ergaben, wurden somit benennbar und die Pädagogen konnten "den Migrantenkindern eine adäquate Hilfestellung bei der Verarbeitung ihres Kulturschocks und den sich anschließenden Identitäts-Problemen geben" (Czock 1993, S. 91; zit. nach Noh12006, S. 37). Zusammenfassend lassen sich mit Nohl für diese Periode der Ausländerpädagogik zentrale Charakteristika herausstellen, worauf größtenteils die Kritik, wie sie dann im Rahmen einer Interkulturellen Pädagogik laut wurde, Bezug nimmt. Trotz hoher Differenzierung schreibt das in der Ausländerpädagogik auftauchende Gesellschaftsmodell der Gesellschaft einen normativen Kern zu, ein Zentrum, das ihr Stabilität verleiht. Dieser Kern zentriere sich um gemeinsame Normen und Werte, die aus einer national ethnisch 11 verfassten deutschen Kultur stammen und in 11

Dieser Begriff mag zunächstbefremden,scheint er doch verschiedeneKategorienmiteinander zu mischen,die ansonstenehertrennscharfbenutztwerdensollten. Zum einendenin politischen KontextenüblichenBegriff der Nation und den eher in der Ethnologie, aber auch in soziologischen Textengebrauchtender Ethnie, dessen Definitionvon Max Weberin juridischerDiktion aufschlussreich ist: "Wir wollen solcheMenschengruppen, welche aufgrundvon Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungenan Kolonisationund Wanderung einen subjektivenGlauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass dieser fiir die Propagierungvon Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht in Sippendarstellen, ,ethnische' Gruppen nennen, ganzeinerlei, ob eineBlutsgemeinsamkeit objektiv vorliegtodernicht"(Weber 1972,S. 237). DieFormulierung vomsubjektiven Glauben lässtkeinen Zweifel darüberzu, welchen Status die Vergemeinschaftungsform Ethnie haben kann, sie lässt sichnicht objektivaus einertatsächlichen Blutsverwandtschaft herleiten,sondernentspringtden


24

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

den Familien im ganz praktischen Sinne weitergegeben werden. Die Familie wird aufdiesem Wege zu einer entscheidenden Sozialisationsinstanz, in deren Medium noch vor den weiteren gesellschaftlichen Instanzen, wie der Schule, eine Transmission von Kultur irreversibel stattfindet. In quasi naturwüchsig lebensweltlicher Weise vollziehe sich Sozialisation aber nur in den einheimischen Familien in einem gelingenden Sinne, weil in diesen Fällen familienspezifische und gesellschaftliche Kultur nicht auseinander fallen, wie dies allerdings bei Migrantenfamilien der Fall ist. Diese Kulturgleichheit erleichtert den einheimisch Nachwachsenden folglich die Integration in die Gesellschaft, auch wenn es auch in einheimischen Sozialisationsverläufen zu Abweichungen, mithin Desintegration (Normabweichung, Kriminalität) kommen kann. DieAusgangsbedingungen sind in dieser Sichtweise für Migrierte aber bereits vom Startpunkt aus ungleich schlechter. Je stärker sich die Herkunftskultur in der Sozialisation ausgebreitet habe, desto schwerer falle die Integration, da eine affektive Identifikation mit den normativen Kemelementen, wie sie nur die Familie leisten könne, fehle. Eine rein instrumentelle, usurpatorische Integration wird auf diesem Wege theorieanalytisch von kultureller Assimilation geschieden und gewichtet, denn nur wenn letzteres gelinge, könnten auch Migrantenkinder "Neu-Deutsche" werden. Umgekehrt hängt für die Ausländerpädagogik, bzw. deren Modell von Gesellschaft, gesamtgesellschaftliche Stabilität aber davon ab, ob alle Gesellschaftsmitglieder die gemeinsamen Normen und Werte internalisiert haben; folglich werden alle Nichtassimilierten zu einer Bedrohung für die innere Stabilität der kulturhomogenen Gesellschaft. Nohl bilanziert, das Verständnis davon, dass sich eine Gesellschaft durch einen gemeinsamen, nationalethnischen Wertekonsens, der homogen ist, mache den Anderen erst zum Ausländer. Die Frage nach gesellschaftlicher Pluralisierung insgesamt stelle sich zu dieser Zeit folglich nicht. In der jetzig politisch geführten öffentlichen Debatte um Leitkultur und Parallelgesellschaften sieht er Beispiele für die Aktualität des ausländerpädagogischen Gesellschaftsmodells, obwohl dies in der erziehungswissenschaftliehen Disziplin als überholt gilt. Schon früh, mit Beginn der 1980er Jahre , mussten sich die Ausländerpädagogik und ihre Akteure der Kritik ausgesetzt sehen, die laut Nohl zwei Stoßrichtungen besaß. Zum einen wurde ihr eine Pädagogisierung politisch zu lösender Probleme vorgeworfen und zum andern der Anlass ihrer pädagogischen Kompensationsbemühungen, die Defizithypothese, angezweifelt. Laut Hamburger (Hamburger 1984) stigmatisiere die Ausländerpädagogik ihr Klientel, um der Pädagogik Überzeugungender Subjekte. Vergleicht man den Begriffder Nation mit demjenigendes Staats, so wird deutlich, dassjener in einer geschichtlichenSituationebenso subjektivenVorstellungen über Gemeinschaftderjenigenberuht, die auf einem Territoriumzusammenleben.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

25

neue Arbeitsaufgaben aufzutragen und damit neue Tätigkeitsfelder zu eröffnen . Die eigentlich gesellschaftlichen Probleme einer verhinderten Einwanderungsgesellschaft würden aber auf diese Weise einer spezifischen Bevölkerungsgruppe zugewiesen, die in Folge sozialpädagogischer Betreuung zugewiesen werden müsse. Das politische Problem sei aber im Grunde die Frage nach der Einwanderung, die auf pädagogischem Wege nicht zu beantworten und das Problem ebenfalls nicht zu lösen sei. Dies blieb nicht folgenlos: Hartmut Griese, der mit Sehrader et al. einige Jahre zuvor noch das entscheidende Sozialisations- und Akkulturationsmodel geliefert hatte, forderte bereits 1984 die Abschaffung der Ausländerpädagogik. Statt Migranten als Problemgruppe weiterhin pädagogisch zu adressieren, sollte vielmehr die Mehrheitsgesellschaft das Ziel von Bildung und Aufklärung werden. Ihre Vorurteile gelte es abzubauen. Nohl sieht in Vink (Vink 1974) einen frühen Vorläufer der Interkulturellen Pädagogik, deren Begriffallerdings erst im nächsten Jahrzehnt gebildet wird . Denn seine Interpersonelle Pädagogik thematisiere bereits eine Kultursensibilität im wechselseitigen Umgang miteinander. Die Defizithypothese wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht grundsätzlich, etwa in puncto mangelnder Stichhaltigkeit, kritisiert, sondern die Kritiker der Ausländerpädagogik suchten vielmehr nach alternativen Sichtweisen zu ihr. So wurden, wie Nohl zusammenfasst, Wege zur Differenzhypothese gesucht, die emanzipatorisch-politische Initiativen nach sich ziehen sollten.

1.2 Interkulturelle Pädagogik als kritische Reaktion aufAusländerpädagogik Die Interkulturelle Pädagogik, von Nohl Phase der klassischen Interkulturellen Pädagogik genannt, zielte seit ihren Anfangen in den 80er Jahren auf einen Bewusstseinswandel der Akteure des Erziehungs- und Bildungssystems ab, welcher mittels eines normativen Programms, dessen Entstehung sich einer Fortführung und Ausarbeitung der Kritik an den Schwächen - Defizithypothese, Pädagogisierung politischer Probleme - der zielgruppenorientierten Ausländerpädagogik, wie ich sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt habe, verdankt. Als neu einzuschätzen, ist zu diesem Zeitpunkt sicherlich, Kulturen von Migranten und Nichtrnigranten im Sinne einer Gleichwertigkeit zu fokussieren, indem die Interkulturelle Pädagogik sich sowohl an Einheimische als auch Einwanderer richtete und für ein wechselseitiges Verständnis plädierte. Ihr Programm wurde aber nicht ausschließlich mit normativ politischer Emphase vertreten, sondern es entstanden ebenso theoretische Arbeiten, die Interkulturelle Pädagogik im Modell einer multiethnischen Einwanderungsgesellschaft zu fundieren und zu begründen, wie zu zeigen sein wird. Nohl führt für den Übergang von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik die beiden pädagogischen Autoren Götze und Pommerin (Götze/


26

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Pommerin 1986) an, die von einem Konzept interkulturellen Lernens ausgingen, dass sowohl einheimische Deutsche als auch Ausländer von der Existenz vieler Sprachen und verschiedenartiger Kulturen betroffen seien und somit auch beiderseits von einander lernen könnten. Multikultur wird hier also als Lernchance begriffen, gegenseitig etwas vom und über den jeweils Anderen zu erfahren. Die Ziele der Ausländerpädagogik seien einer solchen multikulturell geprägten Gesellschaft inadäquat, da deren Pädagogen bloß die Anwaltsfunktion für die auf diese Weise aufs Defizit festgeschriebene Minderheit übernähmen, deren Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu befördern, wobei letztere gerade dadurch von der Verantwortung für die Gesamtgesellschaft freigesprochen würden. Auch Essinger (Essinger 1986) teile diese politische Stoßrichtung und gehe von einer multiethnischen und -kulturellen Gesellschaft als Folge von Migration aus. Ziel der Pädagogik sei folglich eine auf Dialog und Begegnung abzielende Erziehung zur gemeinsamen Solidarität. Es lässt sich hier leicht sehen, welche Umstellungen in der Interkulturellen Pädagogik anfangs vorgenommen wurden. Die kulturelle Perspektive wird in den Vordergrund gestellt, der Kulturbegriff bis auf weiteres allerdings als Ethnizität bestimmt. Multikulturaliät wird somit als eine dringend zu bearbeitende gesellschaftspolitische Folge von Migration angesehen. Die Homogenitätsvorstellung, welche das kulturpädagogische Denken zuvor dominiert hatte, wurde also zumindest in Teilen aufgegeben. Die noch in der Ausländerpädagogik gestellte Problemdiagnose, die stets Gefahr lief, nicht nur der Migrantenkultur immer wieder Defizite zu attestieren, sondern umgekehrt damit ebenso die eigenen - selbst kulturell geprägten - Maßstäbe zu verabsolutieren und damit quasi hegemonial zu werden, wurde somit ebenfalls umgestellt. Diehm und Radtke sehen allerdings die Ursachen, das Programm von Defizit auf Differenz nun umstellen zu wollen, weniger durch allgemeine konzeptuelle Überlegungen hervorgerufen, als vielmehr in mangelhaften ausländerpädagogischen Ansätzen begründet, sich das Scheitern der eigenen Profession um Integrationsbemühungen zu erklären. ,,Auf die teilweise unübersehbare Vergeblichkeit ihrer [der Ausländerpädagogen; Zus. v. T. G.] Versuche, die Defizite durch fördernden Unterricht zu kompensieren, reagierten sie nicht mit einer kritischen Überprüfung ihrer Maßnahmen, sondern sie erklärten sich das Scheitern mit der herkunftskulturell geprägten psycho-sozialen Ausstattung der Kinder und ihrer Familien" (DiehmlRadtke 1999, S. 129). Dieser Erklärungsansatz drohte aber, wie gesehen, die Migrantenkulturen insgesamt zu stigmatisieren und abzuwerten. Aus der Defizithypothese resultierte, die Migranten zu nötigen, ihre herkunftskulturelle Eigenständigkeit aufzugeben, und sich zu assimilieren. Damit wurde, laut Diehm


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

27

und Radtke, ein ethnozentristischer Kurzschluss in der Ausländerpädagogik gezogen, aus dem Scheitern der Institutionen auf die defizitäre Herkunftskultur im Sinne des Kulturkonflikts zu schließen. Die Ausländerpädagogik arbeitete aber selbst, in Ermangelung besseren Wissens, mit an der Stigmatisierung von Migrantenkulturen (ebd.) . Folglich entwickelte sich die Interkulturelle Pädagogik auch aus der Ablehnung dieses Ethnozentrismus' heraus. Dies geschah zunächst schrittweise, indem sie sich von der ihr vorangegangenen Phase allmählich absetzte, und gewann dann aber zunehmend auch inhaltliche und theoretisch reflektierte Kontur. Die Defizitorientierung der Ausländerpädagogik sollte also aufgegeben und stattdessen ein programmatischer Wandel in der Bewertung kulturspezifischer Unterschiede erfolgen. Die am Minderheitenstatus von Migranten in der Gesellschaft orientierte Ausländerpädagogik insgesamt durch eine Pädagogik ersetzt werden, die sich fortan an der Differenz gleichwertiger Kulturen zu orientieren habe. Der vorherigen Abwertung somit eine Aufwertung folgen. Folglich galt es nicht länger, in der pädagogischen Praxis etwaige Schwächen bloß zu diagnostizieren und kompensatorisch daraufzu reagieren, sondern Unterschiede, die der Diagnose zugrunde lagen, vielmehr differenzsensibel wahrzunehmen und positiv aufzuwerten. Insgesamt eben Kultur nicht essentialistisch aufzufassen, sondern als dynamisch und veränderlich anzusehen - die eigene wie die fremde - und für Wechselbeziehungen offen zu halten. Die praktischen Pädagogen sollten sich mit ihren Konzepten und Angeboten nun an alle richten und nicht länger, wie zuvor, ausschließlich an eine von der eigenen Kultur differente Klientel. Der Idee eines solchen interkulturellen Dialogs lag das Versprechen zugrunde, dass durch die wechselseitige Beschäftigung mit dem jeweils kulturell Anderen - es dadurch bewahrend zu verstehen - sich auch zwangsläufig über das jeweilig Eigene etwas lernen lasse. Auf diesem Wege sollte es über Aushandlungsprozesse in pädagogischer Praxis zu einer Anerkennung unterschiedlicher Kulturen als Lebensformen kommen. Anerkennung von Vielfalt und Erhalt kultureller Identität sollten so zusammen finden (vgl. etwa Prengel 2006). Dieser Diskurs wird dann in den 90er Jahren vertieft und findet seine Referenzen in den sozialphilosophischen und politischen Debatten um eine normative Anerkennung von Differenzen unter der Perspektive politischer Gerechtigkeit, den Auseinandersetzungen über den Zusammenhang zwischen Kulturrelativismus oder -universalismus und der Sozialutopie einer multikulturellen Gesellschaft (vgl. den Diskurs zusammenfassend etwa Roth 2002). Die Vertreter der Ausländerpädagogik räurntenjedoch das Feld nicht kampflos. Zunächst führten die nun laut gewordenen Monita an der Ausländerpädagogik, laut Nohl, zu einer Auseinandersetzung innerhalb der Fachdisziplin, ob Einwan-


28

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

derung nun eine Sache kultureller Differenz oder vielmehr ein Problem sozialer Ungleichheit sei (vgl. Nohl2006). So kritisierten denn auch Boos-Nünning et al. (Boos-Nünning et al. 1984) das Postulat Grieses, die Ausländerpädagogik zugunsten einer Einwanderungspolitik abzuschaffen, mit Bezug zu den sozialstrukturellen Bedingungen, die zeigten, dass Migranten nicht nur der Arbeiterschicht zugehörig seien, sondern innerhalb dessen zum so genannten Subproletariat gehörten. Unter Berücksichtigung dieser konkreten Lebensumstände und nicht hinsichtlich ihrer kulturellen Differenz seien Arbeitsmigranten und ihre Kinder in die Gesellschaft zu integrieren. Ebenso stützten sich die Autoren auf die so genannte Unterschichtungsthese, wie sie von Neufert bereits aufgestellt worden war (Neufert 1974). Ihr entsprechend grenzen sich Einheimische von Arbeitsmigranten ab, da diese genau diejenigen Arbeiten übernehmen, welche jene nicht länger ausführen wollten. Folglich komme es zu einer Deklassierung der Gastarbeiter und umgekehrt zur Arbeiteraristokratie innerhalb der einheimischen Arbeiterschaft, die sich durch die Herabsetzung der Anderen plötzlich zu sozialen Aufsteigern aufgewertet fühlten. Den politischen Anlass, eine solche These aufzustellen, sieht Nohl in den Erfahrungen mit der deutschen Geschichte, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus, motiviert. Es werde ein Kontinuum gesehen: Damals seien die Juden und jetzt die Ausländer deklassiert (NohI2006, S. 48). Vor allem aber ließ sich die These Neuferts durch das erhobene statistische Material belegen (Neufert 1974). Boos-Nünning et al. plädierten zunächst weiterhin für eine kompensatorische Pädagogik, welche die sich aus der sozialen Ungleichheit resultierenden Probleme der Migranten zu bewältigen helfe. Gegenüber Grieses Einwand, pädagogische Kompensation politischer Missstände zu betreiben, machten sie eine politisch bewusste Ausländerpädagogik stark, die den ausländischen Kindern und Jugendlichen Kompetenzen vermittelten, die diese brauchen, um sich in der Aufnahmegesellschaft individuell und kollektiv behaupten und durchsetzen zu können. 1m damit entfachten Konflikt, ob es disziplinimmanent nun sinnvoller sei, differenzsensibel oder besser ungleichheitsbewusst zu agieren, reklamierten die Interkulturellen Pädagogen für sich, dass es ihnen erstens an notwendigem Bewusstsein für soziale Ungleichheiten durchaus nicht fehle, sie aber zweitens das Gesamtproblem nicht ausschließlich auf ökonomische Faktoren reduzieren, sondern die Folgen von Migration eben auch in ihrer kulturellen Dimension betrachten wolle, denn jede Arbeitsmigration sei eben auch Kulturmigration. Die Perspektive der Interkulturellen Pädagogik sei damit deutlich umfassender als diejenige der Ausländerpädagogik (Essinger/Graf 1984). Auf Kultur zu fokussieren, wird mithin von den Vertretern der neuen Schule als emanzipatorisches Projekt angesehen, Migrierende nicht länger und ausschließlich als Arbeitskräfte im Sinne des Begriffes vom


1. Der Geist der InterkulturellenPädagogikaus demUngeistderAusländerpädagogik

29

Gastarbeiter zu sehen. Da die hiesige Gesellschaft einwanderungsbedingt multikulturell geworden sei, müsse den kulturspezifischen Lebensverhältnissen eben auch pädagogisch entsprochen werden. Hierin findet eine weitere Umstellung in der Perspektive hin zur Interkulturellen Pädagogik statt, denn die Auffassung von Migrationen verändert sich: Weg vom temporären Aufenthalt, wie er im Begriffdes Gastarbeiters zum Ausdruck kommt, hin zur Vorstellung dauerhafter Bleibe. Dass damit heutige Migrationsverhältnisse in ihrer Komplexität und Vielgestaltigkeit noch nicht annähernd realitätsnah erfasst werden können, wird noch zu sehen sein. Nohl kritisiert die sich daran anschließende Entwicklung, welche die Interkulturelle Pädagogik alsbald vollzog, denn die von Essinger und Grafbehauptete Sensibilität für soziale Ungleichheit sei zunehmend verloren gegangen und Migration wurde danndoch, entgegen des eigenen Vorsatzes, vor allem kulturell gedeutet. Dennoch haben sich die von ihr angestoßenen Perspektivwechsel im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt, obwohl sich immer wieder feststellen lasse, wie weit eine Defizitorientierung und die Vorstellung über nationalgesellschaftlich homogene Normen und Werte, wie sie aus der Ausländerpädagogik resultierten, auch heute noch im öffentlichen Bewusstsein" verbreitet seien. Die frühe Interkulturelle Pädagogik verbindet sich zu Beginn mit vielen verschiedenen pädagogischen Strömungen der 1980er Jahre, wie der Friedenserziehung oder der Community-Education, deren theoretische und historische Wurzeln in der Reformpädagogik und der Befreiungspädagogik etwa von Paul Freire (Freire 1972, 1974) liegen . In der Community-Education etwa werden Migranten prominent als Angehörige einer ethnischen Gemeinschaft angesehen. Laut Manfred Hohmann müssten also alle pädagogischen Bemühungen darauf abzielen, diesen "vollen Lebenszusammenhang der Edukanden und Klienten" zu berücksichtigen (Hohmann 1989, S. 14). Somit werde laut Nohl zwar die kulturelle Herkunft der Kinder berücksichtigt und keinesfalls defizitorientiert aufgefasst, aber es bleibe an dieser Stelle unklar, ob mit dem gewählten Begriff des vollen Lebenszusammenhangs noch etwas anderes außer der ethnisch geprägten Kultur gemeint werde (Nohl 2006, S. 50). Er lässt keinen Zweifel daran, dass diese Perspektive der Interkulturellen Pädagogik zwar die Möglichkeit eröffnete, die Migrantenkinder in ihrer Lebenswelt zu thematisieren, ihre Herkunft auch nicht länger defizitorientiert aufzufassen, aber ebenso ihre Sozialisationsprobleme auch eher ethnisch denn schichtspezifisch zu begründen. Die aus der Friedensbewegung stammende Friedenspädagogik betont am interkulturellen Ansatz vornehmlich die Austauschprozesse zwischen den Kulturen und Gemeinschaften. Zu ihren Erziehungszielen gehören der Abbau von Vorurtei12

Nohl verweist hieraufMedien.


30

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

len, die Zunahme von gegenseitiger Empathiefähigkeit, die Solidarität über gemeinschaftliche Grenzen hinaus, die Etablierung eines antinationalistischen Denkens und die Steigerung der Konfliktfähigkeit (Essinger/Graf 1984). Konkrete pädagogische Mittel sollen Begegnungs- und Konfliktpädagogik liefern, wie Hohmann ausführt. Die Begegnungspädagogik ziele darauf ab, einen "interkulturellen Austausch" zu initiieren, in dem es um die "Repräsentation einer Kultur gegenüber Angehörigen (wenigstens) einer anderen Kultur" gehe und sich auf diese Weise eine "interkulturelle Bereicherung" einstellen könne. Davon zu unterscheiden sei die Konfliktpädagogik, welche die "Bekämpfung von Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung und Rassismus, die Beseitigung von Ethnozentrismus und Vorurteilen, die Herstellung von Chancengleichheit und die Förderung von Emanzipation" zum Ziel habe (Hohmann 1989, S. 15 fI.; Noh12006, S. 54). Nohl hebt hervor, dass dies zwar der erste Versuch gewesen sei, die Interkulturelle Pädagogik inhaltlich zu konzipieren, doch sei sie damit noch nicht theoretisch begründet, mithin ihre Trennschärfe noch nicht genügend ausgearbeitet worden. Dies geschehe im Sinne einer theoretischen Fundierung erst in den 1990er Jahren, worin auch der eingangs erwähnte KMK-Beschluss 13 zur Interkulturellen Pädagogik, mittels dessen dann konkrete Lernziele für die Schule formuliert werden konnten, fällt , Einen Hintergrund dafür bildete sicherlich die Vorstellung, die sich von der ausländerpädagogischen Sichtweise diametral unterscheidet, Migration nämlich nun als dauerhafte Bleibe der Migranten im Zielland anzusehen. Ob dies der tatsächlichen Migrationswirklichkeit zu der Zeit entsprach, bzw. ihr heute entspricht, wird noch zu diskutieren sein.

1.3 Kulturtheoretische Begründungen Interkultureller Pädagogik v. Nieke Theoretische Begründungsentwürfe liefern dann im Verlauf dieser Dekade erst die Autoren Nieke, Kiesel, Prengel und Auernheimer, von denen Nohl die Überlegungen Niekes in seiner Darstellung auswählt. Wichtig zu erwähnen, ist insbesondere die Konzeption Prengels, da hier mit einer Konzeptualisierung der Interkulturellen Pädagogik im Kontext einer allgemeinen Pädagogik der Anerkennung versucht wird, eine Antwort auf die Schwächen der Konzeption Niekes zu geben. Dessen Positionen und Argumentationsweisen sollen im Folgenden nun nachgezeichnet und kritisch kommentiert werden. Wolfgang Nieke (Nieke 2000 2 , erste Aufl. 1995) etwa grenzt sich von einer naiven Konzeption Interkultureller Pädagogik ab, die Multikulturalität unhinter13

KMK-Beschluss vom 25.10.1996 . Dies ist auch für die Entwicklung des Curriculums des Faches Praktische Philosophie , wie auch seine Implementation von administrativ entscheidender Bedeutung.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

31

fragt stets normativ als Bereicherung auffasse, und damit Konflikte, die interkulturell entstehen, verschweige. Seine Argumentation folgt aber ebenso dem nicht minder pädagogisch-normativen Interesse, wie es möglich werden kann, dass verschiedene Kulturen auf gelingende Weise miteinander leben können. Er stellt sich die Frage, in der auch das Gelingen qualifiziert wird: "Wie kann zu einem verantwortlichen und vernünftigen Umgang der Angehörigen von Mehrheit und Minderheiten in einer Gesellschaft angeleitet werden?" Nieke erläutert, dass seine Frage zunächst die Dimension beinhalte, welche "auf die Ungleichheit der Macht zwischen Mehrheit und Minderheiten" rekurriere, und danach eine weitere, die eine auf "die Differenz der Selbst- und Fremddefinitionen bezogene" Dimension sei, "mit denen sich Mehrheit und Minderheiten jeweils selbst und in Abgrenzung dazu die jeweils anderen bestimmen und identifizieren" (Nieke 2000 2, S. 9; Nohl 2006 S. 57) . Die Art der Fragestellung impliziert, zum einen Konflikte nicht allein als Kulturkonflikte zu deuten, sondern eine gesellschaftlich vermittelte Ebene des Machtgefälles zwischen Minder- und Mehrheit einzuziehen. Zum anderen wird mit ihrer Formulierung Wert darauflegt, die wechselseitigen Definitionsprozesse der gesellschaftlichen Gruppen, wie die jeweils eigene und jeweilig andere Kultur zu sehen sei, in der Beurteilung des Zusammenlebens zu eruieren und zu berücksichtigen. Die Interkulturelle Pädagogik, so zeigt sich daran, soll dazu beitragen, das Zusammenleben vernünftig und verantwortlich zu gestalten. Nohl hebt Niekes Ansatz vor allem deswegen hervor, dass er nicht einen bereits auf Vernünftigkeit ausgerichteten Kulturbegriffverwende, sondern stattdessen versuche, diesen als im Sinne kollektiver Orientierungen, die unbewusst und unhinterfragt im Alltag ablaufen, zu definieren. Hierbei bezieht sich Nieke vor allem auf das von Alfred Schütz und Thomas Luckmann entwickelte Lebensweltkonzept, demzufolge Lebenswelt "die Gesamtheit der fraglosen Gewißheiten des Alltags bei der Orientierung in der physischen und sozialen Umwelt" sei (Nieke 2000 2 , S. 51; Rechtschreibung wie im Original). Kultur lässt sich dementsprechend als eine je spezifische Lebensweise verstehen, die den sozialen Akteuren selbstverständlich ist und damit subjektiv unhinterfragt bleibt. Die Differenz zum Lebensweltbegriff Schützes und Luckmanns liegt bei Nieke darin, die subjektive Orientierung primär als kollektive und nicht als individuelle zu begreifen. Die begriffliche Identifizierung von Kultur mit kollektiver lebensweltlicher Orientierung schränkt aber im Interkulturellen Kontext vor allem die Dominanz, den Kulturbegriffprominent ethnisch, national- oder ausschließlich sprachbezogen auszulegen, ein, da dieser um weitere Dimensionen ergänzt wird, ohne die anderen Bezüge allerdings umgekehrt auszuschließen. Darin liegt auch für Nohl eine seiner Stärken begründet. Dementsprechend sei beim lebensweltlichen Kulturbegriff dessen


32

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Differenzierungsleistung entsprechend hoch einzuschätzen. Mit ihm können nun nicht nur verschiedene ethnisch-kulturelle Lebenswelten, sondern auch innerhalb wie außerhalb dieser hinsichtlich unterschiedlicher Regionen oder Sozialschichten differenziert werden (vgl. Nohl2006 S. 58). Die Einführung des lebensweltlichen Konzepts im Sinne kollektiver Orientierungen bleibt auch für den Verstehensprozess nicht folgenlos. EinAußenstehender muss sich den Sinnbezug im Kontext von Deutungsmustern erschließen, die für die jeweilige Lebenswelt subjektiv sinnvoll sind . Orientierungen sind dementsprechend Deutungsmuster, die in kollektiver Hinsicht individuellen voraus gehen . Individuell seien, laut Nieke, vielmehr die einzelnen Aneignungsweisen kollektiver Deutungsmuster. Umgekehrt können andere Deutungsmuster die eigenen vertrauten Gewissheiten herausfordern, irritieren oder bisweilen auch verstören. Soll die Interkulturelle Pädagogik an einen vernünftigen Umgang mit Kulturdifferenzen anknüpfen, wie Nieke es von ihr verlangt, so wird sie folglich angehalten sein, die Selbstverständlichkeiten der jeweiligen kulturellen Deutungsmuster in ihrer Kontextabhängigkeit zu thematisieren. Die Sinnorientierungen, die der jeweils anderen Lebenswelt für das Handeln ihrer Akteure zugrunde liegen, müssen dann von außen nicht länger als fremd beurteilt oder gar irrational abgewertet werden, sondern können, einmal in ihren Kontext gestellt, in ihm erkennbar und aus ihm heraus verstehbar werden (vgl. ebd. S. 59/60) . Die vermeintliche Irrationalität einer Lebenswelt entpuppt sich also bei genauerer Betrachtung als ein Wissensdefizit über die jeweiligen Inhalte ihrer sinnstrukturierenden Deutungsmuster. Die Beurteilung einer anderen Lebenswelt kann ebenso aber auch Folge einer unbegriffenen, da unhinterfragten, individuellen Aneignung eines kollektiven Deutungsmusters der eigenen Lebenswelt sein. In einer daraufabzielenden Aufklärung wird die Interkulturelle Pädagogik für Nieke anschlussfähig an die traditionellen Bereiche der Pädagogik: Entwicklung, Sozialisation und Bildung (Nieke 2000 2 , S. 56), die allerdings in ihrer Grundkonzeption, wie Nohl zeigt, von ihm inhaltlich nicht weiter ausgeführt werden. Kultur im Sinne der Lebenswelt aufzufassen, zeitigt allerdings weitere weitreichende Konsequenzen. So könnte dies nach sich ziehen, zu sehen, dass Interkulturalität nicht mehr länger ein besonderer sondern der normale Fall einer pluralisierten modemen Gesellschaft ist, für die doch stets eine Vielfalt mannigfaltiger Sinnbezüge und Orientierungen, die sich widersprechen, voneinander abgrenzen, aber auch daraufangewiesen sind, sich zu arrangieren oder zu koordinieren, konstitutiv ist. Multikulturalität, so ließe sich schlussfolgern, entsteht also gar nicht erst als Folge von Migration und Einwanderung, wie dies die frühe Interkulturelle Pädagogik in ihrem Bemühen, sich von der Ausländerpädagogik abzugrenzen, noch


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

33

behauptet hatte, sondern ist vielmehr wesentlicher Bestandteil moderner Ausdifferenzierungsprozesse, wie sie eben in hochmodernen Gesellschaften zu beobachten ist. Nohl merkt an, dass Nieke angesichts dieser Potenzialität seines zugrunde liegenden Theoriekonzeptes einen solchen Schluss allerdings nicht ziehe, sondern seine Überlegungen zur Multikulturalität auf Fragen der Einwanderung bezogen blieben. Statt sich aber ausschließlich auf die Lebenswelten der Migranten zu beziehen, wie dies sonst in der Interkulturellen Pädagogik üblich sei, richte er sein Interesse demgegenüber auch auf diejenigen der Einheimischen. Anband des Deutungsmusters des Ausländers seitens Einheimischer stellt er nämlich Anknüpfungspunkte fiir eine Interkulturelle Pädagogik heraus . Der Ausländer begegne dem Einheimischen in seiner Lebenswelt nämlich entweder als Fremder oder als Konkurrent. Der soziologische Diskurs über den Fremden, wie er schon von Schütz und Simmel begonnen wurde, liefert Nieke die entscheidende Phänomenologie, einen solchen sozialen Typus zu charakterisieren. Der Fremde lebe nämlich in Selbstverständlichkeiten, welche demjenigen, der ihn als fremd empfinde, eben alles andere als selbstverständlich seien . Nicht nur scheinen sie ihm exotisch, sondern auch geradezu falsch zu sein, weil sie eben den eigenen Selbstverständlichkeiten widersprechen. Nieke formuliert die Logik des Vorurteils wie folgt: Die Selbstverständlichkeiten der Kultur und Lebensweise des Fremden stellen in der Binnenperspektive die eigenen in Frage, folglich müssen jene falsche sein, da ja nicht beide zugleich zutreffend sein könnten. Laut Nohl ist der springende Punkt fiir Nieke, mit dem Verweis auf Schütz und Simmel Fremdheit nicht als Substanz von Menschen, die ihrem Wesen zugehörig ist, sondern als Relation zwischen Menschen konzipieren zu können. So kann er anband der Figur des Fremden den Zusammenhang von Selbst- und Fremddefinition, wie eingangs erläutert, exemplifizieren. Während allerdings im Falle des Fremden die soziale Beziehung aus einer Distanz seiner zur eigenen Lebenswelt resultiere, liege im Falle des Konkurrenten im Gegenteil eine bedrohliche Nähe vor. Denn mit dem Ausländer kämpfe der Einheimische stets um knappe Güter, ganz gleich ob der Kampf nun beispielsweise um die Vergabe von Stipendien oder etwa, vermeintlich banal, um eine kürzere Wartezeit in der Einkaufsschlange ausgetragen werde (vgl. Nieke 2000 2, S. 75). Nieke unterscheidet nun vier mögliche Reaktionen, mit Zuwanderern im Hinblick auf Fremdheit und Konkurrenzsituationen umzugehen (Nieke 2000 2, S. 77 ff.), in deren Deskription er die möglichst größte analytische Distanz zum Gegenstand einnimmt. Zunächst erwähnt er die Assimilationszumutung, d. h. Zuwanderer werden genötigt, sich zu assimilieren und damit die Gewissheiten und Sicherheiten der kollektiven Deutungsmuster des Aufnahmelandes als entscheidendes


34

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Maß anzunehmen, an das es sich anzupassen gilt. Weniger scharf in der normativen Durchsetzung einer Dominanzkultur wäre die schwächere Assimilationserwartung, wie sie die seinerzeit vertretene These vom melting pot versprach. 14 Nieke weist jedoch darauf hin, dass die quasi naturwüchsige Vermischung aller Eigenschaften bereits zu dieser Zeit in Kritik geraten war. Insbesondere das ihr inhärente Moment evolutionärer Selbstläufigkeit - also die Vorstellung, wenn differente Kulturen nur eine Zeit lang (etwa drei Generationen) zusammen lebten, stelle sich neben Assimilation auch kulturelle Emergenz ein - stand in der Kritik. Zweitens gebe es die Möglichkeit, die Zuwanderer entweder wieder zu vertreiben oder zu vernichten, was er zwar als barbarisch verurteilt, jedoch ebenso daraufhinweist, dass dieses Muster immer wieder auch manifeste Realität werde: "Die gar nicht so seltenen Fälle von Morden an Zuwanderern sind Manifestationen dieses Grundmusters" (ebd . S. 78) Aber man müsse nicht erst die auffälligen Extreme von Fremdenhass registrieren, um einen Vernichtungswillen zu attestieren, sondern ihm gelten bereits Witze über Türken, die er in eine Linie mit früheren Judenwitzen stellt, ebenso als eine Form von Vernichtung, die allerdings nicht realiter sondern virtuell vollzogen werde. Desgleichen sieht er in finanziellen Anreizen zur Rückkehr der Einwanderer bereits schon ein, wenn auch sicherlich viel schwächeres, Motiv, das darauf abziele, Einwanderer, zwar nicht körperlich zu vernichten, aber nichtsdestotrotz zumindest räumlich zu vertreiben, woraufNohl hinweist (Nohl 2006, S. 62). Werden sie nicht ganz außerhalb der räumlichen Grenzen eines national bestimmten Territoriums verwiesen, so lassen sich sehr wohl auch innerhalb desselben Schranken errichten, worin Nieke einen dritten möglichen Umgang mit Fremden und Konkurrenten sieht. Eine solche Segregation finde in Räumen statt, die möglichst wenig alltägliche Berührungspunkte zwischen Einheimischen und Einwanderern zuließen (a. a, O. S. 78). Die Abgrenzung auf der symbolischen Ebene der kollektiven Deutungsmuster findet in dieser Logik ihre physische Entsprechung im Raum. Eine vierte und von Nieke die gleichermaßen geforderte wie bevorzugte Möglichkeit stellt die positive "gleichberechtigte Aufnahme der Zuwanderer in das soziale System der Aufnahmegesellschaft" (ebd . S. 78) dar. Diese könne rational nur so verfolgt werden, indem die jeweiligen Deutungsmuster auf dem Wege Interkulturellen Lernens verändert werden und wozu die multikulturelle Gesellschaft das emphatische Modell gelingenden Zusammenlebens liefere. In diesem Zusammenhang ist die Interkulturelle Pädagogik aufvernünftige Maßstäbe des guten und richtigen Handeins verwiesen, also rationale ethische Kategorien.

14

Diese resultierte aus den US-amerikanischen Studien zur Einwanderung.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

35

In Bezug auf das Modell einer multikulturellen Gesellschaft bleibt er in den folgenden Ausführungen aber seiner Maxime treu, nicht allein aufkulturalistische Faktoren abzustellen, sondern die sozialstrukturelle Bedeutung stets mit einzubeziehen. Das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen zueinander resultierte ja, wie gesehen, für Nieke nicht bloß aus kulturellen Unterschieden in Deutungsmustern, sondern diese sind immer auch mit bedingt durch ihre machtbezogene Position als Minorität oder Majorität. In seiner Typologie sind die analytischen Figuren des Fremden und Konkurrenten folglich nicht zu trennen, ansonsten fiele für ihn die Interkulturelle Pädagogik in ihr frühes naives Stadium zurück, allein aufKulturdifferenzen abzuheben und mit unrealistischem Gesellschaftsbezug zu agieren. Damit hänge dann ebenso zusammen, dass die Aufgaben auf dem Wege zu einer multikulturellen Gesellschaft stets in zwei Richtungen zu verfolgen seien : einerseits in Bezug aufStrukturveränderungen, die den Rechtsstatus und soziale Mobilität von Migranten etc. betreffen und andererseits in Bezug auf eine Veränderung von Deutungsmustern dort, wo sie sich als schädlich für das Zusammenleben erweisen. So sind von ihm für die Interkulturelle Pädagogik in klarer Weise sowohl ihre Aufgaben benannt, wie auch ihre strukturellen Grenzen aufgezeigt worden. Das von Nieke in Anschlag gebrachte multikulturelle Gesellschaftsmodell beinhaltet in seiner Normativität allerdings eine wie auch immer geartete Relativierung von lebensweltlichen Deutungsmustern, denn ihr zufolge darf es keine dominanten und andere ausschließenden Deutungsmuster geben , da sonst da mit ihr verbundene Hoffnung, Majoritäten und Minoritäten zu einem "vernünftigen und verantwortlichen Umgang" (ebd. S. 9) miteinander zu bewegen, bereits in den Grundlagen erschüttert wäre . Die in diesem Zusammenhang entscheidenden Begründungszusammenhänge und theoretischen Fundamente lieferte die Debatte um den Kulturrelativismus, wie sie in den I 990er Jahren, nicht zuletzt in der angloamerikanischen und deutschen Sozialphilosophie im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Kommunitarismus und Liberalismus geführt worden ist", Nieke unterscheidet diesbezüglich einen völligen von einem bloß agnosti15

Vgl. etwa Taylor und Habermas. Diese Debatte entstand in einer Auseinandersetzung über den Liberalismus in den angloamerikanischen Ländern. Taylor vertrat die Ansicht, dass es eine Anerkennung partikularer Werte geben müsse, vor allem dann, wenn es sich um Werte von Minderheiten handele. Dem hielt der Universalist Habermas entgegen, prinzipiell müssten alle Werte kritisierbar bleiben. Diese könne man nicht konservieren, da man sonst ein dogmatisches Element in die politische Ethik fest installiere. Dies ist auch ein fiir die Debatte um Einwanderung interessanter Punkt, der fiirNieke einflussreich gewesen ist. Habermas interpretiert Einwanderung politisch als bewussten Beitritt zu einem Verfassungsprojekt. Durch einen Beitritt entscheide man sich fiir den Verfassungspatriotismus, der allerdings inhaltlich keine weiteren Werte nach sich ziehe , außer dem , dass alle Entscheidungen in Diskursen nach dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes auszutragen seien .


36

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

sehen Kulturrelativismus, geschlossen aus der praktischen Unmöglichkeit, handlungsstabil einen völligen Relativismus aufrecht erhalten zu können. Denn Handlungen setzten im Konfliktfall Entscheidungen zwischen Deutungsmustern voraus und diese könnten aufGrundlage eines völligen Relativismus nicht mehr getroffen werden (vgl. ebd. S. 96). Selbst im Grenzfall derjenigen Option, überhaupt nicht zu entscheiden, ist zumindest diese Entscheidung gefällt worden. Diese, in ihrer logischen Konsequenz ganz zu recht formulierte, Grundbedingung menschlichen Handelns bringt Nieke aber in die theoretische Schwierigkeit, wie denn nun der agnostische Kulturrelativismus mit den selbst gesetzten Ansprüchen der Vernunft, das Gute und Richtige auch erkennen zu können, zu vermitteln ist. Nohl fasst die unterschiedlichen Wege, die für Nieke denkbar wären, sich dem Problem des agnostischen Kulturrelativismus zu stellen, zusammen (Noh12006, S. 64). Entweder einigen sich Pro- und Opponent kulturübergreifend im Sinne von Konventionen, wie sie beispielsweise in den Menschenrechten im fundamentaljuristischen Sinne formuliert und grundgelegt worden sind, auf gemeinsame Werte oder Regeln oder sie beziehen sich gemeinsam auf allgemeine anthropologische Charakteristika, wie etwa die gattungsspezifische Vernunftbegabung. Man könne sich aber auch auf einen schlichten Evolutionismus verlassen, dass sich die erfolgreichen Kulturen im Sinne fortschreitender Modernisierung einfach durchsetzen oder aber den Evolutionismus ethisch auffassen, im Sinne eines fortschreitenden Prozesses zur Angleichung der Kulturen, im Sinne einer ethischen Progression, aneinander. Dem Funktionalismus, dem es darum ginge, nur die gemeinsamen Werte anzuerkennen, die ein plurales Zusammenleben ermöglichten, setze er die von ihm präferierte Möglichkeit eines ethischen Universalismus entgegen. In ihm sieht Nieke die besten Chancen auf eine Überwindung des agnostisehen Kulturrelativismus, da er "mit Hilfe des Rückgriffs auf formale Strukturen, die möglichst allen oder möglichst vielen inhaltlichen Konkretisierungen offen bleiben" argumentiere (ebd.; Nieke 2000, S. 147). Nieke bezieht sich auf das philosophische Konzept der Diskursethik, wie sie von Apel und Habermas zu Beginn der 1980er Jahre entwickelt und insbesondere in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas (Habermas 1981) ausgearbeitet und begründet worden ist. Sozialphilosophischer Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach einem vernunftgeleiteten Kommunikationsverfahren, woran Sprecher mit konfligierenden Standpunkten sich beteiligen können, um diese Konflikte argumentativ auszutragen und sie in eine praktische Lösung zu überführen. Ein solcher Diskurs soll jedoch nicht nur ein beliebiges Verfahren unter anderen darstellen, sondern letztlich ethisch begründet und damit verallgemeinerungsfähig sein. Apel und Habermas sehen die Begründungsfähigkeit eines solchen Diskurses in der Form des sprach-


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

37

lieh verfassten Argumentierens selbst. Wann immer er argumentiere, versuche ein Sprecher den anderen dazu zu bewegen, der eigenen Position beizustimmen und zwar auf Grundlage des spezifischen Anspruchs, den er für seine Position in Geltung genommen hat; also des Wahrheitsanspruchs seiner Aussage im Sinne des Zutreffens oder der Wohlbegründetheit; der Richtigkeit, je nachdem, ob sich der propositionale Gehalt der Aussage auf die empirische Welt richtet oder aufnormative Entitäten wie etwa moralische Prinzipien. Der Wahrheitsanspruch der Aussage steckt also in der normativen Grundlage des Sprechaktes selbst und zwar in formaler Weise . Der Konfliktfall muss also nicht mittels materialer Werte, die etwa hierarchisch geordnet sind, entschieden werden, sondern dessen Ergebnis kann auf dem Wege der Anwendung formaler Diskursregeln argumentativ ermittelt werden. Der "zwanglose Zwang" (Habermas 1981) des besseren Arguments entscheidet. Die Regeln sind für Apel durch die Struktur des Sprechakts selbst philosophisch letztbegründet, für Haberrnas resultieren diese Regeln aus einer Differenzierung von Handlungsrationalitäten der modernen Gesellschaft, die letztlich aus der Sprache als unhintergehbarem Verständigungsmedium folgen. Nieke adaptiert die Diskursethik nun auf seine Weise, indem er das formale Verfahren auf die interkulturelle Dimension zuspitzt. Die hohe Formalität des Verfahrens, seine Inhaltsleere in Bezug auf materiale Werte, garantiert ihm nämlich gewissermaßen eine Kulturblindheit gegenüber jeweiligen Lebenswelten mit je eigenen kollektiven Werten und Überzeugungen, die er, wie gesehen, als Deutungsmuster fasst. Dies mache, laut Nohl, den ethischen Universalismus besonders attraktiv für die von Nieke vorgezogene Weise, Multikulturalität vernünftig zu gestalten, da es im Diskurs keine hegemonialen Deutungsmuster geben könne, vielmehr alle Sprecher genötigt seien, ihre Argumente gleichberechtigt in den Diskurs einzubringen und sich dem Zwang des besseren Arguments zu unterwerfen (Nohl 2006, S. 65). Diskurspraktisch gesehen müssten nicht einmal die Sprecher selbst, sondern nur deren Stellvertreter, Advokatoren, am Diskurs teilnehmen. Dieser Gesichtspunkt wird insbesondere in Fällen relevant, in denen Sprechern die entscheidenden Kommunikations- und Diskurskompetenzen als Voraussetzung, um an ihm teilzunehmen, fehlten. Denn realistischer Weise sei nicht voraus zu setzen, dass alle Diskursbetroffenen auch schon diskursmächtig seien. An ihrer Stelle müssten dann Pädagogen in den Diskurs eintreten, um an Stelle der Betroffenen in deren Interesse oder für sie zu argumentieren. Eine allerdings besonders anspruchsvolle Aufgabe, denn an ihrer statt zu sprechen, setzt genaue Kenntnis ihrer Positionen voraus. Der Pädagoge erhält in dieser Konzeption Interkultureller Pädagogik neben seiner Aufklärungsarbeit, die, wie bereits erläutert, an die einheimische Be-


38

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

völkerung ZU adressieren ist, die Funktion, Angehörige von Minderheiten im Diskurs zu vertreten. Sprich: eine Stellvertreterfunktion auszuüben. Der von Nieke vorgeschlagene Lösungsweg birgt in sich nun allerlei Probleme und Gefahren, die er selbst zwar ebenfalls schon gesehen hat und die auch nicht versucht, zu verschweigen, sondern sich ihnen stattdessen zu stellen, auch wenn er sie nicht endgültig zu lösen vermochte. Auch Nohl benennt sie in seiner Darstellung der Position Niekes. Zunächst ist das Verhältnis einer pädagogischen Anwaltschaft als äußerst fragil einzuschätzen. Einerseits ist es von innen bedroht, quasi durch die Person des Pädagogen selbst, der sich schlichtweg irren kann oder nicht genügend Empathiefähigkeit, situativ oder grundsätzlich, besitzt, sich in die Position seines Klienten zu versetzen. Andererseits ist es von außen bedroht durch das Machtgefalle ihrer asymmetrischen Beziehung zueinander und die gilt gleich im doppelten Sinne. Ganz prinzipiell nämlich gilt Asymmetrie hinsichtlich der Sprecherpositionen sicherlich für alle pädagogischen Beziehungen, aber im spezifisch interkulturellen Falle spitzt sich die Lage machtspezifisch zu, da nun Angehörige der Mehrheits- diejenigen vertreten, die der Minderheitsgesellschaft angehören. 16 Viel grundsätzlicher rühren allerdings Niekes Zweifel an den Fundamenten des Diskurses selbst, die seinem eigenen Lösungsweg zugrunde liegen, denn der Formalismus des Verfahrens, der eben gerade von ihm selbst noch als Stärke aufgrund seiner Universalität herausgestellt worden war, verdankt sich bei genauerer Betrachtung eben doch auch einer spezifischen kulturellen Disposition. Nieke erkennt darin nämlich ein eurozentrisches Verfahren, da es sich auf die kulturelle und historische Entwicklung von Vemunftformen bezöge, wie sie sich in der europäischen Geschichte gebildet haben. Somit seien auch die elementaren Regeln des Diskurses selbst gewissermaßen kulturalisiert. Dennoch versucht er gegenüber den eigens hervor gebrachten skeptischen Argumenten das Diskursverfahren zu retten, indem er vorschlägt, "die Diskursregeln selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzungen zu machen" (NohI2006, S. 66) und sie auf diesem Wege in den Diskurs einzubringen. "Wenn also die elementaren Regeln des Diskurses selbst nicht für alle Kulturen so selbstverständlich sein sollten, wie sie das für den nordwesteuropäischen Kulturkreis sind, dann müßte in der Konsequenz dieser Forderung nach universaler Zustimmung auch liegen, daß diese Regeln selbst Gegenstand der Verständigung werden können" (Nieke 2000 2, S. 185f.; Noh12006, S. 66 R. i. 0 .). Nohl moniert, dass Nieke nicht weiter ausfiihre, wie dies gelingen könne, jedoch ohne zu sehen, inwieweit Nieke mit diesen Formulierungen seine Po16

Daraus resultiert immer wieder die Forderung, pädagogisches Personal müsse über ethnisches und kulturspezifisches Wissen verfiigen, dass sie am besten qua sozialer Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Gruppe erworben haben sollen.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

39

sition der drohenden Gefahr eines infiniten Regresses aussetzt. Denn das Verfahren der diskurstheoretischen Vernunft setzt voraus, dass die betroffenen Sprecher stets zwischen den formalen Regeln, die durch das Argumentieren selbst gegeben sind, und den materialen Bestandteilen der Rede , worauf die Regeln angewendet werden, zu unterscheiden wissen. Sicherlich können auch einige untergeordnete Spielregeln, etwa spezifische Formen der Kommunikation, selbst zum Gegenstand des Argumentierens werden, dies ist allerdings nicht unbegrenzt möglich, da das Argumentieren als solches stets regelgebend bleiben muss . Auch für Habermas waren solche Metadiskurse bis zur Grenze des Argumentierens denkbar. Das Verfahren als Ganzes, kann jedoch nicht zum Gegenstand gemacht werden, sondern nur einige Regeln, welche Sprachspiele inhaltlich begrenzen.'? Der Grund, warum Nieke diese begründungstheoretische Gefahr nicht als empfindliche Bedrohung für das Ganze sieht, folgt aus seiner spezifischen Sicht, wie er den Problemzusammenhang analysiert harte. Denn seiner Auffassung nach resultierten die Schwierigkeiten konkurrierender lebensweltlicher Deutungsmuster daraus, dass sie jeweils mit universellem Geltungsanspruch vertreten werden, obwohl sie im Grunde partikular seien . Als Deutungen von Welt sind sie per definitionem subjektiv und damit weder objektiv - als Proposition - gültig noch intersubjektiv für alle Subjekte in gleicher Weise zu verallgemeinern. Erst die Diskursethik ermöglicht ein Verfahren, Geltungsansprüche zu problematisieren und zu prüfen und damit am objektiven Maßstab der Vernunft argumentierender Rede messen zu können. Hinter die eigene eurozentristische, d. h. ethnozentrische Position des okzidentalen rationalen Diskurses kann er jedoch nicht zurück und empfiehlt daher, sich wenigstens des Problemzusammenhangs bewusst zu werden. Er plädiert für eine Haltung, die er einen aufgeklärten Ethnozentrismus nennt.

17

Bindet man das noch Mal zurück an die Fragestellung der Anerkennung partikularer Werte, dann argumentierte Habermas diesbezüglich im Zusammenhang mit Einwanderung so, dass zwar einige Prozeduren des Verfassungsstaates durchaus zum Gegenstand der Diskurse gemacht werden könnten und sie somit als prinzipiell fallibel, kritisier- und veränderbar zu gelten hätten , aber das grundlegende Verfahren, überhaupt einen rationalen Austausch von Argumenten anzustreben müsse regelgebend bleiben, da ansonsten das Verfahren sich seiner eigenen Grundlage enthebe. Das heißt also, mittels rationalenArgumentierens zum Ergebnis zu kommen, dasselbe abzuschaffen, wäre ein performativer Widerspruch, da es das Verfahren praktisch nutzt, um es selbst inhaltlich zu negieren. Hierin liegt genau die Grenze dessen, was zum Gegenstand der Diskurse gemacht werden kann. Akzeptiert man diese Bedingung der Möglichkeit rationalen Argumentierens nicht als ethisch begründete Universalie, wie Habermas, sondern fiihrt es selbst wieder zurück auf seine historische kulturrelative Genese, gibt es rational nur zwei Möglichkeiten. Entweder ein derart Argumentierender gibt eine rationale Verständigung auf oder er erkennt, dass dies, die Unterscheidung in Geltung und Genese, selbst ein rational vorgetragenes Argument ist und er sich somit praktisch schon im Diskurs, in den Zwängen zwanglosen Argumentierens, befindet.


40

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Diese Art des Diskurses ist darüber hinaus ein Verfahren der politischen Öffentlichkeit und sein Gelingen setzt die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre voraus. Nieke verlangt von den Diskursteilnehmern nicht, lebensweltliche Deutungsmuster, die sich als nicht diskursfähig erwiesen haben, in Gänze aufgeben zu müssen, sondern diese dürfen im Privaten, nach wie vor, durchaus gepflegt und gelebt werden. Der rational geführte Diskurs regelt ausschließlich das öffentliche Miteinander verschiedener Lebenswelten, welche Bestandteile verallgemeinerbar und welche es nicht sind, aber er findet seine Grenze im Privaten. Die Menschen müssten es allerdings im privaten Kontakt aushalten, sich durch andere Lebenswelten befremden zu lassen. Zu einer solchen Toleranz zu erziehen, sieht er als eine weitere Aufgabe der Interkulturellen Pädagogik, die zu den bereits erwähnten hinzukommt, denn Duldsamkeit anderen Lebenswelten gegenüber ist die Voraussetzung dafür, auch emotional den Erfordernissen einer multikulturellen Gesellschaft gewachsen zu sein. Nieke schränkt also die Bedrohlichkeit, welche angesichts anderer oder fremder Lebenswelten empfunden werden kann, auf doppelte Weise ein. Der Übergriff durch einen überzogenen Geltungsanspruch anderer fremder Deutungsmuster wird durch den öffentlichen Diskurs rational ausgehandelt, im Privaten soll Toleranz die wechselseitigen Zumutungen erträglich gestalten. Auch Nohl weist daraufhin, dass die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, die Nieke in Anspruch nimmt, wiederum eine ethnozentrische sei, die in anderen Kulturen so selbstverständlich nicht sein müsse. Er zieht insgesamt den Schluss, eine vernünftige Lösung von Kulturkonflikten habe zwar ihre Grenzen", aber Niekes Werk komme gleichwohl "das große Verdienst zu, in der Konsolidierungsphase der interkulturellen Pädagogik deren Kulturbegriff gründlich reflektiert und auf die theoretisch festen Füße des Lebensweltbegriffs gestellt zu haben" (Nohl2006, S. 67). Das Modell einer multikulturellen Gesellschaft, welches auch für die Konzeptualisierung und Begründung einer Interkulturellen Pädagogik durch Nieke Pate 18

Dieser Bewertung ist zuzustimmen, allerdingsmuss darüber hinaus der Grund dafür präziser benannt werden. Eine vernünftigeLösung kommt nicht deshalb nicht zustande, weil sie nicht zu sich selbstkommt,etwaweil Irrationalismen ihre Durchsetzung behindernoder sie in Widersprücheverwickeln, sondernweil ihreVerallgemeinerungsfähigkeit in kulturspezifischen Fragen an ihr Ende gekommenzu sein scheint.Denn die Entwicklungdieser spezifischen okzidentalen Gestalt von Vernunft, verdankt ihre Entstehungeiner spezifischen Kulturgeschichte. Ihre Verallgemeinerungsfähigkeit also einer,im globalenMaßstabbetrachtet,partikularenEntwicklung, die nicht überall auf der Welt geteilt wird. Will man diese dennoch retten, muss man sich auf den Unterschiedvon Geltungund Genesebeziehenund ihr damiteinennormativenÜberschuss zubilligen. Odermanbettetsiein eineTheoriederModerneein,derenglobalerDurchsetzung sich keine Lebensweltauf Dauerwird entziehenkönnen. Oder man bezieht sich,wie Habermas,auf Universalien, wie die fundamentale Unterscheidung in wahr und falsch, die es in jeder Sprache, also jeder Kulturgibt und somit ausgebautwerden könnten.


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

41

steht, formuliert beispielsweise Claus Leggewie in den 1990er Jahren, in denen Multikulturalität nicht nur zum Schlagwort sondern, folgt man Nohls Einschätzung, auch gesellschaftsfähig wird. In der öffentlichen Diskussion wird die Rede von einer multikulturellen Gesellschaft angesichts der rassistischen und fremdenfeindlichen Attacken aufAsylheime in HÜDXe, Hoyerswerda, Rostock und Solingen allerdings bereits :früh unglaubwürdig. Dennoch stellt die multikulturelle Gesellschaft für Leggewie eine soziale Tatsache dar, eine Vielvölkerrepublik müsse daraus allerdings erst noch entstehen. Er führt also eine Differenz zwischen Gesellschaft und ihrer Politik ein und konstatiert: Die Pluralität sozialer Welten stelle keine Ausnahme mehr oder einen Grenzfall dar, sondern sei im Gegenteil der Normalfall geworden. Zur Illustration dieses gesellschaftlichen Zustands wählt Leggewie das biblische Gleichnis vom Turmbau zu Babel, dessen Gehalt er freilich seines Kontextes entkleidet und soziologisch interpretiert. Während im Ausgangstext das sprichwörtliche babylonische Sprachgewirr mit der Bestrafung Gottes geahndet wurde, tendiere diese Kakophonie heute weder zu einer katastrophalen noch pathologischen Grenzsituation, sondern sei schlicht zum sozialen Aggregatzustand der Modeme geworden. Dennoch befinde sich die modeme Gesellschaft in einem Dilemma. Warnte die Bibelexegese noch vor einer mangelnden Einigkeit im Glauben an Gott und verwarf die Vielstimmigkeit, die sich nicht nur sprachheterogen sondern auch im pluritheistischen Glauben ausdrückte, trug auch der modeme Fortschrittsoptimismus, etwa durch zunehmende Rationalisierung, nicht zur Einigung bei, worauf beispielsweise noch die amerikanische Soziologie des frühen 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der dortigen Einwanderung hoffte. Vielmehr arbeitete sie, namentlich die Chicagoer Schule, geradezu die pluralen Sinnbezüge sozialer Lebenswelten heraus, die sie aber darüber hinaus nicht bloß einwanderungs- sondern ebenso auch subkulturbezogen begriffen. Leggewie hingegen stelle den theoretischen Fokus auf Einwanderung, worauf Nohl hinweist. Die multikulturelle Gesellschaft entstehe allererst, darin den referierten Ausführungen Niekes ganz ähnlich, durch migrationsbedingte Einwanderung. Ein solcher Erklärungsversuch gesellschaftlicher Pluralität zieht allerdings einige grundsätzliche Strukturprobleme nach sich . Wenn sich die Gesellschaft dergestalt verändert haben soll, dass ihre normativen und kulturellen Orientierungen laut Theorie heterogener werden, so entsteht dadurch umgekehrt der Eindruck, sie sei vorher homogen oder homogener gewesen. Dies ist freilich zu bezweifeln. Setzt man alternativ Diversifizierungsprozesse als für die Modeme konstitutiven Bestandteil an, wird einwanderungsbedingte Heterogenität zu bloß einem Faktor unter vielen anderen für gesellschaftliche Pluralität. Sieht man Multikulturalität hingegen dominant mit Einwanderung verknüpft, so drängt sich zudem zwangsläufig auch die


42

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Kategorie der Ethnizität auf, denn diese , wie auch immer inhaltlich gefasste, ist die differentia specijica, welche Autochthone von Allochthonen unterscheiden. Die Folgen, die sich daraus ergeben, werden noch zu diskutieren sein. So unmissverständlich Leggewie die einwanderungsbedingte Multikulturalität auch hervorhebt, differenziere er, laut Nohl, das Kulturspektrum dennoch weiter aus als das bisher innerhalb der Interkulturellen Pädagogik der Fall gewesen sei. Die kulturelle Vielfalt strahle auf alle Teilbereiche der Gesellschaft ab: im Teilbereich der Wirtschaft, dem Marketing oder der Werbung, werden die Spezialitäten und Eigenheiten der Völker unterschiedslos zu Waren transformiert. Diese Einschätzung Leggewies erinnert an die im Rahmen der Globalisierungsdebatte geführt Diskussion um eine kulturelle Homogenisierung angesichts global verbreiteten Güterverkehrs. Er legt jedoch demgegenüber den Schwerpunkt weniger auf marktkonforme Vereinheitlichung denn aufVermarktung kultureller Pluralität im Sinne von Exotik oder konsumistischen Anzeichen von Jugendlichkeit und Modernität. Als solche erscheint kulturelle Pluralität unproblematisch und bisweilen auf dem neuesten Stand, wenn man darunter auch Modeerscheinungen verstehen möchte, geht es doch hier um stete Attraktionssteigerung durch kulturelle Signifizierungsprozesse von Waren . Unter dem Blickwinkel ökonomischer Konkurrenzbedingungen verschärfe sich allerdings die Lage enorm, wenn die Konkurrenten nämlich Angehörige unterschiedlicher Kulturen seien, denn hinter kulturellen Vorurteilen oder Rassismen können sich massive Interessenskonflikte verbergen. Im gesellschaftlichen Teilbereich der Politik werde es vor allem dann schwierig, wenn die unterschiedlichen Kulturen und Lebensstile nach Hegemonie streben. Die wechselseitigen Zuweisungen von Fremdheit könnten zu offener Feindschaft werden. Auch Religion, als ein ebensolcher Teil von Gesellschaft wie die vorherigen, sieht Leggewie durch Einwanderung pluralisiert. Als bereits kritisch beurteilt er die Privilegien der christlichen Kirche, die Katholiken und Protestanten trotz eines säkularen Verständnisses vom Staat, etwa durch Erhebung von Kirchensteuern, gewährt würden. Der zuvor hauptsächliche Normalfall der Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche werde nun von einer sich ausbreitenden religiösen Vielfalt zum Spezialfall. Während sich die Kirchen laut Leggewie bereits gegen ihre Marginalisierung wehrten und selbst Interessenspolitik dagegen betreiben, vertraue er dessen ungeachtet auf die Trennung von Staat und Kirche, die einen guten Umgang mit religiöser Vielfalt ermögliche. Andererseits müsse ein solcher Laizismus einer jeden monotheistischen Religion mit Weltdeutungsmonopol gewiss wie eine Kränkung erscheinen. Dennoch müsse die, ohnehin für Leggewie fragwürdige, Monopolstellung der einheimischen Kirchen zugunsten einer religiösen Vielfalt aufgegeben werden, jedoch nur auf der Grundlage der gegenseitigen An-


1. Der Geist der Interkulturellen Pädagogik aus dem Ungeist der Ausländerpädagogik

43

erkennung wie auch der gemeinsam geteilten Akzeptanz eines laizistischen Staatsverständnisses. Dies verlange jedoch von den Migrierenden gewissermaßen eine Erschütterung ihrer Identität: Emigration gehe eben nicht ohne Verletzung derselben ab, d. h. fiir ihn: ohne Verlust von Heimat. "Für Leggewie bedeutet Heimat, dass man in der altangestammten Heimat lebt oder diese in das Aufnahmeland tradiert' (Noh12006, S. 75; H. i. 0.). Die postmoderne Konsequenz, das babylonische Sprachgewirr, die Pluralität von Normen und Werten, mithin ihre Inkommensurabilität bloß zu affirmieren oder adorieren, stellt fiir Leggewie keine Lösung des Problems dar. Vielmehr führe ein solch starker Kulturrelativismus bloß dazu, dass interkulturelle Verständigung darin bestünde, die jeweiligen "Redensarten ethnografisch zu registrieren und sich ein Stück in sie hineinzuhören. Ihre Inhalte müßte man dabei gewissermaßen blanko hinnehmen" (Leggewie 1990, S. 105; Nohl ebd. Rechtschreibung wie im Orig.). Eine postmoderne Theorievariante, welche in Leggewies Interpretation von einer Unübersetzbarkeit zwischen den einzelnen Sprachgemeinschaften und Ethnien und einem mangelnden gemeinsamen Rahmen, eine Verständigung zu ermöglichen, ausgeht, wird von ihm kritisiert und zurückgewiesen. Denn Sprachgemeinschaften und Ethnien prägten den Menschen niemals total, sondern immer gäbe es auch die Möglichkeit, sich von ihnen zu distanzieren. Jede spezifische Sprache enthalte die universale Struktur, zwischen dem, was wahr ist und dem, was fiir wahr gehalten wird, zu unterscheiden. Folglich kann es auch in jeder Sprache zu einer Selbstdistanzierung der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft kommen. An diese mögliche Selbstdistanzierung knüpft Leggewie bildungspraktische und politische Erwartungen, nämlich die über die vielen Sprachgemeinschaften und Ethnien transportierten Sinngehalte und Lebensweisen eher als Optionen denn als Verpflichtungen oder Selbstverständlichkeiten zu sehen, zwischen denen das souveräne Subjekt wählen kann, das eine fiir sich zu nutzen und das andere von sich zu weisen. Die multikulturelle Gesellschaft in der Fassung Leggewies betont also die kulturelle Autonomie im Sinne handlungsspezifischer Optionen: kulturelle Lebensweisen sind wählbare Haltungen, die einmal gewählt zwar verbindlich sind, jedoch auch jeweilig hätten anders ausfallen können. Der Fremde wird in dieser Fassung einer multikulturellen Gesellschaft zum differenten Anderen. Die Bewohner seiner Vielvölkerrepublik sprechen nicht aus verschiedenen Kulturen heraus, sondern sprechen als Bürger, die sich über ihre kulturelle Kontingenz im Klaren sind. Der Politik haftet auf diese Weise ein Aufhebungscharakter und damit Integrationscharakter an. Aufgehoben wird sowohl die rigide Trennung unterschiedlicher Kulturen als auch die Entscheidung, eine hegemoniale Kultur zu präferieren.


44

2.

A Zu Theorieund Diskurs InterkulturellerPädagogik

Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft und Antidiskriminierungspädagogik

Bei aller verständlichen und hier reformulierten Kritik, welche die Vertreter der Interkulturellen Pädagogik an der Ausländerpädagogik geübt hatten, kann j edoch nicht übersehen werden, dass sie selbst ihrerseits alsbald zum Gegenstand der Kritik wurde. Die konstruktivistische Erziehungswissenschaft hatte schon zu Zeiten der Ausländerpädagogik vehement Kritik geübt, doch auch die Entwicklung zur Interkulturellen Pädagogik konnte sie wenig überzeugen. Ihren frühen Entwürfen wurde nicht nur Konzeptlosigkeit vorgeworfen, sondern insgesamt stand auch ihre Programmatik in genereller Weise zur Kritik. So warnten etwa Diehm und Radtke vor einer Kulturalisierung und Ethnisierung pädagogischer Probleme durch eine allzu einseitige Betrachtung des tatsächlich viel komplexeren Migrationgefüges auf nur den einen einzigen Aspekt von Kultur bzw. Ethnie. Mit Blick auf institutionelle Praxen sprachen sie zudem von einer Pädagogisierung und Curricularisierung gesellschaftlicher Probleme (vgl. DiehmlRadtke, 1997). Mit den Begrifflichkeiten der Systemtheorie" analysierten sie in diesem Zusammenhang, dass die gesellschaftspolitischen Probleme einer Einwanderungsgesellschaft, die außerhalb, also in der Umwelt des Erziehungssystems, etwa dem politischen System, nicht gelöst werden, innerhalb des Systems auf der Ebene von Lehrplänen wieder auftauchen, wo sie dann zwar pädagogisch bearbeitet, jedoch derart keinesfalls gelöst werden könnten. Insgesamt laufe das Programm der Interkulturellen Pädagogik, so die Autoren, auf das Paradox hinaus, stets kulturelle Differenzen voraussetzen zu müssen, um sie dann im Sinne einer Gleichbehandlung pädagogisch bearbeiten zu können. Dadurch drohe aber dasjenige, was für sie in seiner gesellschaftlichen Relevanz erst einmal zu dekonstruieren wäre, fortgeschrieben zu werden. Der pädagogisch-praktische Bezugspunkt wie auch der erziehungswissenschaftlieh-theoretische Fokus bliebe trotz aller Unterschiede zur Ausländerpädagogik hinsichtlich der Bewertung kultureller Differenz innerhalb der Interkulturellen Pädagogik letztlich doch auf manifeste kulturelle Unterschiede ausgerichtet (vgl. DiehmJRadtke, 1999).

19

Die Systemtheorie gehört zu einer wissenschaftlichen Grundlagentheorie, die innerhalb der Biologie, der Soziologie, der Psychologie ete. vielfach empirisch genutzt und theoretisch weiter ausgearbeitet worden ist. Insbesondere in derSoziologie und der Erziehungswissenschaft zeichnet Niklas Luhmann prominent für ihre Adaption verantwortlich. Die in diesem Kapitel erwähnten Bezüge beziehen sich im engeren Sinne auf deren gesellschaftstheoretische Grundlage einer Theorie funktionaler Differenzierung und der Kommunikations- und Organisationstheorie, wie sie von Luhmann ausgearbeitet wurden. Vg1. Luhmann, Niklas (2006) : Soziale Systeme . Suhrkamp , FfM. ; ders. (2000) : Organisation und Entscheidung. Suhrkamp , FfM.


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

45

Eine solche , den bislang hier referierten pädagogischen Paradigmen aus ihrer Sicht gemeinsame, Perspektive gelte es jedoch insgesamt zu überwinden. Grundlagentheorie ihrer Kritik bildet der wissenschaftstheoretisch begründete Konstruktivismus". Ihm zufolge lässt sich nämlich bestreiten, dass Menschen eine Kultur haben bzw. dass ihre kulturellen Orientierungen dennaßen erheblich ins Gewicht fielen, wie es die Interkulturelle Pädagogik behauptet. Statt von Kultur im Sinne einer Wesenskategorie von Zuordnung, lässt sich konstruktivistisch eher von einer Beobachtungskategorie sprechen, hinsichtlich derer Menschen sich und andere Menschen beschreiben und zuordnen. Als Mitglieder der Gesellschaft sind sie nicht der einen oder anderen Kultur zugehörig, sondern sie sehen sich und andere in Bezug aufkulturelle Eigenschaften, die sie ihnen und sich zuschreiben bzw. ihnen selbst von anderen zugeschrieben werden. Somit sind diese nicht länger Charakteristika von Menschen, die ihnen quasi eigen sind, ihnen anhaften oder zu ihrer Substanz gehören, sondern bloß zugewiesene Merkmale, also akzidentelle Attribute. Als solche werden sie jedoch praktisch in den Handlungen der gesellschaftlichen Akteure, weil Zuschreibungen benötigt werden, um etwa Entscheidungen zu fallen, Wertungen vorzunehmen oder sich und andere sich selbst und anderen zu erklären. Auch wenn sie zwar sozialhistorisch bestimm- oder rekonstruierbar sind, sind Zuschreibungen nicht weniger kontingent; d. h. sie hätten potenziell immer auch anders ausfallen können. Sie können individuell oder sozial konstruiert werden, ihr Material speist sich aus einem überindividuellen Deutungspool (Wissensbestände von Kulturen, Gesellschaften, Massenmedien etc.) und können auch gemeinsam - etwa in Gruppen - geteilt sein. Die Abgrenzung zum Konzept kollektiver Deutungsmuster, wie es von Nieke zur theoretischen Entschlüsselung des Kulturbegriffes genutzt worden war, liegt in seiner epistemologischen Radikalität. Sozial konstruiert sind die Deutungsmuster im Konzept Niekes von Kultur zwar auch, weil es sich bei ihnen um lebensweltli20

Der Konstruktivismus ist heute durch die weit verbreiteteRede, etwas sei sozial konstruiert, zu einerArt commonsenseinnerhalbder Sozialwissenschaften überihrewissenschaftstheoretische Grundlagegeworden. Dabei ist leider nicht immer ganz klar, was genau damit gemeintist. Für die folgenden Überlegungen ist der Konstruktivismus, wie er etwavonLuhmanngenutztwurde, entscheidend. Gegenüber einemseinerzeit aktuellen sichalsradikalverstehenden Konstruktivismus vertritter die defensivere Theseeinesagnostischen Konstruktivismus (vgl.Luhmann 200I, S. 219 ff.). Der so genannteRadikaleKonstruktivismus behauptet, es gebekeineRealität, die außerhalb der menschlichen Erkenntnisleistungen an sich läge, sondernnur Konstruktionen derselben. Für Luhmann ist dieser Schluss, aus aller Vermitteltheit auf die Nichtexistenzder Außenwelt, der Realität,zu schließeninakzeptabel, dennwoher kann man dies bei aller Konstruiertheit wissen? Der Schlussselbstist eineKonstruktion. Luhmannist hingegenkonsequenter und bescheidener, wenn er davonausgeht,alle menschliche Erkenntnis basierezwarauf Konstruktionen, aber diese ließen eben keinen Schlussauf Existenzoder Nichtexistenzder Realität zu, gerade weil es sich um Konstruktionen handele.Man kann es also nicht entscheiden.


46

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

ehe Interpretationen von Dingen, Menschen, Zeichen, Gebilden handelt, aber als fraglose Gewissheiten gehören sie wiederum zum Individuum, quasi wesenhaft hinzu, ihre Veränderung bedarf der pädagogischen Aufklärung, ansonsten blieben sie als Vorurteile hartnäckig. Konstruktionen und Deutungsmuster stimmen also darin überein, Interpretationen von Welt zu sein. Für Nieke sind sie lebensweltlich verankert in kulturellen Zusammenhängen. Er sieht sie als kulturspezifische Deutungsmuster im Sinne einer Ethnie. Damit kommt dann allerdings ein essentialistischer Kulturbegriff als Ethnie durch die Hintertür wieder hinein ins Konzept der Deutungsmuster. Sie sind nämlich letztlich doch wieder als Eigenschaften von Menschen zu sehen, die sie zwar prinzipiell ablehnen und rational diskutieren können, jedoch ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie eigen sind. Gegenüber einer solchen Ethnisierung und Essentialisierung des Kulturbegriffs versuchen die Autoren einer sich als Antidiskriminierungspädagogik verstehenden Erziehungswissenschaft entgegen zu arbeiten, indem sie nun auch die erziehungswissenschaftliche Erkenntnisperspektive umstellen. Sie wollen nicht länger herausfinden, ob es etwa empirisch zutrifft, ob oder dass Menschen lebensweltliche, kulturelle Orientierungen als für ihr Handeln konstitutiv einschätzen, sondern sie fragen sich, welche Funktion es erfüllt, von kulturellen oder ethnischen Differenzen zu sprechen, bzw. kulturspezifische Unterscheidungen zu nutzen. Dadurch geraten nicht nur konkrete Akteure ins Blickfeld der Aufinerksamkeit, sondern auch Institutionen und öffentliche Diskurse, wie noch zu zeigen sein wird . Verlässt man sich grundlagentheoretisch auf die Epistemologie des Konstruktivismus, so kann dies auch potenzielle forschungsmethodische Vorteile haben . Denn auf dieser Grundlage lassen sich nun erstens Ethnisierungen als soziale Zuschreibungen untersuchen und ihre gesellschaftliche Funktion aufzeigen und zweitens entgeht die Forschung als solche der Gefahr, selbst an der Produktion gesellschaftlich relevanter Ethnizität mitzuwirken, indem sie nicht länger Untersuchungsgruppen oder -individuen in ihrer kulturellen Zugehörigkeit einseitig fokussiert wahrnimmt (vgl. Bommes 1996), sondern stattdessen auf deren Beobachtung umstellt. Sie stellt sich somit reflexiv zur eigenen Position in der Gesellschaft und muss nicht länger im Sinne eines empirischen Realismus, sei er auch noch so sehr an der Sinnkonstitution von Lebenswelten und Subjektivitäten geknüpft", 21

Auch qualitativ-empirische Migrationsforschung, kann sich laut Bomrnes "der Selbsterzeugung der untersuchten Realität" nicht entziehen, was sich darin niederschlage, "daß die in den Erhebungsverfahren angeschobene Beobachtungsweise ,Kultur' zirkulär als Realität der Migranten erforscht wird und umgekehrt ihre Beschreibungsformen als Kategorien in den wissenschaftlichen Beschreibungsapparat übernommen werden. Mit dieser Übernahme aber werden die sozialen Beschreibungsverhältnisse der Folgen von Migration, die sich dabei insbesondere ethnischer Unterscheidungen bedienen , festgeschrieben, indem sie als Ergebnis von Forschungsverfahren präsentiert werden, die sich die Nähe und den Blick für die Besonderheiten ihres Gegenstandes


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

47

davon ausgehen, kulturelle Entitäten als Eigenschaften von Subjekten seien vorhanden, sondern kann sich distanziert der Beobachtung der sozialen, d. h, praktischen Wirksamkeit solcher Entitäten widmen.

2.1 Das Modell einer Multiethnischen (-kulturellen) Gesellschaft Zu einem Standardwerk einer solchen konstruktivistischen Migrationsforschung wurden die Untersuchungen von Bukow und Llaryora zur Soziogenese ethnischer Minoritäten (Bukow/Llaryora, 19983) . Die sozialpolitische Utopie oder bereits erreichte Realität einer multikulturellen Gesellschaft wird von den beiden Autoren einer Analyse unterzogen. In ihr werden nämlich zwischen autochthonen und allochthonen, insbesondere zugewanderten, Mitgliedern unterschieden. Dies sei nicht trivial , sondern eine kontingente gesellschaftspolitische Unterscheidung insofern, als sich auch mit ebenso guten Gründen zwischen Männern und Frauen, Kindern Erwachsenen etc. unterscheiden ließe. Die vermeintliche Selbstverständlichkeit einer ordnenden Unterscheidung hinsichtlich Kultur und Ethnie steht also für diese Autoren zur Disposition (vgl. Noh12006, S. 91). Auf Grundlage der Kontingenz von Zuschreibungen lässt sich dann fragen, warnm nun gerade diese Unterscheidung und keine andere gebraucht wird . Ihre gesellschaftstheoretischen Vorannahmen, insbesondere deren immanente Annahmen über Integration, erläutern die beiden Soziologen ebenfalls, wie auch schon Diehm und Radtke, mit Bezug zur Systemtheorie. Während vormoderne Gesellschaften ihre Mitglieder "durch Verwandtschaft (Familie) bzw. Pseudoverwandtschaft (Ethnie/Kaste) oder Berufsverwandtschaften (Stände)" integrierten, bedienten "modem e fortgeschrittene Industriegesellschaften sich formal-rationaler Systeme (...), um Menschen je nach dem jeweiligen System als Arbeiter, Bürger, Konsument, Klient, Kunde einzubinden" (Bukow/Llaryora 1998 3, S. 22) . Politisch spitzen sie zu, dass es dennoch in modemen Gesellschaften auch den Versuch gebe , "verflossene Formen der gesellschaftlichen Einbindung zu reaktivieren" (ebd. S. 23) . Dem auf diese Weise drohenden theoretischen Widerspruch, wie beide Formungen gleichzeitig - also die fortgeschrittene Systemintegration auf der einen und die "neo-restaurativen Versuche" (ebd. S. 23) einer Einbindung methodologisch zugute halten, und dabei übersehen, dass dieser Gegenstand selbsterzeugtes Resultat ihrer besonderen Beobachtungsweise ist" (Bommes 1996, S. 219). Vgl. kontrastiv dazu, ebenfalls zu forschungsmethodischen Fragen : Herwartz-Emden, Leonie (2000) . Die Autorin ruft allerdings gegenüber systemtheoretischen Überlegungen zur Sensibilität und Reflektiertheit im Umgang mit interkulturellen Forschungsdesigns auf, insbesondere sei eine Asymmetrie der Beziehungen zwischen Forscher- und Untersuchungssubjekten und etwaige Vorerfahrungen letzterer mit Behörden zu bedenken, weiter Stereotypisierungen oder ein plattes Fortschrittsdenken zu vermeiden, um keine Artefakte in der Forschung zu produzieren.


48

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

auf der anderen Seite - bestehen können, versuchen die Autoren zu entgehen, indem sie zwischen Elementen, die für die Funktionalität eines Systems konstitutiv sind, und solchen, welche disfunktional sind, zu unterscheiden, ganz unabhängig davon, dass kulturelle Elemente, etwa die Ethnie, sehr wohl in den privaten Lebenswelten der Gesellschaftsmitglieder eine Rolle spielen oder durch Reaktivierungen auf der Systemebene wieder auftauchen und dort zu Problemen für die derart zugeschriebenen Mitglieder führen können, obwohl es für die funktionale Strukturerhaltung des Systems und die Inklusion der Individuen eigentlich nicht nötig wäre, an so etwas wie einer Zuschreibung einer Ethnie festzuhalten. Ethnizität sei folglich für die Integration der Gesellschaftsmitglieder in die Systeme "konstitutiv bedeutungslos" (ebd. S. 11 und 199ff.). Dennoch leugnen die Autoren nicht dessen gesellschaftspolitische Relevanz, welche immer wieder konstruiert werde: "Gerade weil sie [die Ethnizität; Zus. TG] konstitutiv bedeutungslos geworden ist, kann sie ,künstlich' neu aufgeladen werden. Es ist jetzt erstmals möglich, völlig beliebig neue Ethnizitäten zu postulieren (,Ausländer', ,Asylant', ,Türke', ...) und beispielsweise innerhalb gesellschaftlicher Verteilungskämpfe einzubauen" (ebd. S. 11). Und ebenso lassen sie aber keinen Zweifel daran, welchen ontologischen Stellenwert Ethnizität für sie besitzt. Diese sei zu einem ",Zitat' geronnen" (ebd. S. 11). Zitiert wird Ethnie als eine Kategorie von Zugehörigkeit, welche in der modemen Gesellschaft, wie gesehen, strukturell an Bedeutung verloren habe und dennoch virulent werden kann. Der sozialpolitischen Vorstellung einer multiethnischen Gesellschaft, in der verschiedene kulturell-ethnisch geprägte Gruppen miteinander leben müssen, wird aufdiese Weise die Grundlage entzogen. Denn nicht nur verliert die Zuschreibung einer Ethnie ihre Bedeutung für die Systemintegration, sondern ebenso steht die Eindeutigkeit der Konstruktion von Ethnizität in Frage, denn anscheinend "gibt es offenbar in fortgeschrittenen Industriegesellschaften keine eindeutigen Merkmale mehr für bestimmte ethnische Einstellungen, weil sich Kulturen heute zunehmend ausdifferenzieren und sich zeitlich und räumlich parzellieren. In der Lebenswelt unterscheidet sich heute im Grunde jeder gegenüber jedem erheblich" (ebd . S. 10). Wenn also Unterschiede auf der Ebene der Individuen und nicht auf der Ebene von gesellschaftlichen Gruppen zu verorten sind, braucht die Gesellschaft auch kein Modell eines multikulturellen Zusammenlebens verschiedener Bevölkerungsgruppen mehr, wie es die Vertreter einer Interkulturellen Pädagogik noch postuliert hatten. Danach zu verlangen, so muss umgekehrt gefolgert werden, ist gegenüber der Dynamik einer sich progressiv immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft eher als regressiv zu begreifen und eine solche Position macht sich, wenn auch nicht mit Absicht, doch darum nicht weniger zum Komplizen solcher


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

49

Interessen, die gerade in jenen öffentlichen Diskursen, die an einer ethnischen Zugehörigkeit festhalten, verfolgt werden, und die von Bukow und Llaryora in ihren Untersuchungen analysiert wurden. Die Konstruktion einer Ethnie wird quasi missbraucht, um Interessen, etwa zum Ziele der Abwertung oder Identifizierung einer gesellschaftlichen Gruppe, durchzusetzen und zeitigt nur aus diesem Grund ihre gesellschaftliche Folgen. Auch der Erziehungswissenschaftler Frank Olaf Radtke nimmt den Faden einer solchen Kritik in ganz ähnlicher Weise auf. Er folgert daraus , dass der Begriff Rasse, der als Zuordnung in Europa illegitim geworden sei, nun durch die Begriffe Kultur bzw. Ethnizität ersetzt würde, um Differenzen zu markieren. Bei Zuweisung eines Individuums zu seinem sozialen Status können diese ebenso wie Alter oder Geschlecht zur Diskriminierung dienen (vgl. Noh12006, S. 92; Radtke 1992, S. 149). Auch er spart nicht mit Kritik an der politischen Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft, die er als Ideologie in ihrer Funktion, die Strukturveränderungen der Gesellschaft hinsichtlich Demographie, Ökonomie und Sozialpolitik für die Bevölkerung akzeptabel zu machen (ebd.), entlarvt. Radtke unterscheidet einen "kulinarisch-zynischen Multikulturalismus", der gefeiert werde und dadurch zur Folge habe, die tatsächlichen Probleme der einheimischen und zugewanderten Bevölkerung zu übertünchen, von einem ,,reaktiv-fundamentalistisch" zu charakterisierenden Multikulturalismus, mittels dessen Migrierte auf die Enttäuschungen der Aufnahmegesellschaft und auf die durch pädagogische Programme wieder nahegebrachte Kultur reagierten: "Gegen die als feindlich und abweisend erlebte Mehrheitsgesellschaft wird der Rückzug in die Authentizität der ,kulturellen Identität' angetreten" (Radtke 1992, S. 150; zit. n. Noh12006, S. 92).

2.2 Institutionelle Diskriminierung Radtke untersuchte gemeinsam mit Gomolla dann 2002 in einer theoriestrategischen Verbindung zwischen systemtheoretischer Organisationstheorie und angloamerikanischen Theorien institutioneller Diskriminierung Formen derselben im hiesigen Schulsystem in empirischer Absicht. Sie zeigten, welchen Einfluss nichtintendierte Zuschreibungen seitens des Lehrpersonals bezüglich Ethnie oder Kultur einzelner Schüler auf die Routinen des Bewertens und Entscheidens haben. Diese werden vor allem in der institutionellen Schwellenphase von der Primar- zur Sekundarstufe besonders wirksam, wie die Autoren einerseits anband der schulstatistischen Daten, die einen überproportional hohen Anteil von Migrantenkindem an Hauptschulen und Sonderschulen für Lembehinderungen (SOLB) nach der Überweisungsempfehlung von der Grundschule zu weiterführenden Schulen belegen, und andererseits in Bezug auf ein lokales Schulsystem - Bielefeld - in einer um-


50

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

fangreichen Regionalstudie verdeutlichen konnten. Sie spitzten ihre Ergebnisse dahingehend zu, dass die den Schülern zugewiesene kulturelle oder ethnische Zugehörigkeit der schulischen Organisation als semantische Ressource diene, ihre gesellschaftlichen Funktionen, insbesondere von Selektion und Allokation zu erfüllen (vgl. GomollalRadtke, 2007 2) . Damit gerät nicht nur die organisationsbezogene Seite des nun nicht länger allein pädagogisch zu bearbeitenden Problems in den Blick, sondern ebenso suchten die Autoren nachzuweisen, inwieweit die Programmatik der Interkulturellen Pädagogik, bzw. die mittels dessen verfolgten Erklärungs- und Beschreibungsmuster für kulturelle Differenzen den Schulakteuren zum Begründungshaushalt diene, zwar nichtintendierte, aber dennoch in den Effekten diskriminierende Überweisungen zu rechtfertigen. Wie eingangs bereits erwähnt, fußen auch diese Untersuchungen von Gomolla und Radtke auf systemtheoretischen Überlegungen insbesondere zur Rolle von Organisationen. Sie legen also in ihrer Studie weniger Wert darauf, Intentionen zu eruieren, welche die Akteure in der Schule mit ihren Handlungen verbinden, sondern vielmehr aufdie Struktur der Entscheidungsprozesse und der Muster, die sich daran ablesen lassen. Denn Entscheidungen fallen die schulischen Akteure nicht persönlich, sondern aufgrund von Regeln, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ihre Handlungen normierenden Organisation anwenden. Im Focus der Untersuchung steht also die allgemeine Struktur eines solchen Organisationshandelns und welche strukturgebenden Folgen es zeitigt. Die Aufgabe, welche Organisationen in modemen Gesellschaften zu übernehmen haben, ist systemtheoretisch bestimmt durch ihre Funktion, welche sie als System für ein anderes oder mehrere andere, bzw. das System Gesellschaft übernehmen. Man kann ganz grob sagen, das Schulsystem übernimmt die Verteilung eines bestimmten Gutes, d. h. Bildung im Sinne von Qualifikationen und entsprechenden Zertifikaten, damit sich Menschen anhand dessen in weitere übergeordnete Systeme (Wirtschaft, Arbeit, Konsum etc.) inkludieren können. Es, das System, leistet eine Reduktion von Komplexität. Komplexität entsteht laut Luhmann (Luhmann 2001, S. 20) nun gerade in einer modemen gegenüber einer traditionellen, etwa mittelalterlichen durch klar voneinander abgrenzbare Stände organisierten, Gesellschaft dadurch, dass sie den Handelnden immer mehr Möglichkeiten zur Verfügung stellt, als sie realisieren können und deswegen Regeln benötigt werden, nach denen ein solches Überangebot reduziert werden kann . Auf die Schule bezogen heißt das: Da nicht alle alles werden können, weist sie anhand eines Maßstabs, dem der Leistung, ihren Mitgliedern Bildungsgüter zu. Ältere, strukturfunktionalistisch argumentierende Ansätze, wie derjenige Helmut Fends (Fend 1980), sprechen an dieser Stelle von den Funktionen Selektion, Quali-


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

51

fikation, Legitimation und Allokation, welche die Schule für das Gesamtsystem der Gesellschaft übernimmt. Die Regeln, nach denen verteilt wird, und die Ergebnisse ihrer Verteilung lassen sich nun unter Maßstäben von Gerechtigkeit und Chancengleichheit diskutieren und damit politisch kommunizieren. Allerdings weisen die Autoren daraufhin, dass dies nur in demjenigen System geschehen kann, welches für eine solche Kommunikation sensibel sei, wie etwa im System politischer Öffentlichkeit. Die Organisation kann, ebenso als System betrachtet, jedoch nur gemäß ihrer eigenen internen Logik und nicht nach Maßstäben aus ihrer Umwelt operieren. Denn eine Systemdifferenzierung, welche die modeme Komplexität reduziert, leistet nur aufgrund von Spezialisierung und das heißt der Entwicklung einer derartigen Eigenlogik ihren Beitrag für den Bestandserhalt der Strukturen des Gesamtsystems Gesellschaft. Dies versucht Luhmann in den Begriffen Selbstreferenz und Autopoiesis operativ geschlossener Systeme zu beschreiben. Systeme grenzen sich von ihrer Umwelt, d. h. von den anderen Systemen, nach Maßgabe ihrer internen Definition ab. Es ist deswegen auch nicht möglich, von einer Zentralinstanz der Gesellschaft her normativ auf sie, die Organisation als System, einzuwirken-', Gomolla und Radtke fassen dies wie folgt zusammen: "Zwar werden generalisierte Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit als Legitimations- und Integrationsmuster der Gesellschaft regelmäßig in politischen Appellen kommuniziert, allerdings lassen sich die Teilsysteme der Gesellschaft, etwa die Wirtschaft oder das Gesundheitswesen, die je eigene Zwecke in einer je eigenen Logik verfolgen, nicht von außen oder von einer Zentralinstanz auf die Einhaltung dieser Werte festlegen" (GomollalRadtke 2007 2, S. 13; H i. 0.). Dies gilt folglich auch für das Erziehungssystem, dem die Organisation Schule zuzurechnen ist. Was sich allerdings machen ließe, sei, die Organisation wissenschaftlich zu beobachten, und ihre Risiken und nicht gewünschten Effekte festzustellen und, bei negativem Befund, diese durch systemeigene Regeln und Kommunikationen zu beeinflussen. Hier setzen die beiden Autoren Gomolla und Radtke in ihrer Analyse und Diagnose Institutioneller Diskriminierung an. Zu seinem adäquaten Verständnis muss der Begriff der Diskriminierung, wie sie ihn in konstruktivistischsystemtheoretischer Weise verwenden, näher erläutert werden. Auch Nohl verweist an dieser Stelle zunächst einmal auf den wörtlichen Sinn von diskriminieren als unterscheiden, um seinen alltagssprachlichen, pejorativen Gebrauch, im Sinne ei22

Diese theoretische Voreinstellung ist auch folgenreich fiir die Theoriebildung beispielsweise der Interkulturellen Pädagogik, deren Programme die Akteure in den jeweiligen Subsystemen des Erziehungssysterns appellativ zu bewegen versucht, sich zu verändern. Aus Sicht derSystemtheorie muss die Erwartung an eine praktische Umsetzung stark eingeschränkt werden: Erst wenn es eine Übersetzung in die jeweilige Systemlogik, ihren operativen Code gibt, wäre eine Änderung möglich.


52

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

nes Unterscheidens ZU Unrecht, zu vermeiden. Unterscheiden wiese stattdessen immer eine "leichte Asymmetrie" auf, da "eine Seite der Unterscheidung gegenüber der anderen bevorzugt wird" (GomollalRadtke 2007 2, S. 11; Noh12006, S. 95). Wenn dementsprechend ein Lebewesen als Mensch bezeichnet wird, dann ist es gleichzeitig auch kein Tier, keine Maschine, kein Ding etc. Die Menge des Ausgeschlossenen ist demnach ungleich höher als diejenige des Eingeschlossenen beim Unterscheiden. Gleichzeitig ist damit aber auch ein spezifischer Aufmerksamkeitsfokus verbunden. Denn die Aufmerksamkeit beim Unterscheiden richtet sich eher auf die Seite des mit der Unterscheidung Eingeschlossenen als des Ausgeschlossenen: Daher die Asymmetrie. Unterscheiden ist also keine fonnallogisehe Operation im Sinne des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, also dass entweder X oder nicht-X der Fall sein muss, sondern vielmehr eine Operation, welche wiederum Komplexität reduziert. Von diesem Gedanken ausgehend, ist es dann auch plausibel, warum in der Systemtheorie Diskriminierung und die Operation des Beobachtens miteinander in Verbindung gebracht werden, denn in ihrem Verständnis ist Beobachten eine "Operation des Unterscheidens und Bezeichnens" (Luhmann, 1987) und als solche eine genuine Aufgabe auch von Organisationen. Organisationen beobachten demzufolge ihre Umwelt und indem sie dies tun, unterscheiden und bezeichnen sie etwas oder jemanden in der Umwelt des Systems Organisation nach ihren eigenen Regeln und Wissensbeständen. Dieser Zusammenhang bleibt nun auch fiir die Schule als Organisation nicht folgenlos. Denn vor der grundlagentheoretischen Folie des Konstruktivismus, wie auch der Systemtheorie betrachtet, beurteilen und bewerten die schulischen Akteure ihr Klientel nicht nur, sondern die organisationsspezifischen Muster, auf welche die Akteure zurückgreifen, erzeugen den Schüler. Seine Identität, etwa als guter oder schlechter Schüler, wird als solche auch durch die Organisation mit konstruiert und hängt nicht ausschließlich von seinen Leistungen ab, sondern von deren Bewertung. Gomolla und Radtke werten also Schulerfolg oder Misserfolg als Resultat erheblicher organisatorischer Aktivitäten, wie sie es mit Bezug zum labeling-approach" erläutern: ,,[D]ie erfolgreiche Schülerin bzw. der erfolglose Schüler" sind "zu einem entscheidenden Anteil Konstrukt und Produkt der Organisation, ihrer Unterscheidungen und der darauffolgenden Entscheidungen" (GomollalRadtke 2007, S. 54; Nohl 2006, S. 97). Hier liegt jedoch ein Unterschied zum Konstruktivismus in seiner sozialen Variante vor, welcher die Entstehung von Konstruktionen in der sozialen Interaktion von Kommunikationspartnern annimmt. 23

Der labeling-approach, bzw. Etikettierungsansatz besitzt eine lange Tradition. Gomolla und Radtke verweisen auf Hurrelmann 1974 und Bühler-Niederberger 1991.


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

53

Die Systemtheorie geht viehnehr auch von Kommunikationen aus, welche soziale Systeme bereitstellen und an denen Individuen im Sinne einer losen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen beteiligt sind. Gomolla und Radtke trennen weiter zwischen direkter und indirekter Diskriminierung. Direkte institutionelle Diskriminierung liege beispielsweise dann vor, wenn zwischen Gruppen von Mitgliedern der Gesellschaft Unterschiede hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft gemacht werden. Wenn also mit Bezug zum Migrationsphänomen beispielsweise zwischen Ausländern und Inländern oder zwischen Mitgliedern von Staaten der EU und denjenigen der Nicht-EU unterschieden und damit etwaige Rechte und Pflichten, etwa bei Arbeitserlaubnis" etc., zugewiesen werden. Wenn also schon in der Staatsangehörigkeit, also der Mitgliedschaft zu einer Nation Unterschiede gemacht werden. Von indirekter Diskriminierung lasse sich dann sprechen, wenn "Praktiken, die negative und differenzierende Wirkungen für ethnische Minderheiten und Frauen haben, obwohl die organisatorisch vorgeschriebenen Nonnen oder Verfahren ohne unmittelbare Vorurteile oder Schadensabsichten eingerichtet und ausgeführt wurden" (ebd., S. 44). Die Organisation Schule entscheidet also nach internen Regeln darüber, ob Schüler versetzt oder nicht versetzt, welche Noten an welche Schüler vergeben oder welche Überweisungsempfehlungen für welche Schulform ausgesprochen werden, und ganz grundsätzlich, wann die Schulfähigkeit attestiert wird . Systemtheoretisch betrachtet, muss eine Organisation entscheiden, ganz gleich, was sich an Veränderungen in ihrer Umwelt abspielt. Sie distribuiert, wie gesehen, Bildungsgüter an ihr Klientel - darin besteht ihre Funktionalität. Gomolla und Radtke fragen sich nun, ob diese Verteilung in der Schule gerecht zugeht. Ihr Maßstab, den sie zu deren Beurteilung zu Rate ziehen, ist durch die statistische Verteilung bestimmt. Also

24

VomInländerprivileg sprechendieAutorenim Zusammenhang vonArbeitserlaubnissen, die nach momentan geltendemRecht fiir Angehörige aus EU-Staatenin denselben ohne Einschränkung, sofernsie nicht durchbinationaleVerträge beschränktwird, gilt und fiir Angehörigeso genannter Drittstaaten nichtgilt.Auchaufder EbenedesEinbürgerungs- oderStaatsbürgerschaftsrechts wird diskriminiert: HierwirdzwischenMigrierten undNicht-Migrierten hinsichtlich desAbstanunungsund Geburtsortprinzips (ius sanguinisbzw. ins soli) unterschieden: Sollten die migrierten, d. h. ausländischenEltern zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes seit mindestens acht Jahren ohne Unterbrechungim Zielland der Migration- Deutschland- mit einer dauerhaftenAufenthaltsgenehmigunggelebthaben, erhältdiesesdie deutscheStaatsbiirgerschaft, wie seineAltersgenossen mit inländischen Eltern. Für Drittstaatler mit doppelter Staatsangehörigkeit gilt zudem dann die Optionspflicht, sich zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr fiir eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden.Das Staatsangehörigkeitsrecht, das zuvor seit 1913galt, ist 2000 verändertworden. Dasbisherigeius sanguinisist dadurchteilweisedurchFormendes ius soli ersetztworden. Vg1.: Prof. Dr. HenningStorzIBernhard Wilmes: Die Reform Staatsangehörigkeitsrechts und das nene Einbiirgerungsrecht. http://www.bpb.de/themen/OHCOPK.html; Funddaturn: 4. 8. 2008.


54

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

eine Verteilungsgerechtigkeit, ob das zu verteilende Gut in proportional gleicher Weise auf alle Bevölkerungsgruppen verteilt wird, oder ob dies nicht der Fall ist. Wie einleitend bereits erwähnt, zeigen die schulstatistischen Daten, dass dies gerade nicht, sondern vielmehr das Gegenteil der Fall ist: Es kommt zu überproportionalem Anteil von Migrantenkindern an geringer qualifizierenden Schulformen und Sonderschulen für Lernbehinderungen (SOLB). Die Bildungsbeteiligung ist also deutlich ungerecht verteilt. Gomolla und Radtke suchen nach Erklärungen dafür und zwar, dies ist entscheidend, nicht in den Intentionen der Schulakteure, beispielsweise Ausgrenzungsabsichten, und auch nicht im Zustand der Schüler und Schülerinnen; d. h. ihren Begabungen. Denn diese müssten bei den Migrantenkindem ja im Durchschnitt deutlich überproportional schwächer sein, bzw. Lernbehinderungen proportional höher ausfallen, als bei den Kindern Nichtmigrierter. Von solchen drastischen Disparitäten in der Verteilung ist allerdings nicht auszugehen. In ihrer Analyse der Entwicklung des Bielefelder Schulsystems registrieren die Autoren insbesondere Veränderungen in der Angebotstruktur. Der Anteil an Hauptschulen habe sich im Laufe der Zeit verringert, dafür gebe es aber umso mehr Gymnasien. Allein statistisch wäre also die Chance für jeden Schüler, auf ein Gymnasium zu wechseln, schon höher, ohne dass der Schüler irgendetwas tun müsse, da es nun viel mehr Plätze gäbe. Dieser Befund zeigt sich aber gerade nicht bei den Migrantenkindern, deren Population im Bielefelder Schulsystem im Betrachtungszeitraum gleichzeitig zugenommen habe, sondern ausschließlich bei Kindern Nichtmigrierter. Auch hier zeigt sich eine ungerechte Verteilung von Chancen. Weitere statistische Auffälligkeiten betreffen die viel spätere Attestierung der Schulfähigkeit bei Migrantenkindern bzw, deren bereits erwähnte überdurchschnittlich hohe Überweisung an die SOLBs. Den strukturpolitischenAnlass für die in Erscheinung getretenen Disparitäten an dieser Entscheidungsstelle sehen die Autoren im landesschulpolitischen Erlass, die dauerhaften Vorbereitungsklassen für ausländische Schüler abgeschaffi: zu haben. Denn: "Die Schulen lösen mit dem veränderten Überweisungsverhalten ihre durch den Erlass neu entstandenen Probleme" (ebd., S. 136). Nachdem also zunächst viele Migrantenkinder in die Regelklassen übernommen werden konnten, weil zeitgleich die Population der deutschen Kinder aus demographischen Gründen abnahm, stieß dies bald an Grenzen, als nämlich "die Heterogenität der Regelklassen zu groß zu werden drohte" (ebd., S. 137). Da allerdings Begründungen, die ethnische Differenzen oder die nationale Herkunft heranziehen durch das Schulrecht ausgeschlossen seien, greife die Organisation zur Legitimierung ihrer Entscheidungen auf einen anderen Wissenshaushalt zurück. Da also direkte Diskriminierung ausgeschlossen ist, greift die Organisation auf indirekte zurück.


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

55

Die Strukturen des Organisationshandelns sind also von Gomolla und Radtke durch ihre Analyse des Schulsystems herausgearbeitet worden. Daraufhin widmen sie sich den spezifischen Wissensbeständen der schulischen Akteure, welche die Entscheidungen, die gefällt wurden, wie sie beschrieben worden sind, zu rechtfertigen. Dabei griffen die Akteure nicht auf individualisierte, sondern auf institutionalisierte Bestände zurück, denen allesamt etwas Typisches und Musterhaftes eigen sei. Sie speisen sich aus dem Alltagswissen der Akteure, aus der Verwaltung, der Erziehungswissenschaft und der Pädagogik allgemein, etwa auch der Interkulturellen Pädagogik. Unter Handlungsdruck, nämlich entscheiden zu müssen, werde sehr schnell deutlich, dass die mit den Wissensbeständen legierten sozialisationsbezogenen, lerntheoretischen oder kulturtheoretischen Annahmen selbst nicht mehr empirisch überprüft werden können. Sie werden vielmehr funktional genutzt, um die Probleme, die der Organisation entstehen, nicht ihr selbst zuzuschreiben, sondern in die Umwelt zu verlegen und das heißt in diesem Fall: in den Schüler. "Der Ermessensspielraum ist durch die schulrechtlichen Rahmenbedingungen und - damit zusammenhängend - durch die organisatorischen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Die Deutungsbestände, auf die die Lehrer bei der Interpretation der zu bewältigenden Entscheidungsgelegenheiten bzw. des jeweils vorliegenden ,Falls' zurückgreifen, sind von den grundschulpädagogischen Diskussionen zum Schulanfang bestimmt, aber auch, soweit der Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt in Rede steht, vom Programm der Interkulturellen Pädagogik und Konzepten zum Zweitspracherwerb" (Gomolla/Radtke 2002, S. 153f.). Zugespitzt bedeutet dies: Da die Organisation Schule der Heterogenität ihrer Klientel nicht gewachsen ist, da sie die Grenze ihrer Handlungsfähigkeit markiert, weil sie ansonsten immer weitere Differenzierung und Individualisierung nach sich zöge, die aber den Organisationsstrukturen, Unterricht in Klassen, welcher insbesondere Homogenität der Lernvoraussetzungen erfordert und von der allenfalls in einem tolerierbaren Spektrum abgewichen werden kann, im Wege steht, versucht sie, diese mit den ihr üblichen Mitteln zu lösen und die Gründe außerhalb ihrer selbst zu suchen." Da biete sich für die Akteure, so die Autoren po25

Vgl. zur Homogenisierung in der Schule, auch mit Bezug zum Unterricht: Diehm und Radtke 1999, S. lOS ff. Trotz gegenteiliger Programmatik,die historisch spätestens mit der Entstehung der Reformpädagogikbeginnt, zeigen die beiden Autoren, inwieweit Homogenisierungmit der Funktion der Selektionzusammen hängt. Soll meritokratisch verfahren werden bei der Selektion, muss Homogenität stets die Voraussetzung bilden, da sonst die Startbedingungenschon so ungleich sind, dass nicht anhand eines universellen Maßstabs die Leistung zugerechnet werden könnte. Der Homogenitätsimperativ, den Nohl der Schuleattestiert, ist aus Sicht von Diehm und Radtke nicht eine falsche Pädagogik, die nur durch eine bessere ersetzt werden muss, sondern eine Voraussetzung für das Funktionieren der Organisation Schule: ,,Auf die gesellschaftliche Funktion der Schule antwortet ihre Organisationsform"(DiehmlRadtke 1999, S. 114;H. i. 0.).


56

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

lemisch, geradezu kulturelle Differenz als Deutungshorizont und Begründungshaushalt zur Legitimation an. Diesen Zusammenhang weisen die Autoren aufschlussreich illustrierend in Argumentationsanalysen, die sie anhand von Interviews, welche sie mit Lehrpersonal und Schulleitungen der untersuchten Schulen durchgeführt haben, verschiedenartig nach . Nohl fasst deren Ergebnisse, wie folgt, zusammen: "Sehr deutlich wird in dieser Analyse (...), dass es gerade nicht eventuelle Lernbehinderungen des Kindes sind, sondern dass die zentralen Probleme der Migration zugeschrieben, zugleich aber als Probleme des Kindes, nicht als solche der Schule gesehen werden" (Nohl2006, S. 106). Die Schule stellt ab auf die Kultur ihrer Schülerschaft, um die ihr zugemuteten Probleme zu lösen. Damit konstruiert sie als Organisation den Schüler in seiner ethnischen Zugehörigkeit, auch oder gerade wenn der einzelne Lehrer, die einzelne Lehrerin dies mit den besten Absichten tut, um vorweg genommene, trotzdem unterstellte, Schwierigkeiten in der Bildungsbiographie des Einzelnen zu vermeiden. Die von der Interkulturellen Pädagogik geforderte Beachtung kultureller Differenz wird in den Institutionen konträr zu den damit verbundenen Intentionen, Differenzen als gleichwertige Unterschiede anzusehen, genutzt. Sie markieren vielmehr mittels Differenzen ungleiche Wertigkeit zwischen Migrantenkindem und Kindern von Nichtmigranten. Für eine Emphase angesichts der programmatischen Umstellung der Interkulturellen Pädagogik von Defizit auf Differenz liefern nicht nur diese Untersuchungen zu den Mechanismen institutioneller Diskriminierung keinen Anlass, sondern die damit verbundene politische Hoffnung wurde ebenso durch eine qualitativ-empirische Studie schulischer Praxis und ihrer Akteure von Martina Weber gedämpft. Die Wirklichkeit einer schon auf gleichwertige Differenz umgestellten pädagogischen Praxis ebenso in Zweifel gezogen (Weber, 2003). Die Autorin zeigt, auf welche Weise die schulischen Akteure bei der Konstruktion geschlechtsspezifischer und ethnischer Identität beteiligt sind. Gegenüber der gar nicht oder nur gebrochen ethnisierten Selbsteinschätzung und kulturellen Verortung seitens der Schülerinnen beharrten die Vertreter der Institution Schule auf einer ethnisch orientierten Zuschreibung der Migrantinnen als Türkinnen etc. Den Kampf um Anerkennung ihrer eigensinnigen Identitätsbildungen verlören sie zunehmend im Alltag und dies ziehe ihrerseits Anpassungsleistungen an heteronome Zuschreibungen oder Pygmalioneffekte nach sich. Dies sucht Weber im Sinne Pierre Bourdieus als Naturalisierung sozialer Unterschiede zu begreifen. Das semantische Material, um Differenzen als Defizitzuschreibungen in der Schulpraxis zu konstruieren, speise sich aus dem "gesellschaftlich dominanten Diskurs" (Weber, 2003. S. 244) über Migranten. Die Schule werde so zu einem Ort, an dem gesellschaftliche Distink-


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

57

tionen reproduziert werden und der Erteilung von Bildungschancen zugerechnet werden. Die Defizitzuschreibung bleibt also für die Akteure in der Schule virulent. Es ist an dieser Stelle jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die Untersuchungen der Mechanismen institutioneller Diskriminierung einerseits und der sozialen Konstruktion ethnischer Identität durch die Schulakteure andererseits zwei polare Perspektiven empirischer Aufmerksamkeit bilden. Bei Gomolla und Radtke geraten die systemischen, organisationsbezogenen Aspekte der Schule in den Blick, während bei Weber eher die Subjekte des Schulalltags und deren Zuschreibungen im Fokus stehen. Bilden für jene die Systemtheorie und damit eine Theorie funktionaler Differenzierung den Bezugspunkt ihrer Forschung, sieht diese in der symbolvermittelten, interaktionsbezogenen Handlungstheorie, also einem sozialen Konstruktivismus, die soziologische Grundlage ihrer Studie.

2.3 Inklusion/Exklusion statt Integration In den bisherigen Ausführungen ist an der ein und der anderen Stelle bereits der Begriffder Inklusion gefallen, ohne dass dieser schon hinreichend geklärt worden wäre, was nun hier und folgend im Kontext der Systemtheorie nachgeholt werden soll, denn daraus resultieren Vorstellungen über die Art der Teilnahme von Individuen an der Gesellschaft, insbesondere ihrer sozialisationstheoretischen Implikationen und sozialpolitischen Ansichten, die für die Interkulturelle Pädagogik und die Kritik an ihr äußerst folgenreich sind. Vorangestellt waren den Schilderungen zur Institutionellen Diskriminierung im hiesigen Zusammenhang einige Überlegungen zur funktionalen Differenzierung , an die zu diesem Zweck noch Mal angeknüpft werden soll. Ausgangspunkt der Systemtheorie ist die analytische Annahme von Komplexität, die reduziert werden müsse durch Spezialisierung einzelner Systeme , die dadurch den Strukturbestand der Gesamtgesellschaft erhalten und dynamisch, d. h. wandelbar, fortführen. Es entstehen verschiedenartige gesellschaftliche Probleme, die das Gesamtsystem Gesellschaft nicht lösen kann und zu deren Lösung dann Teilsysteme gebildet werden. Systeme sind zunächst einmal bestimmt durch ihre Differenz zur Umwelt. Sie dichten sich danach hinsichtlich je eigener Regeln und Kommunikationen, ihrer je spezifischen Logik, von ihrer Umwelt ab durch interne Definition ihrer Grenzen (Autopoiesis, Selbstreferentialität). Das heißt jedoch nicht, dass Systeme gar nichts aus ihrer Umwelt aufnehmen, sondern lediglich, dass sie dies nur nach Maßgabe ihrer eigenen Verarbeitungsweisen, ihrer internen Logik, tun können. Systeme und ihre jeweiligen Umwelten sind in diesem Modell stets als wandelbar zu begreifen. Sie sind dynamische Gebilde.


58

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Fragt man sich nun, quasi klassisch soziologisch, nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, so hegen Vertreter der Systemtheorie keinen Zweifel, dass die Gesellschaft, als System betrachtet, gar nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikationen besteht, an denen Individuen beteiligt sind, insofern sie ihrerseits an psychischen und sozialen Systemen beteiligt sind. Individuen sind also für die Systemtheorie keine Bestandteile sondern gehören zur Umwelt der Systeme. Demzufolge hat der Begriff der Integration keine Bedeutung, wenn man darunter die (schrittweise und erlernbare, aber auch misslingende) Hineinnahme oder Eingliederung der Individuen in die Gesellschaft oder die gesellschaftlichen Teilsysteme versteht. Luhrnann fiihrt begründend an, die modeme Gesellschaft könne gar nicht ihren Fortbestand auf der Sozialisation ihrer Mitglieder, also der ständigen personellen Erneuerung, aufbauen, dafür finde ein Generationswechsel viel zu häufig statt, sondern müsse schlicht auf den Systemerhalt als Strukturerhalt von Kommunikationen bauen. Dies ist einerseits folgenreich für die Sozialisation der Gesellschaftsrnitglieder, denn Sozialisation ist für Luhrnann nicht der "Import von Kulturpartikeln" aus sozialen in psychische Systeme, auch keine Transmission kulturellen Kapitals, sondern ,,[i]njedem Falle" sei "Sozialisation immer Selbstsozialisation" (Luhmann 2002, S. 52) .26 Andererseits lässt sich fragen, aufwelche Weise die Individuen an den für die Systeme bedeutsamen Kommunikationen beteiligt sind. An dieser Stelle werden dann die Begriffe Inklusion und, gegenteilig, die Exklusion" theorieimmanent bedeutsam. Individuen werden nicht dadurch zu Mitgliedern der Gesellschaft, dass sie vollständig durch Übernahme von Normen und Werten in die Gesellschaft eingegliedert werden, sondern dass sie in jeweilige Teilsysteme inkludiert werden. Inklusion heißt, laut Luhmann, "die Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen" (Luhmann, 1998, S. 620; Noh12006, S. 113). Die Chancen erhöhen sich, wenn sie an den "Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchem Funktionsbereich und unter welchem Code ihre Kommunikation eingebracht wird" (ebd . S. 625). Personen werden somit nicht in Gänze von der ganzen Gesellschaft sozial berücksichtigt, sondern bloß temporär von verschieden Teilfunktionssystemen inkludiert. Menschen müssen, um sozial berücksichtigt zu werden, über die jeweiligen Codes der Funktionssysteme verfügen . Im Schulsystem können sie lernen, am Wirtschaftssystem teilnehmen durch Kaufen, im politischen System wählen, wenn sie Staatsbürger sind usf. Es liegt theorieimmanent betrachtet in ihrer Logik, dass sich nur von Inklusion sprechen lässt, wenn auch ihr Gegenteil, Exklusion, mit gedacht wird. 26 27

Vgl. dazu kritisch mit Bezug zu Zinnecker Bauer 2002 . Der Begriff wird in den gerade aktuellen Debatten über soziale Ungleichheit über seine systemtheoretische Herkunft hinaus kontrovers diskutiert. Vgl. : BudelWillisch 2008.


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

59

Mit dieser Begriffsumstellung entfällt folglich das Problem, an welchem sich die Vertreter der Interkulturellen Pädagogik abgearbeitet hatten, wie Integration nämlich ohne Assimilation überhaupt möglich sein kann. Die Kultur des Ziellandes der Migration und die Abweichungen, Differenzen zur derjenigen des Herkunftskontextes ist auf diese Weise überhaupt nicht länger mehr ein Maßstab für eine Teilnahme an den Funktionssystemen der Gesellschaft. Die Systemtheorie in der Variante Luhmanns" geht also nicht länger von einer in ihren Normen und Werten einheitlichen Gesellschaft aus, wie das noch Talcott Parsons getan hatte , sondern einer vollständig pluralisierten - gerade aus diesem Umstand folgt die handlungsbezogene Komplexität einer modemen Gesellschaft. Auch wenn dieser bereits verschiedenartige strukturfunktionalistische Systeme annahm, so stellte er sich doch eine arbeitsteilige und doch auch integrierte Gesellschaft nur so vor, dass sie durch gemeinsame Normen und Werte zusammengehalten werden könne, auch wenn sie in je spezifischer Weise und Gewichtung in den Subsystemen der Gesellschaft und den dazu gehörigen Rollen (die Rolle des Familienvaters ist strukturell eben von der Berufsrolle unterschieden und dennoch gewähren ihre Ausübung, ihre strukturellen Gemeinsamkeiten und dazu gehörige Rollensozialisation die Stabilität der Gesellschaft) wieder auftauchen. Aus diesem Blickwinkel heraus gesehen, ist die modeme Gesellschaft der Systemthe28

An dieser Stelle ist es sinnvoll, einmal außerhalb des Argumentationsganges im engeren Sinne auf den Stellenwert der Systemtheorie als soziologische Theorie ganz allgemein hinzuweisen. Vom erkenntnistheoretischen Selbstanspruch ihrer eigenen Theoriebildung her gesehen, will sie keine realistische Ontologie der Gesellschaft, sondern eine konstruktivistische Beschreibung der Gesellschaft sein. Sie will nicht das Wesen der Sache Gesellschaft erschließen, sondern, bescheidener, lediglich eine Beschreibung derselben liefern . Dies allerdings verfolgt sie mit universellem Anspruch, welcher jedoch nicht mit Ausschließlichkeit verwechselt werden darf, dennes können immer auch andere Theorien über die Gesellschaft möglich sein. Ihr Anspruch ist aber dennoch nicht weniger als der, alle Bereiche der Gesellschaft ohne Ausnahme aufschlussreich beschreiben zu können . Dies ist insofem konsequent, als die epistemologische Grundlage des Konstruktivismus auf das eigene Theoretisieren angewendet und die Theorie in ihrer Kontingenz dargestellt wird. Anders gesagt : Sie ist sich als Theorie ihres eigenen Konstruktionscharakters bewusst; bzw. sieht sich selbst als gesellschaftliche Konstruktion gesellschaftlicher Konstruktionen. Die soziologische Systemtheorie als wissenschaftliche Theorie beansprucht also keinen vor anderen ausgezeichneten Standpunkt, etwas besser oder wahrheitsgemäßer beschreiben zu können , sondem als Wissenschaftssystem nach Maßgabe ihrer eigenen Regeln und Logik gegenüber ihrer Umwelt zu prozessieren. Jedoch ist sie eine Beobachtung zweiter Ordnung: sie beobachtet Beobachtungen. Sie beobachtet, wie andere Systeme wiederum etwas beobachten. Da ihr Ort, von dem aus sie beobachtet, nicht außerhalb der Gesellschaft, in deren Umwelt, liegt, sondern sich vielmehr innerhalb der Gesellschaft befindet, ist sie eine Selbstbeschreibung derselben . Denn im historischen Prozess , in dem die funktionale Differenzierung sich weiter entwickelt, gesehen, entsteht ein Wissenschaftssystem im allgemeinen und mit der Soziologie im engeren Sinne eine Möglichkeit der Beschreibung der Gesellschaft innerhalb ihrer selbst. Die soziologische Systemtheorie beobachtet also die Gesellschaft aus ihr selbst heraus im Systemcode der Wissenschaft.


60

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

orie desintegriert: Es gibt in ihr kein Zentrum eines herausgehobenen oder bevorzugten Systems, keine übergreifende Rangordnung oder Hierarchie der Systeme, auch gibt es keine einheitlichen Normen und Werte, welche die Gesellschaft trotz fortschreitender Differenzierung integriert, sondern allein spezifische funktionale Systeme mit ihren je charakteristischen Codes. Sie garantieren den strukturellen Fortbestand der Systeme angesichts fortschreitender Entwicklungen und damit permanenter Veränderungen, welchen sie selbst unterworfen sind. Den Platz, den die Mitglieder in ihrer Gesellschaft einnehmen - in der älteren, sozialstratifikatorischen Terminologie, ihr sozialer Status, wenn man so will- ist also dadurch bestimmt, in welche Teilsysteme die Individuen inkludiert und auch aus welchen sie exkludiert sind. Sie müssen flexibel sein, die Form ihrer Kommunikation, denjeweiligen Systemen anzupassen, um ihre Chancen zu wahren, inkludiert werden zu können. Das ganze Gefüge eines derartigen Gesellschaftsmodells ist, wie gesehen, dynamisch verfasst und zieht als Resultat nach sich, dass Individuen nicht ein Mal und damit ständig und abgeschlossen in ein System entweder inkludiert oder exkludiert sind, sondern, da sich die Gesellschaft prozesshaft entwickelt", sich auch deren Teilnahmebedingungen ändern und folglich ein Individuum mal mehr, mal weniger, in mehrere oder wenige, für längere oder kürzere Zeit in- oder exkludiert sein kann. Somit wird versucht, die Risiken und Chancen aktueller Lebenslagen sachlich innerhalb der Theorie abzubilden. Bei dauerhafter Exklusion von Gesellschaftsmitgliedern, geht Luhmann davon aus, dass sich wiederum ein spezifisches System dieses Problems annehmen wird. Die Systemtheorie geht somit von der Beobachtung eines radikalen Individualismus außerhalb der Gesellschaft, also in ihrer Umwelt, aus. Eine Theorie der Individualisierung, etwa bei Beck (Beck 1983), und die Systemtheorie der Gesellschaft im Sinne Luhmanns sind also sozusagen zwei Seiten derselben Medaille, je nachdem, welche wissenschaftliche Beobachtung der Soziologe einnimmt. Jedoch besteht bei Luhmann die Gesellschaft nicht länger aus Individuen, sondern aus systemspezifischen Kommunikationen, an denen die Individuen beteiligt oder eben nicht beteiligt sind. Individuen bilden die Umwelt der über Kommunikationen laufenden Systeme.

29

Der Gedanke der Entwicklung ist in der Systemtheorie als soziale Evolutionstheorie konzipiert und sollte , immanent betrachtet, nicht mit einer wertenden Höherentwicklung von einer zur anderen Gesellschaftsstufe in Zusammenhang gebracht werden, etwa durch Emanzipation. Es wird gewissermaßen darauf vertraut , dass die Moderne zu sich selbst kommt und vormoderne Elemente ihre Relevanz verlieren .


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

61

2.4 Konsequenzen für Pädagogik und Erziehungswissenschaft Dies kann selbstverständlich nicht folgenlos für die erziehungswissenschaftliche Reflexion pädagogischer Arbeit bleiben. Gomolla und Radtke unterscheiden, wie gesehen, zwischen den internen Operationen der Funktionssysteme und ihrer Semantik, die extern, zur Legitimation o.ä, interner Entscheidungen, auch über Inoder Exklusion von Individuen, herangezogen werden können. Hier zeigt sich entscheidend ihr konstruktivistischer Zugang zur Kultur. Sie ist, wie dargestellt, eben keine Eigenschaft oder mehr oder minder gemeinschaftlich geteilte Lebensweise von Menschen, sondern eine Zuschreibung, die nachträglich, wie im Falle der Phänomene institutioneller Diskriminierung gesehen, herangezogen werden kann. Sie gehöre folglich zur Semantik und nicht zur Operationslogik der Systeme, wie Diehm und Radtke schließen (vgl. DiehmlRadtke 1999, S. 61.). Das gesamte Programm der Interkulturellen Pädagogik, differenzsensibel, aber gleichwertig mit unterschiedlichen Kulturen umzugehen, stellt sich dann im Kontext der Analysen zur Institutionellen Diskriminierung als völlig konträr zu den ursprünglichen Zielen und Intentionen ihrer Autoren heraus. Der organisationsbezogenen pädagogischen Praxis liegen keine ethnischen oder kulturellen Unterscheidungen zu Grunde, sie funktioniert vielmehr ganz ohne diese Differenzen, die vielmehr erst dann relevant werden, wenn Entscheidungen bereits gefällt wurden und diese nachträglich gerechtfertigt werden müssen. Die Autoren der Interkulturellen Pädagogik erweisen sich und der pädagogischen Zunft aus dieser Sicht sozusagen einen Bärendienst damit, aufkulturelle Differenzen zu setzen. Denn: Einmal zu den Prämissen der eigenen Arbeit gemacht, könnten Pädagogen kaum der Gefahr erliegen, ihre Schülerschaft zu ethnisieren und zu kulturalisieren, sie trotz gut gemeinter Absichten zu diskriminieren, obwohl ihre Schüler doch im Sinne von Multikulturalität in der Differenz gleichwertig behandelt werden sollen. Sie verschleierten ferner sogar die tatsächlichen Operationen der Funktionssysteme, so Diehm und Radtke, zugunsten eines wohl gemeinten Ideals einer multikulturellen Gesellschaft, dass so nicht erreicht werden könne und von dessen Modell die Autoren im Gegenteil auch gar nicht erst überzeugt sind. Der Begriffder Kultur eigne sich vor allem wegen seiner schillernden Mehrdeutigkeit in vortrefflicher Weise dazu, als Semantik gebraucht zu werden. Auf diese Weise passe er in ganz verschiedene Begründungskontexte. Sie warnen nochmals ganz allgemein vor der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als einer multikulturellen. "Mit der Unterscheidung nach ,Kulturen' wird eine Vielzahl von ethnisch-kulturellen Gruppen beschrieben, die sich wanderungsbedingt nun innerhalb einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft gegenüberstehen und für diese Gesellschaft und ihre Einheit eine Herausforderung darstellen" (DiehmlRadtke 1999, S. 63; Noh12006, S. 116f.). Die Unterscheidung


62

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

übersehe aber, dass "eine breite ,intrakulturelle Variation' [...] selbst einfache Gemeinschaften, erst recht aber sozial geschichtete und funktional differenzierte Gesellschaften kennzeichnet" (ebd. S. 63). Während also die Systemtheorie auf die kleinste Größe, das Individuum in der Umwelt der Systeme, in ihrer Analyse der Gesellschaft umgestellt hat , pochen die Vertreter der Interkulturellen Pädagogik auf dessen Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur, welche seine Identität erst ausmachen soll. Stellte man umgekehrt konsequent auf eine systemtheoretische Beschreibung von Gesellschaft um, so könnte sich die Pädagogik folglich die Kulturblindheit ihrer Funktionssysteme zu Eigen machen. Statidessen ist der aus dieser Sicht beleuchtete Kulturbegriff der Interkulturellen Pädagogik paradox: Er behauptet die Einheit des Differenten und transportiert somit, wann immer er zur Differenzierung heran gezogen wird, die Vorstellung einer in ihren Normen und Werten homogenen Gesellschaft mit sich, die aus Sicht der Systemtheorie nicht kompatibel ist mit einer modemen Gesellschaft, zu deren Mitglieder man jedoch längst zähle . Für systemtheoretisch argumentierende Autoren wie Diehm, Gomolla, Radtke, Bukow und Llaryora sind hingegen plurale Lebensformen konstitutiv für modeme Gesellschaften. Kulturelle Heterogenität zieht also keine von außen induzierte Aufgaben nach sich, welche die gesellschaftlichen Institutionen zu bewältigen haben, sondern sind Teil der praktischen Wirklichkeit einer Gesellschaft, zu deren Analyse die Systemtheorie ihre Begriffiichkeiten bereit stellt. Die Erziehungswissenschaft erhält vor diesem entfalteten systemtheoretischen Hintergrund die Aufgabe, pädagogische Institutionen und Organisationen, wie die Schule, und vor diesem Hintergrund ihre Akteure zu beobachten, aufwelche Weise sie die Semantik des Begriffes Kultur benutzen und welche Folgen dies zeitigt. Die vorgestellte Untersuchung zur Institutionellen Diskriminierung von Gomolla und Radtke kann als eine Art Vorreiter eines solchen Forschungsvorhabens innerhalb der die Interkulturelle Pädagogik beobachtenden Erziehungswissenschaft angesehen werden, das auf einem Wissenschaftsverständnis von Erziehungswissenschaft als Reflexionsinstanz pädagogischer Praxis basiert. In Bezug auf Untersuchungen zur Semantik von Kultur gehe es "dann nicht mehr darum, festzustellen, wie viele Italiener, Türken, Iraner und Deutsche in einer Klasse sind, sondern darum, zu beobachten, ob und wie eine Lehrerin ihre Schüler/innen hinsichtlich ihrer kulturellen Zugehörigkeit thematisiert und welche Folgen dies hat" (Nohl 2006, S. 117). Die Erziehungswissenschaft muss also die Interkulturelle Pädagogik in Ausübung ihrer Tätigkeit beobachten und ihre "Risiken und Nebenwirkungen" (DiehmlRadtke 1996, S. 52) abschätzen." 30

Vgl. dazu auchinstruktiv dievonLuhmann eingefiihrte Unterscheidung in Erziehungswissenschaft als Reflexionsinstanz pädagogischer Praxisparal1el zu derjenigenvonEthikals Reflexionstheorie


2. Kritik seitens konstruktivistischer Erziehungswissenschaft

63

Neben der Erziehungswissenschaft als Beobachtungsinstanz lässt sich pädagogische Praxis innerhalb der Architektur der Systemtheorie als konkrete Inklusionshilfe verstehen und das hieße im Fall von Migration als Einwanderungshilfe. Nur: "Die Aufgabe, sich um Inklusion bemühen zu müssen, stellt sich allen Neuankömmlingen gleichermaßen, ob sie durch Geburt also qua Generation oder durch räumliche Mobilität, also qua Migration, vor den Aufnahmeschwellen der Funktionssysteme der Gesellschaft stehen (DiehmlRadtke 1999, S. 170 H i. 0 .). Einen zentralen Bezugspunkt, der Pädagogik die Aufgabe der Inklusionshilfe zu erteilen, liefert Michael Bommes mit seiner Untersuchung zum Verhältnis von, Migration, Differenzierungstheorie und Wohlfahrtsstaat (vgl. Bommes, 1999), den er in bewusster Abgrenzung zum Nationalstaat positioniert und dessen politisches Ziel es sei, möglichst viele Exklusionsrisiken zu vermeiden und, sofern diese auftauchen, sie zu bearbeiten, indem den Mitgliedern der Gesellschaft Inklusionshilfen gewährt werden. Für Diehm und Radtke wiederum ist daran interessant, dass Wohlfahrtsstaaten "in den allermeisten Fällen keine Unterschiede zwischen Mitgliedern des politischen Systems (Staatsbürgern) und anderen (Einwohnern)" sehen, wie Nohl dies herausstellt (Nohl 2006, S. 119; DiehmlRadtke 1999, S. 170). Auch Bommes sieht Migration auf der Ebene der einzelnen spezifischen Funktionssysteme solange als unproblematisch an, wie die Individuen die jeweiligen Bedingungen für ihre Inklusion erfüllen können. Sobald dies aber nicht der Fall sei, könne der Wohlfahrtsstaat nicht aufdie Inklusion durch die Systeme allein vertrauen, sondern müsse, um Risiken zu vermeiden, "schon an der Grenze der Gesellschaft bzw. des Staates Inklusion und Exklusion thematisieren und als Problem bearbeiten" (ebd.) und das bedeutet, Migrations- bzw. (Ein-)Wanderungspolitik durch klare Definivon Moral, da sie eine strukturelle Ähn1ichkeit aufweist. Mit diesem Hiatus ist der Problemzusammenhangvon Werturteilen in der Wissenschaft, im engerenSinneder Erziehungswissenschaft im Zusammenhangmit der Pädagogik,berührt. Ist mit Reflexionbloß distanzierteBeobachtung gemeint, die sich nicht dazu hinreißen lässt, im Anschluss auch Stellung zur Praxis, etwa durch Kritik, Lösungsmöglichkeiten etc., zu nehmen oder ist sie eine in der Sache der Pädagogik engagierte Reflexion. Die Systemtheorie nimmt an dieser Stelle unmissverständlich deutlich ihre Position dazu ein. Da es kein in der Gesellschaft vor anderen ausgezeichnetes System gibt, die Systeme,wie gesehen, operativ geschlossen sind, kann auch die Wissenschaftnicht in die Praxis hineinregieren. Jene kann jedoch beobachten, was diese nicht sehen kann, und die Ergebnisse ihr als Wissen zur Verfiigung stellen, welches diese wiederum unter Maßgabe ihrer intemen Logik annehmen kann. Unter dieser Voraussetzung kann Erziehungswissenschaftdie Beobachtungsfähigkeitder Akteure in der pädagogischen Praxis erweitern und so zu der von Luhmann avisierten soziologischenAufldärung (Luhmann 1974 ff.) beitragen. Aufldärung als politisch-emanzipatives Programmdes 18. Jahrhundertserfährt durchdiese begrifflicheInterpretationjedoch eine folgemeicheEinschränkung. Sie ist ,,[u]nter konstruktivistischenVorzeichen" (DiehmlRadtke 1999, S. 44) nicht länger auf ein normatives Telos ausgerichtet, sondern eben eine Konstruktion unter anderen. Ein Beobachtungsangebot, das die Praktiker annehmen und folglich auch ablehnen können.


64

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

tion, welche oder wie viele Individuen einwandern können, zu betreiben. Bommes spricht an dieser Stelle von Wanderungsfiltern, welche Einwanderungen Einschränkungen unterwerfe (vgl. Bommes 1999, S. 51). Einmal eingewandert könne das Erziehungssystem dann migrierten Individuen ganz konkret Hilfestellung bieten: "Das öffentlich finanzierte Erziehungssystem soll aufdie Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten im politischen System vorbereiten und zur Verbesserung der individuellen Inklusionschancen ins ökonomische System wie zur allgemeinen Wohlfahrt und Prosperität beitragen. Seine Kemaufgabe besteht in systemtheoretischer Perspektive darin, neu Hinzukommende ebenso wie (zeitweise) Exkludierte zur (Wieder-)Teilnahme an den relevanten Funktionssystemen der Gesellschaft, zuvorderst der Wirtschaft und der Politik, der Kunst und der Wissenschaft, zu befähigen" (NohI2006, S. 119; DiehmlRadtke 1999, S. 175). Dieter Lenzen sieht die Aufgabe des Erziehungssystems, ebenfalls aus systemtheoretischer Sicht, ganz ähnlich, allerdings bedürfe es einer Erweiterung, die jedoch intradisziplinär schon stattfände: Die "Erweiterung zu einem kurativen System, die sich auch in einer Erweiterung der Erziehungswissenschaft zu einer Lebenslaufwissenschaft spiegelt (...), macht es ebenso wahrscheinlich, daß die Funktionen des Handlings von Inklusion/Exklusion im Erziehungssystem verbleiben" (Lenzen 1999, S. 552; R. i. 0 .). Da aber das Prinzip funktionaler Differenzierung stets Exklusion voraussetzt, um inkludieren zu können, ist eine Vollinklusion theorieimmanent schon rein logisch nicht möglich, denn Differenzierung bedeutet, einen Unterschied zu machen . Auf die Schule als ein Organisationssystem im Erziehungssystem bezogen heißt das reformuliert, dass nach dem Gesetz der allgemeinen Schulpflicht zwar zunächst alle Kinder bei ihrer Einschulung inkludiert werden, es dann aber per Selektion zu Exklusionen komme, was allerdings für Diehm und Radtke unproblematisch ist, insofern dies entlang eines Maßstabs von Leistung geschehe. Sobald dies aber nicht der Fall sei, gerate die Schule unter Druck, legitimieren zu müssen, inwieweit es zulässig sei, das ihr zugrunde liegende meritokratische Prinzip zu verlassen. Werden Merkmale wie Geschlecht, soziale Schichtzugehörigkeit oder eben Etlmische Zugehörigkeiten als Selektionskriterium herangezogen, sei dies unzulässig (vgl. DiehmlRadtke 1999, S. 175). Geschieht dies trotzdem, erhält die Erziehungswissenschaft als Beobachtungsinstanz den Auftrag, hierüber wiederum aufzuklären. Das bildungspolitische Problem einer zunehmenden Population von Migrantenkindem an Schulen ist für die Autoren recht einfach zu lösen: "Die Bildungspolitik muss ihnen Platz schaffen" (DiehmlRadtke 1999, S. 192). Gleichwohl sie trotz dieses lakonisch vorgetragenen Postulats die weiteren politischen Dimensionen keinesfalls in ihrer Komplexität unterschätzen: "Eine Ausweitung


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

65

des Bildungsangebots oder gar eine Umstrukturierung des Schulsystems (...) stößt bezogen aufMigrantenkinder auf ideologische Widerstände und finanziellen Unwillen. Es gibt kein entgegenkommendes gesellschaftspolitisches Klima, das solche Veränderungen begünstigen würde - das Gegenteil ist wahr, auch wenn verstärkt von ,Integration' die Rede ist." Sie halten fest: "Es ist billiger, schmerzloser und genügt überdies der politischen correctness, in neue Rahmenpläne etwas über ,interkulturelle Erziehung' hineinzuschreiben als Schulen zu öffnen, Heterogenität zu akzeptieren und die offenkundige Diskriminierung strukturell abzustellen" (Diehm/Radtke 1999, S. 192f.). So formulierten die beidenAutoren vor über 10 Jahren. Die Frage stellt sich, inwieweit dies die heutigen Verhältnisse noch trifft oder ob sich nicht vielmehr einiges geändert hat, in Zeiten, in denen im Zuge des Diversity-Managements privatwirtschaftlich agierende Firmen das kulturspezifische Kapital ihrer Mitarbeiter, wenn sie dies nicht gleich als geldwerten Vorteil entdecken, dann doch zumindest als Humanressource wahrzunehmen gewillt sind. Kann sich das Erziehungssystem diesem Trend länger gegenüber verwehren und weiterhin dauerhaft Migrantenkinder zugunsten der, nennen wir sie für den Moment etwas ungeschützt, autochthonen Kinder Bildungs- und damit Inklusionsmöglichkeiten verwehren? Der von den Autoren identifizierte Legitimationsdruck müsste gegenüber dem Untersuchungszeitraum, indem die Studie zur Institutionellen Diskriminierung durch geführt wurde noch weiter zugenommen haben.

3.

Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

Bevor die nicht ausgebliebene Reaktion von Vertretern der Interkulturellen Pädagogik, wie etwa Franz Hamburger, die, aufgrund der im Kapitel zuvor dargestellten, doch massiv vorgetragenen Einwände, eine Überarbeitung ihrer wissenschaftlichen und pädagogisch-praktischen Programmatik zur Folge hatte, vorgestellt wird, soll zunächst Raum gelassen werden, um auch die immanente Kritik an den systemtheoretischen Monita, wie etwa Nohl sie zusammenfasst, darzulegen. Zunächst einmal hebt er hervor, dass sich die von den Autoren Gomolla und Radtke diagnostizierte Diskriminierung nicht nur auf ethnische oder kulturspezifische Kategorien richten müsse, sondern eben auch schichtspezifische Dimensionen berühre. Nohl zeigt dies an den Ergebnissen ihrer eigenen Studie, denn es ließen sich im Interviewmaterial in den Argumentationen, die, wie voran vorgestellt,


66

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

von den Lehrkräften zur Legitimation ihrer Organisationsentscheidungen heran gezogen wurden, immer wieder auch Verweise ablesen, welche auf die Schichtzugehörigkeit ihrer Schülerschaft hinwiesen (Nohl 2006, S. 121). Gomolla und Radtke verengten somit in ihren Analysen ihre Perspektive auf kulturelle Differenz und Ethnizität und vernachlässigten damit eine für Nohl eher wahrscheinliche Mehrdimensionalität von Diskriminierung, bzw. bekämen Diskriminierungen anderer Art, beispielweise Begründungsmuster, welche jenseits einer Kulturalisierung von Migrantenkindern etwa Arbeiterrnilieus stigmatisierten, gar nicht erst in den Blick. Es könnten durch die Wahl ihrer Perspektive also weder Überschneidungen zwischen schicht- und migrationsspezifischer Diskriminierung herausgearbeitet werden, noch gerieten andere Opfer des Organisationssystems Schule auf solche Weise ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Durch Nohls kritische Formulierungen taucht dann wieder die zu Zeiten der Ausländerpädagogik virulente Frage, ob es sich bei der Bildungsbenachteiligung von Migrantenkinder nicht doch eher um eine Frage der Schicht- denn der Kulturzugehörigkeit handele, auf. Hier freilich auf der Ebene des organisationsbezogenen Handelns innerhalb der Schule gestellt, allerdings nicht länger in Opposition, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zueinander. Die Beobachtungsperspektive aus seiner Sicht derart einzuschränken, bildet für Nohl jedoch nicht den einzigen Punkt seiner kritischen Einwände, sondern ebenso moniert er, die Autoren beschäftigten sich zu einseitig mit Organisationen und öffentlichen Diskursen und wiesen damit den an den öffentlichen Diskursen Beteiligten eine passive Rolle zu. Ebenso gut könnten sie aber doch auf ihre Weise an der Herstellung ethnischer Diskriminierung genauso beteiligt sein. Die Berücksichtigung der Alltagswelt, die Art, wie und unter welchen Bedingungen ein Diskurs sich dort herstellt, wird von den hier referierten systemtheoretischen Autoren insgesamt, also auch von Bukow und Llaryora, in der Tat vernachlässigt. Der vorab konstitutionstheoretisch begründete Unterschied zwischen öffentlichem Diskurs und Organisation auf der einen und Individuum und Lebenswelt auf der anderen Seite weist diesen eine geringere Bedeutung als jenen zu. Laut Bukow und Llaryora senkten sich "wie von selbst" (Bukow/Llaryora 1998, S. 99; Noh12006, S. 124) die Elemente der öffentlichen Diskurse bloß in die alltägliche Lebenswelt ab. Somit wird an dieser Stelle ganz deutlich, dass sie die Subjektivierungsweisen, also die Art und Weise, wie handelnde Individuen die Elemente des Diskurses aufgreifen, nicht zeigen können und wollen. Nohl sieht dies besonders kritisch, da sich daraus ein privilegierter Zugang zur sozialen Welt der Forscher ablesen ließe, denn einerseits werden zwar die subjektiven Absichten wie eine black box angesehen - es wird sich also skeptisch agnostisch zu ihnen verhalten - andererseits


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

67

behaupten sie einen automatisch-deterministischen Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Diskurs, denn die Akteure sind in Bezug auf ihr Verhältnis zu den Diskursen nur reproduzierend tätig. Nohl verweist hier auch auf die von Apitzsch im Zusammenhang der Biographieforschung formulierte Kritik an der "Hypothese der unausweichlichen Reproduktion institutioneller Strukturen im Handeln von Subjekten" (vgl. Apitzsch 1999, S. 505) spricht. Sie richtet sich hier vor allem gegen die Untersuchung von Gomolla und Radtke , welche dem Lehrpersonal eine ebenso passive Rolle an den Entscheidungsstellen innerhalb der Schulorganisation attestieren wie Bukow und Llaryora den Diskurssprechem. Für Nohl sei der Anspruch der systemtheoretisch arbeitenden Autoren, das Leben in der multikulturellen Gesellschaft insgesamt zu dekonstruieren aufhalbem Wege stehen geblieben und folglich "gegenstandstheoretisch halbiert", da sie sich nur auf Organisationen und Diskurse bezögen (Noh12006, S. 125). Daneben sei an dieser Stelle ergänzend daraufverwiesen, dass die Studie zur institutionellen Diskriminierung auch hinsichtlich ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit der von ihr deutlich gemachten Ergebnisse in frage gestellt wurde. Ingrid Gogolin bezweifelt deren empirische Validität, trotz theoretischer Ausformulierung seitens Diehm und Radtke, da sie nur auf einer einzigen Regionalstudie beruhe (vgl. Gogolin 2006, S. 128) und bereits durch andere Untersuchungen, die durchaus positiv diskriminierende Effekte aufzeigten (vgl. Lehmann u. a. 1997), korrigiert werden müsse, da es sich um regionale begrenzte Effekte und somit um eine Verzerrung handeln k önne." Bei allen bisher hier gesammelten und vorgetragenen kritischen Einwänden, welche die systemtheoretische Erziehungswissenschaft provoziert hat, muss aber doch vor allem hervorgehoben und deutlich gemacht werden, dass die Disziplin der Interkulturellen Pädagogik bei aller inhaltsbezogenen Vielgestaltigkeit aufdie systemtheoretischen Einsprüche gegen ihr Programm und dessen Grundlagen reagiert hat. Denn ihre Autoren ließen sich auf die vorgebrachten Argumenten durchaus ein und stießen somit eine innerfachliche Reflexion an, die zu einer Neupositionierung innerhalb der Interkulturellen Pädagogik geführt hat. Frank Olaf Radtkes mit provokatorischer Absicht vehement formulierte Polemik, solange im Rahmen Interkultureller Pädagogik allein auf die erziehende Veränderung des Bewusstseins abgehoben werde und institutionelle Strukturen analytisch ausgeblendet werden, handele es sich lediglich um einen pädagogisch halbierten Rassismus, wurde insbesondere von Franz Hamburger zunächst positiv 31

Allerdings sind die Ergebnissevon Lebrnannu. a. nicht weniger regional begrenzt, da sie sich nur auf HamburgerSchulenbeziehen. Hier wurdeherausgefunden, dass auchbei relativgeringen Schulleistungen durchausauchan besserqualifizierende Schulenüberwiesenwerde(vgl. Gogolin, 2006, S. 128).


68

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

aufgenommen. Dennoch weist er umgekehrt den Geltungsanspruch der Kritik seinerseits wiederum in seine Schranken. Auch wenn Radtke "überzeugend die Bedeutung der Prozeduren von Organisationen bei der Genese von Diskriminierung nachweisen und die typischen schulischen Selbstentschuldigungsstrategien im interkulturellen Diskurs aufzeigen" (Hamburger 1999, S. 170) könne, lässt Hamburger doch keinen Zweifel daran, dass es sich für ihn dabei ebenso ausschließlich um eine ",halbe Analyse" (ebd. h. i. 0 .; Nohl2006 S. 127f.) handele, denn jenseits der Organisationssysteme gebe es doch durchaus auch Strukturen, welche das Handeln beispielsweise von Lehrern bestimmen und die etwas mit Kultur zu tun haben könnten (vgl. ebd. S. 171). Mithin weist er auf einen immanenten Widerspruch in den Argumenten Radtkes hin: Obwohl in ihren Untersuchungsgrundlagen, die Grundbausteine einer Theorie funktionaler Differenzierung, gerade Kultur unberücksichtigt bliebe, müsse Radtke sie hinterrücks wieder einführen, um überhaupt seine Analysen in die Lage zu versetzen, ethnisch-kulturelle Diskriminierung in der Schule zu erklären. Hamburger macht aber nicht nur in den Grundlagen der Untersuchungen Radtkes einen Widerspruch aus, sondern ebenso auch in den Schlussfolgerungen, welche Radtke aus seinen Forschungen zieht. Wenn dieser nämlich am Ende seiner Ausfiihrungen zum "pädagogisch halbierten Antirassismus" (vgl. Radtke 1995) daraufhindeute, zur Begründung schulischer Probleme von Migrantenkindern werde auf kulturtheoretische Erklärungen seitens des Lehrpersonals zurück gegriffen, täten sie dies nicht als Funktionsrollenträger sondern als "kleine Repräsentanten nationaler Kulturen", nutze er wiederum einen Kulturbegriff, den er nicht expliziere. Hamburger, so wird an seiner Kritik deutlich, weist also die systemtheoretisch grundlegende Unterscheidung in Struktur und Semantik als inakzeptabel zurück. Ganz gleich, welche Argumentation nun an dieser Stelle überzeugen mag, für den hiesigen Zusammenhang, Theoriegenese und Entwicklungen der Interkulturellen Pädagogik darzustellen, ist wichtig und bleibt nunmehr festzuhalten, dass Hamburger im Anschluss an seine Kritik der Position Radtkes Konsequenzen für die eigene Disziplin zieht, indem er zum einen für die Erweiterung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit plädiert. Den Gegenstand einer wissenschaftlich orientierten Interkulturellen Pädagogik sollen nämlich, so schlägt er vor, Interaktionsstudien bilden, die auf mehreren Ebenen, von den Organisationen über Milieus und Interaktionen zwischen Individuen, untersucht werden müssten. Zwar hält er an der Dimension Kultur fest, doch will er sie durch eine Vielzahl derselben ersetzen, um einer starren Fixierung zu entgehen. Der Kulturbegriff ist also nicht ein- sondern mehrdimensional und diese Mehrdimensionalität sei ebenso nun in den interkulturellen Interaktionsstudien zu untersuchen. Es sei dann zu-


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

69

gleich zu klären, wie Kultur im Sinne von Deutungsmustern, ein Vergleich mit Niekes Überlegungen darf hier wohl gezogen werden, von den beteiligten Interaktionspartnern als Fremd- und Selbstinterpretationen genutzt werden, ohne sie als Erziehungswissenschaftler in der Forschungstätigkeit oder als Pädagogen in der Praxis selbst zu übernehmen, damit es gar nicht erst zu einer Kulturalisierung oder Ethnisierung von außen kommen könne . Vielmehr müssen sich die Interkulturellen Pädagogen und Erziehungswissenschaftler einer kritischen Reflexion und Selbstbeschränkung unterziehen. Dies vor allem in Bezug auf etwaige Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Erklärungsangebots, Probleme des, auch institutionellen, allgemeinen pädagogischen Handelns durch Kulturkonflikte begreiflich zu machen. Hamburger fasst all diese Schlussfolgerungen für die eigene Disziplin unter dem Titel einer reflexiven interkulturellen Pädagogik zusammen. Als reflexiv ist sie insofern zu verstehen, als sie sich selbst als Disziplin, also ihre eigene Tätigkeit als Forschungs- und Beobachtungsinstanz und deren Folgen mit hinein nimmt in die wissenschaftliche Auseinandersetzung über den Gegenstand sowie die praktisch pädagogische Tätigkeit. Gegenüber der systemtheoretischen Betrachtung einer noch nicht vollzogenen Modernisierung, die der Interkulturellen Pädagogik attestiert wird, da sie durch ihren dominanten Kulturbezug aufein vorgesellschaftliches soziales Muster zurückfiele und einem gemeinschaftlichen, sprich vormodernen Bedürfnis nach Identität das Wort redete, wie dies Nassehi (Nassehi 1990) moniert, verweist Hamburger, wie schon Prengel (PrengeI1995 2) , auf eine Theorie der Anerkennung, wie sie von Axel Honneth (Honneth 1994) ausgearbeitet wurde. Vergemeinschaftung, in deren Medium Kultur eine Bedeutung erhält, steht hier nicht im Gegensatz zur modemen Gesellschaft sondern wird als Bestandteil derselben begriffen. Wenn die soziale Wertschätzung von Personen eine zentrale Anerkennungsform darstellt, dann gilt dies auch für die Person als Teil einer kulturell geformten Gemeinschaft. Hamburger hält trotz vehementer und partiell zugestandener Kritik an der Interkulturellen Pädagogik an ihren normativen Grundlagen - im Sinne der moralischen Anerkennung - fest. Das Problem einer Koexistenz verschiedener Kulturen ist für ihn also nicht durch begriffliche Umstellungen in der Theorie, die, wie die Systemtheorie, Kultur für das Funktionieren einer modemen Gesellschaft als irrelevant einschätzt, zu lösen, sondern besteht weiterhin, vor allem praxisbezogen, in der sozialen Anerkennung von Menschen, die Angehörige verschiedener Kulturen sind. Für Hamburger bleibt dies sozialpolitisch formulierte Ziel für die Interkulturelle Pädagogik weiterhin bindend. Für Nohl steht auch Paul Mecherils Konzeption einer Migrationspädagogik der reflexiven Interkulturellen Pädagogik nicht fremd gegenüber, nur habe sie


70

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

nicht so ein starkes Vertrauen in eine immanente Selbstbeschränkung durch Reflexion ihrer Tätigkeit. Beiden Positionen sei ihre Skepsis gemeinsam, kulturalisierende Beschreibungen sowohl in pädagogischer Praxis (bei Hamburger vor allem die Sozialpädagogik) als auch in der Erziehungswissenschaft zu gebrauchen. Mecheril selbst stellt fest, innerhalb der Interkulturellen Pädagogik werde die .migrationsbedingte Differenz" "als zentrale Differenzdimension" (Mecheril 2004, S. 16) von Kultur angenommen. Genau dies verhindere aber, kulturelle Pluralität als Konstituierendes moderner Gesellschaften anzusehen, denn Migration sei vielmehr nur ein Teil und nicht der alleinige oder entscheidende Grund für kulturelle Pluralifizierung und Diversifizierung. Die Interkulturelle Pädagogik bleibe aber in ihrem Fokus allein auf einwanderungsbedingte Kulturpluralismen beschränkt. Andererseits richte sie im Zusammenhang mit Migration aber ihren Focus zu einseitig auf Kultur, denn die Phänomene von Wanderungsbewegungen seien tatsächlich doch viel komplexer zu beschreiben. Statt immer schon von kultureller Differenz auszugehen, müsse eine Migrationspädagogik beispielsweise eher die diskursive Herstellung einer Differenz von Anderen und Nichtanderen untersuchen, welche Beteiligung Machtverhältnisse daran hätten, und welche Rolle gesellschaftliche Diskurse, etwa politische oder öffentliche, in diesem Zusammenhang spielten. Es sei eigentlich nun nach den Zeiten, in denen Autoren, wie Auernheimer selbstkritisch den Zusammenhang von Differenzsensibilität und der Erzeugung kultureller Differenz aufgenommen haben (Auernheimer 1996), die Konsequenz zu ziehen, den Begriff der Interkulturellen Pädagogik durch den Begriff Migrationspädagogik zu ersetzen, denn dieser entginge der Gefahr, Migrationsphänomene einseitig auf Kultur zu verengen. Ebenso schlägt Mecheril vor, doch besser von einer Migrationsgesellschaft als einer Einwanderungsgesellschaft zu sprechen, denn Migration sei der umfassendere Begriff, der allgemeiner all diejenigen Phänomene bezeichnen könne, welche kennzeichnend für eine solche Gesellschaft seien . Zur Explikation führt er die folgenden an: "Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zurechnung auf Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus, Konstruktionen des und der Fremden oder auch Erschaffung neuer Formen von Ethnizität" (ebd. S. 18). Da es Mecheril um die diskursive Herstellung des Anderen und Nichtanderen geht, stellen für ihn auch Begriffe wie Migrant und Einheimische nicht länger feste Größen, sondern diskursiv erzeugte wandelbare Konstruktionen dar, die allerdings von praktischer Relevanz sind. Interessant an seinem Ansatz und hervorzuheben ist nun, dass er davon ausgeht, diese Kategorien seien zwar sozial konstruiert, aber in ihnen und in ihrem diskursiven Gebrauch kämen stets auch Machtverhältnis-


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

71

se zum Ausdruck, beispielsweise zwischen Dominanz- und Minderheitengesellschaft. Gegenüber der organisationsbezogenen Sicht Radtkes und Gomollas und auch im Gegensatz zur diskursanalytischen Sicht Bukows und Llaryoras sieht er die Subjekte nicht ausschließlich und damit einseitig als passive Opfer der Konstruktionsleistungen übermächtiger Organisationen oder öffentlicher Diskurse, sondern sieht Möglichkeiten für sie als Diskursakteure, "produktive Muster der Aneignung und Neu-beschreibung ihrer Situation entwickeln" (ebd. S. 104; Nohl 2006, S. 130) zu können. D. h. Individuen, die als Migrationsandere durch Migrationsnichtandere konstruiert werden, haben die Chance, eine derartige Konstruktion wiederum zu dekonstruieren. An dieser Grundposition lässt sich nicht nur Mecherils theoretische Verortung seiner pädagogischen Konzeption einer Migrationspädagogik, sondern ebenfalls ein spezifischer Machtbegriff ablesen, dessen Umfang hier kurz angerissen wird. Macht entsteht im Diskurs. Der Diskurs ist, im Gegensatz zu seiner kommunikationstheoretischen Fassung von Habermas (Habermas 1981) im Sinne eines herrschaftsfreien Ortes, an dem wechselseitig und vernünftig argumentiert werden kann, und der begründungstheoretisch die Bedingung der Möglichkeit eines Austauschs von Argumenten darstellt, ein Machtfeld, in dem Akteure um die Durchsetzung ihrer Konstruktionen von sich, der Welt und anderen ringen. Aber: Wird beispielsweise ein Stadtviertel hinsichtlich seiner kulturellen Bevölkerung abgewertet und als solches in öffentlichen Medien dargestellt und sein Bild reproduziert, lassen sich trotz ihrer Definitionsmacht seitens der symbolisch stigmatisierten Bewohner Strategien finden, dem offensiv zu begegnen und damit die Zuweisungen zu unterminieren. Macht drückt sich also nicht darin aus, dass einige über andere herrschen und diese jene unterwerfen, sondern Macht wird zu einem dynamischen Gebilde, welches in Praxen für die je eigene Selbstermächtigung genutzt werden kann . Hat also die eine gesellschaftliche Gruppe das Interesse, eine andere mittels spezifischer Konstruktionen abzuwerten, kommt diesen nicht nur zu, Konstruktionsobjekte zu sein, sondern sie können diese rigiden Zuweisungen aufweichen. Mecheril (vgl. Mecheril 2004, S. 45ff.) erinnert hier mit dem von ihm verwendeten Machtbegriff an die Machttheorie des französischen Philosophen Michel Foucaults (Foucault 1978).32 Ihm zufolge ist Macht nicht, wie etwa soziologisch-klassisch bei Max Weber (Weber 1972), die Ausübung des eigenen Willens gegenüber Anderen oder die Chance, ganz ungeachtet ihrer Quellen, den eigenen 32

Mecheril hat auch in einer späteren Arbeit den Bezug der Pädagogik zu den Cultural Studies entwickelt, wenn auch nicht mit hoher theoretischer Stringenz. Auch auf diesem Wege zeigt sich der strukturalistische und poststrukturalistische Einfluss auf die Konzeption von Mecherils Migrationspädagogik. Die Forschungen der Birmingham School beziehen sich, vor allem in den Arbeiten Stuart Halls aufdie poststrukturalistischenArbeiten Michel Foucaults (vgl. Halll994).


72

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Willen durchzusetzen", sondern grundsätzlich relational zwischen den Institutionen einer Gesellschaft zu verorten. Somit besitzt nicht jemand oder eine Gruppe Macht, sie liegt weder im Besitz noch in der Möglichkeit eines individuellenAkteurs, sondern konstituiert sich allererst durch das soziale Gefüge, welches dann Strukturen ausbildet, die wiederum Subjektivierungsweisen konstituieren. Daraus ergeben sich freilich ganz andere politische Zielsetzungen und Möglichkeiten, mit Macht umzugehen, denn Macht kann, dieser Konzeption zufolge, nicht über andere ausgeübt werden. Sie ist vielmehr ein praktisches Kräftefeld, in dem Akteure sich positionieren oder als Subjekte positioniert werden. Alle Akteure können im Diskurs von dieser relationalen Macht profitieren, wie von ihr unterworfen werden. Der Begriff Macht ist dem gemäß nicht an die Herrschaft der einen über unterdrückte andere, auch nicht als Dialektik von Herr und Knecht, gebunden zu verstehen, sondern prozessual und relational in sozialen, auch institutionalisierten Beziehungen zu verorten. Wird diese Machtkonzeption aufdas Erkenntnisinteresse Mecherils bezogen, die Ordnungsschemata, welche in einer Migrationsgesellschaft Diskurse strukturieren, beispielsweise diejenige von wir und die zu untersuchen, so erscheinen seine Überlegungen zur praktischen Pädagogik verständlich, sie habe die Aufgabe subversiv die Zugehörigkeitsordnungen zu verschieben und hybride Neuschöpfungen und Identitäten zu unterstützen. Gomolla und Radtke, bemängelt Mecheril, hätten durch ihre Perspektive auf die internen Mechanismen der Organisation und der nachträglichen Legitimation übersehen, dass diese nur aufZustimmung in der Gesellschaft stoße, weil "wir in einer Dominanzgesellschaft leben , in der die Differenz zwischen (Migrations-) Anderen und Nichtanderen als Über- und Unterordnung der ,kulturellen Identitäten' produziert, hingenommen und etwa mit Hilfe des Kulturbegriffs legitimiert wird" (ebd. S. 190; Noh12006, S. 131). Damit überbietet er die schon zugespitzte Kritik der systemtheoretischenAutoren an der Legitimation durch Verweise auf kulturelle Zugehörigkeiten, denn Mecheril spricht hier klar und entschieden von Rassismus (vgl. Mecheril2004, S. 176ff.) Das rassistische Dominanzverhältnis innerhalb der Gesellschaft zu bekämpfen, gelte folglich als die herausgehobene Aufgabe der (Migrations-) Pädagogik. Dazu sei es seitens der Pädagogen unumgänglich, interkulturelle Kompetenzen zu erlernen. Gegenüber einem technisch verkürzten Verständnis von interkultureller Kompetenz, das sich in Wissen über fremde Kulturen erschöpfe, konturiert und postuliert er dagegen eine "reflexive Haltung" (MecheriI2002, S. 26), welche Pä33

In § 16der soziologischen Grundbegriffeheißt es bei Max Weber: ,,Machtbedeutetjede Chance, innerhalbeiner sozialenBeziehungden eigenenWillenauch gegenWiderstrebendurchzusetzen, gleichvielworauf diese Chance beruht" (Weber 1972, S. 28)


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

73

dagogen sich stattdessen zu eigen machen sollten. Dazu gehöre sowohl die Beobachtung, wann und unter welchen Umständen das Konzept Kultur in der Praxis gebraucht werde, als auch das Eingeständnis, etwas nicht verstehen zu können, und somit auch Grenzen des eigenen Verstehens und Wissens zu akzeptieren, sowie schließlich die Sensibilität für insbesondere diejenigen Dominanzverhältnisse, welche der eigenen pädagogischen Interaktion zwischen ihnen und ihrer Klientel zugrunde liegen. Nohl führt an, Mecherils Migrationspädagogik sei im Prinzip bereits als eine Pädagogik der Mehrfachzugehörigkeit anzusehen, da seine Konzeption zumindest der theoretischen Möglichkeit nach andere Zugehörigkeitsdimensionen, wie Geschlecht und Schicht, beinhalten könne. Mecheril selbst hat in empirischen Studien zur Verschränkung von natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten gearbeitet (Mecheril 2003). In der Tat verbleiben Mecherils Überlegungen zur Migrationspädagogik nicht nur explizit im Kontext Migration, während er durch Ansätze, wie dem einer "dreifachen Vergesellschaftung" (Lenz 1996, S. 216) - folglich einer Sozialisation, welche sich in den Dimensionen Geschlecht, Ethnizität und Klasse beschreiben lässt erweitert wird. Die These von der dreifachen Vergesellschaftung hat sich auch die bereits erwähnte Fallstudie von Martina Weber (Weber 2003) zu nutze gemacht, um Selbstzuschreibungen junger Migrantinnen und ihre Auseinandersetzung mit den Fremdzuschreibungen seitens des Lehrpersonals zu kontrastieren. Dass eine Selbst- und Fremdpositionierung aber nicht nur in diesen Dimensionen gefasst werden, sondern auch entlang weiterer Differenzlinien stattfinden kann, haben dann weitere Autorinnen, wie etwa Helma Lutz und Krüger-Potratz (Krüger-Potratz/ Lutz 2002) hervorgehoben. Wichtig daran im hiesigen Zusammenhang ist, zu sehen, dass auf diesem Wege die kulturalisierende Blickrichtung, also eine einseitige und verengte Perspektive auf Kultur, innerhalb der Interkulturellen Pädagogik erweitert und mit anderen Sozialisationsdimensionen verschränkt, mithin auch der Begriff der kulturellen Differenz erweitert wird. Nohl arbeitet an diesen Ansätzen heraus, wenn dort von Mehrdimensionalität gesprochen werde, diese als Zuschreibungen und Definitionen expliziter Selbstund Fremdpositionierung verstanden werden, und wendet ein, jenseits dessen ließe sich doch schon ebenso eine Mehrdimensionalität von Kultur in der vorreflexiven, selbstverständlichen Erfahrung ausmachen. Damit positioniert er nun sich selbst und seine Studien (BohnsackINohI1998, 2001; Noh11996, 2000), die vor allem mittels qualitativer Gruppendiskussionen habitualisiertes, milieu- und lebensweltlich gebundenes Wissen zu rekonstruieren suchten, im wissenschaftlichen Feld und im Diskurs der Interkulturellen Pädagogik (NohI2006, S. 137ff.), an deren Programm er selbst festhält, worauf auch Auemheimer hinweist (Auern-


74

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

heimer 20075, S. 8). Den Kulturbegriffversucht er grundlagentheoretisch im Sinne des Milieubegriffes aufzufassen. Milieu sei der "soziale Ort, der die Menschen miteinander verbindet, es ist der Ort der Konjunktion" (ebd. S. 140) . Mit Bezug zu den Arbeiten zur Wissenssoziologie von Karl Mannheim und deren Fortführung durch Rekonstruktionsarbeiten Ralf Bohnsacks, hier vor allem auch zur dokumentarischen Methode, die in eine praxeologisch fundierte Wissenssoziologie mündete, unterscheidet Nohl zwischen einem konjunktiven Wissen, welches in das jeweilige Milieu eingelassen und nicht bewusstseinspflichtig sei, und einem kommunikativen Wissen, das sich erst durch Reflexion ergebe und milieuübergreifende Kenntnisse beinhalten könne. Hinsichtlich Kultur müsse nun einerseits zwischen Repräsentationen, also Zuschreibungsweisen, mittels derer Menschen sich selbst und andere zuordnen, und Formen kollektiver Lebensführung andererseits differenziert werden. Den bisherigen Positionen, die im Diskurs zur Interkulturellen Pädagogik vertreten wurden, die er als klassisch bezeichnet, wirft er vor, jene Kulturauffassungen bislang als Gegensätze betrachtet zu haben, stattdessen wolle er sie aber als verschiedene"Thematisierungsweisen von Kultur" und .Leitdifferenz innerhalb des Kulturbegriffs" (ebd. S. 138; H i. 0 .) herausarbeiten. Individualität entstehe erst im Milieu: "Der Einzelne wird immer schon in einen bestehenden, wenn auch sich stets verändernden Raum konjunktiver Erfahrungen hineinsozialisiert und kann erst auf Basis dieser kollektiven Einbettung seine Individualität entfalten" (ebd. S. 141). Das Milieukonzept ließe sich mit dem Begriff des Habitus, einem Grundbaustein der soziologischen Theorie sozialer Ungleichheit Pierre Bourdieus verbinden", Mit diesem teile jenes die Unbewusstheit bei gleichzeitiger regelgeleiteter Generativität; d. h. : "Der Habitus als ein ,System generativer Schemata von Praxis' (Bourdieu 1991, S. 279) verbindet Menschen eines Milieus miteinander, ohne dass ihnen dies bewusst sein muss (ebd.)." Milieu und Habitus seien nicht direkt beobachtbar, sondern können nur an den Praktiken der Men34 3S

Innerhalb der Interkulturellen Pädagogik bezieht sich etwa Ingrid Gogolin ebenfalls auf den Begriffdes Habitus, um die Orientierung an Monolingualität der hiesigen Schule angesichts der Multilingualität ihrer Schüler zu beschreiben (vgl. Gogolin , 1994). Die Frage stellt sich allerdings, wie es dann um das Individuum bestellt ist, dessen Existenz Bourdieu soziologisch doch bezweifelt, wenn nicht gar verneint oder zumindest als Fiktion entlarvt . Wenn also milieuspezifische Wissensformationen ähnlich deterministisch wie das Habituskonzept aufgefasst werden sollen, kann sich Dynamik nur im Milieu als Ganzem und nicht durch die Veränderung einzelner Individuen ergeben. Nohl sieht jedoch das Individuum auf der Ebene des kommunikativen Wissens verortet im Sinne der Selbstbeschreibungen, die er in seiner Auseinandersetzung mit seiner Umwelt auch im Sinne einer Se1bstpositionierung und Entwicklung seiner Identität, durchaus auch ausgelöst durch äußere Veränderungen, Adoleszenzkrisen, mangelnde Funktionalität des Milieus (vgl. Noh12006, S. 16Sf.). Mit dem dafiir entwickelten Begriff des "persönlichen Habitus" , wie er von Bohnsack (Bohnsack 2003) entwickelt wurde , und den Noh! aufgreift, enden dannauch die theoretischen Gemeinsamkeiten mit Bourdieu.


3. Reaktionen auf die Kritik seitens systemtheoretischer Erziehungswissenschaft

75

sehen abgelesen, bzw. anband von Produkten ihrer Denk.-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster ermittelt werden. Milieus entstünden also nicht in Realgruppen, wie in den von Nohl untersuchten Jugendcliquen (vgl. NohI2001). Sie kommen vielmehr in ihren Handlungen zum Ausdruck und seien somit beispielsweise durch Gruppendiskussionen rekonstruierbar, aus dem kommunikativen Handeln von Realgruppen milieuspezifische Habitus zu erschließen. Milieus beinhalten darüber hinaus auch gruppenübergreifende, nicht an diese einzelne Gruppe gebundene, Wissensgehalte. Hierin sieht Nohl einen konzeptuellen Unterschied zum Begriff der Gemeinschaft, wie er von Ferdinand Tönnies (Tönnies 1926) gebraucht wird. Dieser sei stets an eine konkrete Gruppe und deren face-to-face Beziehungen geknüpft und an deren gemeinsame Erlebnisse oder Traditionen gebunden. Das Milieukonzept ist von Nohl mehrdimensional gedacht, es kann also, wie er es selbst in seiner Studie zu Migration und Differenzerfahrung (NohI2001) in einem rekonstruktiven Milieuvergleich gezeigt hat, aus unterschiedlichen Lagerungen - in diesem Fall Bildung, Migration und Generation, darüber hinaus erwähnt er: geschlechts-, religions- und schichtspezifische Erfahrungsdimensionen (Nohl 2006, S. 151) - bestehen. In Bezug auf die Interkulturelle Pädagogik bedeutet dies für Nohl, sie in einem Konzept einer allgemeinen Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten aufzuheben. Damit umginge die Pädagogik folglich das Problem, als Interkulturelle ihr Spezifisches allein darin zu sehen, für die durch Einwanderung und Migration entstandene kulturelle Pluralisierung zuständig zu sein. Gesellschaft ist dann nicht länger durch Migration allein in ihren Lebensformen pluralisiert, sondern ist per se kulturell heterogen und migrationsbedingte Heterogenität folglich bloß ein Teil. Differenzen und weitere Erfahrungsschichten mehrdimensionaler Milieus sollten nur noch über einen mehrdimensionalen Milieuvergleich erschlossen werden statt nur in einer Dimension zwischen Migranten- und Einheimischenmilieus Differenzen zu untersuchen. "Denn erst wenn zusätzlich die Migrantenmilieus von Jugendlichen mit denen von Erwachsenen, die Migrantenmilieus von Männern mit denen von Frauen oder die Migrantenmilieus von Armen mit denen von Reichen verglichen werden, wird mehr als eine Milieudimension deutlich" (ebd . S. 152). Ergänzend sei abschließend noch auf einen weiteren Ansatz im Feld Interkultureller Pädagogik verwiesen, der sich als Diversity-Pädagogik versteht und auch in der Wirtschaft als Diversity-Management angewendet wird. Er wird als konstruktiver Beitrag verstanden, kulturell begründete Konflikte durch pädagogische Programme oder Managementkonzepte zu lösen . Jedoch teilen die Vertreter dieses Ansatzes nicht die Einstellung einer naiven Interkulturellen Pädagogik zu kultureller Differenz, sondern im Gegenteil gelte es für sie, die "Bewusstmachung


76

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

der realen Verschränkung (Genese, Begründung, Legitimierung) von bestimmten, nicht beliebigen Differenzkonstruktionen mit Strukturen der Diskriminierung sowie mit Macht-und Herrschaftsverhältnissen" (Horrnel/Scherr 2004, S. 218; Nohl 2006, S. 135) zu ermöglichen. Mit der Interkulturellen Pädagogik haben sie das Ziel gemeinsam, Diskriminierungen und Vorurteile abzubauen, indem diese erstens bewusst und dadurch zweitens rational verhandelbar werden. Sie teilen also den Optimismus, wie ihn auch Wolfgang Nieke vertreten hat, Diversitätskonflikte rational lösen zu können. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle einerseits festhalten, dass innerhalb des, wenn man so will, Paradigmas der Interkulturellen Pädagogik die systemtheoretische Kritik in Teilen aufgegriffen wurde. Kulturalisierungen an sich nicht kultureller Phänomene oder ethnisierende Beschreibungen, wie sie in ihrer naiven Phase üblich waren, werden bisweilen äußerst skeptisch gesehen und abgelehnt. Die reforrnorientierten Ansätze zeigen sich zudem reflexiv in der Betrachtung der eigenen pädagogischen Arbeit oder Forschung. Der Kulturbegriff wird gegenüber dem Begriff der Ethnie, mit dem er zeitweise in der Interkulturellen Pädagogik gleich gesetzt wurde, um zusätzliche und vielfältige Zugehörigkeits- und Differenzdimensionen erweitert. Kulturelle Pluralität wird mithin nicht ausschließlich als Resultat von Migration angesehen und analysiert. Der Kulturbegriff im Sinne lebenswe1tlicher Deutungsmuster, wie er schon von Wolfgang Nieke für die Interkulturelle Pädagogik ausgearbeitet worden war, wird zugleich, wenn auch nicht mit explizitem Bezug, im Sinne seines Konstruktionscharakters aufgegriffen und machtsensibel für Fremd- und Selbstzuschreibungen und daraus folgende Positionierungen in Diskursen behandelt. Andererseits wird aber ebenso Kritik aus dem Lager der Systemtheorie zurück gewiesen. So gilt es als einseitig, nur auf die Organisationsseite im Zusammenhang institutionalisierter Diskriminierung abzuheben und Subjekte oder gesellschaftliche Akteure als durch Diskurse oder Organisationen determinierte, passive Opfer anzusehen. Ihnen kommen vielmehr aktive Parts zu, Konstruktionen zu unterwandern und damit zu destabilisieren bzw. zu dekonstruieren.

4.

Bezug zur neueren Migrationstheorie: Transmigration und Transnationalisierung

Wendet man den sich den aktuellen Entwicklungen in der migrationssoziologischen Debatte um internationale Migration zu (vgl. Pries 2001), verlässt also den bishe-


4. Bezug zur neueren Migrationstheorie: Transmigration und Transnationalisierung

77

rigen internen fachlichen Rahmen, der durch die Disziplingrenzen der Interkulturellen Pädagogik gesteckt worden war, für einen Moment, ergeben sich durchaus aufschlussreiche weitere Theorieperspektiven, die das Thema Migration auf andere Art als bisher beleuchten und erziehungswissenschaftliche Forschungen angestoßen haben, welche den bisherigen Fokus erweitern. Wenn auch in den bis hierhin referierten Positionen und Diskussionen zwar die fachlichen Grenzen zur Soziologie durchaus überschritten wurden, verbleiben die vorgestellten Konzepte mit wenigen Ausnahmen doch vor allem im nationalstaatliehen Kontext. Davon auszugehen ist im Zusammenhang der beabsichtigten Fallrekonstruktionen, die im hiesigen Bildungssystem nun einmal verortet sind, auch gerechtfertigt und dennoch erscheint es sinnvoll, diesen Pfad im Sinne eines Exkurses zu verlassen, um einige weitere Akzente auch für die pädagogische Debatte über Migration zu gewinnen. Denn mit dem Perspektivwechsel aufneuere Migrationstheorien erweitert sich auch die nationalstaatliche Optik." Es kann hier selbstverständlich weder der Ort sein, alle Migrationstheorien noch einzelne annähernd in Gänze nachzuzeichnen, folglich wird dies kursorisch in kurz geraffter Form und lediglich anhand einiger synoptischer Zusammenfassungen geschehen müssen. Ludger Pries systematisiert verschiedene Migrationstheorien und unterscheidet hinsichtlich ihres Erklärungsangebots klassische Theorien internationaler Migration von neueren Ansätzen in der Forschung. Klassische Theorien suchten Antworten auf Fragen, welche Bevölkerungsgruppen nach welchen subjektiven Motiven oder objektiven Beweggründen grenzüberschreitend Wanderungen unternehmen und welche "sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Wirkungen dies auf die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft" habe . Sie seien darauf konzentriert, Migration "als ein- oder zweimalige Ortsveränderung (Aus-lEinwanderung oder Rückkehrwanderung) zu behandeln" und erforschten vor allem "Begleitumstände und Integrationsmechanismen in den Ankunftsregionen" (ebd., S. 12). Letzteres auch aus finanziellen Gründen, da in der Regel Arbeitsmigration in Zielländer hinein stattfinde, die wirtschaftlich prosperieren, und somit auch Forschungen besser unterstiitzen könnten. Solchen Theorien gegenüber konzentrierten sich neuere Ansätze darauf, die klassischen Perspektiven weiterzuentwickeln, und zu diesem Zweck vor allem, "internationale Arbeitsmigration als einen in Raum und Zeit kontinuierlichen sozialen Prozess zu verstehen", welcher nun "als dauerhafter Zustand" und somit "neue soziale Lebenswirklichkeit" verstanden, die in 36

In gleicher Weisekommt Bommeszu dem Schluss: "Es lässt sich heute kaum noch ein Bereich der Migrationsforschung identifizieren, in demdavonabgesehenwerdenkann, dass es vermittelt über Migrationzu sozialenStrukturbildungen kommt, die sich nationalstattlichen Einteilungen entziehen, entsprechend nationalstaatlich Grenzen übergreifen und damit die überkommene Identifikation von Nationalstaatund Gesellschaftobsoletwerden lassen" (vgl. Bommes2002).


78

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

,,Bewegungen und Sozialräume[n] zwischen bzw. oberhalb der Herkunfts- oder Ankunftsregion" (ebd. , S. 32; H .i. 0 .) verortet werde. Hieraus ergäben sich neuartige transnationale Wirklichkeiten jenseits nationalstaatlich und damit letztlich auch jenseits in klaren räumlich-territorialen und geographisch-physischen Grenzen gefassten Gesellschaften. Pries fordert folglich, das so genannte "ContainerModell" (vgl. auch Beck 1997), welches für die Beschreibung einzelner Staaten und ihrer Gesellschaften zugrunde lag, nun durch neue Forschungen zur Transmigration zu überdenken (vgl. ebd., S. 58). Die Vorstellung klar gegeneinander abgegrenzter Nationalstaaten lasse sich nicht länger in Zeiten neuerer internationaler Wanderungsbewegungen halten. Pries hat einen neuen Migrationstypus ausgemacht, den er aufschlussreich in einer Typologie gemeinsam mit anderen, herkömmlichen, d. h. bis dahin bereits bekannten Beschreibungstypen für Migration zusammengefasst hat (vgl. Pries 1998; GogolinlPries 2004). Zunächst ließe sich erstens ein Migrationstypus in den Bewegungen von Emigration bzw. Immigration identifizieren. Auf diese Weise Migrierende ,,richten sich auf Dauer in dem Ankunftsland" ein, pflegen zwar noch Kontakte zu Menschen aus der Herkunftsregion, "integrieren und assimilieren sich aber schrittweise als Eingewanderte - vielleicht auch erst über mehrere Generationen" - in die dortige Gesellschaft" (GogolinlPries 2004 , S. 9). Dazu gehörten vor allem Wanderungsbewegungen aus Europa aufden amerikanischen Kontinent zur vorletzten Jahrhundertwende und auch Immigrationen in Deutschland, hier vor allem in den 1960er Jahren in Folge des Zweiten Weltkriegs aus Osteuropa in die damalige BRD und DDR. Davon unterscheiden ließen sich, zweitens, Wanderungen vom Typ der Rückkehr-Migration, die mit einem als zeitlich begrenzten, geplanten oder tatsächlich stattgefundenen, d. h. faktisch auch mit der Rückkehr abgeschlossenen, Landeswechsel verbunden seien mit dem Ziel der Arbeitsaufuahme und dem damit verbundenen Gelderwerb. Hierunter lässt sich der so genannte Gastarbeiter fassen, der eben nur als Gast von begrenzter Dauer bleibt. Diesem Typus entspricht die gesamte Anwerbung von Arbeitskräften seitens der Wirtschaft der damaligen BRD aus den 1960erund 70er Jahren. Dass genau in diesem Fall aus vielen Rückkehrrnigranten Immigranten wurden, zeigt, ungeachtet der dafür verantwortlichen Gründe, den idealtypischen und analytischen Charakter der von Pries entwickelten Typologie. Sie bildet Migrationen eben vor allem modellhaft ab, aber dennoch wird 37

Gogolin und Pries verweisen an dieser Stelle auf die Integrationstheorie Hartmut Essers aus den 1980er Jahren. Esser entwickelt sie vor der theoretischen Folie einer funktional differenzierten Gesellschaftstheorie und unterscheidet zwischen Integration und Assimilation in einem dreiphasigen Modell, welches die Eingliederung von Migranten in das Zielland der Migration stufenweise beschreibt.


4. Bezug zur neueren Migrationstheorie: Transmigration und Transnationalisierung

79

damit ein Erkenntnisanspruch verbunden, die Migrationswirklichkeit zwar zugespitzt und dennoch realitätsgerecht abzubilden. Drittens gebe es den Typus der Diasporarnigration. Für ihn seien Beweggründe charakteristisch, welche "in erster Linie religiös" motiviert "oder/und durch starke loyalitäts- und organisationale Abhängigkeitsbeziehungen (wie z. B. bei Kirchen, diplomatischen Korps , transnationalen Unternehmen, internationalen Stiftungen etc.)" gekennzeichnet seien. Zwar richte sich der Diasporamigrant physisch-räumlich und auch wirtschaftlich in Ankunftsregion oder -land ein, behielte aber "gleichzeitig und dauerhaft starke sozialkulturelle Bindungen zu seinem Herkunftsland bzw. zu seiner Mutterorganisation". Er betont die Differenz zumAnkunftskontext durch gleichzeitige "Nicht-Differenz zu einem realen, überlieferten oder imaginierten Herkunftsland bzw. Zentrum des Diasporanetzes (ebd . S. 10). Die ganz konkreten Anlässe, zu migrieren, lägen nicht selten in Flucht und Vertreibung begründet und so sei dieser Typus auch nur in geringem Maße der Arbeitsmigration zuzurechnen. Letztendlich unterscheidet Pries von allen diesen Typen, viertens, eben den Typus der Transmigration. Ihn kennzeichne, "dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern kein singulärer Vorgang ist, sondern zu einem Normalzustand wird" (ebd . S. 10). Das Verhältnis eines Transmigranten zur Ankunfts- und Herkunftsregion sei geradezu dadurch charakterisiert, neue Sozialräume zwischen ihnen herzustellen, etwa durch Netzwerkbildungen, und somit keiner nationalstaatlich geprägten Gesellschaft mehr ausschließlich zugehörig zu sein, sondern eine eigene Form der Vergesellschaftung als Avantgarde zu entwickeln. Die Räume und Lebenswelten, die er aufspannt, sind "als multiple, durchaus widersprüchliche und spannungsgeladene Konstruktionen auf der Basis identifikativer und sozialstruktureller Elemente der Herkunfts- undAnkunftsregion zu verstehen" (ebd. S. 10). Damit sind Nationalstaaten aber keinesfalls als überflüssig einzuschätzen, sondern Pries weist daraufhin, dass sich deren Bedeutung im Zuge fortschreitender Internationalisierung keinesfalls erschöpft habe . Gegenüber alternativen Konzepten wie "der Inter-Nationalisierung, der Supra-Nationalisierung, der Globalisierung, der Glokalisierung oder der Diaspora-Internationalisierung" sei das mit Transmigration einhergehende und durch deren Relevanz ausgelöste Konzept von Transnationalisierung zu unterscheiden. Aber gleichwohl gelte es, festzuhalten, dass sich Formen ausdifferenzieren, "in denen geographisch-physische Räume und Sozialräume miteinander verschachtelt sind" (ebd . S. 11). Die Konzepte Transnationalisierung und Transmigration liegen demnach, so lässt sich schließen, quer zu den nationalstaatliehen Gesellschaftsmodellen und stehen aber auch in Opposition zu


80

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

solchen Modellen, welche den Nationalstaat als überflüssig ansehen. Es gelte zudem, die Interaktionen zwischen den transnationalen Sozialräumen und den nationalstaatlich gefassten Herkunfts- und Ankunftsländern zu betrachten. Und dies kann nun u. a. interessant sein für die Betrachtung nationaler Bildungssysteme, in welcher Beziehung sie zu den einzelnen Migrationstypen im weiteren und zum Typ des Transmigranten im engeren Sinne stehen . Neben den soziologisch-empirischen Untersuchungen und Einzelstudien zu transnationalen Wanderungsbewegungen (vgl. ebd. S. 11) können sich hieran nun auch im engeren Sinne erziehungswissenschaftliche Fragestellungen anschließen, welche das soziologische Konzept der Transmigration aufgreifen und damit die bisherige erkenntnisleitende Perspektive, Migration dominant aus den nationalstaatlich verfassten Gesellschaften heraus zu thematisieren, umkehren. Im Zentrum müsste dannfolglich der Migrant stehen, der nun als Gestalter einer nationalstaatlich übergreifenden gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen ist und seine Netzwerke, welche ihm seine transnationale Mobilität ermöglichen. Bisher gibt es allerdings erst wenig Forschung dazu . Wenn die forschende Perspektive allerdings dann einmal umgestellt wird , dann fördert dies tatsächlich empirische Ergebnisse zu tage, in denen Migranten sich selbst als plurilokal verorten und soziale, nationalstaatliche Grenzen übergreifende Netzwerke nutzen, um beispielsweise ihr kulturelles Kapital, welches sie entweder in (Aus-)Bildungszusammenhängen erworben haben, bzw. durch ihre Migrationssituation mitbringen (Zwei- und Mehrsprachigkeit), für sie gewinnbringend einzusetzen. Wird oftmals der Migrant als hilfebedürftiges Opfer angesehen, dem mittels eines kurativen Systems Hilfe zuteil werden müsse, wird in diesem Zusammenhang die Perspektive auf einen Migranten eröffnet, dessen Aktivitäten beleuchtet werden, seine Migration zu gestalten. Damit sind keinesfalls nur Migranten mit höheren Bildungsabschlüssen gemeint, die dann freilich bequem ihre Arbeitskraft aufdem europäischen Arbeitsmarkt anbieten können, sondern dies betrifft ebenso auch, wie Sara Fürstenau es in einer Regionalstudie anband portugiesischer Jugendliche hat zeigen können, die mittleren Bildungsabschlüsse (Fürstenau 2004). Die Zukunftsorientierungen dieser Migranten richten sich, und das ist für das in Rede stehende Konzept entscheidend, nicht nur an den Möglichkeiten einer nationalstaatliehen Gesellschaft aus, sondern mindestens an zweien. Hierbei ist für die Jugendlichen ihre Mehrsprachigkeit von Vorteil. Ihre Mobilitätsbereitschaft stützt zudem, dass sie aufvorhandene Farniliennetzwerke, die ihnen ihr farnilialer Migrationshintergrund bietet, zurückgreifen können. Selbstverständlich können deren Lebenslagen auch risikoreich sein.


4. Bezug zur neueren Migrationstheorie: Transmigration und Transnationalisierung

81

Ebenso sind die Ergebnisse nicht als Absage an hiesige Integrationsbemühungen zu werten. Ihre "transkulturelle Lebensweise" stehe weder für die Jugendlichen in ihrer subjektiven Sicht, noch objektiv dazu im Widerspruch, worauf Gogolin hinweist, sondern ergeben sich aus "Gelegenheitsstrukturen (...), die sich den Jugendlichen bieten. Die Option der Partizipation am transnationalen sozialen Raum steht ihnen - bei entsprechender Investition - offen, und dies wird nicht als Biographiebruch konzeptualisiert, sondern als Möglichkeit, die gewählt werden könnte" (Gogolin/Pries 2004, S. 16). Insgesamt ist die Typologie, die Pries entworfen hat, Migrationen idealtypisch zu identifizieren und zu differenzieren, als äußerst folgenreich für die Prozesse von Sozialisation, Erziehung und Bildung einzuschätzen, denn je nachdem welchem Typ ein Migrant zuzuordnen ist, ändern sich auch seine "sprachlichen, kulturellen und sozialen Erfahrungen und somit seine Bildungsvoraussetzungen ebenso wie die Aspirationen und Ziele" (ebd. S. 13). Gogolin und Pries stellen das Konzept Transmigration vor allem in Bezug auf Bildungsvoraussetzungen sprachlicher Vielfalt dar. Das neue Konzept sei in Forschungen fruchtbar gemacht worden, welche Erklärungen für die keineswegs "nachlassende[...] Vitalität der Herkunftssprachen von Migrantinnen und Migranten" (ebd.) suchten. Überhaupt unterstützten umgekehrt die empirischen Ergebnisse zur Multilingualität in Migrantenfamilien (Fürstenau/Gogolin/Yagmur 2003; Schroeder/Chlosta/Ostermann 2003) die Annahme des Transmigrations- und auch des Transnationalisierungskonzeptes, da nun einmal Sprache als wichtiger Indikator für kulturelle Zugehörigkeit anzusehen ist, und die, historische bedingte, nationalstaatliche Vorstellung einer Einheitssprache nicht länger der migrationsbedingten Realität entspreche. Ebenso gebe es Ergebnisse, die zeigten, "dass die im Kontext von Assimilation, Rückkehrorientierung oder Diaspora erwartbaren sprachlichen Orientierungen - Tendenz zu Sprachwechsel oder zur Abschottung gegenüber der Umgebungssprache - die Lage dominieren. Vielmehr scheint die Praxis, den eigenen sprachlichen Lebensraum zwei- oder mehrsprachig zu gestalten, weit verbreitet zu sein" (Gogolin/ Pries 2004, S. 15). Die Forschungslage bilanzierend, stellen die Autoren fest, dass es bisher nur wenige Untersuchungen etwa zur nicht nur sprachlichen Identität vor diesem theoretischen Hintergrund gebe . Eine Ausnahme bilde die Untersuchung von Mecheril (MecheriI2003). Oftmals läge den anderen Forschungen jedoch ausschließlich und i. d. R. implizit das Modell vom Typ Emi-/Immigration zugrunde, das es anband der von Pries vorgelegten Systematisierung zu erweitern gelte. Zusammenfassend zeigt sich durch den hier unternommenen Exkurs, dass damit hinsichtlich kultureller Heterogenität pluraler Lebensformen insgesamt der Focus zwar wieder aufMigration als Schwerpunkt der Betrachtung liegt. Dem ge-


82

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

genüber hatte die kultursoziologische Betrachtungsweise innerhalb der Interkulturellen Pädagogik ergeben, Migration als einen und nicht als allein ausschlaggebenden Teil gesellschaftlicher Pluralisierungen von Lebensformen und Lebenslagen anzusehen. Aber im Zusammenhang der Diskussion um Transnationalisierung wird diese gewissermaßen nationalstaatliche Optik erweitert. Migranten sind nicht mehr nur im Kontext pluraler Lebensformen innerhalb einer Gesellschaft anzusehen, sondern diese unterscheidet von anderen pluralen Lebensformen, Pluralität auch im nationalstaatlich übergreifenden Sinne zu erzeugen. Im Falle der Studien Fürstenaus etwa treiben sie die Entwicklung und Verbindung des europäischen Bildungssektors voran, indem sie unterschiedliche Chancen wahrnehmen. Zieht man Konsequenzen daraus für das hiesige Bildungssystem, das, trotz aller regionalen Unterschiede, die sich durch das föderale Bildungsverständnis ergeben, vor allem nationalstaatlich und dominant monolingual bis auf den Fremdsprachenunterricht (vgl. Gogolin 1994) geprägt ist, so sind die Lebenslagen von Migrantenkindern nicht nur in der hiesigen pluralen und heterogenen Gesellschaft verortet, sondern ebenso auch in einem nationalstaatlich übergreifenden Sinne . Je nach Typ ist dann der Kontext der Lebenswelt nicht nur auf das Herkunftsland oder Zielland der Migration eingeschränkt, sondern kann ebenso in nicht mehr auf einzelne Nationen reduzierbaren Kontexten verortet sein. Denn Migration ist zudem, so lässt sich aus der Typisierung von Pries schließen , selbst ein in sich plural gestaltetes Phänomen, welches differenzierte Formen und Verläufe hervorbringt. Es kommt also nicht nur zu einer Pluralität von Lebensformen innerhalb von nationalstaatlich gefassten Gesellschaften, sondern ebenso, als deren Kehrseite betrachtet, auch zu nationalstaatlich übergreifender Pluralität in Form von differenzierten Wanderungsbewegungen. In Bezug auf kulturelle und soziale Orientierungen kann dies nicht folgenlos bleiben, wie man sich vor diesem Hintergrund anband welcher Modelle Integration und damit Sozialisation vorzustellen hat und welche Schlüsse daraus für Bildungskonzepte und Bildungsverläufe zu ziehen sind. Den möglichen Vorwurf, doch eine allzu positive und damit einseitige Sicht auf migrationsbedingte Lebenslagen einzunehmen, versuchen die Autoren vorweg zu nehmen und selbst mit dem Hinweis daraufzu entkräften, "dass Migration faktisch sehr häufig zu risikobeladenen Lebenslagen" (GogolinlPries 2004, S. 16) führe , aber insgesamt gelte es, das nationale Verständnis, etwa in puncto sprachlicher Bildung, in frage zu stellen (vgl. auch Gogolin 1994). Klar sollte ebenso sein, dass Benachteiligungen von Migrantenkindern im hiesigen Bildungssystem, die in jeder der bisherigen Erhebungswellen in den internationalen Leistungsver-


5. Zusammenfassung und Pointierung

83

gleichsstudien empirisch bestätigt wird, durch diese theoretische Optik nicht ausgeschlossen wird (vgl. zusammenfassend: Gogolin 2005 , S. 328ff.).

5.

Zusammenfassung und Pointierung

Den kulturtheoretisch und kultursoziologisch argumentierenden Ansätzen, die sowohl in pädagogischer Praxis als auch in erziehungswissenschaftlicher Forschung die dort verschiedenartig thematisierten Akteure in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext sehen wollen, stehen gesellschaftstheoretisch inspirierte Arbeiten, wie etwa zur institutionellen Diskriminierung, gegenüber. Deren Autoren behaupten, Kultur sei für die Strukturbildung innerhalb funktionaler Differenzierung gesellschaftlicher Systeme völlig irrelevant, und , im Gegenteil, wo immer Kultur zur Erklärung heran gezogen werde, sei eine Kulturalisierung gesellschaftlicher Problemlagen und -risiken zu befürchten. Die wechselseitige Kritik der Positionen aneinander, die hier in den Ausführungen zuvor wiedergegeben und zugespitzt wurde, macht die jeweiligen argumentativen Schwächen und Stärken der Positionen deutlich. Erweisen sich die Vertreter des einen Ansatzes als besonders kulturdifferenzsensibel, zeigen sich die anderen hauptsächlich institutionensensibel. Sie stimmen beide darin überein, kulturelle Pluralität, Differenziertheit und Diversität als Faktum moderner Gesellschaft in vielgestaltiger Weise anzunehmen, allein deren Relevanz wird verschieden beurteilt. Die gesellschaftstheoretisch argumentierenden Autoren verweisen die kulturelle Pluralität von Lebensformen in die Umwelt der Funktionssysteme. Sie sehen in der Berücksichtigung von Kultur eher einen Rückschritt oder eine Ideologie, mittels der ihr immanenten Semantik kultureller Differenz, kontraproduktiv zum Programm der Interkulturellen Pädagogik, von Organisation genutzt werde, um Entscheidungen über Lebensläufe zu rechtfertigen und damit die Institutionen zu entlasten, bzw. dort dringend notwendige Strukturveränderungen in Bezug auf eine heterogene Schülerschaft zu verhindern. Für sie steht die kulturblinde Inklusion in die Funktionssysteme im Vordergrund, die für sie in modemen Gesellschaften nicht zu verhindernde Exklusion soll mittels eines über die traditionellen Aufgaben erweiterten somit auch auf Exklusionsrisiken spezialisierten Erziehungssystems (vgl. Lenzen 1999) bearbeitet werden. Innerhalb der Interkulturellen Pädagogik wird vor diesem Hintergrund aus einem zunächst essentialistischen und statischen Kulturbegriff, welcher noch dem Erbe der Ausländerpädagogik geschuldet war, ein auf die Lebenswelt des Individuums und seiner Deutungsmuster bezogener, dynamischer kultursoziologischer


84

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

Kulturbegriff. Der massiven Kritik an der gesellschaftstheoretischen Relevanz des Kulturbegriffs, ganz gleich welcher Prägung, überhaupt, wird nicht entsprochen, indem etwa der Kulturbegriff als gemeinsamer Bezugspunkt in vollem Umfang fallen gelassen wird, sondern der Hinweis auf seine praktische bzw. organisationsbezogene Verstrickung führt dazu, den Kulturbegriff vielmehr machtsensibel zu behandeln und ihn bezogen auf die eigenen pädagogischen Bemühungen reflexiv zu wenden. Über- und Unterordnungen hinsichtlich einer diskursiven Verortung kulturell heterogener Akteure, aber auch ihre eigenen Verwendungsweisen und Kontextualisierungen, kurz : ihre Selbstpositionierungen und -konzepte von Kultur, sollen dementsprechend beachtet werden. Es kommt infolge dessen, auch mit Bezug zur empirischen, rekonstruktiven und dokumentarischen Forschung, dazu, den Kulturbegriff immer weiter zu dekonstruieren, ihn in seiner Dimension, gesellschaftliche Zugehörigkeiten zum Ausdruck zu bringen, mit weiteren Dimensionen von Zugehörigkeit, etwa hinsichtlich Geschlecht und Schicht, zu verschränken, aber auch seine vorbewusste und vorreflexive Erscheinungsweise im Sinne der Konzepte Milieu und Habitus zu bedenken, um der Komplexität einer gesellschaftlichen Pluralität von Lebensformen auf allen Ebenen, Gesellschaft, Institution, Interaktion und Individuum, Rechnung zu tragen. Damit ist schließlich insgesamt ein extrem weiter Horizont einer Deutung des Kulturbegriffs er öffnet: Es verschränken sich lebensweltliche Dimensionen des Kulturbegriffs, Kultur als symbolische Repräsentation, zu der dann auch Sprache gehört, aber auch solche der praktischen Lebensfiihrung, des Lebensstils mit Dimensionen der Lebenslage, d. h. der Position in Gesellschaft, also in ihren Institutionen, Schule, Beruf etc. und ihren praktischen oder symbolischen Diskursen in diversen Öffentlichkeiten. Die anfängliche Identifizierung von Kultur und Ethnie wird zunächst schrittweise und in der jüngsten Diskussion um Interkulturelle Pädagogik vollständig dekonstruiert und somit Migrantenkulturen nicht länger ausschließlich ethnisch begriffen, sondern im Kontext einer sich immer weiter in Lebenswelten und -lagen ausdifferenzierenden, gesamtgesellschaftlichen, schließlich, durch den Blick auf neuere Migrationstheorien ergänzt, innerhalb von Migrationen weltweiten Pluralität verstanden. Die avancierte Interkulturelle Pädagogik hat dennoch wesentliche Motive der systemtheoretisch argumentierenden Kritik aufgenommen und das eigene Programm in puncto pädagogischer Praxis und erziehungswissenschaftlicher Reflexion erweitert. Ihren naiven Charakter, der noch in den Anfangstagen der Interkulturellen Pädagogik auszumachen war, hat sie damit zu Recht verloren. Die Interkulturelle Pädagogik verfügt allerdings nicht über einen in theoretischer Weise dermaßen solide ausgearbeiteten Begriff von Gesellschaft, wie ihn die system-


5. Zusammenfassung und Pointierung

85

theoretische Erziehungswissenschaft benutzt. Auch in der Beurteilung von Normen differiert etwa Niekes sozialphilosophisch und kulturtheoretisch entwickelter Begründungsversuch der Interkulturellen Pädagogik von der systemtheoretischen Einsicht, es könne in modemen Gesellschaften kein Zentrum mehr geben, welches anderen Systemen Normen vorschreiben könne, wie Nieke es versucht, indem er an einer rationalen Gestaltung des von ihm analysierten Kulturkonflikts festhält. Dennoch tauchen umgekehrt Normen auch wieder in der systemtheoretischen Sicht auf, wenn aufVerteilungsgerechtigkeit und Prinzipien des Wohlfahrtsstaates rekurriert wird. Diese sind allerdings nicht ethisch begründet, sondern politisch. Wie lassen sich nun aber Schule als Institution der Gesellschaft und mit ihr Unterricht, respektive Interkultureller Unterricht, vor diesem Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft näher bestimmen? Zunächst einmal gilt es hierbei festzuhalten, dass das gesellschaftliche Umfeld von Schule, ihre Sozialisationsumgebung, sich nun als weitgehend plural, heterogen und vielgestaltig hinsichtlich kultureller und sozialer Lebenswelten und Lebenslagen bestimmen lässt. Schule hat es also ganz allgemein mit einer Umgebung von vielfältiger, nicht allein migrationsbedingter, Interkulturalität zu tun. Sie hat es aber auch intern mit einer sozial, kulturell, sprachlich äußerst heterogenen Schülerschaft zu tun, auf die sie prinzipiell zwei Möglichkeiten, die sich nicht ausschließen müssen, hat, zu reagieren: Entweder sie stellte sich in ihren Organisations-, Lehr-Lern- und Kommunikationsformen schon bereits auf systemischer Ebene auf Heterogenität ein und reagierte damit konsequent auf Heterogenität in den Lern- und Bildungsvoraussetzungen, die sich ja mit den Lebenswelten und Lebenslagen ebenso ausdifferenzieren. Sie hätte sich also in letzter Konsequenz in radikaler Weise auf die Individualität ihrer Schülerschaft im Kontext ihrer jeweiligen sozialen, kulturellen, sprachlichen Bezüge einzustellen. Dass sie damit in Konflikt zur Homogenitätsvoraussetzung geriete, ist zuvor dargestellt worden. In puncto migrationsbedingter Pluralität hätte sie beispielsweise der Vielsprachigkeit ihres Klienteis sorgsam und differenziert Rechnung zu tragen - dies soll allerdings nicht miss verstanden werden im Sinne dessen, die deutsche Sprache aufzugeben, sondern Vielsprachigkeit mit der deutschen Sprache inbegriffen - und damit ihren mono lingualen Habitus (Gogolin 1994) aufzugeben. Unterricht wäre somit per se interkulturell. Eine solche Differenzierung tatsächlich umzusetzen, ist bisher allerdings nur in Modellversuchen der Fall . Oder die Schule hat die Möglichkeit, dem Faktum gesellschaftlicher Pluralität und Heterogenität so zu entsprechen, indem ihr es als ihre Erziehungs- und Sozialisationsaufgabe zugesprochen wird, auf eine derart charakterisierte Gesellschaft außerhalb ihrer innerhalb von ihr vorzubereiten. Hierbei ist dann zu erwar-


86

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

ten, dass Interkulturalität oder Themen, welche der Interkulturellen Pädagogik entnommen sind oder ihr nahe stehen, auf der Ebene von Lehrplänen der einzelnen Fächer auftauchen, entweder als gesonderter Unterricht oder als Querschnittsthema der etablierten Fächer. Letzteres ist in denjeweiligen Fachdidaktiken und auch innerhalb Allgemeiner Didaktik am weitesten ausgearbeitet worden (vgl. Reich! HolzbrecherlRoth 2000, Holzbrecher 1997). Interkultureller Unterricht wäre in diesem Fall als Thematisierung von Interkulturalität bestimmt und somit als ein Lem- und Bildungsgegenstand bestimmt. Mit Blick darauf, welches empirische Material für die sich anschließenden Rekonstruktionen zur Verfügung steht, ist hier mit einer eher breiten Konsolidierung zu rechnen, die es möglich macht, Interkulturellen Unterricht nicht arn besonderen Fall etwa eines Modellversuches zu evaluieren, sondern gewissermaßen seine pädagogische Alltäglichkeit im Normalfall zu studieren. Hieran ist dann auch abzulesen, wo die Interkulturelle Pädagogik praktisch im Unterricht steht, wie sie sich in schulischer Praxis vollzieht, gegenüber der bislang im Vorausgehenden doch stark akademisch geprägten Diskussion theoretischer Konzepte das Hauptaugenmerk also mehr auf die pädagogische Praxis gerichtet. Genau dieser Fall soll hier im weiteren Verlaufrekonstruiert werden und dazu bedarf es noch einer genaueren Bestimmung des Forschungsgegenstandes, etwa welcher Unterricht überhaupt untersucht werden soll, und der Forschungsmethode. Interkultureller Unterricht soll also in der vorliegenden Arbeit untersucht werden als eine organisationsspezifische Form der Bewältigung gesellschaftlicher Pluralität in der Institution Schule. Die Ergebnisse der im Vorhinein entwickelten theoretischen Diskussion können dabei freilich nicht außer acht gelassen werden, sie sind im Gegenteil wichtig, mit hinein in die empirische Aufmerksamkeit genommen zu werden, um möglichen Fallstricken zu entgehen, die bereits benannt wurden. Aus ihrer Diskussion lassen sich sozusagen Standards extrahieren, die nicht unterschritten werden dürfen, soll nicht hinter den erreichten Diskussionsstand zurückgegangen werden. Diese betreffen die voran gegangenen Auseinandersetzungen um den KuIturbegriffund die Schule als gesellschaftlicher Institution. Sowohl ist in der empirischen Rekonstruktion der Kulturbezug der schulischen Akteure zu berücksichtigen als auch der Institutionenbezug. Der Kulturbegriff ist arn empirischen Material vor der Folie eines differenzierten KulturbegrifIs zu bestimmen. Soll Unterricht rekonstruiert werden, so muss man sich zudem vor Augen halten, dass er eine institutionalisierte Form von Vermittlung darstellt, die äußeren und inneren Organisationszwängen gehorcht. Denn mit Bezug zu den gesellschaftstheoretischen Arbeiten lässt sich ganz klar herauszustellen, dass Interkultureller Unterricht - auch wenn in den bisher referierten Arbeiten explizit nicht Unter-


5. Zusammenfassung und Pointierung

87

richt sondern Entscheidungsstellen der Organisation beobachtet wurden (GomollalRadtke 2007 2) - ganz gleich welchen Inhalts, sicherlich zunächst erst einmal als Interaktionsform zu sehen, welche in den Rahmenbedingungen der Organisation und Institution Schule zu verorten und verankert ist. Die ihre Untersuchung leitende Vorstellung Gornollas und Radtkes, auf die gesellschaftlichen Funktionen der Schule antworte ihre Organisation als Form, ist als ein erkenntnisleitendes Motiv in die empirische Aufmerksamkeit aufzunehmen, wenn sie sich nicht dem Einfluss, den die Institution ausübt, prinzipiell verschließen will. Denn Schule ist ein regelgeleiteter und verrechtlichter Ort. Damit wird Unterricht nicht, wie in pädagogisch vielleicht naheliegender Weise, ausschließlich bildungsbezogen als didaktisches Geschehen durch den vermittelnden Gegenstand zu bestimmen sein, sondern ebenso durch die Funktionen, welche die Institution ausübt. Hier ist zunächst an Selektion, Allokation etc. zu denken, aber ebenso an Schulpflicht als Bestandteil ihres rechtlichen Rahmens, wie auch an seine Organisationsform im engeren Sinne, welche das Zeitmaß von 45 Minuten Dauer für eine Regelstunde vorgibt und auch den spezifischen Klassen- oder Kursverbund, mithin ist aber auch an die spezifischen Unterrichtsformen im Sinne didaktischer Vermittlungen zu denken. Es macht beispielsweise einen Unterschied, welche Formen der Beteiligung Schüler erhalten oder sich im Unterricht nehmen (können). Da jedoch Selektion und Allokation im expliziten Sinne nur dann thematisch werden, wenn es etwa im Unterricht um Zensurenvergabe geht oder die Schulpflicht explizit erst dann eingefordert wird, wenn Kinder dauerhaft ohne Krankheitsgrund nicht in der Schule erschienen sind, muss davon ausgegangen werden, dass die gesellschaftlichen Funktionen und Rahmenbedingungen in eher latenter Weise, die Interaktionen begleitend, strukturieren, im Prozess gewissermaßen mitlaufen. Aufwelche fallspezifische Weise dies geschieht, zeigt sich freilich erst in der Durchfiihrung des rekonstruktiven Verfahrens selbst und kann daher vorab, an dieser Stelle erst einmal in bloß heuristischer Weise angenommen werden. Die alte Formel Siegfried Bemfelds (Bernfeld 1925) scheint dennoch auch heute nach wie vor gültig, die Schule, bzw. mit ihr Unterricht erziehe schon durch die Form und nicht ausschließlich mittels seiner Inhalte. Er löst seine eigene sozialisatorische Wirkung jenseits erzieherischer Absichten aus, die nicht immer durch die Lehrerschaft zu kontrollieren ist, worauf schon frühe Untersuchungen zum heimlichen Lehrplan (Zinnecker 1974) klassisch verweisen. Bewusste Einflussnahme durch Erziehung und die alle pädagogischen Prozesse begleitende Sozialisation in der Pädagogik zu unterscheiden, resultiert nicht zuletzt daraus. Die gesellschaftstheoretische Argumentationslinie macht weiter deutlich, dass in der Schule Funktions- und Berufsrollenträger arbeiten, die in ihren Handlungen nur begrenzt frei operieren können,


88

A Zu Theorie und Diskurs Interkultureller Pädagogik

sondern deren Möglichkeiten limitiert und normiert sind. Dies gilt es zu bedenken, wenn das Lehrerhandeln in den Rekonstruktionen thematisiert wird. Ebenso sind Schiller in der Schule dazu angehalten, die ihnen zugewiesene Rolle zu erlernen und zu übernehmen. Auch davor braucht man nicht die Augen zu verschließen. Aber zugleich sind Schüler nicht ausschließlich als Rollenspieler, wie es sich mit Bezug zu vielfaltigen Interaktionsstudien (etwa Combe/Helsper 1994) zeigen lässt, aufzufassen, sondern sie werden in der Schule ebenso als Bildungssubjekte angesprochen, sich Lerninhalte anzueignen und zu erschließen. Selbst noch in der strikt vom Inhalt abstrahierenden formalen funktionalistischen Theorie fehlt nicht Qualifikation als gesellschaftliche Funktion von Schule. Auch Selektion kann ja nur dann stattfinden, wenn mit Bezug zur Leistung, also der Bildungsarbeit, die geleistet wird, ein Maßstab genutzt wird und damit ein Inhalt zur Anwendung kommt. Selektiert wird nicht anband von nichts, sondern von etwas, eben der Leistung, und diese ist bestimmt durch die Auseinandersetzung mit den Inhalten. Werden jedoch Inhalte thematisch, werden damit auch Subjekte benannt, die sich dieser annehmen müssen bzw. in der Rolle des Lehrers diese lehren müssen. Einmal auf diese Weise als Subjekte in den Aufinerksamkeitsfokus gelangt, werden damit auch ihre sozialisationsbedingten außerschulischen Voraussetzungen und die ihre Schulkarriere begleitenden Lebensumstände in den Blick gerückt. Das gesamtgesellschaftliche Umfeld von Interkulturellem Unterricht wird, wie gesehen, mit den referierten Positionen und Diskussionen um Interkulturelle Pädagogik zum anderen bestimmbar. Die Vorraussetzungen, die Schüler mitbringen, sind extrem heterogen und individuell differenziert. Das bezieht sich nicht nur auf ihre kognitiven Lernvoraussetzungen oder ihr Leistungsvermögen, sondern eben auch auf ihre Sozialisationsbedingungen hinsichtlich Lebenswelten und Lebenslagen . Diese sind analysierbar, durch verschiedenartig verschränkte und sich überlappende Zugehörigkeitsdimensionen - Geschlecht, Schicht, Migration etc. - dies macht das Umfeld des Unterrichtsgeschehens vielgestaltig, höchst komplex und in sich ebenso differenziert. Mit Blick auf die eher diskurstheoretischen Arbeiten zur Migrationspädagogik wird es interessant sein, welche Art von Kulturbegriff fallspezifisch aus dem Interkulturellen Unterricht zu rekonstruieren sein wird. Wer wird die Definitionsmacht haben, welche Version von Kultur im Diskursgeschehen durchsetzen zu können. Nach welchem theoretischen Konzept der Kulturbegriff gefasst werden kann, lässt sich allerdings erst im Anschluss an die Rekonstruktionen sagen. Ob er etwa im Sinne lebensweltlicher Deutungsmuster oder milieu- und habitusbedingter Wissens gehalte gefasst werden kann, muss die Rekonstruktion des Falles ergeben.


5. Zusammenfassung und Pointierung

89

Wird der Begriffvon Kultur eben nicht als gesellschaftlich irrelevant betrachtet, so ist dieser auch in empirischer Perspektive schließlich reflexiv zu wenden. D. h, in der beabsichtigten Rekonstruktion ist bereits in der Forschungsanlage daraufzu achten, denjenigen oder diejenigen Kulturbegriffe der jeweiligen Lebenspraxis und der in ihr Handelnden zu erschließen und nicht den eigenen, mehr oder minder explizit werdenden Kulturbegriff der Forschenden vorauszusetzen, um ihn dann in der Rekonstruktion des empirischen Materials bloß noch zu identifizieren. Die objektive Hermeneutik hat durch ihren antisubsumtionslogischen Charakter an dieser Stelle gegenüber anderen qualitativen Methoden deutliche Vorteile." Forschungsmethodisch ist folglich daraus zu schließen, die Erhebungs- und Auswertungsmethode unbedingt wohl bedacht als gegenstandsadäquat auszuweisen; d. h, eine solche zu wählen, die für die Rekonstruktion von Interaktionen geeignet ist und deren latente, auf die Institution bezogene Strukturbildungen, jenseits subjektiver Motivlagen und Absichten, hervor heben kann, wie sie andererseits verschiedenen Auffassungen von Kultur offen gegenüber steht und diese am Material bestimmen kann.

38

Zur ausfiihrlichen Begründung siehe das folgende Kapitel der vorliegenden Arbeit.



B Methodische Anlage und Fragestellung der empirischrekonstruktiven Fallstudie

Bei der Objektiven Hermeneutik handelt es sich um eine rekonstruktive Interpretationstechnik mit universalem Geltungsanspruch, jedwede soziale Praxis erforschen zu können. Zunächst wurde sie maßgeblich von Ulrich Oevermann und seinen Mitabeitem in forschungspraktischer Absicht als Methode zum Zwecke verbaler Datenauswertung entwickelt, daraufhin aber ebenso zu einem allgemeinen Theorieentwurfmenschlicher Sozialität und sozialer Praxis, der ihr immanenten Bildungs- und Sozialisationsprozesse, sowie zu einer Methodologie von Erfahrungswissenschaft insgesamt, ausgebaut. Als Forschungsmethode begreift sie sich empirisch. Ihr zentraler Autor, Ulrich Oevermann, hat zu deren innerer Systematik und Architektur bisher zwar keine zentral synthetisierende Monografie verfasst, wie immer wieder moniert wird, doch sind Darstellung und Entwicklung der Objektiven Hermeneutik über zahlreiche einzelne Publikationen verstreut, die sich einerseits den Bedingungen und Voraussetzungen der Methode und Methodologie in formaler Weise widmen, wie jedoch auch material deren Produktivität in vielen Einzelstudien zu verschiedenen Themen, etwa zur Professionalisierungstheorie, Medienkritik oder zur gesellschaftlichen Bedeutung der Religion, zeigen (vgl. Oevermann 1983a - 2008) . Insgesamt lässt sich sagen, dass sie heute zu einem Forschungsparadigma gehört, das in den Sozial- und Kulturwissenschaften ausgedehnt rezipiert, vielfach genutzt und akzeptiert, aber stets auch vehement kritisiert wird." Infolge der breiten Publikationspraxis seit den 1970er Jahren durch ihren Nestor Ulrich Oevermann lässt sich beobachten, dass und wie sich innerhalb des Forschungsparadigmas der Objektiven Hermeneutik eine stilbildende Schule und immer auch wieder Varianten gebildet haben, die dem Original der Forschungsmethode und -methodologie mehr oder weniger nahe stehen . So bilanziert Jo Reichertz40 etwa, dass es innerhalb der Varianten zwar ein gemeinsames methodologi39 40

Vgl. dazu vor allem : Reichertz 1986, Bohnsack 2003 5 und in Teilen Böhme 2006. Reichertz, Ja : Objektive Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie. In: Flick, Uwe u. a.: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei HH, S. 514-524. Vgl. etwa für die Schulforschung: Helsper und in der Sozialforschung Garz etc.

T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


92

B MethodischeAnlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktivenFallstudie

sches Grundverständnis Objektiver Hermeneutik gebe, welches den verschiedenen Versionen inhärent sei, ihre konkreten Forschungspraxen mitunter aber erheblich auseinander treten können. Dies macht jeweils und folglich auch in dieser vorliegenden Forschungsarbeit eine eigene Darlegung der Objektiven Hermeneutik unumgänglich, da ansonsten die sich anschließenden rekonstruierten Forschungsergebnisse methodisch und methodologisch nicht angemessen nachvollzogen werden können, bzw. sonst offen bliebe , nach welchem Grundverständnis Objektiver Hermeneutik die Ergebnisse gewonnen wurden. Es kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Methode und Methodologie sind nicht so wohl zu trennen, wie es eine schlanke Darstellung erforderlich macht, vielmehr sind sie wechselseitig aufeinander bezogen, so dass sie auch auf diese Weise dargelegt und mit wechselseitigem Bezug aufeinander nachvollzogen werden müssen. Erst in den darauf folgenden Kapiteln werden forschungspragmatische, methodisch-praktische Ausfiihrungen konkreterer Natur, während in den ersten Kapiteln Methodologisches im Sinne von rechfertigenden Begründungen und Voreinstellungen in relativ theoretisch trockener Weise überwiegen. Im folgenden Kapitel soll diesen Problemen in zwei größeren Schritten begegnet werden, indem erstens die zum Verständnis für die sich anschließenden Rekonstruktionen notwendigen methodologischen Grundbegriffe aus den einschlägigen Publikationen Oevermanns in systematisierender und begründender Absicht extrahiert werden, um sie dann zweitens auf die konkrete Untersuchung des vorliegenden Falles, Interkultureller Unterricht, heuristisch zuzuspitzen und zu zeigen, inwieweit die Objektive Hermeneutik gegenüber einer Vielzahl unterschiedlichster Methoden für die Unterrichts- und Bildungsforschung durchaus als gegenstandsadäquat zu bezeichnen ist.

1.

Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

1.1 Epistemologie und Empirie, Erfahrungswissenschaften Das Forschungsprogramm der Objektiven Hermeneutik ist seit ihren konkreten forschungspraktischen Anfängen in den Untersuchungen zum Zusammenhang von Schule , Sprache und Elternhaus (vgl. Oevermann, 1979) an eine spezifische epistemische Perspektive auf Empirie gebunden. Mit dem Empiriebegriff der gleichnamigen englischen Tradition, etwa David Humes, wird nämlich entscheidend gebrochen. Während die Empiristen Erfahrung wesentlich an sinnliche Wahrnehmung knüpfen und sie damit die epistemologische Grundlage für die Erkenntnis


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

93

der Natur in den Naturwissenschaften in der Beobachtung sehen, unterscheidet Oevermann zunächst einmal und ganz grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung beobachtbarer stochastischer Welten innerhalb der Naturwissenschaften und der Lesbarkeit intelligibler Sinnstrukturen, die für ihn alleinig die Gegenstände der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften bilden. Diese Bedeutungs- bzw. Sinnstrukturen sind als solche nicht sinnlich wahrnehm- und infolgedessen auch nicht beobachtbar, sondern als Abstrakta, die sie sind, ausschließlich erschließbar. Semantische, d. h. auf Sinn bezogene Entitäten lassen sich bedeutungserschließend lesen und nicht durch Wahrnehmung beobachten. Oevennann bricht also mit dem ontologischen Realismus der Empirietradition: "Weil Bedeutung und Sinn selbst nicht wahrnehmbar sind, sie aber gleichzeitig genau das konstituieren, was die Lebenspraxis des Menschen, sein Handeln und dessen Objektivationen als Erfahrungsgegenstand kategorial ausmacht und von der Naturdinglichkeit menschlicher Erscheinungen systematisch unterscheidet, müssen wir mit dem auf David Hume zurückgehenden Begriff von Empirie brechen, für den empirisch nur das ist, was durch die Wahrnehmungssinne in den erkennenden Geist gelangt (,Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu'), und alles , was dieses Kriterium nicht erfüllt, metaphysisch, und damit außerhalb der Reichweite der Erfahrungswissenschaften liegt" (Oevermann 2002, S. 3).41Er überführt im Gegensatz zur übrigen empiristischen Tradition, welche auf Beobachtung basiert, die erfahrungswissenschaftliche Dimension seines Ansatzes systematisch in die Sphäre der Geltungsüberprüfung. Dieser liegen nämlich, wie zu zeigen sein wird, dieselben algorhythmischen Regeln, Sinn zu konstituieren, zu Grunde, welche, konstitutionstheoretisch - also auf der Ebene der theoretischen Formulierung praktischen Handeins - betrachtet, soziale Praxis generieren. Für die Objektive Hermeneutik ist folglich all das empirisch, "was sich durch Methoden der Geltungsüberprüfung in der Gegenständ41

Die Verwendung des lateinischen Zitats im Zusammenhang mit dem Namen Hume könnte beim Leser die Vermutung nahe legen, es stamme von besagtem Philosophen. Doch dies ist von Oevermann etwas unglücklich assoziiert, denn der Wortlaut stammt nicht von David Hume (*1711) sondern von John Locke (*1632) . Beide dürfen jedoch der empiristischen Schule zugerechnet werden, insofern gibt es auch ein gewisses Recht , die Autoren miteinander in Verbindung zu bringen, da sie beide als Grundlage der Erkenntnis die durch Sinne vermittelte Erfahrung gelten lassen . Bei Locke entstammt alle Erkenntnis, laut der These von der tabula rasa , auf die das Zitat gemünzt ist, ausnahmslos aus ihr, bei Hume bildet sie den alleinigen Stoff, auf den sich das Denken richtet. Oevermann sieht die ganze Problematik hier m. E. dominant aus der Sicht des Positivismus, also einer Radikalis ierung der empirischen Epistemologie durch ausschließliche Akzeptanz so genannter empirischer Tatsachen , der sich im Anschluss an Comte entwickelt und im Positivismusstreit einen Höhepunkt in der soziologischen Theorieauseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus im 20. Jhdt. erfahrt. Auch Oevermann positioniert sich in dieser Debatte mit Bezug zu beiden Schulen, indem er sich einerseits auf das Falsifikationsprinzip Poppers , andererseits auf ein antisubsumtionslogisches Denken, wie Adorno es gefordert hat, bezieht.


94

B MethodischeAnlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktivenFallstudie

lichkeit erfahrbarer Welt nachweisen lässt" (ebd.) . Aus dem ontologischen Realismus der empirischen Tradition wird somit ein methodischer Realismus: Folglich dürfen gegenstandstheoretisch ausschließlich diejenigen Bedeutungs- bzw. Sinnstrukturen empirische Geltung beanspruchen, die einer Falsifikation durch die diese Strukturen Erschließenden in der rekonstruierenden Forschung standhalten.

1.2 Objektive statt subjektive Hermeneutik Die wesentliche Operation, welche forschungspraktisch ausgeführt wird , um diese Strukturen zu erschließen, ist das Verstehen von Sinn, also, gewissermaßen klassisch, die Hermeneutik. Diese ursprünglich aus den Geschichts- und Sprachwissenschaften bzw. der Pädagogik und Philosophie der Geisteswissenschaft hervorgegangene Kunst des Deutens und Auslegens von Texten wird von Oevermann allerdings als objektive konzipiert. Was heißt das? "Die objektive Hermeneutik ist nicht eine Methode des Verstehens im Sinne eines Nachvollzugs subjektiver Dispositionen oder der Übernahme von subjektiven Perspektiven des Untersuchungsgegenstandes, erst recht nicht eine Methode des Sich-Einfühlens, sondern eine strikt analytische, in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinn- und Bedeutungsstrukturen" (ebd., S. 6). Die Erkenntnis garantierenden epistemologischen Grundlagen subjektiver Hermeneutik, Empathie bzw. Nachvollzug und verstehende Übernahme subjektiven Sinnes der Untersuchungssubjekte durch die Forschersubjekte, bleiben für dessen Erschließung fragwürdig und ihr Erkenntnisgewinn solange dürftig , wie sie nicht vor der Folie objektiven Sinnes als Differenz feststellbar werden. Erst vor dem Hintergrund einer objektiven Sinnerschließung lasse sich, so Oevermann, "auf die Bewusstseinsrealität oder innere psychische Realität der an der protokollierten Wirklichkeit beteiligten Subjekte zurückschließen" (ebd., S. 5). Interessant in diesem Zusammenhang ist, an die Differenz von Meinen und Sagen zu erinnern, die sich in Kommunikationen immer wieder einstellt. Denn : "Es ist kein sichereres Verfahren der Erschließung subjektiver Dispositionen vorstellbar, wenn man nicht von vornherein Magie und intuitive Wahrnehmungsleistungen der Praxis selbst sowie unaufschlussreiche Inhaltsangabe zum Bestandteil einer wissenschaftlichen Methode machen" will (ebd.). Dies ist trotz harschen Tons konsequent gedacht von Oevermann, denn die Fallibilität der subjektiven Interpretation seitens der Forschersubjekte in Bezug auf die in der Praxis Handelnden ist hoch und bleibt subjektiv, selbst auch dannnoch, wenn ihnen deren Kontexte, etwa durch Befragungen oder Teilnehmende Beobachtung, geläufig sind, weil sie die Vermitteltheit mit ihrer eigenen Subjektivität nicht ausschalten können. Dieses methodologische Grundproblem führt für Oevermann in der sonst üblichen Forschungspraxis entweder zu


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

95

einer unzureichenden erkenntnistheoretischen Grundlage, Intuition, oder zu einer bloßen deskriptiven Verdoppelung subjektiver Interpretationen in der Dateninterpretation (i. S. einer subjektiven Interpretation von etwas bereits Subjektivem). Er beansprucht hingegen mit seiner Methode, diese Art methodischer Probleme grundsätzlich gelöst zu haben, und Subjektivität vor dem Hintergrund objektiver Sinnerschließung zugänglich machen zu können. Wie ist dies möglich? Um diese Frage hier einigermaßen beantworten zu können, ohne gleichzeitig die Komplexität der Methodologie allzu fahrlässig zu reduzieren, ist es zuvor unerlässlich, weitere Grundbegriffe zu inventarisieren und diese zu beleuchten.

1.3 Ausdrucksgestalten. Protokoll, Sinn Wenn nun nämlich gegenüber den beobachtbaren Daten, die, wie es sonst in den naturwissenschaftlich orientierten Erfahrungswissenschaften üblich ist, ihnen in Form von Protokollsätzen oder einfachen Wahrnehmungssätzen als Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse dienen, Sinn- und Bedeutungsstrukturen nicht direkt beobachtbar sein sollen, stellt sich zunächst die Frage, an welchen konkreten, materialen Gegenständen sie denn dann methodisch zugänglich werden und sich ablesen lassen sollen. Oevermann fiihrt an dieser Stelle den an die romantische Sprachphilosophie? angelehnten Begriff der Ausdrucksgestalten ein, entkleidet ihn aber alsbald seiner dortigen metaphysischen Implikationen und bezieht ihn in empirischer (im zuvor erläuterten Sinne) Weise auf soziale Praxis. Ausdrucksgestalten, so ist zunächst einmal festzuhalten, können ganz unterschiedlicher Art und kultureller Provenienz sein. Von Gebäuden der Architektur über historische Dokumente lassen sich ebenso Gesetzestexte, Kunstwerke, Aufzeichnungen, Pläne usf. dazu zählen. Als materiale, d. h. für Oevermann sinnlich wahrnehmbare, Erscheinungsformen betrachtet, sind all dies Protokolle sozialer Praxis, auf die Kategorie des Sinns bezogen intelligible Texte. Als geronnene, gegenständlich gewordene, soziale Praxis sedimentiert sich in ihnen gesellschaftlicher Sinn: er drückt sich darin aus, objektiviert sich also und wird dadurch les- und erschließbar. Soll soziale Praxis im Falle, dass ein solches, wie eben dargestelltes Protokoll nicht schon bereits vorliegt, rekonstruiert werden, muss erst ein schriftlicher Text aus den gerätevermittelten Audio- und Videoaufzeichnungen von Praxis und dem dort registrierten Praxisverlauflückenlos und unreduziert erstellt werden. Statt Wahrnehmungen oder Beobachtungen in reduzierter Form in einfachen Protokollsätzen festzuhalten, setzt Oevermann hier im Gegenteil auf ein möglichst ausführliches Protokoll.

42

Etwa Herder, I.G.: Über den Ursprung der Sprache von 1772.


96

B MethodischeAnlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktivenFallstudie

An die Stelle empirischer Beobachtung von Praxis tritt deren Verschriftlichung als Text und somit eine Grundlage für deren Erschließung durch die Forschenden. Der aus solchen Protokollen zu erschließende Sinn wird, wie gesagt, in der Objektiven Hermeneutik namentlich objektiv konzipiert. Was ist damit gemeint? Alltagsweltlich wird dies anschaulich durch die, eben erwähnte, Unterscheidung von Meinen und Sagen. Gerade in den alltäglichen Beispielen metakommunikativer Berichtigungen, etwas habe man zwar gesagt, aber keinesfalls so gemeint, liegt ein deutlicher Hinweis für die Triftigkeit dieser Differenz. Sprecher selektieren offenbar Bedeutungen aus objektiven, in diesem Sinne also gesellschaftlichen, den Einzelnen und seine kommunikativen Handlungsmöglichkeiten emergierenden, Sinnmöglichkeiten. Diese Konzeption objektiven Sinnes ist zudem abgrenzbar sowohl von normativen Sinnkonzepten, wozu etwa Rationalitätsmaßstäbe, die von außen an eine Lebenspraxis herangetragen werden, gehören", als auch von Konzepten subjektiven Sinnes, beispielsweise von Intentionen, die sich etwa innerhalb einer Handlungstheorie an Handlungen ablesen lassen, bzw. durch Introspektion einsichtig werden sollen. Dies bedeutet freilich nicht, dass, wie bereits erwähnt, die Existenz subjektiven Sinnes von Oevermann bestritten wird und seine methodische Erfassung als gänzlich unmöglich eingeschätzt wird, sondern lediglich, dass subjektiver wie objektiver Sinn in methodischer Hinsicht stets nur über Ausdrucksgestalten vermittelt in Erscheinung treten und über ihre Differenz ermittelbar sind. Selbst im Extremfall der erinnernden Introspektion handelt es sich um eine Selbstauslegung anband von Ausdrucksgestalten, wie Oevermann ausführt. Das Protokoll stellt quasi die erzählbare Erinnerung dar, ohne die unser Gedächtnis nichts taugen würde (vgl. Oevermann 2002, S. 4). Protokolle stehen insofern nicht nur in einem Ausdrucksverhältnis zur gesellschaftlich sozialen Praxis, sondern letztere wird als solche methodisch überhaupt erst zugänglich und fassbar durch deren aufgezeichnete Gestalt. Oevermann folgt hier einer dynamischen Praxiskonzeption: sie ist wesentlich Prozess, fortlaufend in der Zeit und damit immer schon vergangen, wenn ein Forscher sie auf den Begriff bringen, sie erfahrungswissenschaftlich, d. h. innerhalb des Verständnisses objektiver Hermeneutik, wie gesehen, empirisch, erforschen will. Damit wird das in den Sozialwissenschaften bekannte und für ihre zeitliche Beziehung zur ge43

Wie etwa in ,,rationalchoice" -Theorienoder anderenVarianten der Spieltheorie innerhalbder Ökonomie, aberauch in der strukturfunktionalistischen TheorieTalcottParsons. Hierbeihandelt es sich i. d. R. um Handlungstheorien ex ante,d. h. das Kriterium, anhanddessensich dieAkteure in der Praxisentscheiden werden,stehtvorab fiir die Theorieschonfest.Theorievarianten diesen TypsmüsseninfolgeihrerTheorieprämissen subsumtionslogisch die verschiedenen Handlungen unter dasjeweilige Kriteriumzwingenoder, wo dies nicht gelingt, alternativkriterial motivierte Handlungenals Ausnahmenaus ihrem Erklärungshorizont ausschließen.


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

97

sellschaftlichen Praxis und in Konsequenz daraus für die Formulierung ihrer Ergebnisse charakteristische Ex-post-Theorem - also erst im Nachhinein forschend erklären zu können, was sich abgespielt hat - innerhalb der Methodologie radikalisiert. Denn soziale Praxis wird allererst und ausschließlich in ihrer nachträglich protokollierten Gestalt empirisch erforschbar. Die Objektive Hermeneutik ist folglich dem eigenen methodologischen Verständnis nach rekonstruktive oder auch rekonstruktionslogische Forschung. Oevermann geht mit seinem Protokollbegriff sehr weit: Selbst noch aufgezeichnete Daten von Beobachtungen, wie sie innerhalb der Naturwissenschaften gemacht werden, stellen für die Objektive Hermeneutik Protokolle, also Texte, dar. Als solche sind sie nämlich ebenso im Sinne sozialer Entitäten zu begreifen, generiert durch die (soziale) Forschungstätigkeit der Forschersubjekte. Konstitutiv sind sie Vermittlung, nicht die Sache selbst. Wenn aber Protokoll und Praxis trotz kategorialer, ontologischer Unterschiede - jenes ist intelligibler Text, diese empirischer Prozess - in einem vermittelten Ausdrucksverhältnis und nicht im Verhältnis eines ontologischen Realismus stehen, muss deutlich werden, worin dies genau bestehen kann, auf welche Art und Weise also Sinn und Praxis miteinander vermittelt sind. Oevermann beerbt an dieser theoriearchitektonisch bedeutsamen Stelle erstens die Sprachtheorie Noam Chomskys, vor allem das ihr inhärente KompetenzPerformanz-Modell und deren Annahme, bei Sprache handele es sich prinzipiell um ein regelgeleitetes Phänomen. Er wendet Modell wie Prämisse aufdas Gesamt der sozialen Praxis, in seinen Worten: Lebenspraxis, an und geht davon aus, dass deren Akteure prinzipiell regelgeleitet handeln. In der Performanz von Praxis zeigen sie sich kompetent, Regeln anzuwenden. Ebenso wie grammatikalische Regeln Sprache strukturieren, bestimmen soziale Regeln die menschliche Lebenspraxis. In praktischer Ausübung sind die Regeln als solche allerdings nicht bewusstseinspflichtig. Wie sich eben auch grammatisch wohlgeformte, d. h. korrekte, sinnvolle Sätze bilden lassen, ohne sich als Sprecher in actu an die Regeln ihrer Bildung zu erinnern, lassen sich regelgeleitet Handlungen vollziehen, ohne sich die Regeln, denen entsprechend die Handlungen regelkonform erzeugt werden, ins Bewusstsein zu rufen. Die Akteure der Praxis zeigen sich genau so regelkompetent in ihrer Performanz, zu handeln, wie die Sprecher einer Sprache", diese zu sprechen: Sie sind kompetent darin, aus einer begrenzten Anzahl von Regeln beliebig viele Sprechakte wohlgeformt bilden zu können. Dies gelte, laut Oevermann, ebenso

44

DieserZusammenhang beziehtsichnichtnur aufOralitätsondernauchaufLiteralitätder Sprache. Auchwenngesprochene undgeschriebene Sprache voneinander differieren sindsieimVerständnis Noam Chomskysin ihrer Regelgeleitetheit auf eine gemeinsameGrammatikzurückzufiihren.


98

B MethodischeAnlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktivenFallstudie

für die sozialen Akteure, regelgeleitet zu handeln. Dies darf als eine für das Folgende entscheidende Prämisse der Objektiven Hermeneutik gelten ." Theoriearchitektonisch besitzt zweitens die historisch als linguistic turn innerhalb der Sozialwissenschaften bekannte einflussreiche weitere Quelle der Sprechakttheorie" nicht weniger Relevanz für Oevermann als die Universalgrammatik Chomskys. Fußend auf der Sprachpragmatik Ludwig Wittgensteins zeigten deren führende Vertreter Austin und Searle, inwieweit Sprache nicht nur in ihrer Funktion zu bezeichnen, aufgeht, sondern dass Handlungen vielmehr durch Sprache vollzogen werden.'? Diese sprachpragmatische Wende von der Bewusstseinsphilosophie hin zur Sprachphilosophie wird von Oevermann aufgegriffen und bietet ihm innerhalb seiner Methodologie sozusagen das Scharnier, Sinn, Sprache und Praxis miteinander in Beziehung zu setzen. Ausdrucksgestalten sind also realitätsvermittelte Protokolle sinnvermittelter gesellschaftlicher Praxis.

45

46 47

Oevermann machte zuletzt immer auch darauf aufinerksam, dass im für seine Theorie bedeutsamen Verhältnis von Kompetenz und Performanz ein wesentlicher Unterschied zum alternativen Begriffspaar Luhmanns von Kontingenz und Selektivität liege. Zwar selektieren in der Kommunikationstheorie Luhmanns Sprecher angesichts einer grundsätzlichen Kontingenz, also dem Fehlen eines systematischen oder kausalen Zusammenhangs aus Möglichkeiten, die ego und alter in ihrer Kommunikation zur Verfügung stehen. Und es kommt zu einer doppelten Kontingenz, die für Luhmann ausschließlich auf den Erwartungsbegriff bzw. den der Erwartungserwartung bezogen ist. Für dennoch einigermaßen stabile Kommunikationsverhältnisse sorgen dann in Folge symbolische Kommunikationsmedien, die Kommunikation angesichts ihrer Unwahrscheinlichkeit doch wahrscheinlich machen und somit Erwartung und Erwartungserwartung erwartbar machen . Wie dies praktisch geschieht , zeigt Luhmann nicht. Oevermann nimmt seinen kritischen Anstoß an der Reduktion des Luhmannschen Kommunikationsbegriffes allein auf den Erwartungsbegriff. Neben Austin und Searle vor allem Charles Sanders Peirce . Dies bringt der Objektiven Hermeneutik immer wieder die Kritik ein, sie reduziere soziales Handeln nur auf sprachlich geäußertes . Derart vorgetragen kassiert das Monitum allerdings den von Oevermann selbst aus methodischem Skeptizismus heraus formulierten methodologischen Stellenwert von Protokollen als mehr oder minder in sprachlicher Form verfassten Texten. Sie bilden zwar die alleinige empirisch-materiale Datengrundlage der sozialen Erfahrungswissenschaften , gehen in ihrem Gehalt jedoch nicht vollständig darin auf, wie sich dies mit Bezug zum Strukturbegriff mit Oevermann durchaus auch vertreten lässt. Vielmehr ist das Protokoll nur Medium der Genese empirischen Wissens , nicht aber ausschließlich dessen Gegenstand, welches ja die objektiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen sind. Ferner ist zu bedenken, dass der Sprachbegriff in der Objektiven Hermeneutik mit dem Begriff der Ausdrucksgestalten auch aufnichtsprachliche Entitäten ausgedehnt wird . D.h. es gehören dazuauch die Architektur von Gebäuden, das Bild, die Musik, der Tanz, überhaupt das Gesamt des mimisch-gebärdenden Ausdrucks hinzu. Oevermann arbeitet in den letzten Jahren verstärkt daran, eine Objektive Hermeneutik des Bildes zu fokussieren . Mit der Sprache teilen all diese sich letztlich auf Praxis beziehenden Entitäten die Verknüpfung von Sinn- und Zeitlogik.


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

99

1.4 Struktur-, Regel- und Normbegriff Die prinzipielle Regelgeleitetheit von Lebenspraxis führt, methodologisch gesehen, zu Strukturbildungen objektiven Sinnes. Sinn ist "intelligible[r] Zusammenhang möglichen Seins (...)", der "durch Regeln algorithmisch zwingend erzeugt ist" (Oevermann 1993, S. 114). Die Strukturen sind in ihrer Objektivität zunächst einer jeden subjektiven Lebenspraxis vorgeordnet, wenn auch nicht in einem sie kausaldeterminierenden Verhältnis, sondern im konstitutionstheoretischen Sinne. Der Strukturbegriff ist auf den Regelbegriffbezogen: unter Strukturen lassen sich Regeln verstehen, die wiederum Erzeugungsbedingungen von Sinnstrukturen sind, die wiederum Regeln ergeben, usf. Das Bild der Russischen Puppe Matrjoschka oder Matroschka, wie es Oevermann bisweilen zur Verdeutlichung heranzieht (vgl. Oevermann 1991, S. 282), bietet hierbei eine sowohl anschauliche als auch aufschlussreiche Metapher für die Sinnstrukturiertheit von Lebenspraxis." Es kommt, bildlich gesprochen, zu einer Verschachtelung von wechselseitig aufeinander bezogener und in sich strukturierter Sinnschichten, die beiderseits wiederum in einem praxisbezogenen Bedingungs- bzw. Ermöglichungsverhä1tnis stehen. Oevermann unterscheidet hier grundsätzlich in zwei unterschiedliche analytische Parameter objektiver Strukturen: in allgemeingültige Universalien (parameter I) und in relative, historische Strukturen (Parameter 11). Auch hieran lässt sich das universalgrammatische Erbe erkennen. Die Universalien stellen in ihrer allgemeinsten Fassung zunächst die theoretische Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns überhaupt dar: "Dazu gehören z. B. ganz elementar die Regeln der sprachlichen Syntax, aber auch die pragmatischen Regeln des Sprechhandelns und die logischen Regeln für formale und für material-sachhaltige Schlüssigkeit" (Oevermann 2002, S. 7). Es handelt sich dabei um "anthropologisch fundamentale, invariante Strukturgesetzlichkeiten", die als ,,rekursive Algorithmen für Woh1geformtheit von Sprechakten" allgemein gültig sind. Diese bilden für Oevermann Äquivalente zu "Naturgesetzen im Kopf', sind aber mit "Blick auf die Naturgeschichte der Gattung Mensch historisch" (Oevermann 1993, S. 115). Sie haben sich zwar im Laufe der Evolution gattungsgeschichtlich entwickelt, sind aber im evolutionären Übergang des Menschen von Natur zur Kultur, wesentlich durch Sprache bedingt, in letztgenannter Sphäre zu verorten. Neben ihrer Erzeugungsqualität, dafür Sorge zu tragen, dass der Mensch überhaupt Sprechakte vollziehen kann, gehört für Oevermann das Cha48

Allerdings liest Böhme (vgl. Böhme 2006) Oevermann an dieser Stelle m. Erachtens zu rigide hierarchisch in dem Sinne, dass die jeweils universellere Ebene der weniger universellen übergeordnet ist. Vielmehr stehen diese doch eher in einem Bedingungs- und Ermöglichungsverhältnis, denn in einem hierarchischen.


100

B Methodische Anlage und Fragestellung der ernpirisch-rekonstruktiven Fallstudie

rakteristikum einer "Sozialität als zweckfrei sich reproduzierender Reziprozität" (ebd.) dazu . Die Regelgeleitetheit beinhaltet nämlich in sich Sozialität.49 Die Universalien sind jedoch keinesfalls in einem philosophisch-transzendentalen Sinne zu verstehen, sondern sind im Gegenteil empirischer Natur." Sie sind am Werk sobald Praxis prozessiert, bestimmen das soziale Handeln und sind daher rekonstruktionslogisch analytisch zu erschließen. Wie das Verhältnis von Einzelsprache und Universalgrammatik stehen auch universale und historische Strukturen zueinander. Mit Blick auf Praxis sind sie jedoch je fallspezifisch konkret miteinander vermittelt. Sie sind analytisch ausschließlich innerhalb der Methodologie, also gedanklich, zu trennen. Sie gehören, methodisch gesehen, zur praktischen Bedingung der Möglichkeit, die historischen Strukturen in der Differenz überhaupt rekonstruieren zu können. Als historische, nichtnaturgeschichtliche Entitäten werden sie von Oevermann gleichsam als Artefakte, erschließbare Sinngebilde, welche sich durch menschliche Kultur entwickelt haben, sowie von zeitlicher Dauer innerhalb der Kulturgeschichte verstanden. Sie lassen sich sowohl in größere zeitliche Einheiten epochenspezifisch als auch zu praxisrelevanten Erscheinungsformen, also institutionellen, subkulturellen oder habituellen Deutungsmustem, zusammenfassen. Auch diese gehören dann, einmal entstanden, analytisch betrachtet, wiederum zu den Erzeugungsbedingungen von Praxis. Gegenüber einem Strukturbegriff, der sich über eine mehr oder minder statische Relation von Einzelelementen (etwa Sozialdaten und Korrelationen) definieren ließe, mündet Oevermanns Begriff von Struk-

49

SO

Hieran lassen sich deutliche Unterschiede der Oevermannschen Theorie zu anderen Handlungstheorien ablesen, deren Kernelernent die einzelnen Handlungen sind und sich daraus dann zwangsläufig die theoretische Frage nach deren sozialer Koordination ergibt. Für Oevennann lässt sich Praxis jedoch weder auf das eine noch das andere reduzieren, sondern beides steht in einem dialektischen Verhältnis zueinander. D. h. Individualität und Sozialität sind wechselseitig aufeinander bezogen. Dies schwächt m. E. deutlich den kritischen Einwand gegen die theoretische Kohärenz der Objektiven Hermeneutik von Reichertz (Reichertz 1986), es handele sich bei den Strukturen der Objektiven Hermeneutik um metaphysische Entitäten, und als solche seien diese unvereinbar mit ihrer erfahrungswissenschaftlichen Konzeption. Oevennann spricht von Objekten einer dritten Weltjenseits von Metaphysik und Materialismus, wenn er den ontischen Stellenwert der objektiven Sinnstrukturen deutlich macht. Sinnstrukturen sind intelligibel und dennoch real, weil praktisch. (vgl. Oevennann 1993, S. 117 und Wagner 2001, S. 43). Die Konzeption der sinnstrukturierten sozialen Welt lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Sinnstrukturen zwar einerseits methodologisch um analytische Größen und andererseits methodisch um intelligible Gebilde handelt , doch diese stets an ihre materiale Erscheinungsform gebunden sind, d. h. empirische Praxis . Außerhalb dieser kommt ilmen also keine Existenzweise zu, außer in theoretischer Redeweise, losgelöst von gegenständlicher Praxis zu sprechen. Die Kritik von Reichertz verfängt also an dieser Stelle nicht.


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

101

tur als Form der objektiven Gesetzlichkeit von Lebenspraxis in eine dynamische und prozessuale Konzeption. Zur Verdeutlichung zieht Oevermann gern das Beispiel einer Begrüßungshandlung heran (Oevermann, 2008). Wenn etwa ein Passant einen anderen begrüßt, hat dieser die Möglichkeiten, den Gruß jenes zu erwidern oder den Gegengruß zu unterlassen. Beide Anschlüsse, Erwidern und Unterlassen, sind wohlgeformt im Sinne regelgeleiteten Handelns und sind sozusagen der universalistischen Bedingung (im Sinne des Parameters I) geschuldet, überhaupt sinnvoll Sprechakte vollziehen zu können. Beide Sprecher können beide Anschlüsse als je sinnvolle Möglichkeiten verstehen, dem Gruß zu begegnen. Unter dem Gebot der Höflichkeit, wie es sich als Bestandteil des kulturhistorischen Parameters 11 verstehen lässt, begeht derjenige, der einen Gegengruß unterlässt eine Normverletzung. Norm und Regel lassen sich auf diese einfache Weise unterscheiden und in ihrem Verhältnis bestimmen: Regeln im Sinne der Wohlgeformtheit sind Normen übergeordnet, und zwar so, dass jene auch Verstöße gegen Normen plausibilisieren können. Selbstverständlich handelt es sich bei Normen um historisch und kulturell relative Strukturen. In bestimmten Subkulturen kann es als besonders gelten, Grüße nicht zu erwidern. In anderen Kulturen kommt es vielleicht gar nicht erst zum Gruß . So ist ebenso für Lebenspraxen denkbar, die Befolgung von Normen rigide oder relativ permissiv zu handhaben. Das Grüßen als solches hat sich ebenfalls in seinen Formen historisch entwickelt usf.

1.5 Strukturmodell von Lebenspraxis, Sequenzialität, Fallspezijik Oevermanns Methodologie folgt aber nicht nur einem strukturlogischen, sondern auch zeitlogisch spezifischen Modell von Lebenspraxis. Beide sind miteinander verzahnt. Praxis wird, wie bereits erwähnt, dynamisch als Prozess gefasst, prozessiert folglich in der Zeitdimension, und lässt sich somit sequenziell einteilen. Sequenzen sind aber nicht bloß reine Zeiteinteilungen eines Nacheinander, sondern stellen vielmehr das methodologische Resultat, Zeit- und Sinnlogik miteinander zu verknüpfen, innerhalb der strukturgenetischen Theorie von Praxis dar: Jede einzelne Sequenz eröffnet Anschlussmöglichkeiten von Sinn an die folgende und beschließt die vorherige Sinneinheit durch die jeweils gewählten Anschlüsse aus den vorausgegangenen Möglichkeiten. Eine jede Sequenzstelle schließt also in der Gegenwart den möglichen Sinn einer Vergangenheit, die zuvor prinzipiell offene Zukunft war, und eröffnet dadurch wiederum neue Potenzialitäten von sinnvermittelter Praxis. Die einzelnen Sequenzen sind somit als Grundeinheiten zu betrachten, die in je fallspezifischer Praxis sinnlogisch miteinander verknüpft werden. Die Logik


102

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

der Verknüpfungen, ihr objektiver Sinn, folgt jedoch nicht einem kausaldeterministischen Modell, sondern ist prinzipiell unter der Bedingung von Zukunftsoffenheit zu begreifen. Dies gilt sowohl einerseits konstitutionstheoretisch als Baustein einer Theorie von Praxis als auch andererseits unter konkreten forschungsmethodischen Gesichtspunkten in heuristischer Weise . D.h . die sequenzanalytische Rekonstruktion von Praxissequenzen findet unter der Maßgabe einer gestaltungsoffenen Zukunft derselben statt. Im Übergang von der einen zur anderen Sequenz ist indessen jedoch nicht beliebig alles möglich, sondern die sinnlogisch möglichen Verknüpfungen werden durch Ermöglichungsbedingungen des Falles eingeschränkt. Sie ergeben sich aus strukturlogischen und sinnlogischen Zwängen, die wiederum Regeln gehorchen. So ist an den jeweiligen Prozessstellen zwar nicht alles, aber dennoch vieles möglich; dies allerdings stets in Relation zur Bestimmung durch die beiden, hier bereits erläuterten, Strukturparameter universalistischer (I) und historisch-relativer Art (11). Deren fallspezifische Verknüpfungsregeln formen die Fallstruktur. Sie bilden somit den Fall , indem die Selektionen die Strukturlogik des Falles entstehen lassen. Dessen objektive Identität wird infolgedessen ablesbar an den getroffenen Selektionen aus der wie eben beschriebenen Potenzialität angesichts einer prinzipiell gestaltungsoffenen Zukunft." Dies führt auch kein quantitatives Kriterium quasi durch die Hintertür ein, sondern ist gerade so zu begreifen, dass, in dem die Akteure vor das lebenspraktische Problem einer Entscheidung gestellt sind - etwa bereits in der simplen Form einer Begrüßung -, die jeweils nächste Zukunft zu gestalten, sie Lösungen dafür finden müssen. Sowohl die Problem- als auch dessen Lösungsstrukturen lassen sich am Fall rekonstruieren. Hierin zeigt sich wohl am deutlichsten der pragmatistische Ansatz innerhalb der Objektiven Hermeneutik. Daraus folgt, dass an jeder beliebigen Prozessstelle immer wieder erneut zur Disposition steht, wie die Praxis weiterverlaufen kann. Aus diesen strukturtheoretischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Praxis leitet Oevermann methodisch das sequenzanalytische Vorgehen für die Rekonstruktionsarbeit ab. Statt klassifizierender Verfahren oder Typenbildungen, die letztlich immer zur Subsumtionslogik gezwungen sind, beansprucht das Verfahren der objektiven Hermeneutik an dieser Stelle als einzige Methode im wissenschaftlichen Feld antisubsumtionslogisch, d. h. die Kategorienbildung aus dem Fall konsequent induktiv, bzw. abduk.tiv ermitteln zu können. Indem sie den Sequenzenverlauf, dessen sinnlogische 51

Dies dürfe, woraufOevennann hinweist, nicht im Sinne der Begriffe Kontingenz und Selektivität der Luhmannschen Kommunikationstheorie missverstanden werden, denn Luhmann reduziere alle Kommunikation auf Erwartungen und Erwartungserwartungen und unterscheide so nicht zwischen Kompetenz und Performanz.


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

103

Öffuungen und Schließungen, hermeneutisch an jeder Prozessstelle lückenlos zu rekonstruieren sucht.

1.6 Krise, Routine, Emergenz Die sinnlogische Verknüpfung von Sequenzen wird ferner, aber nicht weniger heuristisch unter dem Aspekt einer Krisenhaftigkeit von Praxis betrachtet. Krisenhaft sind die Anschlüsse insofern, als sich, wie gesehen, eben, konstitutionstheoretisch betrachtet, kein zwingender Grund ergibt, von einer kausalen Determination der Selektionen auszugehen. Dazu Oevermann: .Lebeaspraxis konstituiert sich im Vollzug von Entscheidungen. Für genuine Entscheidungssituationen ist konstitutiv, daß auf der einen Seite sich ausschließende Optionen aufzukünftiges Handeln eröffuet zutage liegen, daß aber aufder anderen Seite ein rationales Berechnungskriterium für richtige oder falsche Auswahl nicht zur Verfügung steht. Deshalb sind genuine Entscheidungssituationen zugleich Krisensituationen, die man lösen muß, weil man sich nicht nicht entscheiden kann" (Oevermann 2001, S. 29lf. R. w. i. 0.). Die prinzipielle Zukunftsoffenheit birgt ebenso prinzipielle mögliche Krisen folglich in sich und angesichts derer wird dann auch folgend erst so etwas wie Routine deutlich. Dies wird dergestalt auf dialektische und material empirische Weise überhaupt erst bestimmbar. Routinen lösen die unter Handlungsdruck stehende prinzipiell krisenhafte Praxis. Darin besteht, wenn man einmal den Standpunkt nachträglicher Funktionalität einnehmen möchte, ihr Zweck. Die Akteure in der Praxis müssen entscheiden. Und wie sie entscheiden, lässt anband der rekonstruierten Verknüpfungen im strengen sequenzanalytischen Vorgehen auf die erzeugungsbedingenden Regeln des (Einzel-)Falles schließen. Der objektiv-hermeneutisch geschulte Leser von Protokolltexten vollzieht daher auf bloß kontemplative Weise nichts anderes als das, was die Akteure der protokollierten Praxis unter Handlungsdruck tun müssen. Jener selektiert wie diese aus sinnlogischen Möglichkeiten. Während dem Akteur die Genese im Prozess jedoch verborgen bleibt, deren Strukturen für ihn also latent bleiben, hebt der objektive Hermeneutiker sie gewissermaßen ans Licht, weil er, vom Handlungsdruck der in der Zeit prozessierenden Praxis entlastet, mittels Sequenzanalyse die genaue Strukturbildung als Differenzierungsprozess rekonstruieren kann . Seine extensive Lektüre ermöglicht es ihm also, den Fall, seine Verknüpfungslogik, nachzuzeichnen, und darüber hinaus, indem er die Selektionen des Falles aus der Differenz zu den nicht aktualisierten Potenzialitäten zu bestimmen sucht, gleichsam auch dessen Emergenz denkbarer, aber nicht vollzogener Anschlüsse, zu bestimmen. Denn da der Fall immer bloß eine Auswahl möglicher Sinnverknüpfungen aktualisiert, und darin seine Individualität als Fall besteht, bleiben andere Möglichkei-


104

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

ten unrealisiert. Die fallbezogene Emergenz, die sich der Sequenzanalyse zeigt, also seine potenziellen, aber nicht aktualisierten Verläufe der Lebenspraxis, machen folglich eine sach- und praxisbezogene Kritik überhaupt erst möglich. Hieran anschließend lässt sich dann nämlich deutlich machen, dass an einer beliebigen Sequenzstelle ein anderer Verlauf durchaus hätte möglich sein können, aber durch die Akteure in praxi nicht aktualisiert wurde. Aus den sich umgekehrt aus der Differenz von Möglichem und tatsächlich Vollzogenem ergebenden Schlussregeln des Falles sind dann auch etwaige Zwänge ablesbar, denen eine Lebenspraxis ausgesetzt ist oder sein kann."

1.7 Latente Sinnstrukturen. Deutungsmuster Aus diesen Implikationen eines Strukturmodells von Lebenspraxis ergeben sich nun Konsequenzen für zwei kategoriale Grundbegriffe der Objektiven Hermeneutik: Latente Sinnstrukturen und Deutungsmuster. Sinnstrukturen sind konstitutionstheoretisch, Deutungsmuster gegenstandstheoretisch konzipiert. Konstitutionstheoretisch sind jene Bedingung der Möglichkeit regelgeleiteter Praxis, sie sind nicht zu beobachten, sondern bilden ihrerseits die sinnerschließende, d. h. epistemologische Grundlage dafür, unterschiedliche Lebenspraxen verschiedenen Sinnes überhaupt rekonstruieren zu können. Insofern sind sie, wie bereits diskutiert, empirisch. Deutungsmuster hingegen sind material an die Regeln von Lebenspraxis gebunden. Sie sind Muster in dem Sinne, dass sie sich bewährt haben, krisenhafte Lebenspraxen einer praktischen Lösung zuzuführen - der Begriff der Krise ist dabei ebenfalls praxistheoretisch insofern zu verstehen, als er an jedem beliebigen Punkt der Verknüpfung zweier Sequenzstellen auftritt und sich damit die Frage nach Entscheidungen, wie gesehen, stellt. Die jeweils getroffenen Entscheidungen bilden die Strukturlogik des praktischen Falles ; sie spiegeln damit ebenso das Deutungsmuster als materiale Konzepte der Problemlösungsüberführung des Falles . Erst auf dieser Ebene ist es sinnvoll, auch von kulturspezifischen Varianten zu sprechen. Latent sind jene Sinnstrukturen im Gegensatz zu Konzepten subjektiv gemeinten Sinns in der Tradition Max Webers (vgl. Weber, 1972) als unbewusst zu begreifen. Unbewusst meint jedoch andernfalls ebenso nicht im psychoanalytischen Sinne unbewusst, begriffen als Resultat entwicklungspsychologisch not52

An dieser Stelle besteht systematisch eine denkbare metatheoretische Verbindung zum Programm immanenter Kritik durch die Kritische Theorie . Denn auch hier bildet die Immanenz der Praxis , also die sich an ihr ablesenden Normen eine unabdingbare Voraussetzung kritischen Erkenntnistheorie gesellschaftlicher Praxis. Sie ist Normen unterworfen, die sie aber unter emanzipativen Gesichtspunkten selbst unterläuft. Vgl. Horkheimer/Adomo 1981; mit Bezug zur Pädagogik Gruschka 1988; Immanenz und Sachhaltigkeit bilden auch für Oevermann die entscheidenden Bezugspunkte der Objektiven Hermeneutik.


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

105

wendiger psychischer Verdrängungsleistungen (vgl. Freud 1991), sondern in seiner gesellschaftlichen, sozialisationsbezogenen Genese vergessen.

1.8 Bildungsprozesse. Subjektivität Von dem theoretisch bestimmten Ort des Verhältnisses von Krise und Routine aus lassen sich nun innerhalb der methodologischen Theorie und mittels Objektiver Hermeneutik als forschungspraktische Methode Aussagen über Strukturbestimmungen von Subjektivität und Bildungsprozessen formulieren. Unter dem Begriff Bildung muss dann hier einmal die objektive Identität im Sinne einer Identitätslogik des Falles, wie er sich an den Selektionen ablesen und rekonstruieren lässt, vom möglich werdenden Bildungsprozess für die beteiligten Akteure unterschieden werden, der an die Spontaneität der Selektionspraxis und damit an die Entstehung des Neuen, sowie die Bewältigung einer Krise durch nicht routiniertes Handeln geknüpft ist. Somit tritt forschungsmethodisch zugänglich Subjektivität "erst in der Offenheit der Krisenbewältigung manifest unreduzierbar in Erscheinung" (Oevermann 2004) ; d. h. also genau dann, wenn Routinen den beteiligten Akteuren, für die Forschenden rekonstruierbar, nicht länger zur Verfügung stehen . Für Oevermann bedeutet dies die Bedingung der Möglichkeit, von vollgültigem, selbstbestimmten Handeln sprechen zu können. Während Routinen erlernbar sind , kann Bildung folglich nur im Bearbeiten von Krisen möglich werden. Krisen können auf der Phänomenebene durch ganz unterschiedliche Arten motiviert sein oder ausgelöst werden. Dazu zählen biographische Krisen, also Krisen des Lebenslaufs, oder psychisch-traumatische im Unbewussten verankerte, genau so wie entwicklungsbedingte, etwa adoleszente Krisen oder eben Krisen durch Muße wie sie etwa durch Prozesse ästhetischer Bildung ausgelöst werden können. Insgesamt handelt es sich um ein breites Spektrum von Krisentypen, welches durch die Analyse von Krise und Routine und ihrer sinnlogischen Rekonstruktion möglich wird, bestimmt zu werden. Für die in der vorliegenden Arbeit sich anschließende Darstellung des Forschungszusammenhangs zum Interkulturellen Unterricht ist der Komplex von Krise und Routine zum einen für den Unterricht, also den institutionalisierten, sich üblicherweise in Interaktionen vollziehenden Bildungsprozess und seine an ihm beteiligten Subjekte - dies unter interkultureller Perspektive - von Bedeutung. Welche Routinen sind am Werk, wenn Akteure im Unterricht handeln? Gibt es Bildung, im o. g. Sinne als ermöglichende Bedingungen von Krisenbearbeitung, im Unterricht? Werden also der Interpretation Oevermanns zufolge Krisen ausgelöst? Zum anderen bildet aber auch, wie bereits schon andeutungsweise erwähnt, der heuristisch-forschungsmethodische Zusammenhang von Krise und Routine für die Ob-


106

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

jektive Hermeneutik und damit auch für die Durchführung des im Folgenden Dargestellten die entscheidende Grundlage.

1.9 Offenheit, Antisubsumtionslogik Der Offenheit, wie sie als epistemologisches Ideal für qualitative Forschung und ihre Verfahren immer wieder postuliert wird (vgl. Flick, 2008 6) im ganz allgemeinen Sinne und dem antisubsumtionslogischen Vorgehen im engeren Sinne entspricht nämlich ein für die Objektive Hermeneutik zentraler forschender Habitus der künstlichen Naivität. Eine subsumtionslogische Haltung entspräche auf der Ebene der Forschungspraxis eine routinierte Vorgehensweise, allein deshalb, weil in der Auslegung des protokollierten Materials stets auf bereits vorab theoretisch Konstruiertes abgestellt und zur Erklärung herangezogen werden würde. Den nichtsubsumtionslogischen Charakter erhält der Forschungsprozess genau dann, wenn dies eben nicht der Fall ist, sondern vielmehr sein Gegenteil. Ist für den ersten die Vertrautheit mit dem Kontext seitens der Forschenden Grundbedingung, das Protokoll auszulegen, setzt letzteres geradezu die ex ante bekannten Kontexte, hier also ein Wissen um Unterricht, seine Institution, außer Kraft und Geltung, um ein identifizierendes Verfahren - das Registrieren von bereits Bekanntem -, wie es sich durch Subsumtionslogik herstellt, zu vermeiden.P Die Gruppe der Forschen53

Oevermann (1983b , 2004) reagiert hiermit auf das emphatische Erkenntnisideal Theodor W. Adomos, identifizierendes Denken zu vermeiden und stattdessen vielmehr Nichtidentisches zu denken (vgl. Adomo, Negative Dialektik, 1973). Die offenkundige Paradoxie (vgl. Habermas 1988, S. 130ff.) des nichtidentischen Denkens versucht Oevermann in eine soziologische Methodologie zu überführen und somit aufzulösen. Offenkundig paradox ist das nichtidentische Denken genau dann, wenn die hege1sche Fassung des Idealismus, laut derer die Übereinstimmung oder eben die Identität zwischen Sache und Begriff Wahrheit garantiert, akzeptiert wird . Weil erkennendes Denken dann nämlich stets der Identifizierung bedarf, da das Subjekt einen Gegenstand oder Sachverhalt als wahr erkennt , indem sich fiir es eine Identität zwischen Begriff und Sache herstellt. Adomo wollte in diesem Punkt eine antihegelianische und antiidealistische Philosophie entwerfen, die eben genau eine solche Identität als identifizierendes Denken zu vermeiden sucht, und der gesellschaftlichen Praxis gegenüber dem begrifllich-idealistischen Zugriff in ihrer fragmentarischen Gestalt zum Ausdruck verhelfen soll. Hierin steckt, wenn man so will, ein marxistisches Motiv auch noch der späten Kritischen Theorie, die Praxis gegenüber dem hegeischen Begriff in ihrer Eigenlogik zu betonen. Adomo hat , seinem eigenen Anspruch nach, Modelle eines solchen Denkens in der Negativen Dialektik in Auseinandersetzung mit Hegel und Heidegger zu konzipieren versucht. Laut Adomo zieht die hegeische Philosophie den Begriff der Sache bzw. der Praxis vor, soll einmal als wahr Erkanntes, sich aber noch nicht in gesellschaftliche Wirklichkeit Umgesetztes doch umso schlimmer fiir letztere sein. Für Adomo steckt hier wohl die gesamte Hybris wissenschaftlicher - d. h. fiir Hegel philosophische - Arroganz. Oevermann hingegen versucht dies, zumindest im Selbstanspruch, methodisch zu fassen und den spekulativen Entwurf der kritischen Philosophie Adomos mithin in eine intersubjektiv nachvollziehbare und forschungspraktisch anwendbare Methodologie zu überführen. An dieser Stelle scheint doch der antisubsumtionslogische Charakter der rekonstruktiven Forschung die


1. Methodologie und Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik

107

den, welche das Protokoll rekonstruieren, sind folglich ständig in der Krise , das von ihnen über den Fall Gewusste, seine Kontexte, das Wissen über (mögliche) Routinen auszublenden. Ihnen stehen in Bezug auf die Kenntnis des Einzelfalles keine durch Routine gewonnenen Erfahrungsbestände zur Verfügung, sondern allenfalls eine Routine im Sinne einer Geübtheit im Umgang mit dem hermeneutischen Verfahren. Heuristisch verhalten sie sich nach sequenzanalytischem Modell von Lebenspraxis dem Material so gegenüber, als stünden den Akteuren ebenfalls keine Routinen zur Verfügung, sondern die Krise wird zur heuristischen Hypothese der zu untersuchenden Lebenspraxis gemacht. Die Strukturmerkmale von Lebenspraxis, Krise und Routine, sind folglich nicht nur methodologisch in dialektischer Weise aufeinander bezogen, sondern werden methodisch im Prozess des Forschens selbst - quasi gespiegelt - operationalisiert. Erst durch eine auf Krise bezogene Haltung, die gewissermaßen als Erkenntnisoptik begriffen werden kann, lässt sich für Oevermann Neues überhaupt erschließen. Das Verfahren eignet sich somit zwar nicht ausschließlich aber doch in besonderer Weise für explorative Forschungen.

1.10 Fallbestimmung Keinesfalls darf die künstliche Naivität dergestalt missverstanden werden, dass daraus der Schluss gezogen wird , es handele sich bei der Objektiven Hermeneutik um ein völlig offenes, also bis an die durchaus denkbare Grenze von Beliebigkeit getriebene und somit rein willkürliche Interpretationskunst, wie sie oftmals von Seiten quantitativer Forschung denunziert wird, um ihr damit den Status von Wissenschaftlichkeit ganz allgemein abzusprechen. Vielmehr ist das methodische Erkenntnisinteresse der objektiven Hermeneutik am Fall keinesfalls diffus und beliebig, als müsse nur lang genug interpretiert werden, damit schon irgendetwas dabei heraus komme, sondern es muss sich als Fallbestimmung zunächst Rechenschaft über sich ablegen und somit vorab geklärt werden, worin das jeweilige Erkenntnisinteresse besteht. Auch wenn Forschung im Sinne des zuvor erläuterten Verhältnisses von Krise und Routine von Oevermann wesentlich durch das Auslösen von Krisen bestimmt ist und sich somit lebendigerweise sowohl rigider zeitlich minutiöser Planung als auch schon im Vorhinein bestimmbarer Prognostik entzieht, ist doch die Bestimmung, als was für ein Fall Praxis als solche denn nun rekonstruiert werden soll, von entscheidender Bedeutung für die Interpretationsarbeit. Dies Philosophie Adomos entscheidend zu beerben, indem sie sich von der Sache belehren und überraschen lassen will, statt wie "in einem riesigen analytischen Urteil" (vgJ.Adomo, Negative Dialektik , 1973) Sachverhalte unter Begriffiiches zu subsumieren , also im empirischen Material bloß das noch zu identifizieren, was im Vorhinein schon begrifflich der Theorie bekannt war.


108

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

ist nicht ausschließlich vor dem Hintergrund von Methode und Methodologie der Objektiven Hermeneutik einleuchtend, denn es macht ja ebenso auch in anderen methodischen Forschungszusammenhängen durchaus einen Unterschied, ob soziale Praxis etwa als Fall geschlechtsspezifischer Rollenausprägung oder aber als Fall interkultureller Bildungspraxis untersucht werden soll. Somit ist zunächst zu bestimmen, in welcher Hinsicht der Fall- als Fall von was? - rekonstruiert werden soll. Dies ist im Zusammenhang mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und Fragestellung der jeweiligen Forschung vorab zu diskutieren und zu plausibilisieren. 1.11 Strukturhypothese. Generalisierung und Struleturbestimmung des Falles

An diese theoretische Bestimmung des Falles schließen sich dann forschungspragmatisch die konkreten Auswertungsschritte an, die nun hier ganz grob vorgestellt werden sollen, um sie dann im anschließenden empirischen Teil der Arbeit mit Bezug zur durchgeführten Forschungsarbeit zum Interkulturellen Unterricht feiner auszuformulieren. Um einer Subsumtionslogik, die bereits als identifizierendes Denken charakterisiert wurde, zu entgehen, wird zunächst im ersten Schritt unter der Voraussetzung möglichst großer fallspezifischer Kontextfreiheit das Material, die Sequenzen des Protokolls, interpretiert. Es werden unter der Prämisse der sinnlogischen Wohlgefonntheit Geschichten, Lesarten, gebildet, welche die pragmatischen Geltungsbedingungen, wie vorgestellt, erfüllen. Dieser Schritt der Interpretation ist von Oevennann als Gruppenverfahren konzipiert, sollte also nicht allein von einem solitären Forschersubjekt durchgeführt werden. Im Sinne der avisierten größtmöglichen Kontextfreiheit, wird das Protokoll einer extensiven Lektüre unterzogen, es werden also auch solche Kontexte heran gezogen, die zunächst abwegig erscheinen. Bedingungen dafür, eine Lesart zunächst gelten zu lassen, sind eben ihre Wohlgeformtheit und ihre Sparsamkeit. Letzteres bedeutet, nicht allzu viele Zusatzbedingungen, die sich eher wenig am Material orientieren, hinzuzunehmen, damit sie geltungspragmatisch sinnvoll erscheint. Die Gruppe der Interpretierenden, die sich der schon erläuterten künstlichen Naivität habituell verschrieben haben, übt gewissermaßen eine doppelte Kontrollfunktion aus, sich zum einen nicht allein auf die soziale Phantasie eines Einzelnen, wohlgeformte Kontexte zu entwickeln, zu verlassen, sondern mittels vieler Forschersubjekte auch ebenso viele, d. h. differenzierte, Lesarten generieren zu können. Und zum anderen übt der soziale Alltagsverstand der Interpretierenden die Kontrolle aus, alle nicht-wohlgeformten , an ihm scheiternden, also unplausiblen Lesarten zu verwerfen. Die Gruppe bildet quasi eine partikulare, stellvertretende Einheit der Gesellschaft, in der ihre sinnlogischen Regeln repräsentiert werden. Im Fortgang des Interpretierens


1. Methodologieund Forschungsmethode der ObjektivenHermeneutik

109

wird letztere Funktion der Gruppe weiter geführt: Denn es lassen sich einige der gewählten Lesarten nicht mehr wohlgeformt durchhalten, da die Optionen an den sequenzierten Selektionsstellen nur noch weniger ermöglichen und einiges einschränken. Lassen sie sich in der Rekonstruktion nicht länger wohlgeformt aufrecht erhalten, gelten sie damit als falsifiziert und sind folglich auszuschließen. Die auf diese Weise gewonnenen, also nicht falsifizierten Lesarten oder gedankenexperimentellen Konstruktionen, die sich im Durchgang durch das Ausschlussverfahren erhärten lassen, werden dann auf ihre gemeinsamen sinnlogischen Struktureigenschaften hin untersucht und in einem weiteren Schritt, also erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, mit den konkreten Kontextbedingungen verglichen. Aus den Differenzen und Übereinstimmungen, die sich aus einer solchen Kontrastierung ergeben, lässt sich dann auf die sinologischen Strukturbedingungen des Falles schließen, die in Fallstrukturhypothesen als Identitätslogik der Selektionen aus Sinnoptionen, wie vorgestellt, formuliert und an weiteren Prozessstellen überprüft werden. So kann festgestellt werden, ob sie sich reproduzieren, transformieren oder, ebenso möglich, für den weiteren Verlauf der Sequenzlogik falsifiziert werden können. Ist dieser Verfahrensschritt beendet, kommt der Fall zu seiner theoretischen Würdigung. Dies stellt insgesamt dann auch den Abschluss des ganzen Verfahrens dar und führt zu einer zwar behutsamen doch nicht weniger stringenten Verallgemeinerung des Falles im Sinne einer Fallstrukturgeneralisierung. Was heißt das? Zunächst ist zu bedenken, dass die Rede vom Einzelfall als solchem epistemologisch nur dann wirklich sinnvoll sein kann, wenn Allgemeines und Besonderes aufeinander bezogen werden. Individualität als solche lässt sich nicht rekonstruieren. Ausschließlich für sich betrachtet, fehlt ihr der Bezugspunkt, das Teilbare , wovon es Ungeteiltes sein soll. Das Unteilbare, Unverwechselbare des Einzelfalles lässt sich, erkenntnistheoretisch als Dialektik von Allgemeinem und Besonderen gedacht, also nur über eine Differenz darstellen. Der individuelle Fall ist nur denkbar durch seine Differenz zum Allgemeinen, woraus forschungsmethodisch die Konsequenz zu ziehen ist, zu zeigen, dass der Einzelfall die besondere Gestalt von etwas Allgemeinem ist, beispielsweise die einzelne Unterrichtseinheit ein individuierter Fall allgemeiner Unterrichtsstrukturen, die, wie beschrieben, auf induktivem bzw. abduktivem Weg erschlossen werden. Weil der Fall Ausdrucksgestalt einer allgemeinen Strukturproblematik ist, lässt er sich in seiner Individualität rekonstruieren, wie auch ungekehrt in seiner Besonderheit stets das Allgemeine sinologisch beschlossen liegt. Es ist dementsprechend abschließend theoretisch zu würdigen, was am Fall individueller und was allgemeiner Natur ist. Etwa kann das individuelle Lehrer-


110

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

handeln Ausdrucksgestalt einer allgemeinen, d. h. pädagogischen, sozialen oder institutionellen Problemlage des Lehrerhandelns überhaupt sein . Vor dieser Folie wären dannTypen, als zusammengefasste, in markanten Strukturmerkmalen identische Einzelfälle zu bestimmen, die jedoch wiederum zur Bedingung haben, sich auf die allgemeine Strukturproblematik zu beziehen. M. a. W. sind Typen, rekonstruktionslogisch betrachtet, praktische Problemlösungen, also Routinen, welche allgemeine Strukturkrisen bewältigen. Methodologisch muss festgehalten werden, dass nicht die Typenbildung Bedingung einer Verallgemeinerung der Strukturproblematik ist - das wäre nämlich ein quantitatives Argument, das über die Häufigkeit der Fälle liefe -, sondern umgekehrt die allgemeine Fallstruktur der Typenbildung stets voraus geht. Mit Bezug zur Individualität des Falles ist folglich die Typik die Form des Allgemeinen, die im besonderen Fall Gestalt annimmt. Abschließend lässt sich bezüglich der Gütekriterien empirischer Forschung, neben der bereits erwähnten Sachhaltigkeit, emphatisch und metaphorisch darin ausgedrückt, die Sache selbst zum Sprechen bringen zu wollen, und der heuristischenAntisubsumtionslogik, im Zusammenhang mit der Objektiven Hermeneutik Folgendes sagen: Validität stellt sich dann ein, wenn die Gruppe der Rekonstruierenden das Verfahren richtig, d. h. in Übereinstimmung mit dessen methodischen und methodologischen Regeln, angewendet haben. Die Methode wird zwar auch als Kunstlehre, insofern Kreativität für das Verfahren konstitutiv ist, zu Recht verstanden, aber daraus ist keinesfalls ihre Unreliabilität in dem Sinne zu folgern, als nicht auch andere Gruppen mit differenten Forschungssubjekten zu demselben Ergebnis kämen, setzten sie sich mit eben demselben empirischen Material auseinander. Solange sich alle Rekonstruierenden an die Regeln des Verfahrens halten, sollte sich auch ein übereinstimmendes Ergebnis einstellen. Zur Objektivität ist bereits im Vorherigen Einiges gesagt worden.

2.

Zur Rekonstruktion Interkulturellen Unterrichts

Das Interesse, vor dem Hintergrund der im Teil A entwickelten Diskurslinien, das Verhältnis zwischen pädagogischer Programmatik Interkulturellen Unterrichts und institutionalisierter schulischer Praxis auf der Handlungsebene konkreten Unterrichtsgeschehens beleuchten zu wollen, führt zum eingangs bereits erwähnten Projekt, in dem Unterricht des Faches Praktische Philosophie untersucht wird. Hier ist nun im engeren Sinne zu begründen, wieso das Fach ausgewählt wurde und wie Unterricht im Besonderen unter objektiv-hermeneutischer Perspekti-


2. Zur Rekonstruktion Interkulturellen Unterrichts

111

ve rekonstruiert werden kann. Des Weiteren muss, wie bereits herausgestellt, im Rahmen einer qualitativ-hermeneutischen Rekonstruktion zuvor jedoch erst einmal erläutert werden, was denn überhaupt im Fokus der empirischen Aufinerksamkeit stehen soll. Forschungsmethodisch gesprochen, ist also vorab zunächst zu bestimmen, was der Fall sein soll. Denn, wie gesehen, ist ja zu unterscheiden, ob Praxis etwa als Fall geschlechtsspezifisch geprägter Rollen oder aber als Fall interkultureller Bildungspraxis untersucht wird. Dies ist jedoch keinesfalls subsumtionslogisch miss zu verstehen, im Gegenteil viel grundsätzlicher gemeint: Der Fall entsteht auf diese Weise allererst. Da die soziale Praxis nicht verdinglicht vorliegt als ein Fall, den man infolge bloß noch zu untersuchen hätte, wie der Pathologe die Leiche oder die Laborassistentin die chemische Mixtur, ergibt er sich erst durch die präzisierte Antwort auf die Fragestellung, was denn der Fall sein soll. Erst so wird soziale Praxis der Rekonstruktion überhaupt zugänglich. Zu rekonstruieren sind also die Praxisformen, die den spezifischen Fall Interkultureller Unterricht strukturlogisch auszeichnen, migrationspädagogische Themen wie Heterogenität, Differenz, Fremdheit und Anderssein zu bearbeiten. Dies zielt ab auf einen Beitrag zu einer diesseits der bereits erwähnten programmatischen Interkulturellen Pädagogik - also was zu tun wäre und getan werden sollte - liegende empirisch-rekonstruierte pädagogische Praxis, die darüber aufklärt, was einzelfallbezogen getan wird in der Vermittlungspraxis. Hierbei ist nun insbesondere festzuhalten, dass Unterricht, auch interkultureller, es nicht nur mit curricular bestimmten Inhalten und Themen zu tun hat, sondern ebenso als ein lebendiges soziales Gefüge zu betrachten ist, in dem diese präsentiert und vermittelt werden. Der soziale Interaktionsprozess ist konstitutives Moment von Unterricht. Das Vermittlungsgeschehen ist also sowohl bestimmt durch das Was seiner Inhalte als auch durch das Wie seiner sozial strukturierten Kommunikationsformen. Denn diese bilden das Medium, in dem jene erst zur praktischen Erscheinungsform gelangen. Letztlich fragt man damit aber nach der praktischen Organisation von Unterricht. Diese wird, strukturlogisch gesehen, jedoch nicht nur durch den subjektiven Sinn, etwaige Absichten, die verfolgt werden, und deren Deutungen durch die beteiligten Akteure, bestimmt, sondern ebenfalls durch den objektiven Sinn wechselseitiger Interaktion, der zwar jenseits des subjektiven Sinnes liegt, aber nicht desto weniger die Praxis bestimmt, sie vielmehr strukturiert. Spätestens seit der bereits als klassisch zu bezeichnenden These vom heimlichen Lehrplan (Zinnecker, 1975) muss davon ausgegangen werden, dass sowohl unterrichtliche als auch schulisch-institutionalisierte Organisationsstrukturen die pädagogische Vermittlung bestimmen, die der subjektiven Einsicht in der Ausübung der Praxis entzogen sind und den subjektiven Absichten unter Umstän-


112

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

den sogar konträr gegenüber stehen können. In der Ausübung der Praxis sind sie strukturell nicht bewusstseinspflichtig, aber fiir die forschungsmethodische Reflexion bewusstseinsfähig. Wenn also hier nach der Praxis Interkulturellen Unterrichts, nach seiner Art und Weise gefragt wird, wie er migrationspädagogische Themen auch und gerade angesichts der schon erwähnten Fallstricke Interkultureller Pädagogik, beispielsweise ihres paradoxen Kulturverständnisses, bearbeitet, wird zur Beantwortung ein hermeneutisch-rekonstruktionslogisches Forschungsdesign gewählt. Dies geschieht aus folgenden Gründen: Erstens lassen sich erst mittels der von Ulrich Oevermann entwickelten Objektiven Hermeneutik, wie sie zuvor dargestellt worden ist, befriedigend Strukturen bestimmen, welche die Interaktionjenseits subjektiv mentaler Repräsentanzen bestimmen. Und wer zweitens davon ausgeht, dass die soziale Praxis, also auch die hier untersuchte, aufgrund ihres Prozesscharakters flüchtig ist und ihrer forschungsmethodisch nur habhaft werden kann, wer sich auf die Erzeugungsbedingungen von Sinn eben dieser Praxis einlässt, der muss ebenso ein rekonstruktionslogisches Verfahren wählen und anband des natürlichen Protokolls, der sprachlichen Ausdrucksgestalt sozialer Praxis, den Unterricht als sequenzialisiertes Geschehen rekonstruieren. Erst auf diese Art wird dann der hier in Rede stehende Interkulturelle Unterricht aus seinem Prozess heraus hinsichtlich seiner sinnlogischen Dimensionen hermeneutisch zugänglich. Dabei ist deutlich zu machen, inwieweit die Inhalte Interkultureller Pädagogik tatsächlich auch Bestand des Unterrichts werden, also ob der untersuchte Unterricht sinnlogisch in seiner Organisationsform und didaktischen Instruktion Dimensionen Interkultureller Bildung fiir sich reklamieren kann . Die mit Interkultureller Pädagogik assoziierten Themen wie Differenz, Heterogenität, Fremdheit und Anderssein werden auf diesem Wege am empirischen Material allererst konkretisiert. So wird sich zeigen, wie die Unterrichtspraxis Themen Interkultureller Pädagogik aufgreift, etwa auf der Ebene einer nunmehr empirisch rekonstruierten Bildungspraxis jenseits ihrer Programmatik, und wie sich dieser Unterricht dann interaktionslogisch ausgestaltet. Die pädagogischen Normen, etwa die bewahrende Behandlung von Differenz, von außen gesetzt, müssen, wie gesehen, sich auf der Organisationsebene mit denjenigen fiir die ablaufenden Prozesse notwendigen vermitteln. Sie müssen praktisch werden. Dass sie dabei unter Umständen nicht dieselben bleiben, darauf ist zuvor hingewiesen worden. Die Vermittlungsleistung zeigt sich der rekonstruktionslogischen Interpretation von Unterrichtsprotokollen. Auf dieser Ebene lässt sich dann auch empirisch sinnvoll von Interkultureller Bildung sprechen, denn diese ist in die Praxis eingelassen. Die Rekonstruktion hebt die pra-


2. Zur Rekonstruktion Interkulturellen Unterrichts

113

xisbezogene Antwort auf die Frage ans Licht, welche sinnlogischen Formen der Unterricht findet, interkulturelle Themen in seine Praxis umzusetzen, welche organisationsspezifische Rahmung diese mitführen und welche Konsequenzen dies für die unterrichtliche Praxis der beteiligten Akteure hat. Im Zentrum der empirischen Aufmerksamkeit steht also eine Einzelfallstudie, die Einblicke in die Mikrologik von Interkulturellem Unterricht und seine reale Bildungspraxis gewährt. Einzelne didaktische Instruktionen, wie sie im Folgenden rekonstruiert werden, können dafür schon aufschlussreich sein . Das verlangt aber vom Rekonstruierenden, sich auf die in Protokollen festgehaltene Praxis unterrichtlicher Wirklichkeit interpretierend einzulassen, obwohl sich bereits zu Anfang die Beobachtung einstellt, dass Unterricht bis hin zur Unkenntlichkeit bekannt ist. Jeder hat ihn als Schüler genießen dürfen oder erleiden müssen und war einer Vielzahl verschiedenartiger Unterrichtssituationen ausgesetzt. Ist man aber auf die Spezifik der sozial-kulturellen Situation aus, mit dem Ziel, distinkte Strukturen zu identifizieren, wird es heuristisch von Bedeutung sein - durchaus im Sinne der Phänomenologie - die unbegriffene Vertrautheit mit Unterricht durch eine erkenntnistheoretisch motivierte Enthaltsamkeit - eine Einklammerung der immer schon getroffenen Urteile über Unterricht - zu erzielen, um sie in einem weiteren Schritt durch Kontextvariation und Lesartenproduktion zu objektivieren; d. h. den ursprünglichen Eindruck der Bekanntheit aufzuklären, um so zur avisierten Strukturlogik des Falles vorzustoßen. Aufdem Weg einer solchen objektiven Hermeneutik von Unterrichtsprotokollen stößt der Interpretierende beim Gegenstand Unterricht alsbald auf die Besonderheit unterrichtlicher Kommunikation, die sich anband der Fokussierung des Protokolls, nur explizit verbal Geäußertes der Interpretation zugänglich zu machen, ergibt. Denn aus den Beiträgen der Schülerethnographie zur empirischen Unterrichtsforschung weiß die Erziehungswissenschaft, dass Unterricht ein durch vielgestaltige Sozialformen bestimmter Prozess ist, der sich nicht ausschließlich an ausdrücklich zur Sprache kommender Kommunikation ablesen lässt. Man darf also davon ausgehen, dass neben den in der Schulpädagogik bekannten unterrichtsbezogenen Kommunikationsformen, wozu sich u. a. etwa das gelenkte Unterrichtsgespräch oder Formen der Gruppenarbeit zählen lassen, als quasi offiziellem Unterrichtsgeschehen ebenso, eine durch die Peerkultur codierte inoffizielle Kommunikation hinzutritt. Georg Breidenstein hat in seinen Forschungsarbeiten (vgl. Breidenstein 2006) gezeigt, dass viele der im Unterricht auftauchenden Themen mindestens doppelt codiert werden können: Zum einen im Sinne einer didaktischen Instruktion im Normalfall durch die Lehrperson und eben lebensweltlich durch die Schülerschaft, die darüber ihre sozialen Beziehungen der Peers untereinander regelt.


114

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

Die Schülerethnographie macht aber über die Tatsache einer lebensweltlichen Kodierung seitens der Schülerschaft hinaus deutlich, dass die im Unterricht stattfindende Kommunikation überhaupt einem Deutungsprozess der Schüler unterliegt. Themen, Aufgaben, Arbeitsaufträge. kurz: Das Gesamt der didaktischen Instruktion muss seitens der Schülersubjekte welterschließend gedeutet werden, um am Unterricht teilzunehmen.54 Diesen Welterschließungsprozess bildet das Protokoll des Unterrichts jedoch nur insofern ab, als er sich aus dem explizit Geäußerten eruieren lässt. 55 Dass Schüler aber beispielsweise die Gegenstände des Unterrichts auch nonverbal, nicht geäußert, deuten müssen, ist trivial. Will man aber den Vollzug des Unterrichts, hier die Praxis des Interkulturellen Unterrichts rekonstruieren, darf nicht darauf verzichtet werden, die sozusagen stumme Seite des Geschehens der am Unterricht beteiligten Subjekte zum Sprechen bringen zu wollen, woraus sich einmal forschungspraktisch die Notwendigkeit ergibt, zusätzlich Daten in Form einer Gruppendiskussionen zu erheben. Zudem stellt sich aber spätestens an dieser Stelle die Frage, mit welchem Begriff, der bisher ganz bewusst mit Welterschließungsweisen ganz allgemein gehalten wurde, dies umrissen werden könnte. Einem aus der Lehr-Lernpsychologie stammenden, in der aktuellen Debatte dominant kompetenzorientierten Lembegriff soll hier als heuristisches Konzept der Begriff der Aneignung gegenübergestellt werden, der in größtmöglicher Offenheit alle auf den jeweiligen Unterricht bezogenen, sinnverstehenden Weltzugangsweisen der Schüler charakterisieren soll. Motiviert wird dies zum einen durch die forschungsmethodische Überlegung, das empirische Material nicht bereits unter die Kategorien eines ex ante konzipierten, schon dimensional gefüllten Lernbegriffes, wie Kompetenz, subsumieren zu wollen, sondern der Erfahrung der Subjekte möglichst großen Spielraum geben zu wollen. Damit wird nicht zuletzt metatheoretisch mit Bezug zur Bildungsforschung ein weiter Begriff von Bildung, wie er sich krisentheoretisch mit den bereits methodisch und methodologisch eingeführten Begriffsinventar von Oevermann rekonstruieren lässt. Das Gesamt der unterrichtsbezogenen Deutungsweisen lehrer- und schülerseits, sowie auch deren Interaktionen lassen sich damit in den forschungsmethodischen Blick nehmen. Nicht zuletzt ist in dem Zusammenhang noch einmal an den Begriff der 54

55

Was für die im InterpretativenParadigmageschultenSozialwissenschaftler kaum eine Besonderheit menschlicherWelt-und Sozialverhältnisse darstellt,ist beim Übertretender fachlichen Disziplingrenzen kaum eine Selbstverständlichkeit. Siehemit Bezugzur psychologischen LehrLernforschung dieAnalysedes Lehr-Lemkurzschlusses in kritischerAbsichtHolzkamp 1995. Dies gilt selbstverständlich auch für die im UnterrichthandelndenLehrer. Allerdingsstellt sich hier das Problemforschungsmethodisch ganzandersdar: Ist manauf die Strukturlogik des Falles aus, so gehtdieDeutungsweise desLehrersin die von ihm geäußertendidaktischen Instruktionen ein. Das heißt, sie lässt sich aus dem protokollierten Wortlautschließen.


3. Falldarstellung Unterrichtseinheit Praktische Philosophie

115

Emergenz zu erinnern, wie er zuvor konstitutionstheoretisch im Zusammenhang mit der Begriffe Krise und Routine bestimmt worden war. Dies geschieht auch in kritischer Absicht, denn so lässt sich zeigen, ob die Praxis bildungsbezogen ein emergentes Geschehen ist. Jedoch ist zu bedenken, dass Unterricht nicht nur als immanentes Bildungsgeschehen rekonstruiert werden kann, denn er ist nicht gesellschaftlich exterritorial, sondern ebenfalls auch ein gesellschaftlicher Brennpunkt. Dies zeigt, wenn auch strukturfunktionalistisch eingeschränkt und damit letztlich verkürzt, die gesellschaftstheoretische Sicht der Systemtheorie, nach der Unterricht, auch interkultureller, als Subsystem des Teilsystems Schule begriffen werden muss, wie sie durch die Funktionen Selektion, Qualifikation, Allokation und Legitimation bestimmt wird. Beide Dimensionen, Bildung und Funktion, sind in der Rekonstruktion aufmerksam zu beachten. Kurzum: Ziel ist es also, fallspezifisch Interkulturellen Unterricht aus seiner Interaktionslogik heraus und die auf ihn bezogenen Aneignungsweisen der Schülerschaft, welche auch die Gruppendiskussion lieferte, zu rekonstruieren. Die Arbeit hat einen explorativen Erkenntnisanspruch, denn Interkultureller Unterricht ist als solcher bisher noch nicht rekonstruiert worden.

3.

Falldarstellung Unterrichtseinheit Praktische Philosophie

Rekonstruiert wurde eine Unterrichtseinheit im Fach Praktische Philosophie der Sekundarstufe I in einem städtischen Gymnasium für Jungen und Mädchen in Nordrhein-Westfalen (NRW). Das Fach Praktische Philosophie ist nach fiintjähriger Erprobungsphase seit 2002 nun in allen Schulformen der Sekundarstufe I in seine Implementierungsphase getreten. In dessen Curriculum lassen sich ausdrücklich interkulturelle Themen als Unterrichtsgegenstände finden. Geht man von einer ersten Zeit aus, in der sich Organisation, Personal und Schülerschaft an das neue Fach gewöhnen mussten, darf man nun davon ausgehen, dass es sich um ein ganz alltägliches Fach wie alle üblichen handelt. Mit dem Unterschied, dass hier eine kulturell-heterogene Schülerschaft strukturell stets garantiert ist, da es sich sowohl an die so genannten autochthonen religionsmündigen Schüler richtet, welche die Teilnahme am Religionsunterricht aus Gewissensgründen ablehnen, als auch an diejenigen so genannten allochthonen, deren Religionszugehörigkeit in der staatlichen Regelschule keine Berücksichtigung findet. Folgerichtig postuliert das Curriculum des Faches somit neben seiner inhaltlichen Ausrichtung auf interkulturelle


116

B Methodische Anlage und Fragestellung der empirisch-rekonstruktiven Fallstudie

Themen, als so genannte Querschnittsaufgabe des Unterrichts, kulturell heterogene Orientierungen der Schülerschaft zu berücksichtigen. Da dieses Unterrichtsfach in allen Schulformen angeboten wird, eignet es sich sehr gut für Anschlussforschungen, die etwa einen Vergleich zwischen Schulformen ziehen könnten. Das Thema der Unterrichtsreihe lautete Kultur und Heimat. Die Forscher waren während der gesamten Unterrichtszeit anwesend, die sich auf sechs Unterrichtsstunden erstreckte, um den Unterricht audiovisuell aufzuzeichnen. Die Tonaufuahmen sind bis auf eine Unterrichtsstunde, in der ein Vortrag eines Vertreters des Verbandes zur Integration der Russlanddeutschen (lRWA) in Deutschland gehalten wurde, vollständig transkribiert worden. 56 Die Transkripte sind dann in Gruppen, an denen in abwechselnden Konstellationen unterschiedliche Forscher beteiligt waren, rekonstruiert worden. Ebenso ist eine Gruppendiskussion mit den am Unterricht beteiligten Schülern durchgeführt und ebenfalls transkribiert worden. Zur Darstellung gelangten in der vorliegenden Arbeit aus dem empirischen Material nur einige Miniaturen, die aufgrund der extensiven Rekonstruktion ein Höchstmaß an Plausibilität gewonnen haben und den Themenkomplex emblematisch verdichten.

56

Hinweisezur Transkription lassensicham EndedieserArbeitnachlesen. DiejenigenTranskripte, aus denen die Fa1lminiaturen stammen,lassen sich im Anhangfinden.


C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Da die Fülle des erhobenen und protokollierten Materials bei einem so extensiven Verfahren wie der Objektiven Hermeneutik in quantitativer Weise nicht insgesamt zur Darstellung gelangen, sondern lediglich eine Auswahl einiger Protokollstellen vorgestellt werden kann, anband derer sich der Fall spezifisch rekonstruieren lässt, stellt sich zunächst die Frage, mittels welchen Kriteriums es gerechtfertigt sein könnte, welche Sequenzen auszuwählen. Weil insbesondere Unterricht in der sinnlogischen Rekonstruktion sich mitunter als ein höchst komplexes Interaktionsgefiige erweist, ist es zudem ratsam, sich in der Präsentation des Materials auf einige, wenige Passagen zu konzentrieren, um die Komplexität in methodischer Weise nicht leichtsinnig zu reduzieren. Zunächst lässt sich ein Kriterium gewiss aus der Fallbestimmung gewinnen. Folglich wären diejenigen Sequenzen darzustellen, welche für die avisierte Strukturlogik eines Interkulturellen Unterrichts als besonders aufschlussreich erschienen sind und deren Rekonstruktion verallgemeinerbare Strukturmerkmale eines solchen Unterrichts dannauch tatsächlich ergeben haben. Die Problematik betrifft jedoch nicht nur die Darstellungsebene, denn selbst bereits im Forschungsprozess, nachdem die für die Untersuchung erforderlichen Daten erhoben und transkribiert worden sind, stellt sich schon forschungspragmatisch die Frage nach einer gerechtfertigten Auswahl: An welcher Stelle ist es sinnvoll, mit der rekonstruktiven Interpretation zu beginnen? In der Forschungsliteratur, die sich mit der Objektiven Hermeneutik beschäftigt, lässt sich oftmals die Antwort finden , es biete sich an, nach einer Zäsur mit einer eröffnenden Interaktion, wiederum quasi idealiter an einer Begrüßung orientiert, zu beginnen. Denn: "Die Eröffnungsfigur am Anfang einer Sequenz ist zentral, in ihr werden die Spielräume für mögliche ,Verzweigungen' in Form lebenspraktisch getroffener Entscheidungen aufgespannt" (Böhme 2006, S. 46; H. i. 0.) . Daraus ließe sich für den vorliegenden Fall zum Interkulturellen Unterricht der Schluss ziehen, mit dem jeweiligen Stundenbeginn im Sinne einer Eröffnungsfigur anzufangen. Aus methodologischer Sicht lässt sich mit Oevermann zudem grundsätzlich sagen, dass eine Protokollstelle auszuwählen, an welcher der Interpretationsprozess seinen Anfang nehmen soll, beliebig ist, da sich an jeder SeT. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


118

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

quenzstelle die objektive Fallstruktur, ablesen lassen müsse. Forschungspraktisch ist es also ganz gleich, welche Sequenz ausgewählt wird . Dies bleibt subjektiv stets willkürlich, was jedoch im Sinne der Methodologie letztlich nicht dem formulierten Erkenntnisinteresse widerspricht, eine Fallstruktur objektiv rekonstruieren zu können, da sich j a aufgrund der Sequenziertheit von Lebenspraxis, wie im vorherigen Kapitel gesehen, an jedweder beliebigen Protokollstelle des Transkripts die Fallstrukturgesetzlichkeit, also die genetischen Bedingungen von sozialer Praxis, strukturgebend sein muss. Mit anderen Worten: Anhand der hier zu rekonstruierenden Fallstruktur der Lebenspraxis Interkultureller Unterricht lässt sich der formalmethodisch explizierte Zusammenhang konkretisieren. Denn es ist doch durchaus zu problematisieren, wann Unterricht als institutionelle Bildungspraxis eigentlich für die an der Praxis Beteiligten beginnt. Und hieran anknüpfend lässt sich fragen, welche handlungsund interaktionsbezogenen Sinnstrukturen überhaupt Grenzen zwischen unterrichtsspezifischer und sonstiger Lebenspraxis definieren bzw. wodurch solche Grenzen gezogen werden. Beginnt Unterrichtspraxis sinnlogisch für alle an ihr Beteiligten tatsächlich, wie es trivial nahe liegt, mit dem Klingeln zum Stundenbeginn? Oder erst mit einer ritualisierten Begrüßungshandlung? Beginnt ferner die didaktische Instruktion erst dann, wenn ein Lehrer sie im engeren Sinne thematisiert oder bereits dann, wenn eine thematisch geschlossene Unterrichtsreihe beendet und eine andere ansteht, begonnen zu werden? Die subjektiven Deutungen seitens der am Unterricht Teilnehmenden, wann und womit für sie das unterrichtliche Geschehen beginnt, dürften recht individuell verschieden ausfallen, aber diese sollen nun nicht rekonstruiert werden. Doch die strukturlogisch bedeutenden Grenzziehungen zwischen Unterricht und außerunterrichtlichem schulischen Alltag, wie auch die Übergänge und Wechsel deutlich werden zu lassen, wird allerdings Aufgabe der sich anschließenden Darstellung der Rekonstruktionen sein. Denn genau an diesen Stellen des Übergangs von einem zum anderen Interaktionsverlauf ist etwas für die institutionalisierte Sozial- und Kulturform Unterricht allgemein und damit auch für den spezifischen Fall Interkulturellen Unterrichts strukturell Entscheidendes abzulesen. Dem ist methodisch derart entsprochen worden, in der extensiven Lektüre konsequent einmal den schulischen Unterrichtskontext anzunehmen und die Lesarten, welche sich aufdiesem Wege ergeben haben, mit kontextfreien, also unter Absehung des Unterrichtskontextes gewonnenen Lesarten zu kontrastieren. Da sich, zusammenfassend betrachtet, also weder aus methodologischen noch aus forschungspragmatischen Gesichtspunkten oder kontextspezifischen Erwägungen streng begründen lässt, an welcher Protokollstelle zu beginnen sei, die Re-


3. Falldarstellung Unterrichtseinheit Praktische Philosophie

119

konstruktionsarbeit aber dennoch praktisch begonnen werden muss, spricht pragmatisch doch einiges dafür, mit einer so genannten Eröffnungsfigur, hier einem Unterrichtsbeginn, anzufangen. Diesem Argument sind also auch die folgenden Rekonstruktionen verpflichtet. Dergestalt auszuwählen, ist unter der Hypothese geschehen, dass mit der jeweiligen Eröffnungsfigur zu beginnen, aufschlussreicher sei für die Verknüpfung zwischen institutionellem Unterrichtsgeschehen und einem empirisch rekonstruierbaren Konzept Interkulturellen Unterrichts unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten als mit Interaktionssequenzen, welche der Er öffnungsfigur vorausgingen. Zur hier gewählten Darstellungsform muss jedoch darüber hinaus noch etwas ergänzt werden. Aus der methodologischen Eigentümlichkeit des objektiv-hermeneutischen Anspruches, die Geltungsüberprüfung an die Plausibilität der Rekonstruktionen zu knüpfen, welche intersubjektiv überprüft werden sollen, folgt nämlich, dass zur Darstellung der Ergebnisse die Rekonstruktionsarbeit, wie sie im vorherigen Kapitel umrissen worden ist, plausibel nachvollzogen werden muss. Darstellung, Rekonstruktion und Plausibilisierung von Ergebnissen fallen folglich objektiv hermeneutisch in eins. Dies mag forschungsprozessual zwar zunächst ungewöhnlich erscheinen, ist aber nichtsdestotrotz notwendig. Treten beispielsweise in quantitativ-empirischer Forschung Datenauswertung und ihre Dokumentation in zwei forschungspraktisch getrennt operationalisierbare Schritte auseinander, denn die statistischen Berechnungen sind ja für gewöhnlich bereits gemacht, bevor die Ergebnisse zur Darstellung kommen, so zwingt der Argumentationsgang, den der Leser nachvollziehen und über deren Plausibilität er letztlich entscheiden soll, den Darstellenden dazu, den gesamten Weg der Rekonstruktionen über die extensive Lektüre des Materials, der daraus zu erschließenden strukturlogischen Merkmale bis hin zu ihrer theoretischen Würdigung lückenlos nachzuzeichnen. Von deren Güte hängen nun einmal schlussendlich Zustimmung oder Ablehnung, kurz: die Überzeugungsfähigkeit der Argumentation und somit die Validität der Ergebnisse ab. Andererseits gerät aber eine übertrieben extensive Darstellung schnell in Gefahr, unübersichtlich und somit selbst für einen noch so interessierten Leser unzumutbar zu werden, in extenso den gesamten Rekonstruktionsprozess vor allem auf der Ebene der Lesartenproduktion, hier vor allem diejenigen Lesarten aufzuführen, die verworfen wurden, weil sie sich in der Sinnschichtung als nicht länger zutreffend erwiesen haben, nachzuzeichnen. Auch aus diesen Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Darstellung ergeben, folgt ebenso dringend, eine Fokussierung vorzunehmen. Die sich anschließende Darstellung der Fallstudie verfolgt deswegen in formaler Hinsicht einen Kompromiss zwischen Extension und Präzision und zwischen Plausibilität und Reduktion. Mit ihr ist die Hoffnung


120

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

verknüpft, einen sowohl lesbaren, als auch unbedingt argumentativ nachvollziehbaren Text produziert zu haben, der weder die Komplexität der untersuchten Lebenspraxis allzu sehr und damit fahrlässig reduziert, noch seinen Gedankengang argumentativ zu pointieren aus den Augen verliert. Den jeweiligen Teilrekonstruktionen sind zu diesem Zweck abstrahierende Überschriften vorangestellt, welche deren Strukturlogik emblematisch verdichten, und deren Gehalt durch die Rekonstruktionen, welche der Leser im hermeneutischen Prozess nachvollzieht, gedeckt werden sollen .

1.

Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierung und Entpersonalisierung - "Es sollen nicht nur die befragt werden, die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben." (Miniatur I)

Die Rekonstruktionsdarstellung beginnt mit einem Sprechakt, der zunächst einmal in seiner geschlossenen Gesamtgestalt benannt wird, bevor er dann weiter unter Maßgabe feinsequenzieller Analyse, in einzelne in sich sinnvolle Sequenzen, im Umfang noch unterhalb der grammatikalischen Einheit von Sätzen zerlegt, und unter Voraussetzung künstlicher Naivität sowie zunächst unter Ausblendung der alltagstheoretischen, fallspezifischen Kontextannahmen über (Interkulturellen) Unterricht ausgedeutet wird. Die grammatischen Zeichen dienen nur dazu, dem Transkriptionsprotokoll eine lesbare Form zu geben, ohne dass daraus eine Relevanz für die Sequenzialität der untersuchten Lebenspraxis abgeleitet wird .

Rekonstruktion Lm:

[ ... ] Ja, ähm, ich möchte gerne, dass ihr in dieser Stunde mit euren Mitschülern eine Befragung durchführt und die soll sich beziehen auf die Heimat und die Kultur der Schülerinnen und Schüler, die ihr befragt. Es sollen alle befragt werden. [ ... ] (Z. 33-37)57

[ ... ] Ja, ähm [ ••• ] (Z. 33f)

57

Die Zeilenangaben dieser Miniatur beziehen sich auf das Transkript des Unterrichtsprotokolls 1. Es liegt der Arbeit im Anhang bei.


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

121

Da der A'ußerung vorausgehend keine Frage gestellt wurde, ist Ja hier folglich nicht als eine positive Antwort aufetwas Erfragtes zu interpretieren, sondern in ganz allgemeiner Weise im Sinne einer sinnlogischen Markierung. Sie hat die objektive Funktion, Sinn- oder Interaktionsabschnitte zu gliedern. Eingefügt in alternative rhetorische Kontexte wie: "ja, das war es jetzt" oder "j a, jetzt kommen wir zu" lässt dies den sequenzlogischen Schluss zu, dass sich das Ja sowohl als Abschluss von bis dorthin Geäußertem als auch als Eröffnung eines irgendwie gearteten Folgenden verstehen lässt. Man kann also in diesem Fall von einem Sequenzmarker sprechen, der die eingangs geforderte pragmatische Geltungsbedingung erfüllt, vorweisend eine Sequenz zu eröffnen und rückwirkend anzuzeigen, eine andere zu beschließen. Das folgende Füllwort ähm, lingu istisch Diskurspartikel genannt, ist einerseits als intermittierende Pause zu verstehen, die, wie etwa in diesem Fall, in mündlicher Kommunikation dem Sprecher Zeit zum Nachdenken erlaubt, ohne in Not zu geraten, mit einer stummen Pause einem etwaigen Gesprächspartner anzuzeigen, dass sein Teil des Sprechakts jetzt beendet ist. Es kann andererseits aber ebenso in einem sinnlogischen Gegensatz zum Auftakt begriffen werden. Demonstrierte Ja nämlich einen durchaus entschlossenen Beginn, eine Affirmation des Abgeschlossenen und sich daran Anschließenden, wird diese Entschlossenheit gleich wieder in einen, wenn auch leisen, Zweifel gezogen. Die so entstandene Zögerlichkeit wirft ein zweifelndes Licht aufden positiven Entschlusscharakter, mit dem der Sprecher seinen Sprechakt begonnen hatte. Sequenzlogisch wäre dies so zu interpretieren, dass nach durchaus positivem Beginn die Lebenspraxis sofort in ihre erste materiale Krise gerät. Keinesfalls kann aber bereits jetzt deutlich werden, woran dies liegt. S8 Vielmehr müssen wir mit der Objektiven Hermeneutik in der weiteren Rekonstruktion des gesamten Auftakts davon ausgehen, dass entweder Routinen sichtbar werden, mit denen die Krisenhaftigkeit der Lebenspraxis bearbeitet wird, oder es sich herausstellen wird, dass solche Routinen dieser Lebenspraxis nicht zur Verfügung stehen . Was schließt sich jetzt hieran also an? [ ... ] , ich möchte gerne [ ... ] (Z.33) S8

SolchePartikelwerdengern als Zeichendes Unbewusstengelesen.Es wäre allerdingsim Sinne der ObjektivenHermeneutiketwas verfrüht, wollte man diese Sequenzstelle bereits tiefenpsychologischauslegen. Dies hieße nämlichbereits in einer frühen Phase der Rekonstruktion den Schlusszu ziehen,die fallspezifische Lebenspraxis zu pathologisieren, aus derZögerlichkeitdes Beginnensauf eine persönlich-traumatische Krise des Sprecherszu schließen. Damit würdeder Fall von Vomeherein unter die methodischenInstrumente der Tiefenpsychologie subsumiert, stattetwaigepsychischeKrisenausder beharrlichzu rekonstruierenden Fa1llogik zu erschließen.


122

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Die folgende Sequenz beginnt mit einer persönlichen Thematisierung des Sprechers: ich. Mit der Formulierung möchte wird ein Wunsch angezeigt. Die Bewertung gerne lässt die innere Haltung des Sprechers deutlich werden , mit der er in persönlich positiver Weise aufseinen Wunsch Bezug nimmt. Die Art der Bewertung charakterisiert den Wunsch undfolglich auch den Beginn des Sprechakts insgesamt als hervorgehoben positiv und persönlich. Sinn logisch gesehen, äußert nur derjenige einen Wunsch, dem es nicht in seine Macht gestellt ist, das Objekt oder Ziel seines Wunsches momentan oder längerfristig aus sich selbst heraus, aus seinem eigenen Vermögen, zu ermöglichen oder zu verwirklichen, es aber dennoch begehrt oder es ihm danach verlangt. Wünschen setzt also einen Mangel voraus. Der Wünschende visiert einen Zustand an, entweder seiner selbst (" ich möchte gerne stark sein) oder seiner Umgebung (" ich möchte gerne eine schönere Wohnung haben H). Bezogen auf einen Interaktionskontext kann sich der Wunsch auch an andere Interakteure richten . [ ... 1 , dass ihr [ ... 1 (Z. 33)

Mit dieser Sequenz wird ein Adressat des Wunsches benannt: ihr. Mit der direkten Anrede von Adressaten wird sprechaktlogisch ein Interaktionsgefiige zwischen einem Einzelnen und mehreren anderen aufgespannt. Dies gilt allerdings nur unter der Prämisse, wenn man Gepflogenheiten in historischen Kontexten, etwa des Adels, ausblendet. Dort war es durchaus üblich , auch mit der zweiten Person Plural einzelne Akteure anzusprechen. In aktuellen Kontexten werden jedoch jür gewöhnlich mit dem Pronomen ihr mindestens zwei Personen und mehr angesprochen. Der Wunsch wird hier also an jemanden gerichtet. Ohne denfallspezifischen Kontext heran zu ziehen, ist noch nicht deutlich , ob die Adressaten anwesend sind oder der Sprecherjür sich allein spricht und die angesprochenen anderen von ihm bloß imaginiert werden, wie etwa dann , wenn ein Schauspieler seinen Text lernt. Die Beziehung der Interaktionspartner lässt offenkundig das Duzen zu. Das lässt entweder aufein mehr oder minder vertrautes Verhältnis Gleichrangiger, wie beim gegenseitigen Duzen unter Freunden, schließen. Oder es handelt sich um eine ungleichrangige gegenseitige Bezugnahme, weil es nur einem der Interaktionspartner gestattet ist, zu duzen. Beim Siezen kann etwa Respekt vor einem Amt oder einer Rolle ausgedrückt'? werden , wie umgekehrt beim Duzen deutlich geS9

Die normativeKraft des Siezenswird gern mit Verweis auf einengesellschaftlichen Wertewandel bestritten,dass solche höflichenRespektsbekundungen zugunsteneines lockerenUmgangs untereinander, etwa in Arbeitsverhältnissen, aufgegebenworden seien. Interessantist hier, sich zu fragen, ob der Eindruck, es handele sich um einen lockeren Umgang nicht sein Gegenteil sinnlogisch voraussetzt. Also,dass sichLockerheitdesUmgangsnurmit Bezugzur Förmlichkeit


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

123

macht wird, dass es sich, wie zum Beispiel bei Kindern um noch nicht vollständig ausgebildete oder mit vollen Rechten und Pflichten ausgestattete Persönlichkeiten handelt. Stellt man sich diesen Sprechakt in Bezug aufKinder vor, dann drückt sich darin ebenso aus, filr sie einen Schonraum zu akzeptieren. Thematisiert ein Sprecher sich selbst, wie in diesem Fall, soll der Wunsch ich und ihr reziprok miteinander verbunden werden: er bekräftigt durch das Wort gerne den Sprechakt des Wünschens mit Rekurs aufseine persönliche Befindlichkeit. Darin drückt sich die Hoffnung aus, es möge sich um ein ebenso bereitwilliges Gegenüber handeln, welches den Wunsch genau so gern erfüllen möchte, wie der Sprecher seinen Wunsch äußert.. Da der Wunsch, wie gesehen, zudem immer einen Mangel seitens des Wünschenden voraussetzt, etwas von sich aus zu vermögen, kann der Sprecher dieses Sprechaktes sinnvollerweise nur davon ausgehen, dass es in der Macht der Gebetenen liegen muss, seinem Wunsch entsprechen zu können, und damit seinen Mangel zu beheben. Denn umgekehrt einen Wunsch an jemanden zu richten , bei dem der Wünschende ausginge, der Gebetene könne den Wunsch nicht erfüllen, wäre nur dann eine plausible Lesart, wenn man besonderepsychische Umstände annähme, wozu hier allerdings kein Anlass besteht. Woraus der Mangel ferner eigentlich besteht, was also gewünscht wird, muss noch geklärt werden, ebenso , wie die Frage nach dem interaktionslogischen Sinn beantwortet werden muss , einen solchen Wunsch in diesem kontextspezifischen Fall zu äußern. [ .. . ] in dieser Stunde mit euren Mitschülern eine Befragung durchführt [ ... ] (Z.33f.)

Während in der voraus gegangenen Sequenz die Adressaten des Wunsches, also die Subjekte des Erwünschten, benannt wurden, wirdjetzt das Objekt, was gewünscht wird, bestimmt, nämlich eine Befragung durchzufiihren , und weiter, wann sie, und auch, mit wem sie durchgefilhrt werden soll, benannt. In seiner grammatischen Form betrachtet, ist Befragung die Substantivierung des Verbs befragen, womit die Versachlichung und Vergegenständlichung einer Tätigkeit angezeigt wird. Im Sinne einer Versachlichung bedeutet, eine Befragung durchzufilhren also, dass ein damit verbundenes Frageinteresse nicht durch spontanes Fragen-Stellen befriedigt werden kann , sondern es zuvor einiger Vorbereitung bedarf. Sie muss geplant werden, bevor sie in die Tat umgesetzt werden verstehenlässt. Sicherlichist aber festzustellen, dass die Eindeutigkeitder sozialen Situationen, in denengeduztwerdenkann oder gesieztwerdenmuss, nicht so feststeht, wie man es alsjemand zur Gruppe neu hinzu Kommenderzur Orientierunggern hätte.


124

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

kann. In diesem Sinne hat der Begrifffast eine wissenschaftliche, zumindest jedoch eine methodische Konnotation, denn während irgendwelche Fragen jedermann unvorbereitet stellen kann, bedarfeine Befragung vergewissernder Schritte, gegebenenfalls solcher, einen Fragebogen zu konzipieren. Es lässt sich folglich sagen , wer eine Befragung durchführen will, möchte seinem Fragen eine systematische Form geben . Durchführen lässt sich zunächst erst einmal im Sinne von Ausführen verstehen. Eine Tätigkeit soll in Gang gesetzt werden . Wer etwas durchführt, führt seine Tätigkeit ebenfalls nicht spontan aus. Etwas muss bewältigt werden, das einem klar vor Augen stehen muss. Wer eine Befragung durchführt, wird zudem aktiv im Befragen selbst tätig, etwa im Gegensatz dazu, eine Befragung zu konzipieren. Durchführen ist ausführen einer Aktion in einem praktisch-instrumentellen Sinne . Befragen setzt strukturlogisch erstens voraus, dass etwas unbekannt oder fremd ist und zweitens, dass das, wonach gefragt wird, überhaupt erfragbar ist, also mittels einer Befragung zu einem Ergebnis führen kann, und dass dies wissenswert ist. Wer authentisch nach etwas fragt, verfügt zudem über ein gewisses Maß an Neugierde, dasjenige, wonach er fragt, auch wissen zu wollen . Befragung setzt interaktionslogisch voraus, dass es Befragte geben muss, die entweder über Expertenwissen verfügen oder einen Wissensvorsprung gegenüber den Befragenden haben, über etwas, was letztere gar nicht oder zumindest nicht genau, bloß vermutungsweise wissen . Der Sprechakt beinhaltet weiter, dass sich die Befragung auf einen eingeschränkten Zeitraum erstreckt, in dieser Stunde, und auch mit wem, mit euren Mitschülern, sie durchzuführen, erwünscht wird. Insgesamt hinterlässt der Wortlaut einen präzisen Eindruck, der sich aus der hohen Informationsfülle aufengstem Raum ergibt, denn immerhin werden in nur einer Zeile Antworten aufdie Fragen: was, wann und mit wem, gegeben. Es scheint ebenso Unmissverständlichkeit geboten zu sein, woraufdie Kürze der Formulierung schließen lässt. Derart präzise den Inhalt seines Wunsches benennen zu können, setzt folglich beim Wünschenden voraus, sich darüber im Vorhinein Klarheit verschafft zu haben . Den Wunsch spontan geäußert zu haben, ist daher ausgeschlossen. Lässt in dieser Stunde gedankenexperimentell für sich betrachtet noch zu, auch in anderen als schulischen Kontexten als wohlgeformte .ffußerung gelten zu können - beispielsweise: "in dieser Stunde , die uns noch bis zur Abreise bleibt, sollten wir endlich die Koffer packen" -, fällt dies bei mit euren Mitschülern schon schwerer. Lässt sich zwar bei Schülern noch an Fahrschüler oder Gitarrenschüler denken - wobei hier, obzwar kein schulischer, zumindest aber ein LehrLernzusammenhang vorauszusetzen ist - so kennzeichnet doch vor allem die Ver-


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

125

wendung des Präfix Mit- die aufdiese Art gefallene Äußerung ganz eindeutig als schulische Kommunikationsform. Die bisherige kontextfreie Lektüre in aller gebotenen künstlichen Naivität stößt mit diesem Begriffan eine immanente semantische Grenze derfallspezijischen Kommunikation. Sie lässt sich ab jetzt dennoch sinnvoll zumindest als kontrastive fortsetzen. Die Rede von Mitschülern macht ebenso deutlich, dass es offenbar in diesem Fall nicht ausreicht, von Schülern zu sprechen. Dies wirft die Frage auf, worin der strukturlogische Sinn besteht, diesen Begriffzu verwenden. Der Begriff Schüler indessen verweist aufdie Rollenformigkeit der Sozialität von Individuen untereinander in der Institution Schule. Der soziologische Begriffder Rolle ist in seinem Kern an soziale Erwartungen und deren gesellschaftliche Funktion gekn üpft, Handlungen zu koordinieren. Spieltjemand eine Rolle, erfüllt er ungeachtet seiner Individualität soziale Erwartungen.60 Objektiv betrachtet, können Rollen von ganz verschiedenen Individuen jenseits ihrer unverwechselbaren persönlichen Eigenarten übernommen werden . Wohlgeformt und wortwörtlich darfman schließen, dass also zusätzlich zu dem, was sich über den Rollenbegriffaussagen lässt, etwas hinzu kommen soll. Mit- drückt ein Beieinander-Sein von etwas oderjemandem aus. Das Präfix Mit- verweist also auf eine andere Form von Sozialität, als sich allein über den Begriffder Rolle ausdrücken lässt. Der Begriff Mitschüler spielt aufeine engere soziale Verbindung im Sinne eines gemeinschaftlichen Miteinanders" an, als sich 60

61

Hieran scheiden sich zwar die Geister zwischen Vertretern funktionalistischer Rollentheorie in der Tradition Talcott Parsons und einer kritischen Rollentheorie, wie sie Jiirgen Haberrnas vertreten hat. Doch stimmenbeide Theorien darin überein, dass es sich beim Begriff der Rolle um überindividuelle, d. h. gesellschaftlich-kulturelle Erwartungen oder Normen handelt, die in der Sozialisationdurch Rollenspiel erlernt werden. Den entscheidendenund fundamentalen Unterschiedsehenbeide im Verhältnis zwischenPersonund Rolle.WoHabermaseine Divergenz zwischen Person und Rolle sieht und dadurch dem Individuumeinen Spielraum der reflexiven Befragung von Normen einräumt, der in eine kritische Rolleninterpretation und damit letztlich für ihn politischeRollentransformation miindenkann, konzipiertParsonsdie Rollensozialisation aus strukturfunktionalistischer Sichtgleich so, dass es dem Individuumzum Bedürfniswird, der Rollenerwartungzu entsprechen,da ihm sonst soziale Sanktionendrohen, sobald es die gesellschaftlichenErwartungen,die mit dem Rollenhandelnverbundensind,nicht erfüllensollte. Vg1. Habermas 1973und Parsons 2002'. Soziologischgesehen, stellt der Begriff Gemeinschaftoftmals einen analytischenoder historischenGegensatzzum Begriff derGesellschaftdar (Tönnies20058) . An diesemGegensatzmacht sich oftmalsder Übergangvon einer vormodemenzu einer modernensozialenLebensformfest. Dieser Gegensatzspiegeltsich auch in der Rollentheorievon Parsons wider, wenn er die Schule als diejenige Institution theoretischbestimmt, welche gegenüber den partikularistischenWertorientierungen, wie sie in der Familievermitteltwerden, spätestensnach einer Phase eines noch vermischten Übergangs in der Grundschule die gesamtgesellschaftliche Funktion erhält, eine universalistischeOrientierungzu vertreten, aus den gemeinschaftlichen familialenBezügen in der Sozialisationdurch die Schule herauszutreten,um auf die Berufsrollenpraxis der modemen


126

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

dies im Begriffder Rolle ausdrücken lässt. Von Mitschülern wird also in schulischen Kontexten vor allem dann gesprochen, wenn Schüler nicht in ihrer Funktion als Rollenträger - "als Schüler wisst ihr ja, dass ihr euch melden sollt, bevor ihr im Unterricht etwas sagt" -angesprochen werden, sondern in ihrem sozialen persönlichen Miteinander - " Vera, setz 'dich doch neben deine Mitschülerin Dagmar" - thematisiert werden . Da Mitschüler aber aufjeden Fall nur Schüler als Mitschüler haben können, kann an dieser Stelle selbst ohne eine Kenntnis des weiteren Protokollverlaufs geschlossen werden, dass es sich bei den Adressaten des Wunsches um Schüler handelt und nicht etwa um andere noch im Unterricht Anwesende, was zuvor noch möglich gewesen wäre. Insofern ist das Pronomen ihr auch personell gefilllt. Der sich dementsprechend hier auch immanent aufdrängende schulische Kontext und der präzise und offenbar Missverständlichkeit vermeidende Charakter der A'ußerung, wie auch seine Versachlichung zeigen hier deutliche Züge eines schulischen Arbeitsauftrages oder auch einer didaktischen Instruktion, bereits auch dann, ohne die kontextuell gegebene Information zu Rate zu ziehen, dass es sich beim Sprecher des Sprechakts um einen Lehrer, Lm, handelt.62 Als Zwischenfazit lässt sich bis hierher anhand der Sequenzanalysen Folgendes ziehen: Nach seinem affirmativen Beginn erweist sich der Sprechakt durch ein kurzes Zögern als krisenhaft. Die weitere Rekonstruktion lässt aber eher aufein routiniertes Bearbeiten der Krise schließen. AufIndizien fiir eine materiale Krise lässt sich , über das erste Zögern hinaus, im weiteren Verlaufbisher nicht schließen. Wir haben es aufder manifesten Sinnebene mit einer schulischen Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern zu tun, wobei letztere sich bisher noch nicht geäußert haben, sondern bisher ausschließlich eine didaktische Instruktion seitens eines Lehrers deutlich wurde, die in Form einer Arbeitsanweisungformuliert wurde. Die Rekonstruktion dieser Sequenz unterforschungsmethodisch motivierter Ausblendung desfallspezifischen Kontextes schulischer Unterricht machte vor allem den mit der didaktischen Instruktion verbundenen Wunschcharakter und die

62

Gesellschaft vorzubereiten.AusdieserSichtmüsstedie hierfallspezifisch rekonstruierte Gemeinschaftsorientierung der Kommunikation als pädagogischeFolklore, Kitsch oder überflüssiges Beiwerkeingeschätzt werden. Dieswürdeallerdings bedeuten, theoretisch vorabdie Strukturlogik des Falles subsumtionslogisch zu desavouieren, statt darauf zu vertrauen,dass im Einzelfalldie allgemeineSinnlogikder Institutionschon rekonstruierbar wird. Darauf also bauend, lässt sich der Schlussziehen,dassgemeinschaftliche Orientierungen durchaus ihrenschulspezifischen Sinn haben, der allerdingsan dieser Stellenoch nicht voll erfasst werden kann , sondernnoch weiter rekonstruiertwerdenmuss. An dieser Stelle könnte eine weitere Ausdifferenzierung über das Geschlechtder Lehrperson erfolgen. Es wird aber in diesemKontextdaraufverzichtet,weil erstensüber das Transkriptdes Falles bereits klar ist, dass es sich um einen Lehrer und keine Lehrerin handelt und zweitens, weil die Interpretationdes Lehrerhandelns nicht geschlechterspezifisch erfolgensoll.


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

127

persönliche Thematisierung des Sprechers deutlich . Insofern stellt sich an dieser Stelle wiederum die Frage nach dessen strukturlogischem Gehalt in der Lebenspraxis Unterricht. Lässt sich daran etwas Systematisch-Allgemeines über schulische Vermittlungspraxis verdeutlichen, oder ist dies lediglich eine individuelle Form des Unterrichtsbeginns ? Auch wenn der Sprechakt als Arbeitsanweisung charakterisiert wurde, die ein Lehrer seinen Schülern gibt, bleibt noch einiges an inhaltlicher Konkretion offen: Befragt ein jeder Schüler einzeln einen anderen? Befragt eine Gruppe innerhalb einer Klasse die andere? Und wenn dies der Fall sein sollte, nach welchem Kriterium werden etwaige Gruppen eingeteilt? Soll die hier anwesende Klasse ihre Mitschüler außerhalb des Klassenraumes, beispielsweise eine andere Klasse, befragen? Werden nur einige Mitschüler, die in einer Folgesequenz noch spezifiziert werden könnten, einzeln von der Klasse befragt? Oder sollen Schüler mit ihren Mitschülern gemeinsam eine ganz andere nichtschulische Gruppe, etwa Passanten in einer städtischen Fußgängerzone befragen? Völlig offen ist bislang ebenso, wonach in der Befragung überhaupt gefragt wird und welche Schritte weiter zu tun sind, um der Befragung die mit ihr verbundene systematische Gestalt zu geben. Aufgrund ihrer sachlichen Unvollständigkeit erscheint es daher höchst unwahrscheinlich, dass sich hieraufSchüler äußern werden . Eher ist zu erwarten, dass Lm seine Instruktion weiter ausformulieren wird, wie es die folgende Sequenz nun auch verdeutlicht. [ .. . ] und die soll sich beziehen auf die Heimat und die Kultur der Schülerinnen und Schüler, die ihr befragt [ ... ] (Z. 34-36)

Hierdurch wird der bisherige Sprechakt mit und erweitert. Worin besteht seine Erweiterung? Es werden insgesamt, wie erwartet, weitere Informationen hinzugefiigt, worin die Befragung besteht. Weiter ist herauszustellen, dass sich die Befragung auf etwas beziehen soll, War zuvor noch deutlich vom subjektiv Gewünschten seitens Lm die Rede, charakterisiertjetzt das Sollen den Sprechakt als Vorschrift, zu etwas genötigt zu werden, was zum einen die Frage aufwirft, wer oder was die Autorität besitzt, hier in der Interaktion etwas vorzuschreiben, und zum anderen, in welchem sprechaktlogischen Verhältnis dann Wunsch und Vorschrift zueinander stehen? Zuerst ließe sich daran denken, dass die Autorität aus dem Durchfuhren einer Befragung resultiert, denn diese bedarf, wie bereits herausgestellt wurde, einer methodisch planvollen Gestaltung, woraus sich ergäbe, dass, einmal den Plan zur Befragung gefasst, aus ihrer Gestaltung die einzelnen Schritte mit sachlicher Not-


128

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

wendigkeitfolgen. So gesehen kann sie sich nicht nur, sie soll sich aufein Thema beziehen. Das Gebot sachlicher Planung stellte somit die Autorität dar, etwas vorzuschreiben. Folglich charakterisierte der Wunsch den Sprechakt insgesamt und die Vorschrift läge aufder Ebene einer sachlichen Nötigung. Ihr Verhältnis wäre ein wohl geschiedenes zwischen interaktionslogischer Form und sachlichem Inhalt. Verfolgt man jedoch die ebenso schlüssige Interpretation, die Vorschrift beziehe ihre Autorität weniger aus der Sache, als vielmehr aus der sozialen Position des Sprechers, die er in der Interaktion einnimmt, hier der Berufsrolle des Lehrers, stünde der geäußerte Wunsch dazu in einem sprechaktlogischen eigentümlichen Verhältnis, denn warum sollte sich ein Lehrer etwas von seinen Schülern wünschen, wenn es doch in seine Macht gestellt ist, dies auch legitimerweise von ihnen einfordern zu dürfen? Die Frage nach der zutreffenden Interpretation lässt sich allerdings erst dann entscheiden, wenn weitere Sequenzen hinzugenommen werden. Kehren wir zum Wortlaut zurück, so wird weiter deutlich, dass der Lehrer auf der manifesten Sinnebene angibt, woraufsich die Befragung beziehen soll (sich beziehen auf die Heimat und die Kultur) . Beide Begriffe sind Abstrakta und weisen einen weiten Bedeutungsumfang auf. Es lassen sich darunter, fallspezifisch unbestimmt, sehr viele Phänomenefassen und verstehen. Im Interaktionskontext Unterricht leitet sich aus ihrer Abstraktheit und Vieldeutigkeit die didaktische Konsequenz ab, die Begriffe noch bestimmen zu müssen, wenn den Schülern deren Verwendungsweise deutlich werden sollte, insofern sie nicht zuvor bereits definiert wurden . Wie die didaktische Instruktion dies ermöglichen wird, und welche Bedeutung die beiden Begriffefallspezifisch damit bekommen, wird im sequenziellen Fortgang der Rekonstruktion noch zu beantworten sein . An der hiesigen Protokollstelle können die Begriffe nur in ganz allgemeiner Weise bestimmt werden . In Heimat steckt das Heim, der Ort, an dem jemand zu Hause ist, womit ein Platz sozial nahweltlicher Beziehungen zu Familie oder Freunden benannt wird. Heimat drückt eine persönliche emotionale oder geistige Verbindung von Menschen mit Orten aus, die auf der Ebene der persönlichen Biografie tatsächlich eine Rolle spielt oder zumindest vermutungsweise spielen kann. Kultur umfasst viele verschiedene und höchst unterschiedliche Bedeutungen, die, je nachdem, ob der Begriffstärker von der deskriptiven Seite seiner alltagsweltlichen Konnotation als Lebensweise, oder seiner präskriptiven Dimension als Hochkultur bzw. als Normativität, objemand Kultur hat, betrachtet wird, variieren können . Auch lässt sich an dieser Stelle noch nicht ausmachen, in welchem inhaltlichen Verhältnis die beiden Begriffe zueinander stehen. Sie lassen sich miteinander verbinden, insofern jemandes Heimat eine spezifische Kultur beinhaltet oder eine Kultur besondere Heimatvorstellungen ausbilden kann . Sie lassen sich aber ebenso wohl als diffe-


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

129

rent verstehen, insofern jemand in einer Kultur leben kann , die sich gerade von seiner Heimat unterscheidet oder umgekehrt. Es wird folglich deutlich, dass die Befragung die Heimat und die Kultur der Schülerinnen und Schüler zum Gegenstand haben wird. Die beiden Begriffe werden somit durch einen eingeschränkten Personenkreis eingegrenzt. Festzuhalten ist, dass die nötige Eingrenzung der Begriffe zunächst nicht sachbezogen definitorisch erfolgt, sondern sozial, indem ein zu befragenden Personenkreis benannt wird, wobei weiterhin aber unklar bleibt, wonach im engeren Sinne inhaltlich gefragt werden soll, auch wenn jetzt nach Heimat und Kultur von Schülerinnen und Schülern gefragt wird. Der Explikationsbedarfder Begriffe bleibt auch personell eingegrenzt erhalten. Es lässt sich zum Thema Befragungfesthalten: Es geht um eine personenspezifisch bestimmte Heimat und Kultur und zwar diejenige von Schülern. Damit ist nicht nur die zum Abschluss der vorherigen Sequenz gestellte Frage danach, ob es sich in der Befragung um ganz andere Befragte als Schüler, etwa Personen in einer Fußgängerzone handeln könne, beantwortet. Gewünscht wird, dass Schüler miteinander andere Schüler befragen. Und das heißt folglich aber auch, da nur erfragt werden kann, was man nicht weiß, dass etwas über die Heimat und die Kultur der Schülerinnen und Schüler, die von Schülern befragt werden, nicht gewusst wird, bzw. erfragenswert ist. Unwissen in Bezug aufPersonen lässt sich auch als Gefühl der Fremdheit zu ihnen verstehen. Insofern wird hier Unwissen als Fremdheit vorausgesetzt. Fiel vordem in der Anrede der Schüler der BegriffMitschüler, wird er abjetzt ersetzt durch die geschlechtsspezijisch differenzierte Anrede von Schülerinnen und Schüler. Ob damit auch erwartet werden kann, dass deren Antworten in der Befragung geschlechtsspeziJisch ausfallen, bzw. ob dies zumindest nicht ausgeschlossen werden soll, ist im bisherigen Sequenzverlaufnicht auszumachen. Es kann jedoch ebenso sein, dass damit schlicht die geschlechtsspezijisch benannte Gesamtgruppe von Schülern benannt wird. Während allerdings den BegriffMitschüler (Z. 34) zu verwenden, aufeine sozialgemeinschajtliche Sinnlogik schließen ließ, verweist Schülerinnen und Schüler umgekehrt wieder aufderen Rollenjörmigkeit. Grammatikalisch wird der Relativanschluss: die ihr befragt durch die Verwendung des bestimmten Artikels der erzwungen. Sinnlogisch bleibt damit eine inhaltliche Bestimmung von Heimat und Kultur weiterhin aufgespart, bei gleichzeitiger weiterer Begrenzung, indem der Personenkreis weiter eingeschränkt wird. Die Befragung soll sich nicht nur ganz generell auf die Heimat und Kultur der Schülerschaft beziehen, sondern nur diejenige Heimat und Kultur zum Inhalt derjenigen haben, die befragt werden .


130

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

[ ... ] Es sollen alle befragt werden .

[ ... ]

(Z .36~

Wie dies auch die bisherige Rekonstruktion ergeben hatte, scheint sich für Lm sinn logisch an dieser Stelle Anschlussbedarf ergeben zu haben, denn er behält das Wort undführt weiter aus. Auch aus der Perspektive von Lm scheinen noch nicht alle Informationen benannt worden zu sein, die für die Umsetzung der sich nun anschließenden Aufgabe notwendig zu wissen sind. Anstatt aber zu explizieren, wie sich sinnvollerweise nach Heimat und Kultur von Schülern im Rahmen einer Befragungfragen ließe, hebt die sich anschließende Sequenz wieder aufeinen Personenkreis ab, der befragt werden soll. Nachdem der bisherige Sprechakt aber die Gruppe der Befragten immer weiter eingeschränkt hat, wird wieder betont, dass aUe befragt werden. Woraus resultiert aber die Notwendigkeit, an dieser Stelle, diese Information zusätzlich zu geben? Insgesamtfällt auf, dass es sich auch in dieser Sequenz, wie zuvor, um einen Sollenssatz handelt. Sollenssätze als solche lassen sich als normative oder präskriptive Sätze charakterisieren, mit denen über persönliche Anforderungen hinaus, etwa verallgemeinerte, gesetzliche, moralische, ethische etc. Ansprüche oder aber auch Regeln oder Konventionen, die an Individuen, also Einzelne, oder Gruppen gestellt werden, zum Ausdruck kommen. Wiederum stellt sich die Frage nach dem legitimen Urheber, solche Ansprüche für diese Lebenspraxis festlegen zu können . Wer ist das Subjekt, das die Sollenssätze festlegt? Die Sequenz beginnt mit es. Dies steht gewöhnlich für etwas Unpersönliches oder eine Sache . Die persönliche Thematisierung des Sprechers zu Beginn des Sprechaktes wird nun entpersonalisiert. Wohlgeformt kann an dieser Stelle nicht mehr, wie zuvor noch möglich , die Lesart zutreffen, es handele sich um sachliche Vorgaben, die daraus resultieren können, eine Befragung durchführen zu müssen . Das sachliche Pronomen kann sich grammatisch nicht sinnvoll aufdie Befragung beziehen. Woraus resultiert das Sollen aber dann? Wenden wir uns noch einmal der Verwendung von aUe zu, womit stets eine Gesamtheit thematisiert wird: " Alle gehen heute ins Freibad!". In Sollenssätzen wie diesen wird besonders hervorgehoben, dass keine Ausnahmen gemacht werden, sondern Gleichheit herrschen soll: " Alle sollen satt werden ", " Alle Äpfel kommen in den Korb ". Innerhalb des gesamten Sprechakts lässt sich inhaltlich sinnvoll nur ein Bezug zu Schülerinnen und Schüler (Z. 36) herstellen, wobei dies dann allerdings die Frage aufwirft, wieso es überhaupt fraglich sein kann, dass damit nicht bereits aUe benannt worden sind; worin also sein zusätzlicher Informationsgehalt besteht. Es liegt umgekehrt der Schluss nahe, dass mit der zusätzlichen Information, so sie nicht redundant ist, die etwaige Vorstellung, es könne


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

131

bei der benannten Gruppe von Schülerinnen und Schülern Ausnahmen gemacht werden, nicht entstehen soll. Wennauch bisher unklar ist, wie die Schülergruppe zu charakterisieren ist, die hier befragt werden soll, so gibt doch die Hinzujügung der Information, dass alle befragt werden sollen, immer noch keine befriedigende Antwort. Man fragt sich : Wieso sollten denn nicht alle befragt werden? Die Ausweitung aufeine unqualifizierte Gesamtheit erzwingt umgekehrt dessen Eingrenzung anhand von Kriterien und somit sinnlogisch wiederum, diese zu explizieren, da wohlgeformt unmöglich die Gesamtpopulation aller Schüler überhaupt befragt werden kann. Nur die Gesamtpopulation wäre im wortwörtlichen Sinne ausreichend dadurch qualifiziert, aus Schülerinnen und Schülern zu bestehen. Andererseits wäre es wiederum sinnlogisch redundant, nachdem die Gruppe als solche doch schon spezifiziert wurde, nochmals darauf hinzuweisen, dass aus dieser Gruppe aUe befragt werden. Wahrscheinlich soll also betont werden, dass es keine Ausnahme geben darf und Gleichheit herrschen soll. Wobei so allerdings wiederum unklar bleibt, wieso aus dem bisherigen Sequenzverlaufüberhaupt zu schlussfolgern ist, dass mögliche Ausnahmen gemacht werden, und wer solche Bedenken hegen könnte. Prinzipiell könnten doch auch ebenso gut nur einige befragt werden und andere nicht. Gerade das soll aber augenscheinlich vermieden werden, indem im Vorhinein klar gestellt wird, dass alle befragt werden sollen. Es liegt nahe, hierin insgesamt auch objektiv den strukturlogischen Sinn des Anschlusses zu sehen. Der Ausdruck passiver Notwendigkeit dieser Sequenz lässt die Schüler als ebenso passiv erscheinen. Hatte sich doch zuvor noch ein eher aktiver Handlungscharakter ablesen lassen, wird nun deutlich, dass die Schüler als Befragte in passiver Rolle sind. Der Sprechakt insgesamt wirft die strukturlogische Frage auf, in welchem Zusammenhang persönliche Emphase, die den ersten Sprechaktteil im Sinne eines Wunsches getragen hatte, und der Ausdruck passiver Notwendigkeit stehen. Teilt sich am Anfang des Sprechakts ein Subjekt Lm durch persönliche Befindlichkeit mit, steht dem am Ende des Sprechakts mit Es ein doch vor allem unpersönlicher, somit quasi entsubjektivierter Ausdruck gegenüber. Vertraut man mit der Objektiven Hermeneutik weiterhin dem methodischen Gebot, das Interaktionsprotokoll wortwörtlich zu rekonstruieren, so lässt sich auch wieder nach den strukturlogischen Bedingungen des sinnlogischen Zusammenhangs fragen, dessen Ausdrucksgestalt hier vorliegt. Nehmen wir also noch einen weiteren Transkriptabschnitt hinzu, der wie folgt lautet:


132

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

[ .. . ] Also es sollen nicht nur diejenigen befragt werden, die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben als die hier in E. geborenen oder aus E. stammenden Kinder , (Z. 37-40)

Für den Interpretationsprozess lassen sich die folgenden Sequenzen isolieren: [ ... ] Also [ . .. ] (Z. 37)

In dieser Sequenz kann Also als ein das vorher Geäußerte präzisierender Anschluss verstanden werden. Es wird dann synonym mit folglich verwendet und hat die Funktion einer sinnlogischen Verknüpfung zwischen Sequenzen. Entweder wird dasselbe - das vorher Genannte - nochmals in anderen Worten ausgedrückt und damit paraphrasiert, was mit Bezug aufeine vorausgegangene Unverständlichkeit notwendig werden könnte. Oder es wird aus dem Vorangegangenen eine sinnlogische Folge expliziert. Gedankenexperimentell zum Protokolltext lassen sich folgende Verwendungsweisen von Also bestimmen: "Es istfünfUhr, also gehen wir (und warten nicht länger aufKlaus, der um vier da sein wollte). " Hier wird Also wieder im Sinne von folglich gebraucht oder als eine Alternative: Jemandfragt: " Wer kommt mit ins Kino? " und erhält als Antwort: "Also ich habe Lust. " Klarerweise wird es nicht im Sinn von folglich gebraucht, eher wird das " ich" betont: "Also ich habe Lust, wie sieht es mit Euch aus? "). WeitereAlternativen wären: Also gut! Also doch! Also los! Auch dies sind Formulierungen im Sinn von folglich. Lassen wir folglich als denkbare Verwendung von Also gelten, lässt sich der Anschluss ans Vorherige sinnlogisch so interpretieren, dass damit eine Explizierung von Implikationen, die das Vorherige latent enthalten hatte, angekündigt wird. Worin besteht aber der interaktions- und/oder sinnlogische Anlass, Implikationen zu explizieren? Liegt er darin begründet, dass die vorherige Sequenz Unverständliches beinhaltet oder liegt darin ein Verweis aufdie Interaktionspartner, sie könnten das gerade Formulierte nicht verstehen? [ ... ] es sollen [ .. . J(Z. 37)

Auffällig ist wiederum die Verwendung des unpersönlichen es, vor allem dann, wenn man das Pronomen mit der zu Beginn des Sprechakts thematisierten Lesart eines emphatisch geäußerten Wunsches von ich möchte gerne (Z. 33) verbunden liest: Die vordem die .A'ußerungdominierende Thematisierung der Person des Sprechers ich wird innerhalb kurzer Zeit - vier Zeilen - verlagert aufeine stark versachlichte Sprachform. Dies kann als ein weiterer Verweis aufdas für den Un-


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

133

terricht vorbereitete Programm interpretiert werden, wie dies schon im Zusammenhang mit der Semantik von durchführt rekonstruiert worden ist. Zieht man das folgende Verb, sollen, hinzu, so wird nahegelegt, dass sich das Angestrebte aus dem Unterrichtsplan ergibt, für dessen Erstellung die Verantwortung nichtsdestotrotz beim Lehrer liegt. Die A'ußerung lässt sich somit als eine Entpersonalisierung des Unterrichtsgeschehens verstehen, das zunächst als eine in Form des persönlichen Wunsches gekleidete didaktische Instruktion begonnen hatte. Der Sprechakt steuert also vom Persönlichen aufeine entpersonalisierte Position zu. Die Entpersonalisierung trägt zum Eindruck bei, dass das, was hiernach getan werden soll, der an die Schülerschaft der Klasse gerichtete Arbeitsauftrag, nicht länger von einem emphatischen Interesse getragen wird, sondern aus der sachlichen Notwendigkeit heraus geschehen soll. Das emphatische Ich in Ich möchte gerne, dass Ihr {...J (Z. 37) hingegen erforderte ein ebenfalls emphatisches Ich bzw. viele emphatische Iche als Gegenüber oder Adressaten. Darin war die Rede persönlich und erforderte daher als Wunsch auch eine (zustimmende) Antwort der Angesprochenen. Bezogen aufdie Frage der Bildung lässt sich sagen, dass sich die Notwendigkeit ausdrückt, die Schüler als Subjekte, also sozusagen persönlich, zu erreichen. Indem der Lehrer seine Person in die Vermittlung einbringt, fordert er die Schüler indirekt auf, sich ebenfalls aufdiese Weise einzubringen. Unterricht als soziale Interaktionsform scheint diese Involvierung weder aufdie Lehrperson noch aufdie Schüler bezogen von sich aus selbstverständlich zu leisten, sondern bedarfder aktualisierenden Thematisierung. Die vorherige Personalisierung lässt sich als Versuch verstehen, die zunehmende Entpersonalisierung, die sich hierin zeigt, und eine Art von Normalisierung darstellt, zu korrigieren. [ .. . ] nicht nur diejenigen [ ... ]

Die im Wortlaut von nicht nur diejenigen enthaltene Negation zeigt an, dass der Sprecher einen Grund oder ein Motiv zu sehen scheint, das vorher Benannte oder Vorstellungen, von denen er vermutet, sie evoziert zu haben, präzisieren, differenzieren oder korrigieren zu müssen . Mit nur diejenigen wird nämlich eine bestimmte Gruppe von einer anderen unterschieden. [ . . . ], die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben [ . . . ]


134

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Zu fragen ist demnach, was denn korrigiert oder differenziert werden soll. Der in der Sequenzfolgende Wortlaut, die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben enthält durch das Adjektiv andere eine Präzisierung der Ä·ußerung aus Zeile 38. Im Rahmen des Interaktionsgeschehens scheint der Ä'ußerung die implizite Annahme zu Grunde zu liegen, die Schüler hätten sich eine falsche Vorstellung davon gemacht, wer befragt werden soll, was durch die ÄUßerung korrigiert werden muss . Aufden Lehrer bezogen lässt sich dreierlei vermuten: er differenziert entweder, weil er selbst davon ausgegangen ist, korrigiert sich also selbst (Lesart I), oder weil er von den Schülerinnen weiß, dass sie davon ausgehen (Lesart I/) , oder weil sie es gar nicht besser wissen können (Lesart H/) . Als Thema der didaktischen Instruktion kann die Äußerung auch aufdas Programm Interkulturellen Unterrichts insofern bezogen werden, als andere synonym mit fremd gesehen werden kann. Der Eindruck wird verstärkt durch die Fremdheitsunterstellung, die mit dem BegriffBefragung zusammenhängt. Zieht man es sollen alle befragt werden (Z. 41) hinzu, so zeigt sich, dass die Ä'ußerung hinsichtlich ihres didaktischen Zwecks vollständig wohlgeformt ist. Die Ä'ußerung ist als Arbeitsauftrag eigentlich unmissverständlich, da sie doch vollständig die Adressaten alle und welche Aktion durchgefiihrt werden soll, sollen befragt werden, beinhaltet. Durch die sich aber anschließende Differenzierung wird im Unterricht eine mögliche Diskriminierung erst aufperformativer Ebene thematisch, die eigentlich durch die Negation unterstellter Vorurteile aufinhaltlicher Ebene vermieden werden sollte. [ ... ] als die in E 63 • geborenen oder aus E. stammenden Kinder, [ .. . ]

Das Fremde und Andere wird nun unausgesprochen, d. h. latent, verortet, indem das Nicht-Andere explizit geäußert wird. Beide Verortungen sind zunächst sozialräumlich zu verstehen. Erschließen lässt sich , dass nicht-andersfolglich all diejenigen sind, die in E. geboren sind und aus E. stammen und umgekehrt anders all diejenigen, die aus E. stammen, oder dort geboren sind. Geboren sein oder aus einer Region zu stammen, sind üblicherweise Formulierungen, mit denen Zugehörigkeiten in spezifischer Weise als Ethnie charakterisiert werden . Die Zuordnung im fallspezifischen Wortlaut wird jedoch etwas eigentümlich formuliert, und zwar im sozialräumlichen Zusammenhang einer Stadt (EJ. Wir reagieren als Rekonst63

Die Abkürzung kommt der Verpflichtung nach, das Transkriptionsmaterial zu anonymisieren . Für die Rekonstruktion ist es aber wichtig zu wissen , dass an dieser Stelle eine mittlere Großstadt erwähnt wird und nicht etwa eine Nation wie England oder Eritrea.


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

135

rukteure im Rahmen der ObjektivenHermeneutik an dieser Stelle allerdingsnicht normativ aufdas Geäußerte, unterstellen dem Sprecher also nicht etwa Unwissen darin , Zugehörigkeitskategorien zu verwenden. Der Wortlaut ist hingegenunter der Prämisse der Wörtlichkeitzu lesen. Wirmüssen also nach dem sich aufdiese Weise objektiv artikulierenden Sinn der widersprüchlichformulierten Sequenzfragen. So lässt sich jetzt erst einmal vermuten, dass davon ausgegangen wird, Kinder, die in E. geboren sind oder aus E. stammen, bildeten tatsächlich ein spezifisches Konzept von Kultur und Heimat aus, die Kinder, die in anderen Städten geboren sind oder aus anderen Städten stammen qua Geburt undAbstammung nicht teilen (Lesart 1). Oder man legt dies im Sinne des pädagogischen Lebensweltbezuges aus, dass also eigentlich eine größere Einheit, etwa ein Land, gemeint ist, aber unterstellt wird, dies sei zu abstrakt und der unmittelbarereBezug fiir die Schülerinnensei eben die Stadt als Lebensraum, aus dem sich Vorstellungen über Heimat und Kultur speisen. (Lesart 11). Bei den in diesemFall adjektivischgebrauchten Verben geborenund stammen drückt sich zudem die über Geburts- oder Abstammungsrechtjuristisch geregelte Nationalitätszugehörigkeitaus, die aber eben nicht offen ausgesprochenwird. Bis zu dem Zeitpunkt an dem das Zuwanderungsgesetzverändert worden ist, galt etwafiir Deutschland das Abstammungsrecht. Entscheidendfiir die nationale Zugehörigkeit bei Geburt eines Kindes war die Herkunft seiner Eltern (ius sanguinis - wörtlich Recht des Blutes). Dies ist am 01.01.2000 geändert worden, sodass es seit dem auch geburtsortrechtlicheMöglichkeiten (ius soli - wörtlich Recht des Bodens) enthält. Je nachdem, wie man die Konjunktion oder fasst, einschließend oder ausschließend, sind unterschiedliche Sinnkontexte möglich. In der Sprache des Falles ist bislang nicht möglich, zu entscheiden, welche der Lesarten strukturbildend sein wird, aber es lässt sich festhalten, dass Heterogenität und Differenz in spezifischer Weise eingeführt wird. Die Schülerschaft wird diversifiziert und zwar nach dem Ort ihrer Geburt und ihrer Abstammung, also nach ethnischenKategorien.64 Es werden also Schüler thematisiert, die in der Stadt E. geboren sind und aus ihr stammen, und solche, die nicht aus dieser Region stammen bzw. in einer anderenRegion geboren sind. Lesart I beinhaltetjedoch eine sinnlogische Schwäche. Fachsprachlich lässt sich nämlich sozialräumliche Zugehörigkeit aufStädteebene nur schwer in ethnischen Kategorien der Zugehörigkeit qua Geburt und Abstammung ausdrücken. So lässt sich zwar sagen, dass Mitgliedereiner sozialräumlichenKultur zunächst in diese hineingeboren werden, 64

Nach Max Weber (Weber, 1972) kann eine Ethnie als soziale Kategorie nur aufgrund subjektiv vorgestellten Glaubens an eine gemeinsame Abstammungsgeschichte eine Quelle fiir das Gemeinschaftshandeln ausmachen.


136

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

sich aber die vergesellschaftende Qualität doch vielmehr aus Ähnlichkeiten ihrer Lebenslagen ergibt. Höbe man aufKultur ab, spräche man von Lebensstilen, die sich sozialräumlich und stratifizierend, bzw. milieuspezijisch ausbilden können. Die Lesart krankt dann aber daran, zusätzlich als Kontextinformation hinzuzunehmen, Lm spreche nur in einer sehr eingegrenzten, beinahe nicht mehr wortwörtlichen Weise über sozialkulturelle Zugehörigkeit im obigen Sinne . Es fällt zudem auf dass die Anrede von Schüler und Mitschüler hier zu Kinder wechselt. Darin zeigt sich, dass die Schülerschaft hinsichtlich ihrer persönlichen Familiengeschichte - geboren, abstammen von - angesprochen wird. Die Schüler sind in ihrer ganzen Person gemeint, was umgekehrt eben nichts mit ihrem Schülerdasein zu tun zu haben scheint. Dies stellt zum einen ein weiteres Indiz fiir die Lesart dar, der persönlichen Emphase des Lehrers möge doch eine persönliche Emphase der Schüler als Personen entsprechen, wie es andererseits im Sinne der Abstammungskategorie wohlgeformt ist, jetzt von Kindern zu sprechen. [ ... ], sondern es sollen alle befragt werden.

[ ... ]

(Z.400

sondern unterstreicht die Gegenüberstellung und den Charakter der schon interpretierten Korrekturfunktion der vorhergehenden Ä·ußerung. Dabei gerät dann in den Blick, dass der Wortlaut es sollen alle befragt werden aus Zeile 36fbis auf die Konjunktion exakt wiederholt wird. Der Grad an Präzision kann anscheinend in der Formulierung des Lehrers nicht überboten werden , sodass es naheliegt. die Ä'ußerung zu wiederholen. Dennoch wurde in einer Schleife (Z, 37-40) die Äußerung differenziert, die jedoch nicht durch eine dem Protokoll zu entnehmende Sprachhandlung - etwa eine Bemerkung seitens der Schüler - motiviert wurde. Vielmehr wurde eine hypothetische (kognitive) Reaktion vorweggenommen, die sofort negiert und dadurch obsolet wurde. Der vorhergehende Verdeutlichungsversuch seitens des Lehrers hat sich durch die Interpretation als ausgesprochen problematisch erwiesen, da er mit Fremdheitsunterstellungen operiert, die zum einen prekär sind und dadurch zum anderen als Konstruktion im Unterrichtsgeschehen gerade erst virulent werden. Vergleicht man jetzt alle mit alle aus Zeile 37 undfragt sich, worin eine Differenz bestehen könnte, so lässt sich sagen, dass sich es um eine durch political correctness moralisch aufgeladenes alle handelt, in der sich Benennungsprobleme spiegeln. Es wurde nun einmal die extensive Lektüre einer Unterrichtssequenz aufdie Art und Weise durchgefiihrt, wie sie fiir das komplette dieser Studie zugrundeliegende empirische Material vorgenommen worden ist. Sie hier so detailliert auf-


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

137

geführt zu haben, hatte den Sinn, über das forschungsmethodische Vorgehenforschungspraktisch aufzuklären . Es wird deutlich , wie umfangreich und textgenau gelesen, rekonstruiert und protokolliert wurde und wie es zu den weiteren Ergebnissen gekommen ist. In den folgenden Fallminiaturen wird demnach nur noch dann so explizit wie hier extensive Lektüre betrieben, wenn dies zur Plausibilisierung strukturlogischer Ausdeutungen besonders dienlich ist. Dass jeder folgenden Ausdeutung dieser komplexe Prozess zugrunde liegt, ist somit dokumentiert. Ab hier kann die Nähe zum Protokoll verlassen werden, um aufdie Ebene weiterführender strukturtheoretischer Überlegungen zu wechseln. Es werden die Rekonstruktionsergebnisse, die sich bis hierher ergeben haben, und ihre strukturlogischen Auffälligkeiten zusammengefasst und die diesbezüglich aufgeworfenen Fragen gebündelt. Zudem werden Strukturhypothesen aufgestellt, die sich dann in der Rekonstruktion des weiteren Materials bewähren müssen und theoretisch kontextualisiert werden.

Strukturlogische Ausdeutung

Wunsch versus Notwendigkeit Interpretiert man die Grundstruktur ich möchte gerne, dass ihr als schulischen Arbeitsauftrag hinsichtlich denkbarer wohlgeformter Anschlüsse, so wird der Anschluss seitens der Schülerschaft: "wir aber nicht" nur möglich, wenn eine Kooperationsbereitschaft aufgekündigt wird, die also umgekehrt Bedingung der Möglichkeit des Handeins zwischen Schülerschaft und Lehrpersonal sein muss, damit Unterricht stattfinden kann. Kooperation ist als eine die Praxis ermöglichende Konvention zu sehen. Folglich lässt sich fragen, warum diese Äußerung so ausfällt, wie sie ausfällt. Warum wird sie als Bitte vorgetragen? Sollen die Schüler zu etwas überredet oder von etwas überzeugt werden? Warum müssen sie überhaupt überzeugt oder überredet werden? Kooperiert wird in der Regel unter Gleichrangigen, unter Partnern, die einen vollen Subjektstatus haben, was deutlich wird, wenn man die Äußerung beispielsweise mit ihrem Gegenteil, dem Imperativ, kontrastiert. In diesem Fall muss keine Kooperationsbereitschaft seitens derjenigen vorliegen, die den Befehl ausführen sollen. Sie sind nicht als Subjekte mit eigenem Willen angesprochen, sondern als Untergebene, als Ausführende eines heteronomen Willens. Interessant für Unterrichtspraxis ist die Antwort auf die Frage, worin sich eigentlich die Kooperation genau ausdrückt? Sie scheint darin zu bestehen, dass die Schüler zumindest temporär eben auf ihren Subjektstatus verzichten müssen zugunsten des Bildungsversprechens, das ihnen gemacht wird, sie zu Subjekten zu machen. Hierin könnte ein


138

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Grund liegen, an dieser Stelle die spezifische Höflichkeitsform zu verwenden, um im Gegensatz zum Befehl einen Arbeitsauftrages zu erteilen. Verfolgt man dennoch die emphatische Lesart weiter, so muss im Fortschreiten der Kommunikation gelten, dass die Schiller nur dann als volle Subjekte angesprochen werden können, wenn ihnen Gelegenheit gegeben würde, sich zu dem vom Lehrer an sie herangetragenen Wunsch frei verhalten könnten, indem beispielsweise der Lehrer eine Redepause macht und den Schüler damit Gelegenheit gibt, sich zu äußern. Nur aufdiesem Weg könnte die Lesart des emphatischen Wunsches strukturell jenseits der Intention des Sprechers im Interaktionsgeschehen glaubhaft relevant werden. Dies geschieht allerdings nicht. Zunächst lässt sich als auffällig für die Strukturlogik des fallspezifisch zu rekonstruierenden Unterrichts das Verhältnis von Wunschgefüge und passiver Notwendigkeit herausarbeiten. Wie gesehen, beginnt die Sequenz sprechaktlogisch mit der Äußerung eines persönlichen Wunsches, der sich im Verlauf des Sprechakts in sein Gegenteil, eine entpersönlichte passive Notwendigkeit auszudrücken, verkehrt. Da auszuschließen ist, dass letzteres aus der Durchfiihrung der Sache, dem Unterrichtsgegenstand, eine Befragung durchzufiihren, resultiert, stellt sich die Frage nach seinem strukturlogischen Sinn im Kontext von Unterricht, auf'welehe interaktionsbezogenen Strukturbedingungen diese Form der Interaktionseröffnung reagiert. Ein Arbeitsauftrag lässt sich erwarten, kleidet der Lehrer diesen aber in die Form eines Wunsches, so weicht das von den Normalitätserwartungen an Unterricht ab. Sie werden aber spätestens dann wieder eingeholt, wenn Lm benennt, was getan werden soll. Für eine Wunschäußerung lassen sich interaktionslogische Voraussetzungen festhalten. Einen Wunsch äußert, wie bereits durch die extensive Lektüre festgehalten,jemand, dem es nicht in seine Wirkmächtigkeit gestellt ist, das Ziel seines Wunsches aus seinem eigenen Vermögen heraus selbst zu verwirklichen. Richtet ein Sprecher sich an andere, sie mögen ihm doch seinen Wunsch erfiillen, so drückt sich darin seine Hoffnung oder, weniger emphatisch, seine Vermutung aus, die Angesprochenen könnten den Wunsch auch erfiillen. Die Interaktion, einen Wunsch an jemanden zu richten, rückt die Interaktionspartner in ein reziprokes Verhältnis, denn einem Wunsch zu entsprechen, kann prinzipiell vom Adressaten des Wunsches auch ausgeschlagen werden. Aber: Wird die Erfiillung des Wunsches dem Wünschenden abgeschlagen, so können sie dies nur unter Angabe von guten Gründen tun, die erklären, wieso es ihnen nicht möglich ist, dem an sie gerichteten Wunsch zu entsprechen, ansonsten würde gegen das, mit der Wunschäußerung verbundene, Verpflichtungsgefüge verstoßen und damit die persönliche Integrität des Wünschenden verletzt werden. Insofern nimmt die Wunschäußerung den Adressaten in


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

139

eine moralische Pflicht. In eine Verpflichtung aus freien Stücken allerdings. Pflicht setzt da Freiheit voraus. Den Wünschenden jedoch ruckt sein Wunsch, den er an den oder in diesem Falle die anderen richtet, in eine zunächst untergeordnete Interaktionsposition, da er damit deutlich macht, etwas stünde nicht in seiner Macht, was aber gerade in der Macht der Adressaten stehe. Bezieht man dies aber auf das gewöhnlich interpretierte asymmetrische Rollenverhältnis zwischen Lehrern und Schülern, so erscheint der Befund paradox, da sich doch das übliche Verhältnis genau umkehrt. Ist der Lehrer für gewöhnlich gegenüber dem Schüler mit institutioneller Macht ausgestattet, zeigt er in diesem Fall mit Beginn seiner Äußerung an, sich in die Abhängigkeit seiner Schüler zu begeben, denn es liegt zunächst nicht an ihm, durchzusetzen, was er gern möchte. Dieser Zusammenhang macht strukturlogisch in schulischen Zusammenhängen erst dann Sinn, wenn man sich vor Augen fiihrt, dass das Ziel wohl nicht allein darin besteht, bloß auszufiihren, was der Lehrer von den Schülern will, denn das könnte er doch qua Berufsrolle verlangen und folglich auch erzwingen, es stünde also in seiner Macht, sondern dass das Erwünschte auf eine bestimmte Art und Weise geschehen soll. Der didaktischen Instruktion, eine Befragung durchzufiihren, soll nicht einfach Folge geleistet werden, wie man es von Schülern in ihrer Rolle erwartet, sondern die Schüler sollen dies jenseits ihrer Rolle als individuelle Personen aus freien Stücken tun. In diesem Zusammenhang findet die Thematisierung der Person des Lehrers auch ihren interaktionslogischen Sinn. Darin drückt sich nämlich der Wunsch aus, die Schüler mögen ebenso persönlich in den Unterricht einsteigen, wie es der Lehrer von sich als Person zum Ausdruck bringt. Der Emphatisierung des Sprechakts entspricht also die Hoffnung auf eine emphatische Bildungspraxis, in der Personen jenseits ihrer rollenförmigen Beziehungen sich aus freien Stücken einer Sache zuwenden, sich also als Subjekte ihrer Bildungspraxis erweisen. Das bedeutet an dieser für den weiteren Interaktionszusammenhang zentralen Stelle der Unterrichtseröffnung gleichzeitig aber auch, dass damit strukturlogisch zum Ausdruck kommt, davon auszugehen, Schüler täten dies im Unterricht nicht selbstverständlich von sich aus, sondern es erst einigen Aufwandes bedarf, hier des emphatisch vorgetragenen Wunschverpflichtungsgefüges, um sie in das Unterrichtsgeschehen zu involvieren und es damit als Prozess in Gang zu setzen. Denn indem thematisiert wird, dass Schüler sich als Personen für den Unterricht freiwillig verpflichten lassen mögen, wird ihnen umgekehrt signalisiert, dass der Unterricht nicht ohne diese Thematisierung bleiben kann. Es lässt sich somit eine latent paradoxe Struktur in der Eröffnung der Lebenspraxis Unterricht


140

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

fallspezifisch rekonstruieren. Denn mit der Erwähnung ihrer Voraussetzung wird sie gleichzeitig dementiert." Mit weiterem Verlauf des Sprechakts stellt sich dann wieder eine gewisse Normalisierung im Sinne eines erwartbaren asymmetrischen Rollenverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler ein. In der passiven Notwendigkeit zeigt sich nämlich die Heteronomie des Lehr-Lernzusammenhangs für die Schüler im institutionalisierten Unterricht. Mit diesem Sprechaktteil wird der schulische Zwang aufder mikrologischen Ebene der Unterrichtsinteraktion sinnlogisch greifbar. Wiederum wird in der Folge den Schülern signalisiert, dass die Institution Schule nicht daraufvertraut, dass sich die Schüler als autonome Subjekte der Sache zuwenden. Die Instruktion, die sie motivieren soll, dementiert damit ihre Voraussetzung. Hatten die Schüler in Bezug auf die Wunschäußerung des Lehrers noch die interaktionslogisehe Möglichkeit, diesem nicht zu entsprechen, so wird mit der entpersonalisierten Sollensanforderung schnell deutlich, dass hier im Falle einer dauerhaften Ablehnung mit Sanktionen gerechnet werden muss . Dies lässt sich schnell nach65

Interpretiert man die ProtokollsteIle übrigens mit Studierenden des Lehramts, wie auch in diesem Falle geschehen, quasi unter Heranziehung ihres impliziten Kontextwissens über institutionalisiertenUnterricht, den sie mindestens 13 Jahre besucht haben, so sind diese zumeist in überwältigender Anzahl und beeindruckender Unmissverständlichkeit geneigt, die Äußerung des Lehrers sofort als bloße Höflichkeit, die Wunschäußerung also als Floskel zu werten und somit bereits vorab die Wahrhaftigkeitdes Sprechers zu bezweifeln. Ihre bereits sozialisierten Deutungen von Unterricht als institutionalisierterForm, welche unter der Maßgabe künstlicher Naivitätforschungsmethodisch zwaralsVorurteile einzuschätzen undsomitrekonstruktionslogisch irrelevantsind, führt augenscheinlichzu der Annahmeseitens der Interpretierenden, es kann sich bei Lm im Unterricht nicht um einen authentischen Sprecher, der einen glaubhaften Wunsch äußert, handeln. Die seitens der Studierendenvorgetragenen Interpretation der mikrologischen Unterrichtssequenz stellt forschungsmethodisch gesehenzwar in ihrer spontanenReflexhaftigkeit ein Verstoß gegen die objektiv hermeneutisch gebotene methodische Pflicht dar, sich auf die Wortwörtlichkeitdes Protokolls zu verlassen, also nicht apriori einen voreingenommenenoder gar pathologischen Sinn in Bezug auf die Sprecher zu unterstellen, rekurriert sie doch auf eine vermuteteinnerepsychischeDisposition,auf die Wahrhaftigkeit des Sprechers,der zu misstrauen das sprachlichprotokollierteMaterialjedoch bislangkeinenAnlass gibt. Dennochlässt sich diese Einschätzung des Lehrerhandelns vielleicht als ein Indiz fiir die sozialisierendeKraft und mit ihm etwas Systematischesüber institutionalisiertenUnterricht vermuten. In der Gruppendiskussion,die mit Schülern durchgeführtwurde, äußern diese übrigens, den Lehrer nicht in riskante Situationen bringen zu wollen, schließlich habe er sich doch etwas fiir den Unterricht ausgedacht. Eine Schülerinerwähnt, die didaktische Instruktionprinzipiell nicht problematisieren zu wollen, denn: "Ja, ich sag' jetzt mal, da hätte der Herr T. wahrscheinlich so'n bisschen verletzt darauf reagieren können, denn der hat sich das ja jetzt ausgedacht" [Zeile 953ff.]. Die Rekonstruktionen,die in einem Hauptseminardes Lehramtsstudiwns zu Fragen des Unterrichtserarbeitetwurden,übernahmen fiir das Forschungsprojektdie AufgabeeinesKorrektivs. Auf diesemWegesind manche Rekonstruktionen bestätigendgegengelesenworden. Sie sind hier als weiterer Plausibilisierungshinweis zu verstehen und stellen kein hauptsächlichesArgwnent zur Verifizierung der Rekonstruktionendar.


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

141

vollziehen, in dem man an den Sprechakt des Lehrers gedankenexperimentell ein "wir aber nicht" seitens der Schülerschaft anschließen lässt. Die in extensiver Lektüre charakterisierte Entpersonalisierung verdeutlicht aber nicht nur den Zwang zur Kooperation in Bezug auf die Schüler, denn sie ist ebenso Ausdrucksgestalt dafür, dass nun auch der Lehrer vom personifizierten Geschehen ausgenommen ist. Zwar bleibt er Akteur, da er es ist, der die didaktische Instruktion formuliert, doch dementiert der unpersönliche Ausdruck gleichzeitig seine zu Beginn des Sprechakts selbst thematisierte Subjektivität. Fast erscheint es so, als werde durch die Entpersonalisierung nahe gelegt, es läge nicht mehr in seiner Verantwortung zu instruieren, was anschließend getan werden soll, sondern eine unpersonifizierte Macht dies zu tun verlange. Darin mag ein individuelles Deutungsmuster des Lehrers bezüglich seiner Tätigkeit im Unterricht deutlich werden, allgemein strukturlogisch interessant ist daran, dass dabei zum Ausdruck kommt, inwieweit schulischer Zwang sich eben auch aufihn und seine Tätigkeit in der Lehrerrolle erstreckt. Die strukturelle Aberkennung der Schüler als Bildungssubjekte trifft ihn gleichermaßen/"

Routine versus Krise In Bezug auf Unterrichtspraxis lässt sich festhalten, dass genau dies insgesamt die an dieser Sequenzstelle rekonstruierbare Logik ist. Sie wurde mit Beginn des Unterrichts installiert und löst damit die Krisenhaftigkeit des Beginns durch den Lehrer mittels Routine. Diese Routine besteht genau darin, beide sich widersprechenden Logiken so auszutarieren, dass sie die Unterrichtspraxis in Gang setzen, folglich objektiven schulischen Zwang und subjektives Bildungsinteresse miteinander praktisch zu vermitteln. Der Lehrer versucht, die widersprüchlichen Ansprüche schulischer Praxis mit einer Charismatisierung seiner Person zu emphatisieren, indem er, wie gesehen, seine Persönlichkeit ins Spiel bringt und somit den Bruch zu heilen versucht. Die grundsätzlichen Strukturprobleme werden dadurch als solche vom Lehrer zwar nicht aufgehoben, doch praktisch bearbeitet. Darin, sich selbst als Person ins Spiel zu bringen, mag subjektiv seine technische Lösung und somit seine Bearbeitung des strukturellen Problems bestehen." Im Wunsch66 67

Illustrativ lässt sich hier die gedankenexperimentelle Frage stellen, was wäre, wenn Lehrer wie Schüler gemeinsam ihren Bildungsinteressen nachgingen. Eine gemeinsame Zuwendung zur Sache scheint im institutionalisierten Unterricht so gut wie überhaupt nicht vorstellbar zu sein. Dieser Zusammenhang, also das Verhältnis zwischen objektiven Strukturbedingungen schulischer Praxis und seiner subjektiven Bearbeitung seitens des Lehrpersonals ist fiir das Forschungsvorhaben nicht weiter verfolgenswert, geht es doch darum , auf der Ebene allgemeiner Strukturen um das Verhältnis zwischen institutioneller Logik und einem noch zu rekonstruierenden Unterrichtskonzept Interkulturellen Unterrichts. Dennoch stößt man in der Rekonstruktion natürlich auf die individuellen Bearbeitungen seitens des Lehrers. Hieran könnte sich weitere Forschung


142

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

charakter des Sprechaktes liegen objektiv aber sowohl Bruch der Praxis, wie dessen Heilung begründet. Reicht es strukturlogisch in Bildungszusammenhängen offenkundig nicht aus, allein auf den institutionellen Zwang zu setzen, fordert der Wunsch eine freiwillige Verpflichtung auf die sich anschließend er öffnende Interaktionspraxis ein. Den so latent thematisierten Widerspruch aber zwischen Zwang und Verpflichtung aus Freiwilligkeit schminkt die mit dem Wunsch verbundene Aussicht auf eine Bildungspraxis aus freien Stücken gleichzeitig wieder zu, indem die so er öffnete Praxis durch das persönliche Einbringen des Lehrers charismatisiert wird. Aber auch dieser Heilung wird quasi sofort misstraut, da der Zwang dann doch noch einmal zur Erwähnung kommt, indem zum Abschluss wieder auf eine entpersönlichte passive Notwendigkeit abgestellt wird, was nicht länger erwünscht wird, sondern nur getan werden soll . Die bisher ausgedeuteten strukturlogischen Besonderheiten verdeutlichen vor allem die Logik der Bildungspraxis in der Institution Schule im Allgemeinen. Forschungsmethodisch gesprochen, müssen wir heuristisch davon ausgehen, es stellte sich mit jedem Unterrichtsneubeginn auch eine potenziell neue Krise ein, in der die Akteure der Praxis vor dem Hintergrund der Institutionellen Logik so handeln, dass sich die krisenhafte Praxis in Routinen überführen lässt. An dieser Routine eines praktischen Unterrichtseinstiegs die Logik institutioneller Bildungspraxis rekonstruktiv abzulesen, ist in der bisherigen Darstellung gelungen. Allerdings haben wir damit noch nichts über spezifisch Interkulturellen Unterricht erfahren, sondern eine solche Eröffnungsfigur, wie diese, ist bis auf weiteres auch in anderem als Interkulturellem Unterricht plausibel erwartbar, kommt doch durch die Rekonstruktion vor allem etwas Allgemeines über schulische Unterrichtspraxis jenseits seines spezifischen Inhalts zum Vorschein. Die latenten allgemeinen institutionellen Regeln und ihre Logik werden hier in der Rekonstruktion in ihrer Sinnlogik greifbar.

Gleichheit versus Differenz Die weiteren strukturlogischen Besonderheiten, welche sich über die gerade ausgedeutete hinaus ergab, wird in Bezug auf spezifisch Interkulturellen Unterricht anschließen. Die Verwendung des Begriffes technisch mag an dieser Stelle verwirrend sein. Selbstverständlich sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Professionalisierungstheorie (CombelHelsper 1996) pädagogische Berufe als nicht technologisierbar zu charakterisieren. Denn: Die Komplexität und seine stets wechselnde Situationsgebundenheit des pädagogischen Berufs lassen standardisierbare Verfahren in der Problembearbeitung nicht zu. Insofern kann hier nicht die Rede von Technik sein, aber die Strukturprobleme, welche hier zum Ausdruck kommen, müssen dennoch von Lehrern bearbeitet werden , indem sie in eine praktische Lösung überfiihrt werden. Technisch soll hier in diesem Sinne verstanden werden.


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

143

aufschlussreicher sein. Wie erinnern uns: Schiller sollten mit einer anderen Schülergruppe eine Befragung über deren Heimat und Kultur durchführen. An diesem Arbeitsauftrag erschiene auch nichts weiter auffällig, wenn er nicht durch den Verweis darauf, dass alle befragt werden sollen, ergänzt worden wäre, obwohl die Kriterien der Gruppe bereits ausreichend qualifiziert worden waren. Worin besteht aber die Sinnlogik einer solch eigentümlichen Redundanz? Für die Durchführung einer Befragung ließen sich strukturlogische Grundvoraussetzungen herausarbeiten. Jemanden zu befragen heißt, Fragen an ihn zu richten. Fragen zu stellen, setzt grundsätzlich Unwissen und Unkenntnis des Erfragten beim Fragenden, Wissen und Kenntnis beim Befragten voraus. Soll sich die Befragung thematisch auf Heimat und Kultur beziehen, so setzt dies folglich voraus, dass diejenigen, die fragen, diesbezüglich etwas nicht wissen, was diejenigen, die antworten, aber wissen können. Ist etwas fraglich in Bezug auf Dinge oder Sachverhalte lässt sich von Unkenntnis oder Unwissen sprechen. Bezieht man Unwissen auf Personen lässt es sich auch als Fremdheit identifizieren: etwas erscheint einem fremd, weil man nichts darüber weiß . Da sich die Befragung aufdie Heimat und Kultur von Schülerinnen und Schülern beziehen soll, droht nun die soziale Konstellation, ihnen in der Interaktion die Rolle von Fremden zuzuweisen. Fremdheit folglich vorab zu unterstellen und sie damit didaktisch zu initiieren. Bereits in der extensiven Lektüre wurde deutlich, dass der Begriffder Heimat" auf eine stark emotional aufgeladene persönlich-biografische Verortung verweist, während Kultur den, wenn auch weiteren, so doch sachlicheren Bedeutungsumfang aufweist. 69 In dieser Logik wird die Fremdheit gewissermaßen dadurch abgefedert, dass alle befragt werden sollen. Damit droht dann zumindest nicht, eine Gruppe zu isolieren, sie als Fremde gar zu stigmatisieren, sondern indem alle von allen befragt werden, ist in der Sprache des Falles jeder jedem ein Fremder. Zum interaktionslogischen Sollen in Gestalt einer Pflicht aus freien Stücken oder des institutionslogischen Zwangs, gesellt sich ein Sollen aus moralischer Notwendigkeit hinzu. Es 68

69

Der Begriffder Heimat scheint in den letzten Jahren eine Renaissance durch zu machen, nachdem er vor allem in Deutschland während der Nationalsozialistischen Diktatur ideologische Züge angenommen hatte und mit ihm eine nationale Pseudoidentität stiftende nach innen gerichtete Politik, die ihre ausschließende bis zur gewaltförmigen Vernichtung gesteigerte Kraft bekommen hatte , betrieben wurde , und Heimat auch danach in den 50er Jahren mit klischeehaften Zügen, Stichwort Heimatfilm, die Sehnsucht der Nachkriegszeit nach Heimeligkeit unterstrich und der Begriffdadurch von einem sich als linksemanzipativ verstehenden Milieu abgelehnt wurde. Selbst Autoren, die letzterem nahe stehen wie Christoph Türcke, interessieren sich wieder fiir diesen belasteten Begriff (vgl. Türcke 2006). Heimat stellt er in seinem gleichnamigen Essay in den politischen Zusammenhang fortgeschrittener Mobilität und Flexibilität, die er als Heimatlosigkeit kennzeichnet. Vgl. zum Diskurs der Interkulturellen Pädagogik über den KuiturbegriffKapitelA dieser Arbeit.


144

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

sollen alle befragt werden, damit einzelne nicht isoliert werden. Damit bearbeitet die didaktische Instruktion das mit Interkultureller Pädagogik verbundene Strukturmerkmal von Gleichheit und Differenz. Indem die didaktische Instruktion die Schüler alle als Befragte gleich behandelt, versucht sie den befürchteten Folgen, dadurch, dass Differenz thematisiert werde , könne es zu Stigmatisierungen kommen, sozial kommunikativ zu entgehen. Das Strukturproblem wird, bevor es als fallspezifisches Problem virulent wird, didaktisch bearbeitet. Indem in der Befragung alle für sich different sind, werden sie im didaktisch-technischen Sinne Gleiche. Der Sprechakt thematisiert also bisher Unthematisiertes: er macht deutlich, wie auf Schwierigkeiten vorweg reagiert wird, ohne dass Probleme, die zu beheben wären, überhaupt praktisch entstanden sind. Woraus entstehen diese Probleme dann aber? Sie ergeben sich strukturlogisch aus der didaktischen Instruktion, eine Befragung unter den Schülern mit den Schülern durchführen zu lassen. Sie birgt das Risiko, indem die eine Gruppe Fragen an die andere stellt, diese zu Auskunftsgebem jener werden zu lassen. Sie werden in diesem Sinne also instrumentalisiert, weil die Befragung nicht aus freien Stücken entsteht. Das wäre erst dann der Fall, wenn die Schüler tatsächlich Fragen hätten und diese von sich aus stellten, ohne dazu erst extra aufgefordert zu werden. Diesem drohenden Instrumentalisierungscharakter versucht die didaktische Instruktion vorab zu begegnen, indem sie quasi eine Versicherung einbaut. Das interkulturelle Szenario baut sich auf, um Schüler als Fremde undAuskunftsgeber abzufedern. Indem alle alle befragen, also auf einen Wechsel zwischen der Rolle von Fragenden und Befragten vertraut wird, soll deren doppelte Diskriminierung sowohl als Frageobjekte als auch als kulturell Fremde verhindert werden, dies ist hier der strukturlogische Sinn. Umgekehrt zeigt ein kontrastierender Vergleich mit einem außerschulischen Szenario die den Fall strukturierende Kraft der schulischen Institution. Nichts liegt authentisch näher als aufUnwissen mit Fragen zu reagieren und die Personen, die etwas machen, was einem fremd ist, danach zu fragen, warum sie das tun, was und wie sie es tun. Jeder kann Auskunft über etwas geben, womit er sich auskennt, ohne dass dieser sich damit instrumentalisiert fiihlt. Warum ist dies in schulischen Zusammenhängen augenscheinlich so nicht möglich? Auf einer materialen Sinnebene lässt sich sagen, die Unmöglichkeit ergibt sich aus der besonderen Instruktion, Fragen der Schüler gar nicht erst entstehen zu lassen . Sie ist aber bereits in ihrer strukturlogischen Konsequenz zu werten, auf den schulischen Zwang zur Unauthentizität reagieren zu müssen. Die Instruktion unterstellt Fragen bereits, ohne dass sie entstehen konnten, sie inszeniert die Befragung, deren Voraussetzung, nämlich Fragen zu haben, sie nicht mehr ermöglicht. Nicht ermöglichen kann. Insofern ist sie funktional, um Unterricht tech-


1. Fremdheitsunterstellung zwischen Personalisierungund Entpersonalisierung

145

nisch zu bearbeiten. Aus bildungsbezogener Sicht, beinhaltet sie strukturell aber die Aberkennung, Fragen zu haben. Sie setzt voraus, was sie eben nicht mehr einholen kann. Als ihre Schattenseite wird deutlich, dass Schüler dabei das Personal der Befragung abgeben müssen, sie sind also auch in der Rolle der Fragenden bereits Objekte. Was läge also als Lernstrategie näher, darauf mit der Erfindung von Fragen, die man nicht hat, zu reagieren. Dies spiegelt sich in der Unterrichtsinteraktion mit den Schülern wider. Der Unterricht ist zäh, die Fragen werden eher erzwungen, denn aus Interesse gestellt. Es ist dringend notwendig, diese Strukturlogik auch unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Es ist ja tatsächlich nicht in die Macht des Lehrers gestellt, dass Schüler sich als Personen mit den Unterrichtsinhalten beschäftigen, als wären die Inhalte Resultat ihrer zuvor gestellten Fragen. Die Anforderungen der Schule und ihre curriculare Verfasstheit verlangt von den Schülern sich als Personen über die Rollenförmigkeit, an die sich soziale Erwartungen knüpfen, hinaus , in den Unterricht aktiv einzubringen. Hiermit wird in mikrologischer Perspektive die Spezifik dieser Bildungspraxis deutlich, denn genau die Bildung der Subjekte ist in diesem Sinne unverfügbar. Sie setzt deren persönliche Bereitschaft, sich mit den Unterrichtsinhalten zu beschäftigen, und ihre persönlichen Welterschließungsweisen voraus. Sich also aus freien Stücken, autonom, mit den Inhalten auseinander zu setzen. Die bisherige Strukturlogik enthält aber eine stetige Desillusionierung und Enttäuschung der Schüler. Beides ist jedoch sinnlogisch zusammen zu denken, und erhält daraus erst den vollen strukturlogischen Sinn. Dies lässt sich aus professionalisierungstheoretischer Sicht (etwa Helsper 1996) reformulieren. Nur weil aufAutonomie abgestellt wird, lässt sich die Heteronomie ertragen, wie andererseits der Autonomie, nicht persönlich sondern strukturlogisch stets misstraut wird, indem auf Heteronomie umgestellt wird. Diese Paradoxie oder Ambivalenz zeigt die Professionalisierungstheorie ebenso auf, wie das für den Sprechakt ebenso charakteristische und fallspezifisch ausgeformte Verhältnis von Nähe und Distanz. Dem etwaigen Misstrauen begegnet Lm dort mit persönlicher Emphase. Er steht sozusagen mit seiner Person als Pfand dafür ein. Wie bereits auch an anderer Stelle betont, wird im Rahmen der Objektiven Hermeneutik nicht normativ auf Sprechakte reagiert, sondern nach deren objektivem Sinn gefragt. So stellt sich im Zusammenhang mit dieser Schüler-lLehrerinteraktion die Frage, welche Funktion sie für den Unterricht hat. Dem teilweise berechtigten Vorwurf der Lehrerschelte ist forschungsethisch so zu begegnen, dass der Kreativität, mit der ein Praktiker die vor ihn gestellten Strukturprobleme lösen muss, stets Achtung entgegenzubringen ist, denn der Forscher ist davon


146

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

suspendiert, praktisch zu handeln. Es geht darum, seine Praxis auf den Begriffzu bringen, und sie nicht apriori, wie so oft in der Lehrerprofessionsforschung, als unangemessen zu diskreditieren. Im Gegenteil: indem sich Strukturprobleme wie diese eruieren lassen, lässt sich auch die pädagogische Praxis begleitend reflektieren und gegebenenfalls verbessern. Überdies spiegelt sich die institutionelle Rahmung in den Strukturmerkrnalen des Lehrberufs wider, die in Kapitel D über die erziehungswissenschaftliche Professionalisierungstheorie reflektiert wird. Welche Konsequenzen sich hieraus wiederum unter den Vorzeichen einer Reflexiven Erziehungswissenschaft ergeben, wird dort ebenso diskutiert. Entlang der Fallbestimmung, die institutionelle Rahmung von Interkulturellem Unterricht zu berücksichtigen, stellte er sich als spezifischer Fall des allgemeinen Falls von Unterricht dar. Es konnte gezeigt werden, wie institutionelle Zwänge auch im Interkulturellen Unterricht virulent werden. Die Fallspezifik ist also eingebunden in den allgemeinen Fall Unterricht. Das persönliche Befragen und Sich-befremden-lassen und die emphatische Eröffnung von Lm sind folglich zusammen zu denken. Die Fremdheitsunterstellung, die sowohl didaktisch als auch sozial strukturlogisch erzwungen wird, soll durch eine Gleichheitstechnik verhindern, dass Befremden in Fremdheit einzelner Schüler umschlägt. Diese Unterrichtstechnik wird abgesichert, indem sie normativ aufgeladen wird. Daraus lässt sich folgende Strukturhypothese schließen: Interkultureller Unterricht ist die normative Behauptung der Einheit des Differenten. Indem im Unterricht thematisch Heterogenität eingeführt wird, muss gleichzeitig ebenso bedacht werden, Gleichheit wieder vereinheitlichend herzustellen. Diese Strukturhypothese gilt es im Folgenden zu prüfen. Insbesondere, welche Folgen, die bereits sich ankündigende strukturlogische Krisenanfälligkeit der widersprüchlichen Einheit des Differenten für die anschließende Praxis sowie deren Akteure haben wird.

2.

Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation?" ... an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen..." (Miniatur 11)

Die Rekonstruktionsdarstellung soll nun, nachdem die erste Miniatur eine Vielzahl an spezifischen und allgemeinen strukturlogischen Ausdeutungen ergeben harte und eine Fallstrukturhypothese auf die Fallspezifik Interkulturellen Unterricht aufgestellt werden konnte, weiter geführt werden. Wie wird die fragile Einheit des Differenten nun bearbeitet? Zunächst heben die Rekonstruktionen aber


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

147

wieder unter Maßgabe künstlicher Naivität an. So vorzugehen verspricht, die Frage, die eingangs gestellt wurde, wie und wodurch Unterricht überhaupt installiert wird, zu beantworten. Was geht mit dieser Installierung einher? Welche Interaktionslogik entsteht dadurch? Es geht also hier zunächst darum, die Grenze zwischen Unterricht und außerunterrichtlicher Interaktion zu rekonstruieren. Hierbei versteht sich, inwieweit es sinnvoll ist, wieder einmal auf künstliche Naivität zu vertrauen und eine kontextfreie Lektüre fortzusetzen.

Rekonstruktion Schüler: reden durcheinander. (Z.2)'0

Liest man nun das Protokoll also unter Absehung seines tatsächlichen Kontextes und seiner Sprecher als eine Aufteichnung irgendeiner sozialen Praxis, lässt sich der hier aufgezeichnete Wortlaut als Wiedergabe eines akustischen Eindrucks verstehen . Wohlgeformt ließe sich beispielsweise an den Kontext eines turbulenten Geschehens, wie es auf einem Marktplatz üblich ist, denken. Aufeinem solchen Platz könnte ein Wochenmarkt stattfinden. Es scheint geredet zu werden und sich also um den Vollzug von Sprechakten zu handeln . Das Durcheinander lässt auf eine Vielzahl von Sprechern und Sprechakten schließen. Der durch die Lesart eines Marktplatzgeschehens nahegelegte Trubel des akustischen Eindrucks zeichnet sich interaktionsbezogen durch eine komplexe Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Handlungsformen aus. Während der Zeit des Markthaltens sind vielerlei unterschiedliche Menschen damit beschäftigt, Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Parallel handelt es sich dabei auch um einen sozialen Knotenpunkt, an dem sich etwa Nachbarn treffen oder Freunde losen Kontakt pflegen, um etwa Informationen auszutauschen. Dies kann ganz gezielt verabredet werden oder ungeplant und zufällig entstehen. Die Interaktionsformen können ebenfalls variieren : von der direkten .face to face "-Kommunikation, dem Handel zwischen Käufer und Verkäufer, dem nachbarschaftliehen Plaudern zum Zwecke des Informationsaustausches bzw. der Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen , bis hin zu einfachen Formen der Arbeitsteilung aufSeiten der Käufer oder der Verkäufer, die ihr Angebot durch das an verschiedenen Orten postierte Personal optimal zu veräußern suchen. 70

Die Zeilenangaben dieser Miniatur beziehen sich auf das Transkript des Unterrichtsprotokolls 11. Es liegt der Arbeit im Anhang bei.


148

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Der Eindruck eines Durcheinanders verschiedener Sprechakte entstehtfür den Beobachter vor allem durch die hohe Unübersichtlichkeit, den Grad von Komplexität der sozialen Bezüge, bei gleichzeitigem Mangel, nicht alles aufeinmal überblicken zu können . Dabei wäre, das Geschehen analytisch gesehen , wahrscheinlich jeder einzelne Interaktionszusammenhang - nonverbaler oder verbaler Art -für sich betrachtet wohlstrukturiert und sequenziert. Insgesamt, als eine vielschichtige Einheit betrachtet, ist das Marktgeschehen eine zeitliche und räumliche Ordnung, deren Grenzen zum Außen jedoch fließend sind. Das Markthalten ist zwar an eine gewisse maximale Höchstdauer gebunden, doch bauen Einige ihre Stände früher als Andere aufoder ab. Zudem herrscht zur übrigen Stadt oder zum Dorf ein Kommen und Gehen der Akteure, das verschiedenartiger zeitlicher Taktung unterliegt. Auch können Individuen oder Gruppen hinzukommen, während andere den Ort wiederum verlassen. Der Markplatz ist Teil eines öffentlichen Raumes, der aber nicht rigide und vollständig gegenüber privaten Interaktionen und Netzwerken abgegrenzt ist.

Schüler:reden durcheinander . (Z.2) Zieht man nun in zunächst ganz allgemeiner Weise, also ohne an dieser Stelle bereits den konkreten fallspezijischen Kontext zu thematisieren, Wissen über den allgemeinen institutionellen Rahmen des protokollierten Geschehens, die Interaktionsform Unterricht als solcher, also auch die Information, dass es sich bei den Sprechern des Sprechakts um Schüler handelt, hinzu, wird deutlich , dass sich einige Dimensionen der Marktplatzlesart aufdie schulische Situation durchaus übertragen lassen. Das Klassenzimmer ist ebenso wie der Marktplatz ein öffentlicher Raum, der zu bestimmten Zeiten Privatheit und selbstgewählte netzwerkartige Interaktionen seitens der Schüler ermöglicht. Die Interaktionen sind ebenfalls durch Vielgestaltigkeit zeitlich und räumlich ausgedehnter Formen ausgezeichnet, die aufeinander abgestimmt und in sich wohlstrukturiert, aufgrund ihres gleichzeitigen Prozessierens jedoch von Beobachtern weder vollständig noch simultan zu erfassen sind. Das aufgezeichnete Geschehen scheint in seiner Gesamtheit bisher nicht auf etwas Gemeinsames konzentriert zu sein , sondern hat eher den Charakter einer lockeren , zerstreuten Zusammenkunft. Mit der Frage konfrontiert, wann denn eine solche Situation stattfinden könne , ist der Interpretierende geneigt, anzunehmen, der Unterricht habe wohl noch nicht begonnen, denn sonst ließe sich eine rigider systematisierte Ordnung von Interaktionen erwarten. Andernfalls würde man es wahrscheinlich als Grenzfall unterrichtlicher Kommunikation auffassen. Vielleicht hat der Lehrer aber auch den Klassenraum für einen Moment verlassen.


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

149

Oder der Unterricht befindet sich in einer Phase, in der die Schüler in Gruppen oder zu zweit arbeiten, was ein Durcheinander-Reden erklärte. Für eine Rekonstruktion unterrichtsspezifischer Praxis - und hier nun in ganz allgemeiner Weise, jenseits des zu untersuchenden besonderen Falles Interkulturellen Unterrichts - ist an dieser Stelle interessantfestzuhalten, dass die sich in den Interpretationen ausdrückenden sozialen Erwartungen an Unterricht an einen verabredeten oder instruierten, aber stets transparenten Grad sozialer Ordnung von Interaktionen gekoppelt sind. Dies markiert eine deutliche Differenz zwischen schulischer Situation und Wachenmarktsituation, die zwar äquivalent darin sind, sich durch eine, wie beschrieben, komplexe Gleichzeitigkeit in sich organisierter, doch unüberschaubarer Interaktionen auszuzeichnen, aber sich in den Erwartungen an Ordnung immens unterscheiden. Eine Uniiberschaubarkeit lässt sich sinnlogisch als Unterricht erst dann verstehen, wenn sie sich entweder mit geordneten Unterrichtsformen, etwa Gruppenarbeit, vermitteln lässt, oder als Unterbrechung des Unterrichts - der Lehrer verlässt den Raum - gelesen werden kann . Das heißt selbstverständlich aber nicht, gleichsam davon ausgehen zu können, dass mit Beginn des Unterrichtsprozesses nun alle nicht im engeren Sinne auf Unterricht bezogenen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen aufhören.fiir die an ihm Beteiligten verbindlich zu sein. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie auch ethnografische Untersuchungen zum Unterricht es immer wieder nahe legen (vgl. Breidenstein. 2006). Im Sinne einer Vorder- und Hinterbühne des sozialen Geschehens kann die im Unterricht stattfindende Kommunikation mindestens in zwei Kontexten kodiert werden : zum einen in demjenigen des quasi offiziellen Unterrichts und zum anderen im dazu komplementären Kontext der peergroup" (Breidenstein/Kelle, 2002). Jenseits subjektiver Deutungen finden diese Kodierkontexte ihre strukturlogische Entsprechung in den zwei Regelkreisen sozialer Interaktionen, den Regeln der peergroups, die, im für die Lehrperson meist im Verborgenen liegend, verbindlich bleiben und denjenigen des offiziellen Unterrichtsgeschehens." Darüber hinaus ermöglicht dies geradezu ein Spiel mit den kommunikativen Grenzen beider Sphären. 71

72

Dieser Kontext muss dabei keinesfallshomogen sein, sondern kann sich zusammensetzen aus ebensovielenverschiedenen Subkontexten, wie sie die peergroupinnerhalbdes Kursesumfasst. VonGleichaltrigenku1tur zu redenbedeutetja nicht, dass alle gleichenAltersauchdarüberhinaus gleichsind, sonderninnerhalbihrerkommt es zu Friktionenund Differenzierungsprozessen, die sich allemal auch im Unterrichtbemerkbarmachenkönnen. DieAnnahmezweiersozialerRegelkreise lässt sichanhandder Ergebnisse, wie siedie zusätzlich zu den Protokollendurchgefiihrte Gruppendiskussion ergebenhat, illustrieren. In einer Passage machtdorteineSchülerin explizitaufdassozialeVerpflichtungsgefüge derpeergroup aufmerksam: ,j etzt mach ich mit, aber dannkommt so'n klein [unv.] Zettelehen...ja, dann ist man sozusagen verpflichtet, mit jemandemzu reden oder Zeit zu haben..." [Zeile208ff.].


150

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Schüler: Lrn:

reden durcheinander .

An diesen Tisch setzen sich bitte

die türkischstämmi-

gen ... (Z. 2-4)

Verlässt der Leser des Protokolls wieder den Kontext Unterricht und setzt seine kontextfreie Lektüre fort, so lässt sich der nun anschließende Sprechakt als eine gegenstandsbezogene räumliche Verortung verstehen. Das Demonstrativpronomen zeigt an, dass der Gegenstand den Interagierenden entweder bekannt ist oder gestisch aufihn hingewiesen wird. Ein TIsch als solcher kann mannigfaltig brauchbar sein, entweder zur Arbeit nützen oder als Treffpunkt dienen, eine Gruppe kann sich um ihn zu einem gemeinsamen Essen oder Spiel versammeln. Durch die Pluralform des Verbs lässt sich ausschließen, dass ein Einzelner gemeint sein könnte. Mit der räumlichen Verortung ist ebenfalls eine soziale Verordnung verknüpft. Der TIsch ordnet nämlich durch seine jeweilige geometrische Form die Sich-anihn-Setzenden sozial und räumlich und zwar nicht nur in der horizontalen sondern auch in der vertikalen Achse. In der Vertikalen gliedert er den Körper der Person, die sich an ihn setzt, in einen öffentlichen, oberen, und einen verborgenen, unteren Teil, wodurch Interaktionen begrenzt möglich bzw. unmöglich werden, was sich auch in sozialen Regeln und gesellschaftlichen Wertschätzungen ausdrückt. Insofern es sich nicht um einen Glastisch handelt, ist alles, was sich unter der TIschplatte abspielt, den Blicken der an ihm Sitzenden entzogen. Wer umgekehrt einen Blick unter den TIsch wirft, macht sich die Situation zu Eigen, möchte neugierig erfahren , was ihm sonst verborgen ist. Damit entzieht er sich seinerseits aber den Blicken der Anderen. Wenn auch etwa andererseits zu festlichen Gelegenheiten aufdem TIsch getanzt wird, werden damit die für den sozialen Umgang mit ihm üblicherweise geltenden Regelnfür diesen Moment außer Kraft gesetzt, wodurch das Tanzen nicht nur den Charakter einer Entgrenzung erhält, sondern dies auch umgekehrt die Verbindlichkeit der Regelfür die anderen Momente geradezu bestätigt. Es lässt sich sagen, eine Person wird, indem sie sich an einen TIsch setzt, durch denselben in einen sozial erwünschten und einen unerwünschten, nur in Ausnahmeflillen zulässigen Teil seines Körpers gegliedert. Wie etwa auch das Ablegen der Füße und Beine aufden TIsch als Kennzeichen einer besonders lässigen Art gelesen wird. Lässig wirkt dabei die lockere Handhabung der Konventionsregel. Die soziale Ordnung, die sich über die räumliche Horizontale herstellt, ist eng mit der Struktur durch sie möglicher und unmöglicher Blicke der Am-TIsch-Sitzenden, sowie ihrer körperlichen Nähe zueinander verbunden. Hierbei entscheidend ist die geometrische Form, die das Soziale strukturiert. Als Runder TIsch steht sie


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

151

sprichwörtlich für die Gemeinschaft Gleicher, historisch als Tafelrunde, modern als demokratisches Forum , unterschiedliche Interessen diskursiv auszuhandeln. In seiner rechteckigen Form kann der TIsch dagegenfamiliäre Hierarchien symbolisieren: mit dem männlichen Familienoberhaupt an der kurzen Seite sitzend. Die räumliche Nähe zum Patriarchen lässt in einem derartigen Kontext Schlüsse über das Vertrauensverhältnis der Familienmitglieder zu ihm zu, das sich symbolisch durch den Platz innerhalb der Tischordnung manifestiert. Die rechteckige Form lässt zudem auch an Vertragspartner denken , die sich gruppenweise gegenüber sitzen, wobei die kurzen Seiten wahrscheinlich entwederfrei blieben oderfür neutrale Beobachter, Stenotypisten etc. reserviert wären. Auch in diesen sozialen Situationen ist wiederum diejenige Struktur von Bedeutung, die über mögliche und unmögliche Blicke der Akteure entscheidet: Der Patriarch behält alle im Auge, der direkte Blickkontakt zwischen den Vertragspartnern könnte eine Begegnung aufgleicher Augenhöhe oder aber die Konfrontation, sich buchstäblich die Stirn zu bieten, ermöglichen. Ebenso kann der freie Raum aufdem TIsch zwischen ihnen als Ausdruck dafür gelesen werden, nichts zu verbergen. Eben alles aufden TIsch - vor den Augen aller Anwesenden - zu legen. Wie etwa auch beim Pokerspiel,final alle Karten sehen zu lassen . 73 Schüler: Lm:

reden durcheinander.

An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstänunigen. .. (Z. 2-4)

Der weitere Verlauf des Wortlauts verdeutlicht nun den Gesamtcharakter des Sprechakts als Bitte. Dies lässt zunächst ganz allgemein an eine die Kommunikation bestimmende Konvention von Höflichkeit denken . Der Sprechakt des Bittens ist darüber hinaus aber auch an ein klares performatives Verhältnis zwischen den Interagierenden gebunden. Der Gebetene kann zum einen die Bitte nur um den Preis abschlagen, das Risiko in Kauf zu nehmen, vom Bittenden oder etwaigen Dritten als unhöflich eingeschätzt zu werden . Wie zum anderen der Bittende seine Bitte an jemanden richtet, gerade weil es nicht in seiner Macht steht, das, worum 73

Die auf dem Wege der extensiven, feinanalytischen Lektüre des Protokolls gewonnenen Ergebnisse geben Hinweise darauf, inwieweit auch ästhetische und räwnliche Formen Praxis strukturieren können, sobald sie in Kontexte sozialer Handlungen eingebettet werden. Als strukturierte und strukturierende Strukturen sind solche sozialsymbolischen Entitäten insbesondere für die Soziologie Pierre Bourdieus (Bourdieu, 1987) von Interesse. In der hier zugrunde gelegten Methodologie des genetischen Strukturalismus Ulrich Oevermanns werden symbolische Ordnungen als fallspezifische Strukturen jedoch erst dannnachweisbar, wenn sich ihre Strukturgebung im Prozessverlauf verbindlich zeigen lässt.


152

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

er bittet, selbst zu tun. Der Sprechakt einer Bitte rückt die Akteure in eine reziproke Beziehung zueinander. Der spezifisch schulische Kontext im Rahmen von Unterricht wirft darauf nun ein besonderes Licht, denn es betrifft die Interaktion zwischen Lehrer(n) und Schüler(n) in ganz grundsätzlicher Weise. Zunächst ist nämlich davon auszugehen, dass es ich bei Lehrer-Schüler-Interaktionen um asymmetrische Beziehungen handelt. Der Lehrer hat gegenüber den Schülern im Normalfall einen Wissensvorsprung, er verfügt über dasjenige Expertenwissen, welches jene erst erlangen sollen. Zudem muss er in Ausübung seiner Profession die Funktionen ausführen, welche die Gesellschaft der Institution Schule vorgibt: Er bewertet, beurteilt, selektiert die Schüler. Die Bitte, die der Lehrer hier ausspricht, zeigt aber demgegenüber an, dass dennoch nicht alles in seiner Macht zu liegen scheint. Die Schüler müssen augenscheinlich gebeten werden, etwas zu tun, was sie von sich aus wahrscheinlich nicht tun würden, aber was umgekehrt erst durch ihre Tätigkeit zu dem werden kann, was es sein soll. Wird die Bitte mit ihrem Gegenteil - dem Imperativ - maximal kontrastiert, so lässt sich sagen, dass diese sprachliche Form ihren wohlgeformten Kontext nur in deutlich hierarchisch strukturierten Kommunikationsverhältnissen, etwa der Befehlsstruktur beim Militär, erhält. Bei aller Asymmetrie schulischer Kommunikationsstrukturen sind wir aber nicht geneigt, ihn für schulische Kontexte in demokratischen Gesellschaften zu akzeptieren. Etwaige Anweisungen und Aufrufe, die Disziplin einzuhalten, werden wir erwarten, jedoch aber keinen Befehl. Andererseits wird aber die Bitte in schulischen Kontexten trotz aller Asymmetrie auch nicht als zynisch eingeschätzt, sondern ihr wird durchaus ein eigenständiger strukturlogischer Sinn eingeräumt. Dieser verweist aufdie Eigentümlichkeit des schulischen Arbeitsbündnisses, dass sich im Sinne eines Bildungsversprechens auslegen lässt. Sein Kern : Wenn die Subjekte sich aufdie Angebote des Lehrpersonals einlassen, werden sie zu der Bildung gelangen, die ihnen versprochen wird. Die Formulierung der Bitte zeigt, dass Unterricht nicht ohne die beteiligten Bildungssubjekte und eben ihre Bereitschaft, sich aufdas pädagogische Angebot, hier vom Lehrer, einzulassen, auskommt. Hierin zeigt sich die Eigenstrukturlogik von Bildungsprozessen, die allerdings je fallspezifisch ausgeformt wird. Wobei an dieser Stelle selbstverständlich noch nichts über ein etwaigesfallspezifisches oder gar systematisches Gelingen oder Misslingen des Bündnisses ausgesagt werden kann. Dies könnte erst der weitere Verlaufder Interaktionssequenz zeigen . Der Bitte des Lehrers, soviel ist an dieser Stelle jedoch festzuhalten, entspricht komplementär die Subjektivität der Schüler. Sie ist jedoch stets gerahmt durch den asymmetrischen Kommunikationszusammenhang.


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

Schüler: Lrn:

153

reden durcheinander.

An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen ... (Z. 2-4)

Die Adressaten der Bitte werden nun kulturspezijisch identifiziert und zwar hinsichtlich des Kriteriums der Abstammung. Differenzierter betrachtet, handelt es sich um eine nationalethnische Kategorie, die zwei Formen von Zugehörigkeit, nationalstaatliche (türkisch-) und ethnische (-stämmig) miteinander verbindet. Den Formen von Zugehörigkeit entsprechen zweierlei geburtenrechtliche Kriterien, die Staatszugehörigkeit von Personen zu regeln. Innerhalb des ius sanguinis klärt die Staatsangehörigkeit der Eltern bei Geburt ihrer Kinder deren Zugehörigkeit, also die familiale Abstammung. Innerhalb des ius soli ist das entscheidende Kriterium das Staatsgebiet, aufdem das Kind zur Welt gekommen ist, also die Nation. Das Verhältnis zwischen nationaler und ethnischer Zugehörigkeit kann jedoch auch differieren. Beispielsweise gibt es Menschen, die sich zur Ethnie der Kurden zählen sowohl mit türkischem als auch mit irakischem Pass. Die Pluralform des Sprechakts lässt darauf schließen, dass Mehrere gebeten werden, sich an einen Tisch zu setzen. Diese werden aber nicht, was durchaus denkbar wäre, als Individuen mit Namen angesprochen sondern über das Kriterium Zugehörigkeit einer Gruppe zugeordnet. Dabei ist eine Homogenität des Kriteriums unterstellt. Soll der Bitte erfolgreich entsprochen werden, muss den Adressierten deutlich sein, inwieweit sie sich dazu zählen oder gerade nicht dazu zählen können. Eine nicht ganz unproblematische Situation , wie gerade beschrieben, denn individuelle Biografien kultureller Zugehörigkeit lässt ein solches Raster bisher unberücksichtigt: Gehört man dazu und wenn ja, dann aufwelche Weise überhaupt? Zur netzwerkartigen Kommunikationsform zu Beginn der Gesamtsequenz steht die Semantik der Abstammung trotz aller Schwierigkeiten, sie zu definieren, im deutlichen Kontrast. Das mit ihr evozierte Bild des Stammes verweist aufeine subjektiv-willentlicher Einflussnahme entzogene natürliche Ordnung, wie sie beispielsweise in einem Stammbaum abgebildet wird, in dem die Genese einer Familie ihre Darstellung findet. Die dem Stammbaum zugrunde liegende Ordnung verbindet die Mitglieder der Familie und sortiert sie innerhalb der Generationen und klärt die Beziehungen zwischen ihnen. Gegenwart und Vergangenheit sind auf diese Weise miteinander verbunden. Die Identität des Einzelnen erklärt sich über seine Herkunft und die seiner Vorfahren. Auch der Baumstamm, an den sich denken lässt, verbindet den Ursprung des Baumes, das Erdreich, aus dem er gewachsen ist, mit seinen Gliedern, den Ästen. Über den Stamm gibt der Baum das für seine Existenz lebensnotwendige Wasser weiter. Metaphorisch steht der Baumstamm


154

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

fiir eine feste Standfestigkeit während demgegenüber das Netzwerk eher aufeine Struktur loser, lockerer und wählbarer Verbindungen verweist. Zieht man die anfängliche, gedankenexperimentelle Lesart des Marktplatzes noch einmal hinzu, so zeigt im Gegensatz dazu der schulspezijische Kontext nun kontrastiv, dass zumindest ein Sprecher, der Lehrer, das Wort ergreifen kann, ohne dass es bisher einer vorherigen Einführung (üblicherweise eine gemeinsame Begrüßung) bedurfte. Er scheint im vorliegenden Fall allein die Aufmerksamkeit durch seine Anwesenheit und die Tatsache, das Wort ergreifen zu können, aufsich zu ziehen. Während ihn dies einerseits mit einiger Macht in der Interaktion auszeichnet, bricht sie sich andererseits an der Position, in der er sich als Bittender befindet. Es handelt sich also bei dieser Kommunikationsofferte um eine brüchige Figur. Die Adressierten der Bitte sind zwa r bisher ausschließlich als die Türkischstämmigen bezeichnet und verortet worden. Dies macht aber nur dann Sinn, wenn es auch zumindest eine oder mehrere weitere Ethnien innerhalb der Gesamtgruppe gibt. Mit der Identifizierung geht also strukturell auch eine Differenzierung einher. Die anderen sind bisher nur als unbestimmte Masse ex negativo, also nicht türkischstämmig zu sein, angesprochen. Schüler: Lm:

reden durcheinander .

An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen ...

. . . Lärm. . . (Z.2-5)

Das Protokoll verzeichnet nun einen weiteren akustischen Eindruck, der den Sprechakt begleitet oder aber ihn unterbricht. Das Protokoll ist an dieser Stelle nicht eindeutig. Gegenüber dem vorherigen Eindruck des Durcheinander-Redens scheinen sich hier nun aber weniger geordnete Interaktionen oder Sprechakte identifizieren zu lassen . Es ist sozusagen ein stummer Lärm. Auch lassen sich keine verbal geäußerten Reaktionen der Adressaten aufdie vorausgegangene Bitte ermitteln. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Lärm durchaus durch eine nonverbale Reaktion verursacht wird. Verweilt man zunächst in der Sinn logik eines den Sprechakt begleitenden Lärms, könnte er entstanden sein, weil die Adressierten bereits genau Bescheid wissen und sich nun aufdie vom Lehrer erbetene, gewünschte Weise zusammen setzen. Auffällig an dieser Lesart wäre es, zu sehen, dass sie gar nicht erst abwarten, bis der Sprechakt vollzogen und sie ggf. als Personen angesprochen werden, sondern quasi vorauseilend, den Sinn des Sprechakts bereits antizipierend, auf ihn reagieren. Die durch den Sprecher erbetene TIsch-


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

155

ordnung würde damit interaktionslogisch zumindest in Teilen verbindlich vollzogen . Die bereits aufgefächerten Sinndimensionen damit zumindest aufder Ebene des offiziellen Unterrichts akzeptiert. Ganz anders stellt sich der Fall dar, wenn man die sinnlogischen Fäden der Lesart, dass es sich beim protokollierten Lärm um eine Unterbrechung des vom Sprecher vollzogenen Sprechakts handelt, weiterspinnt. Hierdurch erhält der Lärm dann den Charakter eines nonverbalen Protests, wie er beispielsweisefür Unmutsäußerungen typisch ist. Interaktionslogisch gesehen, würde mit einem zum Ausdruck gebrachten quasi stillen Protest seitens der Gebetenen die Frage aufgeworfen, welche Zwänge im Spiel sind, dass sie ihren Unmut nicht öffentlich äußern . Eine Antwort kann an dieser Stelle jedoch, aufgrund der geringen Informationsdichte des Protokolls nicht gegeben werden. Beide Reaktionsweisen, die sich durch die Lesarten ergeben haben, müssen sich in praxi nicht unbedingt ausschließen, sondern es ist ebenso denkbar, dass der Bitte entsprochen und dies mit Unmutsäußerungen einhergeht. Endgültig klären kann dies erst der weitere Kontext und Prozessverlauf. Schüler: Lm:

reden durcheinander.

An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen ...

. . . Lärm . .. Lm:

... und an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen Schülerinnen und Schüler. (Z.2-7)

Indem nun eine etwas umfangreichere Sequenz herangezogen wird, lässt sich deutlich machen, dass die sprachliche Gestalt der dieser Sequenz vorausgegangenen Bitte in ihrer sprachlichen Anordnung auffast identische Weise wiederholt wird. Sowohl die vorherige gegenstandsbezogene räumliche Verortung als auch die kulturspezijische Identifizierung nationalethnischer Zugehörigkeit der Adressaten werden wieder aufgenommen. Dies gibt dem Sprechakt insgesamt den Charakter nicht nur einer starkformalisierten, sondern beinaheformelhaften Redeweise. Die zuvor noch anonymen Adressaten werden nun als Schülerinnen und Schüler benannt und angesprochen. Statt der türkischstämmigen wird jetzt die russischstämmige Schülerschaft gebeten, sich an einen Tisch zu setzen, der wahrscheinlich wiederum gestisch angedeutet wird. Denselben Tisch anzudeuten scheidet wohlgeformt aus, da der spezifizierende Zusatz (, nur U) andere Gruppen von Schülern als die russischstämmigen eindeutig ausschließt. Mit diesem Sprechaktteil wird die Dif-


156

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

ferenzierung der Gesamtgruppe in unterschiedliche Ethnien bestätigt und weiter fortgeführt. In Unkenntnis des weiteren Protokollverlaufs lässt sichjedoch an dieser Stelle nicht sagen, ob damit bereits die gesamte Gruppe vollständig aufgeteilt oder erst zwei Gruppierungen eingeteilt worden sind und welchen Sinn dies für den Unterricht haben könnte. Die Segmentierung zieht aber dem ungeachtet verschiedene Ordnungsstrukturen nach sich . Es sind zunächst zweierlei Binnenverhältnisse dabei zu unterscheiden: Eine Ordnungsstruktur betrifft das Verhältnis der einzelnen Segmente zueinander, also das Binnenverhältnis der Klasse oder des Kurses insgesamt. Diese sind bisher voneinander anhand des eingeführten Kriteriums nationalethnischer Zugehörigkeit distinkt. Wer türkischstämmig ist, ist nicht russischstämmig und umgekehrt. Untermauert wird dies durch die räumliche Ordnung verschiedener Tische als voneinander abgegrenzter Orte, wie Nationen aufeiner Landkarte. Die andere Ordnungsstruktur bezieht sich aufdas Binnenverhältnis innerhalb der Gruppe der türkisch- oder russischstämmigen Schüler. Wer dieser oder jener Gruppe zugehört, ist hinsichtlich der Abstammung identisch mit den Anderen in derselben Gruppe. Sie wird damit homogenisiert. Aufder Ebene der Kommunikationsordnung schafft also die Segmentierung des Lehrers eine gruppenexterne Differenz gruppeninterner Homogenität. Sobald die Schüler dies im Interaktionsprozess nachvollziehen, sich also aufdie Art gruppieren, wie er es sich erbeten hat, ist die Ordnungfür das sich anschließende Kommunikationsgeschehen verbindlich in Praxis gesetzt. Die somit über die Gruppeneinteilung vermittelten Ordnungsstrukturen bestimmten fortan, zumindest bis zu ihrem Widerruf, die fortlaufende Kommunikation und das darüber ablaufende immanente Bildungsgeschehen strukturlogisch, da jedweder Sprecher aus der Gruppe fortan nicht mehr bloß als Individuum spricht oder handelt, sondern dies vor allem als Vertreter und Zugehöriger einer distinkten Kultur tut. Bei aller Differenzierungsleistung, die mit diesen Ordnungsstrukturen einhergeht, bildet die Anrede der Gruppenmitglieder als Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Klammer: Die Einheit des Differenten aufSchulklassenebene. Sie sind damit zunächst wiederum nicht als individuelle Personen angesprochen, sondern in ihrer schulspezijischen Rolle. Die Rollenjörmigkeit lässt sich aber als Kontrast zur Semantik der Abstammung lesen: Während der BegriffRolle in soziologischer Terminologie, beispielsweise in derjenigen Talcott Parsons', an das Erlernen spezifischer Verhaltensanforderungen moderner Gesellschaften, beispielsweise affektive Neutralität und universalistische Orientierung (vgl. Parsons, 1968), geknüpft ist, verweist der Begriffder Abstammung demgegenüber aufna-


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

157

türliche, gerade nicht erlernbare Zugehörigkeit. Je nachdem wie rigide er gefasst wird, verschärft sich der Kontrast. Die Semantik der Abstammung setzt also auch die unter ihrem Kriterium subsummierten Individuen in ein Binnenverhältnis, nämlich in eines zu sich selbst, was sich als dritte Ordnungsstruktur eruieren lässt. Sie sind angesprochen als Abstammende einer Kultur, als Einzelne nur insofern für die Einteilung in Gruppen wichtig, als sie Vertreter eines Allgemeinen, eben der nationalethnischen Abstammung sind, deren Zugehörigkeit ihrer subjektiven Verfügbarkeit entzogen ist. Der Sprechakt thematisiert die Schüler damit aber andererseitsjenseits ihrer Rolle, in der sie umgekehrt wiederum angesprochen sind. Das Kriterium Abstammung erfordert, dass sie ja gerade quasi von Natur aus diejenigen sein sollen, als die sie hier benannt werden. Also als diejenigen, die sie jenseits ihrer Rollenzugehörigkeit sind. Schüler: Lm:

reden durcheinander.

An diesen Tisch setzen sich bitte die

türkischstämmi-

gen ... • • •Lä:rm • • • Lm:

••• und an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen Schülerinnen und Schüler. (Z.2-7)

Nimmt man nun einmal die Unterrichtsminiatur insgesamt in den Blick, so lässt sich deutlich eine sinnlogisch abgeschlossene Teilsequenz einer Arbeitsanweisung eines Lehrers in Form einer Bitte erkennen, die trotz einiger Vermutungen über Schülerinteraktion und -reaktion mit diesen bisher noch unvermittelt blieb, da das Protokoll bis aufden vieldeutigen Lärm keine klar identijizierbare Reaktionen der Schüler verzeichnet. Als Teil einer didaktischen Instruktion ist sie erheblichformal gehalten, bisherjenseits einer inhaltlichen Ausgestaltung. So lässt sich an dieser Stelle auch noch nichts über einen strukturell ablesbaren unterrichtsbezogenen, didaktischen oder sozialen Zweck, der mit dieser Arbeitsanweisung verbunden ist, aussagen. Handelt es sich um ein Spiel, in dem zwei kulturdifferente Teams gegeneinander antreten? Gab es vielleicht einen Streit zweier Ethnien und die Streitenden müssen nun separiert werden? Ich möchte aber an dieser Stelle die weitere extensive Lektüre abbrechen und statt dessen nun den tatsächlichen fallspezijischen Kontext zur Interpretation heranziehen, denn bereits jetzt ergeben sich aus den Interpretationen vielerlei Hinweise, aus denen sich anhand des bis hierher interpretierten Materials einige Strukturspezijika dieses Falles Interkulturellen Unterrichts exemplarisch erschlie-


158

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

ßen lassen . Um diese aber abschließend entwerfen zu können, ist es zuvor wichtig, die interpretierte Sequenz in seinen tatsächlichen Fallkontext zu stellen, damit eine Einbettung in den Gesamtkontext der schulischen Interaktion erfolgen kann . Es gab also weder einen Streit zu schlichten noch sollte ein multikulturelles Spiel begonnen werden, sondern das Protokoll gibt die Einstiegssequenz eines Unterrichts in der 5. Schulstunde eines gymnasialen 9. Jahrgangs im Fach Praktische Philosophie wieder. In der vorherigen Stunde ist eine Reihe zum Thema Kultur und Heimat begonnen worden . Zur didaktischen Umsetzung des Themas sind Gruppen entlang der im Kurs vom Lehrer identifizierten Ethnien gebildet worden . Neben den in der Sprache des Falles der vorliegenden Sequenz benannten türktsch- und russischstämmigen Schülern, wurde noch eine deutsche und eine weitere Gruppe eingeteilt, deren ethnische Zugehörigkeit nicht häufig genug im Kurs vorhanden war, um eine eigenständige Gruppe bilden zu können. Die Gruppen sind zu dem Zweck eingeteilt worden , Fragen für einen Fragebogen zu entwickeln, mittels dessen die Schüler die Mitglieder der jeweils anderen Gruppen im Anschluss selbst befragen sollten. Mit der Befragung war der Unterrichtsprozess in der vorherigen Stunde nicht ans Ende gekommen, sodass es nötig wurde, sich nochmals in dieser Stunde in Gruppen zusammen zu setzen. Mit der interpretierten Sequenz wird also die Gruppeneinteilung und damit die gesamte didaktische Instruktion der vorherigen Stunde aufgegriffen und sequenzlogisch weiter geführt. Es ist klar, dass diese didaktische Instruktion nun selbst durchaus zum Gegenstand einer eigenständigen sequenzanalytischen Rekonstruktion gemacht werden könnte, doch davon möchte ich an dieser Stelle absehen. Denn somit lassen sich nicht nur einige Varianten des Gesamtkontextes rascher ausschließen und damit das Verfahren abkürzen, sondern nun können die bisher durch die extensive Lektüre gewonnenen Ordnungsstrukturen auch im Zusammenhang mit der didaktischer Instruktion ausgedeutet werden . Denn erst so ist deutlich festzustellen und abzulesen, dass ihr Zweck weder darin bestand, für ein Spiel einzuteilen noch streitende Ethnien zu separieren, sondern die pädagogische Arbeitsform Gruppenarbeit umzusetzen, in der eine Form (Fragebogen) erarbeitet werden soll, um sich anschließend gruppen übergretfend zu befragen. Letztlich soll dies also in eine dialogische Kommunikationsform zwischen den kulturspezijisch eingeteilten Gruppen münden, die sich infolgedessen als angestrebter Interkultureller Dialog verstehen lässt.

Strukturlogische Ausdeutung Die Rekonstruktionsergebnisse der extensiven Lektüre sollen nun in abstrahierender Weise zusammengefasst und hinsichtlich ihrer Strukturproblematiken, die da-


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

159

raus deutlich werden, pointiert und zugespitzt werden. Als Unterrichtsgeschehen summa summarum betrachtet, passiert auf der Oberfläche nichts Ungewöhnliches, sondern etwas ganz Alltägliches: Ein Lehrer gibt den Schülern eine Arbeitsanweisung, bittet sie, sich in Gruppen zusammen zu setzen, um das in der vorherigen Stunde Begonnene nun weiter zu führen und ggf. zu einem Ende zu bringen. über die extensive Lektüre des Unterrichtsprotokolls jedoch ließen sich tiefere Sinnschichten rekonstruieren. Insgesamt sich somit der Eindruck eines Sprechaktes, der vielfältig ordnet und Einteilungen vornimmt: kulturelle (Zugehörigkeit, Abstammung), soziale (Gruppenbildung durch externe Differenzierung und interne Homogenisierung) und physische (Tisch, Raum). Es hat sich interaktionslogisch gezeigt, dass insgesamt in der die Schulstunde eröffnenden Sequenz durch die didaktische Instruktion des Lehrers ein strukturierendes Ordnungsprinzip der Zuweisung von Schülerindividuen zu einer bestimmten Kultur im Sinne einer nationalethnischen Abstammung, fiir den weiteren Verlauf des Prozesses verbindlich geltend gemacht werden soll. Diese den Unterricht eröffnende Sequenz lässt sich auch als eine kommunikative Stiftung symbolischer und sozialräumlicher Ordnung entlang der Kriterien kultureller Abstammung und Differenz charakterisieren. Sie bildet interaktionslogisch eine Offerte an die Schüler, deren Ordnungsstrukturen durch ihre Akzeptanz fiir die sich anschließende Praxis des Unterrichts verbindlich gemacht werden könnte. Die verschiedenen ordnenden und einteilenden Strukturen lassen sich folgendermaßen systematisieren. Auf dem Wege der Systematisierung wird deutlich, dass ihnen verschiedene Krisenpotenziale inhärent sind. Ordnung des offiziellen und inoffiziellen Unterrichtsgeschehen

Insbesondere der mittels extensiver Lektüre erarbeitete kontrastive Vergleich zwischen unterrichtlicher und außerunterrichtlicher Kommunikation, verdichtet in der Lesart eines Marktplatzgeschehens, hat sich in der Rekonstruktion fiir die Spezifik von Unterricht insgesamt, nicht nur fiir den Fall Interkulturellen Unterrichts sondern auch darüber hinaus, als besonders aufschlussreich erwiesen. Er zeigt, dass zwar eine neue Interaktionsordnung etabliert wird, diese jedoch die vorherige nicht vollständig ersetzt, sondern gewissermaßen ins Verborgene verdrängt, wo sie die Interaktionsdynamik wohl aber weiterhin als quasi stummes Geschehen mitbestimmen wird. Man wird vom Lehrer am Anfang einer Schulstunde, der Schwellenphase von Interaktionsordnungen, intentional nichts anderes erwarten, als mittels einer didaktischen Instruktion, das Unterrichtsgeschehen strukturieren zu wollen. Doch mit dieser Installierung des offiziellen Unterrichtsgeschehens gehen mannigfache, das soziale Geschehen ordnende Regeln einher. Die Kommunikationsund Äußerungsformen werden eingeschränkt, sanktionierbar, überhaupt differen-


160

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

zierbar. Die Beziehungsformen untereinander sind rigider reglementiert als dies zuvor der Fall war. Auch der Artikulationsspielraum ist voneinander verschieden. Es lässt sich nicht alles im offiziellen Unterricht sagen, was sich inoffiziell sagen ließe. Die Akteure werden nicht zuletzt von denjenigen Personen, die sie außerhalb des offiziellen Unterrichts sind, damit zu Schülern im Unterricht. Ein wesentliches Ergebnis schulspezifischer Sozialisation zeigt sich gerade darin, die Schülerrolle zu lernen und auf diesem Wege von sich als Person abstrahieren zu können. Die Rekonstruktion lässt darauf schließen, dass die Schüler aber nicht nur in ihrer Rolle am Unterricht teilnehmen, sondern zudem auch als Mitglieder einer Peergroup. Sie zeigt ganz deutlich, worin das Bedingungsgefüge dieser Praxis besteht. Erst die Akzeptanz seitens der Schüler lässt die verschiedenen Ordnungen und ihre Gewichtung interaktionslogisch verbindlich werden, wie sich umgekehrt auch genau daran das Krisenpotenzial festmachen lässt. Denn diese Ordnung könnte anjeder Prozessstelle aufgekündigt werden, ist also als prinzipiell krisenhaft einzustufen. Mit Oevermann wäre dies eine materiale Bestimmung der Krisenhaftigkeit dieser fallspezifischen Praxis, von hier aus ließe sich nach den Routinen fragen, die den Unterricht angesichts dessen stabil halten (vgl. Wagner 2001). Ordnungen der gegenständlichen Verortung Die über die Kommunikation gestifteten Ordnungsweisen werden durch die Tischordnung untermauert und geben dem Raum eine physische und symbolisch ablesbare Ordnung. Das Setzen an einen Tisch ermöglicht den an ihm Sitzenden nicht nur Konzentration auf die Gruppenarbeit und Kommunikation miteinander, es unterstreicht in vorliegendem Fall aber auch die Homogenität der sozialen Ordnung. Die Blicke der am Tisch Arbeitenden sind entscheidend. Es reden zunächst Gleiche miteinander, die von denjenigen, die an anderen Tischen sitzen, unterschieden sind. Es wird in physischer Hinsicht getrennt und zusammengefügt, Die Gesamtgruppe des Kurses Praktische Philosophie diversifiziert und verortet: Diese Schülergruppe gehört an diesen, die andere anjenen Tisch. Das Arbeiten am Tisch korrespondiert mit der Ordnung von offiziellem und inoffiziellem Unterrichtsgeschehen - der Ort des Austauschs eines Zettelchens findet nicht ohne Grund unter dem Tisch statt. Es stellt eine Dichotomie des sozial erwünschten und unerwünschten Unterrichtsverhaltens auf. Ordnung externer Gruppendijferenz und interner Gruppenhomogenität Das Ordnungsprinzip des offiziellen Unterrichtsgeschehens steuert ebenso darüber hinaus die interaktionsbezogenen und bildungsbezogenen Anschlussmöglichkeiten: die Öffnungen und Schließungen hinsichtlich sozialer Verortung und


2. Stiftung ethnischer Ordnungen durch Unterrichtsorganisation? -

161

subjektiver Selbstdefinition, die eng mit den Ordnungsstrukturen der Gruppeneinteilung verbunden sind . Über die soziale Einteilung in kulturspezifische und -differente Gruppen wird die innere Ordnungsstruktur des offiziellen Unterrichts ausgefonnt. Die extensive Lektüre ergab, dass mit der kommunikativ gestifteten Verortung eine soziale Einordnung einhergeht. Mit der über Abstammung eingeteilten kulturellen Zugehörigkeit der Schüler sind letztlich die individuellen Personen als Träger ihrer kulturspezifischen Eigenarten angesprochen. Sie sollen damit jenseits ihrer Rolle thematisiert werden. Es kommt zu einem Paradox: Sie sind als Bildungssubjekte, als Personen, durch ihre Abstammung angesprochen, die aber nun gerade nicht das persönlich Individuelle, sondern das natürlich Allgemeine darstellt. Innerhalb der Gruppe ist eine Homogenität ihrer Mitglieder unterstellt, gruppenextern eine Kulturdifferenz. Dies kann nun potenziell mit der kulturellen Selbstverortung der Schüler konfligieren, wie es mit Blick nicht nur auf die tatsächliche Migrationswirklichkeit der allochthonen sondern auch der Kulturzugehörigkeit der autochthonen Schüler des fallspezifischen Kontextes deutlich gemacht werden kann . Beispielsweise unterstellt die Einteilung in eine russischstämmige Gruppe eine kulturspezifische Homogenität, die bei dieser Gruppe im vorliegenden Fall allein schon hinsichtlich ihrer Herkunftsländer fraglich ist, kommen ihre Vertreter doch nicht nur aus Russland sondern ebenso aus Usbekistan und Kasachstan." Darüber hinaus wird die gruppenexterne Differenz zwischen Russen und Deutschen geradezu problematisch, wenn man bedenkt, dass gerade sie, wenn man so will, als Vertreter einer ersten Generation nach Deutschland kommen konnten, weil sie, bzw. ihre Eltern, die Möglichkeit nutzten, die ihnen als so genannte Russlanddeutsche migrationspolitisch gewährt wird . In ihrer familialen Abstammungsgeschichte, wenn man so will, lassen sich Bezüge zum Zielland der elterlichen Migration herstellen. Dies ist neben dem Bestehen so genannter Aufnahmetests, in denen Kenntnisse der deutschen Sprache und kulturspezifisches Wissen über Deutschland erfragt wird, Bedingung für ihre Einwanderung nach Deutschland. Insofern man also das Einteilungskriterium, das der Lehrer einführt, beim Wort nimmt, stellt sich die Frage nach kultureller Zugehörigkeit bei dieser Gruppe geradezu auf den Kopf. Die Einteilung erweist sich somit als künstlich. Dies

74

Usbekistan und Kasachstan gehörten bis zu ihrer Unabhängigkeit 1991 der Sowjetunion an. Als ehemalige Sowjetstaaten und auch historisches Territorium des zaristischen Russlands im 19.Jahrhundert bevölkerten, durch Siedlungspolitik und stalinistische Deportationen bedingt, die so genannten Russlanddeutschen auch diese Länder. Nach 1991 migrierten sie verstärkt auch aufgrund erleichterter Bedingungen nach Deutschland. U.a. besitzen sie nach Artikel 116 des GG volle Bürgerrechte als Deutsche Staatsbürger als Spätaussiedler (vgl. Migrationsbericht 2008).


162

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

gilt grundsätzlich aber nicht nur für diejenigen Schüler mit so genanntem Migrationshintergrund, sondern ebenso auch für die Nichtmigrierten. Bildungsbezogen gesprochen kann sich der Konflikt einer problematischen Selbstverortung negativ in einer strukturellen Entthematisierung von ambivalenten und komplexen Selbstdefinitionen von Kulturalität spiegeln. Denn mit realistischem Blick auf die tatsächliche Migrationswirklichkeit und Kulturzugehörigkeit generell lässt sich davon ausgehen, dass diese doch eher individuell-biografischer Art sein werden. Das Dilemma Interkultureller Pädagogik taucht aufund wird hier im Unterricht praxisrelevant, denn eine pädagogische Beziehung unterschiedlicher Kulturen herstellen zu wollen, setzt nun mal eine Existenz differenter Kulturen verbindlich voraus, welche der Unterricht strukturgenetisch erst stiftet. Die soziale Verortung birgt also insgesamt das Konfliktpotenzial, dass die auf beschriebene Weise unter eine Kulturzugehörigkeit Subsumierten sich nicht so eindeutig verorten können, wie es das Ordnungsprinzip verlangt. Der Konflikt lässt ein über die didaktische Instruktion vermitteltes Problem der Integration zwischen Individuum und Gruppe in der Unterrichtspraxis deutlich werden. Darüber hinaus entsteht ebenso ein Integrationsproblem hinsichtlich der gesamten, nun in Segmente aufgeteilten, Klasse. Hierbei ist nicht zuletzt entscheidend, inwieweit die "peerculture" selbst kulturalistisch geformt ist. Entweder bestätigt das Ordnungsprinzip des Unterrichts die vorgängigen, außerunterrichtlichen Kulturalismen, manifestierte sie damit erheblich, oder liegt eben quer zu ihr, geriete also in Konflikt. Dieser Konflikt könnte dann wiederum entweder quasi subkutan das weiter prozessierende offizielle Unterrichtsgeschehen bestimmen oder aber außerhalb des Unterrichts in der Praxis der Gleichaltrigenkultur virulent werden. All diese Strukturproblematiken sind eingelassen in die institutionelle Bildungspraxis, die sich am bittenden Charakter des Sprechakts ablesen ließ und deren Grundlage das spezifische Arbeitsbündnis und sein immanentes Bildungsversprechen unter der Voraussetzung asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse bildet. Fallbezogen sind nun verschiedene Interaktionsverläufe strukturell möglich. In Unkenntnis des weiteren Stundenverlaufs könnte man beispielsweise vermuten, dass im weiter prozessierenden Unterricht den Schülersubjekten durchaus noch Gelegenheit gegeben wird, ihre individuelle Sicht auf die ihnen zugedachte Kulturzugehörigkeit zum Thema machen zu können, gerade indem die klischeehafte Einteilung zur Sprache käme. Damit würde die Differenz zur zugewiesenen Zugehörigkeit thematisch. Dies blieb jedoch aus. Sie entsprachen der Bitte ihres Lehrers, vollzogen somit alle interaktionslogischen Anschlüsse mit. Auf der Ebene des offiziellen Unterrichtsgeschehens akzeptierten sie damit letztlich alle Ord-


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

163

nungsweisen und hielten die Praxis trotz ihrer Konflikte stabil. Sie machten eben buchstäblich mit. Der intendierte und angestrebte Interkulturelle Dialog blieb dadurch nicht nur künstlich, wie es der weitere Verlauf des Protokolls zeigt. Sondern die Schüler spielten gewissermaßen die ihnen zugewiesene kulturelle Identität, da die Ordnungs struktur des Unterrichts komplexe und ambivalente Selbstdefinitionen strukturell entthematisierte.

3.

Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht"Wozu gehör' ich denn eigentlich?" (Miniatur Iß)

Die sich anschließende Rekonstruktion wird nun wiederum unter der Prämisse künstlicher Naivität und zunächst unter Ausblendung der (alltags-)theoretischen, fallspezifischen Kontextannahmen über die Lebenspraxis (Interkulturellen) Unterrichts dargestellt. Mit dieser Sequenz kommt die Schülerseite erstmals zu Wort, während zuvor die Protokollstellen der Lehrerseite rekonstruiert wurden. Es wurde weiter unter Maßgabe feinsequenzieller Analyse gearbeitet, der Sprechakt in einzelne, in sich sinnvolle Sequenzen, im Umfang noch unterhalb der grammatikalischen Einheit von Sätzen zerlegt, und ausgedeutet.

Rekonstruktion Sw7:

Wozu gehöre ich denn eigentlich, gehöre ich nicht auch zu Afghanistan? (Z. 97f)'s

Zunächst lässt sich die folgende Sequenz isolieren: Wozu [ ... I (Z. 97) Die Sequenz beginnt mit einem Interrogativpronomen oder Fragewort. Fragen stellen setzt inhaltlich sinnlogisch voraus, dass etwasfraglich ist und interaktionslogisch, an jemanden eine Frage zu richten oder richten zu können bzw. eine Frage stellen zu dürfen . Selbst noch im Falle monologischen Sprechens, richtet sich eine solche Frage an jemanden. auch wenn derjenige man selbst ist. Denn auch 75

Die Zeilenangaben dieser Miniatur beziehen sich wieder auf das Transkript des Unterrichtsprotokolls I. Es liegt der Arbeit im Anhang bei.


164

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

ein Monolog kann ein Dialog mit sich selbst sein. Es wird also ein Zwiegespräch begonnen, wenn das Fragewort am Anfang einer Interaktionssequenz steht, oder fortgefilhrt, wenn irgendetwas des zuvor Geäußerten oder sonst wie Vorausgegangenen fraglich geworden ist. Wozu ist ein finales Interrogativpronomen. Es lässt sich damit nach einem Zweckfragen. den eine Sache oder Handlung hat: " Wozu benötige ich einen Hammer? ": " Wozufärbt sich Marion die Haare? ", Die Qualität des Zwecks kann, wie in diesen Fragen, ganz pragmatisch oder aber auch stark aufgeladen im Sinne letzter, theologischer oderphilosophischer, Zwecke sein . Es lassen sich aber auch Kontexte denken, in denen durch die Frage an einen gemeinsamen (gewählten) Zweck erinnert wird. Etwa bei einer Predigt: " Wozu sind wir denn hier versammelt?" Der Zweck ist dann jedem Teilnehmer grundsätzlich klar, aber vielleicht nicht mehr so bewusst. Daher die Mahnung, sich an ihn zu erinnern. In dieser Lesart würde aber die Frage nicht mit dem Ziel gestellt, einen Informationsgewinn zu erzielen, sondern wäre ein rhetorisches Mittel des Redners, an eine innere Überzeugung der Zuhörer zu appellieren. Ebenso lässt sich an einen schulischen Kontext denken, in dem mit der Frage" wozu seid ihr eigentlich hier" an das Arbeitsbündnis durch Ermahnung erinnert wird. Wodurch wieder eine filr die Institution Schule eigentümliche Verbindung aus Zwang und Freiheit gegeben wäre, da hier diefür die Ermahnung notwendige Unfreiheit, der Aufrufzur Disziplinierung mit der Anspielung auf den Zweck des Arbeitsbündnisses verbunden wird, das Freiheitlichkeit zur Grundlage haben müsste. Für sich allein gestellt, kann das Pronomen sequenzlogisch nur als Reaktion aufetwas Vorausgegangenes sinnvoll stehen. Beispielsweise könnte jemand vorgeschlagen haben, einen Kühlschrank zu kaufen und die überraschte Antwort angesichts eines funktionierenden Kühlgeräts in der Küche könnte als Gegen- oder Rückfrage Wozu lauten. Wozu gehöre ich [ .. . 1 (Z. 97)

Indem nun der weitere Wortlaut hinzugenommen wird, lässt sich die vorher interpretierte Bedeutung eines fraglichen Zweckes weitestgehend ausschließen. Denn nun wird mit dem Verb gehöre deutlich, dass es sich hier um eine wohlfragliche Zugehörigkeit handelt. An dieser Stelle lässt sich noch nicht ausmachen, welcher Art die Zugehörigkeit sein könnte. Es gibt aber, soviel ist sicher, anscheinend eine Person, deren Zugehörigkeit ihr selbst und in Bezug aufsich selbst, also ihre eigene Zugehörigkeit fragwürdig ist, denn sie benennt sich selbst mit dem Pronomen ich als Objekt der Frage. Umgekehrt ist damit eine Selbstverständlichkeit auf-


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

165

gehoben, weil etwasfraglich wird. Ebenso wird deutlich, dass diese Person ihre fragwürdige ZugehörigkeiteinemAdressatenmitteilt. Es handeltsich also um eine Selbstthematisierung in einem, wenn nicht als Frage an sich selbst gestellt, dialogischen Interaktionsrahmen. Offenbar wird mit der Frage davon ausgegangen, dass jemand anderes sich oder eine Gruppe damit auskennt, worin die Zugehörigkeit bestehen kann, denn sonst wäre zu fragen iiberflüssig. Das Gehören kann hier nicht die Bedeutung eines Besitzverhältnisses zwischen Menschen annehmen, denn sonst müsste die Frage lauten: Wem gehöre ich? Währendim Besitzverhältnispersonale Rechte nicht gewährleistet sind, wie etwa im Sklaventum, lassen sich graduelle Unterschiedein der Zugehörigkeit deutlich machen, die deswegen so wichtig sind auszudeuten, weil sie eine etwaige Brisanz oderAlltäglichkeit, die Fragezu stellen, interaktionslogisch deutlichmachenkann: Gehört eine Person einer Sekte an, sind u. U. ihre Persönlichkeitsrechtefast ebenso eingeschränkt wie beim Besitzverhältnis. Wenn die Frage in einem Liebesverhältnis eines Paares gestellt wird, kann damit das Beziehungsverhältnis als solches in Frage gestellt werden. Die Frage nach Zugehörigkeitkann aber auch ganz existenziell gestellt werden im Sinne einer Zugehörigkeit überhaupt. Wann istjemand aufwelche Weise zugehörigzu wem oderwas? Welchen Charakter kann die Zugehörigkeit annehmen? Zweck und Zugehörigkeit können etwa auch zusammen fallen, wenn es um die Mitgliedschaft etwa in einer Partei oder ein Beschäftigungsverhältnis zwischen einemArbeitnehmer und einer Firma geht: " Wozu gehöre ich dieser Partei noch länger an, da ich michja doch nicht durchsetzen kann?" Oder: " Wozu gehöre ich dieser Firma an? Die bezahlt mich doch so schlecht. " In diesen Fällen, die sich noch um Mitgliedschaften in Vereinen erweitern lassen, ist die Zugehörigkeit an einen Zweck, Machtinteressen, Gelderwerb, Titelgewinn. Vergemeinschaftungsinteresse etc. gebunden. Stetsgeht es dann darum, eine Gruppeüber einen Zweck zu konstituieren. Die Übereinstimmung mit dem Zweck, den zu verfolgen die Gruppe sich gegründet hat, fällt folglich mit der Zugehörigkeit zu ihr zusammen. Während die sinnlogische Bedingung, dass Zugehörigkeitfraglich wird, in diesen Fällen darin besteht, dass Zwecke nicht mehr gegeben sind, lässt sich auch an weniger verbindliche Zugehörigkeitendenken, wenn man sich in der Schlange aufdem Postamt anstellt oder als Schüler beim Sportunterricht in Mannschaften oder in Arbeitszusammenhängen in Arbeitsgruppen eingeteilt wird. Hier können die Verbindungen zwischen den Gruppenzugehörigen von äußerst kurzer Dauer und spontan sein. Die Beziehung untereinanderkann sachlich-abstrakt oder vertraglich-geregeltüber ein gemeinsames Ziel oder ganzflüchtig - Einkaufsschlange - sein. Der Anlass, nach der Zugehörigkeit etwa zu einem Mannschaftsteil zu


166

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

fragen, könnte simpel darin bestanden haben, nicht aufmerksam zugehört zu haben, als es um die Festlegung der Gruppen ging. Im Gegensatz dazu wäre die Zugehörigkeit zu einer Familie zu sehen . Hier ginge es nämlich um eine nahweltliche, emotionale Beziehung. Die Zugehörigkeit zu einer Familie lässt sich im Falle von Kindern beidseitig nicht wählen und ist an Blutsverwandtschaft geknüpft - bis aufdie Ausnahme einer einseitigen Wahl bei Adoption. Partner schließen hingegen einen Ehevertrag und bilden damit eine Familie. Man kann in eine Familie auch als Schwiegersohn oder -tochter einheiraten. Darüber hinaus kann Familienzugehörigkeit auch religiös oder spirituell gefasst sein (kirchliche Trauung) . Im spirituellen Sinne lässt sich etwa auch an eine Gemeinde denken (als Kinder Gottes) oder an eine Abstammung als Kind einer jüdischen Mutter, mit der die Glaubenszugehörigkeit theologisch begründet tradiert werden kann. Ganz allgemein kann es um religiöse Zugehörigkeit qua Glauben gehen, dies beschreibt die innere Seite der Subjekte, die zugehörig sind. Beim Glauben ist es eine stark subjektive, z. T. emotionale Überzeugung von etwas, etwa der Glauben an die Existenz eines übernatürlichen Wesens oder eine Allmacht, einen höheren Sinn, eine höhere Ordnung etc. Diese Form der Zugehörigkeit kann über Rituale manifestiert oder auch aktualisiert werden, Glaubensbekenntnisse, Gebete, Initiationsriten (Beschneidung u. ä.) . Ebenfalls lässt sich an eine ethnische Zugehörigkeit zu einem Volkoder Stamm denken, die entweder über tatsächliche Abstammung oder eben den subjektiven Glauben an eine gemeinsame Abstammungsgeschichte und damit Tradition, ganz unabhängig davon, ob objektiv eine solche Abstammung vorliegt oder nicht. Womit noch Mal an Max Weber zu erinnern wäre (Weber 1972). Zugehörigkeit kann sich aber auch aufgrund biologischer oder körperlicher Merkmale, beispielsweise zu einer Blutgruppe, zu einem Krankheitsbild oder einem Phdno- oder Genotyp, Haarfarbe, körperliches Geschlecht u. a. einstellen. Zugehörigkeit von Menschen beinhaltet sinnlogisch entweder ein versachlichtes oder ein soziales Verhältnis zwischen einem Individuum und einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft nach bestimmten Kriterien oder Kategorien. Sie kann aber auch instrumentell-technische Züge annehmen, indem Menschen wie Sachen, Objekte, verdinglicht werden . Mit ihr ist immer auch die Frage nach Ordnung und Verortung und deren Kriterien, ebenso den Zugängen, der Integration oder Desintegration, ebenso einer Inklusion oder Exklusion verbunden. Zugehörigkeit kann interaktionslogisch selbst- oderfremdzugeschrieben werden. Sie kann aktiv oder passiv sein . Sie kann aufgrund innerer Überzeugungen oder aufgrund äußerer Merkmale, aufgrund gewählter Kriterien getroffen oder, wie im Falle von Abstammung, nicht gewählt werden. Zugehörigkeit macht ein Pas-


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

167

sungsverhdltnis deutlich, das total oder partiell sein kann. Das Individuum kann sich mit der Gruppe zum Teil oder völlig identifizieren, wie es ebenso von außen in Teilen oder ganz damit identifiziert werden kann . Ist, wie hier, die Zugehörigkeitfraglich, ist das Ich, entweder insgesamt oder in Teilenfragw ürdig, in diesem Fall ihr selbst. Fragwürdige Zugehörigkeit kann auch die Gestalt einer Frage nach dem eigenen Ich in seiner sozialen Beziehung, die Art des Zugehorens, die ihm selbst fragwürdig geworden ist, annehmen. Es kann dies auch die Frage nach strategischer Verortung. etwa zum eigenen Vorteil, oder bei hoher Identifikation den Verlust personaler Integrität durch Identitätskonjlikte beinhalten. Dies müsste die weitere Rekonstruktionslogik aber erst sequenzanalytisch ergeben. Darüber hinaus istfestzuhalten: Indem Zugehörigkeitfraglich ist, wird ebenso eine Nichtzugehörigkeit thematisiert, wenn auch nicht explizit, denn die Frage kann sinnvoll nur gestellt werden , wenn eine Differenz oder ein Unterschiedfestgestellt werden kann : Ein negatives Passungsverhdltnls, das eine Person hier indirekt, d. h. ohne das Kriterium zu äußern , mitteilt. Die interessante Frage wird sein, wodurch dies interaktionslogisch ausgelöst wurde und an welche der möglichen Bedeutungen sequenzlogisch angeschlossen wird? Wozu gehöre ich denn eigentlich [ ... ] (Z.97)

denn ist hier nicht kausal zu verstehen, weil keine Begründungfür etwas gegeben wird. Ebenso fällt die Verwendung mit einem Komparativ (" etwas ist besser denn je ") weg. denn macht in diesem Fall sinnlogisch aufeine Bedingung oder ein Folge, die eine solche haben kann, eine Konsequenz, die gezogen werden könnte, aufmerksam: " Wenn dies oder das gilt, was ist denn dann damit?" Das Bindewort unterstützt hier die Fragwürdigkeit der Zugehörigkeit. Es drückt zudem Überraschung aus. Es kann sich auf eine Bedingung oder Voraussetzung beziehen, die in der Interaktion vorher geäußert wurde, oder auf etwas, was der sprechenden Person als Folge einer Handlung, die vollzogen worden ist, oder eines Plans, der mehr oder weniger explizit geäußert wurde, auffällt. denn kann sich aujwozu, also aufdie Kategorie der Zugehörigkeit, oder aufdas ich beziehen, also das Subjekt der Zugehörigkeit, als Fall oder Exemplar, wenn man so will. Zum einen steht mehr die Einordnungsgruppierung oder Kategorisierung als solche, zum anderen die Passung oder Beziehung im Fokus und wird durch die Frage problematisiert. Wozu gehöre ich denn eigentlich [ . . . ] (Z.97)


168

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

eigentlich verweist aufetwas, das unverstellt ist. Etwas Wesentliches, etwas das einer Sache oder Person zu Eigen ist, zu ihrer Substanz gehört und nicht akzidentell oder beiläufig ist. Es kann sich mit eigentlich das Bemühen ausdrücken, einer Sache aufden Grund gehen zu wollen . eigentlich kann auch synonymfür authentisch, echt, gebraucht werden. Die Rede von Eigentlichkeit setzt sinnvoll Uneigentlichkeit voraus. Die Verwendung von eigentlich verweist also strukturlogisch darauf, dass auf irgendetwas Uneigentliches verwiesen wird, wovon eben das Eigentliche zu unterscheiden ist. Es führt einen Modus ein, in dem etwas benannt werden soll oder gegeben ist, eben dem der Eigentlichkeit, womit also die Art und Weise, in der zuvor etwas , vielleicht in einem Sprechakt Geäußertes oder etwas, was das Sprechen in seiner Art charakterisiert oder dessen Kontext als uneigentlich vom Sprecher eingeschätzt wird. Das Uneigentliche wird aber nicht offen thematisiert - bisherjedenfalls nicht. eigentlich steht zum uneigentlich Geäußertenjedenfalls in Opposition und somit wird eine Differenz eingeführt. [ ... ] gehöre ich nicht auch zu Afghanistan?

(Z.970

Es folgt wieder eine Selbstthematisierung des Sprechers. Auffällig ist sequenzlogisch daran vor allem, dass augenscheinlich Explizierungsbedarjbestand. Die zuvor gestellte Frage, die bis hierher wohlgeformt durchaus auch für sich hätte stehen können, musste wohlpräzisiert werden. Die Frage nach Zugehörigkeit allein, wie sie im vorherigen Sprechaktteil geäußert wurde, scheint nicht auszureichen, um deutlich genug zu werden . Damit scheidet die Lesart einer existenziellen Frage, wozu jemand denn überhaupt gehört, aus, denn es wird weiter expliziert und differenziert. Freilich kann die Zugehörigkeitsproblematik dennoch in existenzieller Weise den Sprecher betreffen . Dies lädt allerdings aufdie Binnenseite der Sprecher, die wir objektiv hermeneutisch nicht erschließen können. [ . . . ] gehöre ich nicht auch zu Afghanistan?

(Z.970

Als Explikation oder Differenzierung von Zugehörigkeit wird zu Afghanistan zu gehören eingeführt. Afghanistan bezeichnet ein Land, ein geographisches Territorium oder aber eine Nation. Üblicherweise spricht man von einer Zugehörigkeit zu Afghanistan im Sinne eines Staatsgebietes oder einerjuristischen Einheit. Dieser oderjener Landstrich gehört zu Afghanistan, auf ihm gilt das Recht des Staates Afghanistan und deswegen gehört dieses oderjenes Gebiet zu Afghanistan. De jure wird ein solches Recht von außen geschützt durch das internationale Recht aufAnerkennung der Souveränität. Da es sich hier aber gerade nicht um


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

169

solche Kontexte, sondern um den Kontext einer personalen Zugehörigkeit eines Sprechers zu einem Land, Staat oder Gebiet handelt, muss die Frage lauten, in welchen Lesarten ein solcher Sprechaktpersonaler Zugehörigkeit zu einem Land, in dieser Weise geäußert, wohlgeformt ist. Personen können Staaten etwa als Bürger zugehörig sein. Man ist ein afghaniseher Staatsbürger, wenn auf seine Person ein afghaniseher Pass ausgestellt wurde, und damit ist man diesem Land in spezifischer Weise mitpolitischen Rechten und Pflichten zugehörig. Die Person wäre also systemtheoretisch gesprochen in das politische System aufdiese Weise inkludiert:" Ebenso wäre an eine Zugehörigkeit zur nationalen Armee zu denken . Hier unterstünde das Individuum der Befehlsgewalt. Der Zugang zum Militär kann entweder durch Beruf oder einen Wehrdienst, durch Mobilmachung im Kriegsfall oderfreiwillig möglich werden . Gegebenenfalls könnte aber auch die Zugehörigkeit zu einer Fußballnationalmannschaft so ausgedrückt werden . In einer solchen Verwendungsweise ist es nämlich durchaus geläufig, seine Mitgliedschaft oder sein Fantum derart zur Sprache zu bringen. Ein Spieler gehörte dann zu Afghanistan, wenn ihn der Nationaltrainer in die afghanisehe Nationalmannschaft berufen hat. Fan einer Nationalmannschaft ist man in sozialer Hinsicht, indem man sich einer " vorgestellten Gemeinschaft" (vgl. Noh12006) von Fans einer Nationalmannschaft hauptsächlich zugehörig fühlt, ihr anschließt, ihre Rituale und Zeichen teilt und von den anderen als solch Zugehöriger anerkannt wird. Die Zugehörigkeitsbedingungen sind in beiden Fällen höchst unterschiedlich, während im einen Fall einformaler Sprechakt der Er- oder Benennung erfolgen muss, spielt sich die Zugehörigkeit zur Fangemeinschaft hauptsächlich in der Imagination der Fans ab. Der Fan fühlt sich als Teil eines größeren Zusammenhangs, bisweilen geht er darin auf. Die Gruppe zählt mehr als der Einzelne, die Fangruppe ist der Summe der Einzelnen gegenüber emergent. Man fühlt mit dem Team, ohne eingreifen zu können . Der Fan ist in diesem Sinne passiv. Das Individuum nimmt an einem Schauspiel mit hoher Emotionalität als Fans vergemeinschafteter Individuen teil. Auch die Nation kann eine solche imaginative Folie der Vergemeinschaftung, wenn sie mit entsprechenden Attributen ausgestattet und emotional aufgeladen wird, bilden . Die europäische Nationalstaatengründung ist historisch nur für die westeuropäischen Staaten weitestgehend im 19. Jahrhundert abgeschlossen und mündete durch Imperialismus und in einen aggressiven Militarismus, letztlich im Faschismus und den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine zweite europäische Welle der Staatengründung erfolgte insbesondere in Ost76

Systemtheoretisch gesprochen, überdie Berücksichtigung des spezifischen Kommunikationscodes des politischen Systems.Vgl. auch TeilA der Arbeit.


170

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

europa im 20. Jahrhundert durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Viele Staaten , die dadurch ihre Unabhängigkeit erlangt haben, sind gegründet worden bzw. mussten sich gründen. Interessant zu beobachten ist, neben der juristischen und politischen Seite, also auch der administrativen und gesellschaftlichen Seite, welche emotionalen und imaginativen Dimensionen dies haben kann. Worin besteht die Identität eines Staates oder einer Nation überhaupt? Woran lässt sich historisch anknüpfen? Kultur? Tradition? Sprache? Welche? Und sind diese Gemeinsamkeiten, letztlich der Lebensformen ausreichend, um eine vergemeinschaftende Wirkung zu haben? Selbstverständlich sind die Dimensionen eines imaginativ-emotional aufgeladenen Nationalkonzepts politisch dann problematisch, wenn sie mit einer notwendigen Versachlichung moderner gesellschaftlicher Beziehungen in Konflikt gerät. Dennoch ist es als Phänomen auch jenseits des Sports im Kontext von Land oder Nation zu beobachten und darf, muss daher sogar hier als mögliche plausible Lesart heran gezogen werden, um die personale Zugehörigkeit zu einem Land zu charakterisieren. Selbstredend ist an dieser Stelle noch nicht ausgemacht, welche Beziehung in Form von Zugehörigkeit zu Afghanistan hier strukturlogisch den Fall bestimmt, aber die möglichen Sinnkontexte sind eröffnet, die Lesarten in ihrer Komplexität entfaltet worden .

[ ... ] gehöre ich nicht auch zu Afghanistan? (Z.97E) Es handelt sich bei nicht um eine Negation, die allerdings eine Position zum Inhalt hat. Dies wird oft als rhetorische Figur eingesetzt, um Zustimmung einzufordern. In dem Sinne , es gäbe doch wohl auch gute Gründe, die aber nicht benannt werden. Darin steckt ein persuasiver Charakter des Sprechaktes, da in ihm die Gründe nicht benannt werden, sondern nur darauf angespielt wird, es gäbe solche. Das Bekanntsein der Gründe wird auch beim Zuhörer vorausgesetzt, dem man mit einem solchen Sprechakt die Zustimmung abverlangt, ohne dass ihm die Gründe dafür mitgeteilt werden. Wenn in der Interaktion nichts Vorhergehendes darauf verweisen sollte, wird mit dem Sprechakt etwas Verborgenes als Verständliches eingeführt. Schärferformuliert, wird dadurch vorausgesetzt, dass es bekannt sei. auch kann sich entweder aufdie Gruppe derjenigen beziehen, die Afghanistan zugehörig sind, oder eben aufeine multiple Zugehörigkeit. Der Sprecher thematisierte dann entweder wie andere eben auch Afghanistan zuzugehören oder eben neben anderen Zugehörigkeiten zu anderen Ländern oder anderen Weisen der Zugehörigkeit auch zu Afghanistan zu gehören.


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

Sw7:

171

Wozu gehöre ich denn eigentlich, gehöre ich nicht auch zu Afghanistan? (Z.97f)

Hier ist nun vor allem interessant, aufdie Charakterisierung des Sprechersubjekts einzugehen. Es spricht eine Schülerin. Dennoch lässt sich einefalloffene Kontextualisierung kontrastivfortführen. Die interaktionslogischen Besonderheiten schulischen Sprechens sindjedoch anderer Stelle zuvor bereits extensiv rekonstruiert worden, sodass dies aufdieser Ebene der Rekonstruktion an dieser Stelle der Darstellung daraufverzichtet werden kann. Allerdings wird in der folgenden strukturlogischen Ausdeutung wieder aufdie Sprecherin eingegangen. Lm:

Ähm... (Z. 99)

Wichtig ist für die Interaktionslogik zunächst festzuhalten. dass es sich bei dem protokollierten Sprechakt augenscheinlich um einen Dialog zwischen einer Sch ülerin und einem Lehrer handelt und nicht um ein Gespräch zwischen Schülern. Damit ist er Teil des ojJiziellen Unterrichtsgeschehens. Da, wie oben, den Besonderheiten institutionalisierten Sprechens schon genügend rekonstruktionslogische Aufmerksamkeit geschenkt wurde, werden diese hier vorausgesetzt. Festzuhalten ist, dass Lm nicht direkt inhaltlich antwortet, sondern der Diskurspartikel Ähm signalisiert eben hier, die Frage gehört zu haben, den Kontakt damit also aufzunehmen, aber noch Zeit zu benötigen, eine Antwort zu formulieren. Setzt man eine Vorbereitung des Unterrichts voraus, lässt sich vermuten, Lm hat diese Frage wahrscheinlich nicht erwartet, zumindest nicht in seiner Vorbereitung, denn sonst käme die Antwort schneller. 77 Es lässt sich aber auch eine schwächere, weniger 77

Zu überlegen wäre aber, ob es sich nicht dabei um etwas Strukturell-Systematisches handelt, was sich hier über Unterricht erfahren lässt , also die Unvorhersehbarkeit und damit mangelnde Planbarkeit von Unterricht. Entscheidend ist ebenso , in welcher Theoriesprache sich dies benennen lässt. Als, emphatisch gesprochen, lebendige Interaktion, also nicht vorhersehbare und damit nicht festgelegte, nicht kausale verknüpfte Kommunikation, ist die Spontaneität der an schulischer Interaktion beteiligten Sprechersubjekte - in diesem Sinne ist vor allem an die Schüler zu denken - eine Bedingung, ohne die über Bildung zu reden substanzlos wäre, macht doch erst die freie Entfaltung auf die Welt hin Bildung in einem vollgültigen Sinne aus, wenn man sich im Kern auf die humboldt'sche Tradition des neuhumanistischen Bildungsbegriffes und der mit ihr formulierten freien Wechselwirkung von Ich und Welt bezieht. Aus Sicht der Bildungstheorie wäre dies die nicht vorhersehbare Bildungsbewegung des Subjekts, die anzustoßen, die vomehmliche Aufgabe schulischen Unterrichts wäre und die mit einer solchen Frage , wie sie zuvor gestellt wurde, als Rückfrage an das unterrichtliche Geschehen, ggf. an die Inhalte, vielleicht ihren Anfang nehmen könnte . Didaktik käme aus dieser Perspektive die Aufgabe zu, durch entsprechende Bearbeitung und Vorbereitung des Gegenstandes, sich auf eine solche Bewegung vom Subjekt aus zu richten und diese zu ermöglichen, eingedenk der Tatsache, dass sich diese Bewegung nicht kausal erzwingen lässt. Hinzuzufiigen wäre in Bezug auf die Aufgabe des Pädagogen, zu


172

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

voraussetzungsreiche Lesartformulieren, der Diskurspartikel werde deshalb geäußert, damit Zeit zum Nachdenken über die Form bleibt, obwohl der Inhalt fiir den Sprecher klar ist. Er also vorbereitet war, aber noch eine Form sucht, in die er seine Gedanken bringen will. Schüler: ... (kichern) ... (Z.100)

Schüler kichern ist offenbar ein Kommentar zu etwas. kichern ist kein offenes Lachen, es äußert sich in der Schwebe zwischen Deutlichkeit und Undeutlichkeit, zwischen nach innen gewendeter Zurücknahme und offener mimisch-gestischer Ä·ußerung. kichern ist Lachen in sich hinein. Kommentiert werden kann entweder der Sprechakt von Lm oder derjenige der Schiilerin, bzw. als Alternative die Form der Interaktion. Oder aber es bezieht sich überhaupt nicht aufdiese beiden Sprechakte, sondern aufetwas, das nicht im Protokoll verzeichnet wurde, weil es nicht zu den wahrnehmbaren akustischen Signalen gehörte. Wenn wir diese Möglichkeit einmal außer Acht lassen und den Bezug zum Sprechakt von Lm aufmachen, dann kann das kichern seitens der Schüler als vergemeinschaftender Kommentar gegenüber einem rollenspezijisch hierarchisch Höhergestellten gelten, der durch das Füllwort deutlich macht, nicht direkt aufeine an ihn gerichtete Frage antworten zu können, obwohl dies von ihm qua Berufsrolle im Sinne des Wissensvorsprungs gegenüber den Schülern verlangt werden könnte . kichern hätte also vor allem fiir die Schüler eine psychische Funktion, sie, die durch die Lehrperson qua asymmetrischer Rolleninteraktion, die strukturell immer gegeben ist, ganz gleich wie reformpädagogisch der Unterricht stilistisch gehalten wird, belehrt werden, zu entlasten. Die Spannung, die fiir die Schüler mit Unterricht einhergeht, nicht nur in die Schule gehen zu müssen , sondern dabei ständig beobachtet, weil letztlich bewertet zu werden, insbesondere der auf sie einwirkenden Erziehungsfunktion. die in der Sekundarstufe I noch stärker als bei Erwachsenen im Vordergrund steht, löst sich durch ein kichern. Insofern bezieht es sich auch aufdie Form der schulischen Interaktion.

entdecken,wann ein solcherProzesssich geradevollziehtund ggf. diese ins Unterrichtsgeschehen aufzunehmenund damit eben auch dieAbweichungvom eigenenPlan. Diese Theorieperspektive ließe sich mit der systemtheoretischenSichtweisemaximalkontrastieren.Aus deren Perspektive stellt (doppelte) Kontingenz nämlich ein grundlegendes Kennzeichenjedweder, also nicht nur schulischer Kommunikation dar. Eine solche Theorie geht eher von der Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation aus und fragt sich, wie angesichts einer solchen Unwahrscheinlichkeit Kommunikationdennochgelingenkönnte. Dafiirsind in der Systemtheoriesymbolische Kommunikationsmedien zuständig, die z. T. eben auch in Institutionen verankert sein können. Didaktik hätte die Aufgabe kontingente Kommunikationerwartbar zu machen.


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitungim Unterricht-

173

Kontrastiert man kichern mit Lachen, wirdfolgendes deutlich. Wenn das Lachen sich aufden Sprechakt von Lm bezieht, dieser aber keinen Witz gemacht hat, sondern wie in dieser Sequenz, Zeit zum Nachdenken benötigt, wäre es nah daran, sich über ihn und eine (vermeintliche) Schwäche, nicht direkt antworten zu können, damit einen Teil von Macht und Souveränität einzubüßen, lustig zu machen, Lm eben auszulachen. Genau dies tun die Schüler aber nicht. Bleiben wir in dieser Lesart, so zeigt sich seitens der Schüler ein feines Gespür fiir das Interaktionsgejüge und ihre Möglichkeiten, ihre Rolle zu interpretieren . Sie kommentieren das Geschehen und gewinnen ihm damit einen Reiz ab und entladen sich psychisch , aber bleiben dabei in Grenzen, die ihnen gezogen sind. Dies könnte auch noch Mal an die schülerethnographischen Forschungen von Georg Breidenstein (Breidenstein 2006) anknüpfen. Sie kommentieren durch kichern und tun dies vor zweierlei Publikum: einmal gegenüber dem Lehrer und zeigen ihm damit ihre soziale Stärke, aber auch vor sich selbst als Peers. Hierin steckt auch die Funktion, sich als Öffentlichkeit, die eine Meinung äußert, als Bündnis zu konstituieren. In solchen Kommentaren stiften sie eine Öffentlichkeit jenseits schulischer Rollenerwartungen an sie. Sie werden nämlich nicht aufgefordert, sich zu äußern, sondern sind in ihrer Reaktion spontan und evaluieren ihrerseits das Geschehen und Lm. Das heißt aber auch, es geschieht bloß jür eine kurze Dauer. Danach zerfällt die Öffentlichkeit und die Schüler sind wieder in sozialer Hinsicht vereinzelt. Das sozial Vergemeinschaftende entsteht durch das geteilte Wissen über den Kontext, die Folie , vor der etwas jür sie kommentierungswürdig ist, sowie die gemeinsame Reaktion, das gemeinsame kichern in der Gruppe. Bezieht man das kichern der Schüler aufdie A'ußerung der Schiilerin, wird diese entweder in ihrem Inhalt kommentiert oder in ihrer Form. Durch die Frage wird, wie bereits erwähnt, etwas Selbstverständliches aufgehoben undfragwürdig. Wenn die Zugehörigkeit der Schiderin für sie selbstfragwürdig ist, könnte das die Schüler deswegen belustigen , weil sie der Meinung sind, so etwas jür sie Selbstverständliches sei doch jedem geläufig. Es kann jedoch auch so sein, dass den Peers das Selbstkonzept der Schidenn hinsichtlich Zugehörigkeit bekannt ist, und sie kichern, weil sie dies trotzdem offen thematisiert und sich damit traut, aus der Anonymität der Schülergruppe als Individuum heraus zu treten und die persönliche Ansprache, die allerdings allen galt, anzunehmen, und auf ihre Person und damit ja als Unterrichtsgegenstand zu thematisieren. Damit würde sie aufder Grenze zwischen inoffiziellem und offiziellem Unterrichtsgeschehen balancieren und zwar vor Publikum des Kurses , vor den Peers, die dies mit Belustigung quittieren.


174

C Fallminiaturen: SchulischePraxis InterkulturellenUnterrichts

Lm:

Also, wenn du über Sitten, Kultur und Heimat Afghanistans Bescheid weißt, dann gehörst du auch dazu. Kannst dich entscheiden. (Z.101-103)

Lm antwortet nun inhaltlich aufdie Frage der Schülerin und nicht aufdie Reaktion der kichernden Schüler. Also kündigt eine Folge aus etwas, eine Konsequenz, die gezogen wird, an. Es handelt sich im Folgenden wieder um eine Explizierung von Implikationen des zuvor Geäußerten und hier aufdie personale Zugehörigkeit. Lm nimmt hier seine Definitionsmacht an, die ihm berufsrollenbezogen zukommt. Angesichts der Komplexität des Zugehörigkeitsgeschehens, wie es rekonstruiert wurde, wird hier nun ein weiteres Kriterium fiir Zugehörigkeit eingefiihrt: das Wissen über Sitten, Kultur und Heimat. Während dieses Kriterium sich noch mit dem fiir die Einteilung in Gruppen hervorgehobenen nationalethnischen Abstammungskriterium harmonisiert, kann doch jemand der von einer Ethnie abstammt oder per Abstammungsrecht einem Land zugehört auch über dessen Sitten, Kultur und Heimat etwas wissen, doch der Zusatz, die Schülerin könne sich entscheiden, gerät dazu jedoch in Widerspruch, denn gerade nationalethnische Abstammung ist genau dasjenige Kriterium, das eine Entscheidung obsolet werden lässt. Wie lässt sich dieser Widerspruch , der durch den Wechsel der Zugehörigkeitskriterien bedingt wird, erklären. Entwederfehlt es Lm tatsächlich an Wissen, unterscheiden zu können, folglich nicht zu wissen, dass es dabei um unterschiedliche Zugehörigkeitsformen geht oder bei seiner Antwort handelt es sich nicht nur um eine, die auf den Inhalt der Frage seitens der Schülerin gegeben wird, sondern sie ist mit der Pragmatik des Unterrichts - seiner Planung, Gestaltung und Organisation - verknüpft, denn mit der Nachfrage der Schülerin, kann, wie es die Rekonstruktion ergab, eine Mehrfachzugehörigkeit verbunden sein. Diese allerdings würde das gesamte Unterrichtssetting einer Gruppeneinteilung qua nationalethnischen Zugehörigkeitskriteriums erheblich fraglich werden lassen. Seine Antwort differenziert undflexibilisiert die vorherigen doch eher rigiden Abstammungskriterien. Wäre der Unterricht ganz in der Sache, müssten die Beteiligten darüber stolpern und ihnen deutlich werden, inwieweit die Zugehörigkeitsthematik unterkomplex behandelt wird. Dieser Eindruck kann durch das Protokoll insgesamt nicht bestätigt werden . Was sich finden lässt, sind Einvernehmlichkeiten mit dem Prozess des Unterrichtens und dessen Struktur wird akzeptiert. In Bezug aufdie Schülerin ist interessant zu sehen, dass sie sich nicht wieder dazu meldet, sie also die Bühne offiziellen Unterrichts mit diesem Anliegen nicht wieder betritt, damit aufdieser Ebene Zufriedenheit zu signalisieren.


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitungim Unterricht-

175

Strukturlogische Ausdeutung In der Frage, die nun rekonstruiert wurde, materialisiert sich, strukturlogisch gesprochen, in expliziter, weil eben in Frageform formulierter, Weise eine Strukturkrise im Sinne der Terminologie Oevermanns, Eine Routine scheint nicht länger zur Verfügung zu stehen, zumindest ist diese im buchstäblichen und praktischen Sinne fraglich, um den Übergang von einer zur anderen Sequenz handlungsstabil aufrecht erhalten zu können. Die Zugehörigkeit wird damit krisenhaft. Welcher Art ist die Krise? Lässt sie sich bildungsbezogen interpretieren? Betrifft die Krise also nicht bloß die pragmatische Gruppenzuordnung? Der Interaktionsrahmen, in dem die Äußerung fällt, ist doch durch die Einteilung in Gruppen und zwar nach national-ethnischen Kriterien, wie sie zuvor rekonstruiert wurde, bestimmt. Zu Afghanistan zu gehören, ist nämlich, so gesehen, ein Zugehörigkeitskriterium für mindestens zwei Kontexte, erstens auf die Gruppeneinteilung der Schüler im pädagogischen Setting der Gruppenarbeit bezogen, also die Frage nach unterrichtsorganisatorischer Zugehörigkeit, zu welcher Gruppe man sich nun setzen soll, und zweitens aufder inhaltlichen Ebene, welche Art von personaler Zugehörigkeit denn nun den Ausschlag gibt, sich dieser oder einer anderen Gruppe anzuschließen.

Persönliche versus spielerische Zugehörigkeit Die Frage der Schülerin darf aber strukturlogisch so eingeschätzt werden, dass dies durchaus gar nicht entschieden werden muss. Es wird beides offen gehalten und bleibt in uneindeutiger Schwebe, die auch einen Schutz der Schülerin bedeutet. Denn dadurch wird auch eine etwaige persönliche Dramatik der Zugehörigkeitsproblematik aufdiesem Wege unschädlich banalisiert. Die pragmatische Einteilung für den Unterricht wird mit der Frage nach personaler Zugehörigkeit und damit einem möglichen Bildungsgehalt im Sinne der Grenzziehung zwischen offiziellem und inoffiziellem Unterrichtsgeschehen vermischt. Dies ist aber umgekehrt nur dann möglich, wenn dazwischen eine Differenz besteht. Worin könnte diese bestehen und wie wird sie seitens der Schüler bearbeitet? Als Strukturhypothese ließe sich formulieren, der Unterricht besteht aus einer Art Spiel, in dem Schülersubjekte die Rollen nationaler Ethnien als Türken, Russen, Afghanen etc. bloß spielen, sie folglich die Zumutung, sich als Personen in den Unterricht zu integrieren zurückweisen, und damit sich auch der über die Gruppenarbeit nahegelegten oder interpellativen Subjektivierungsweise entziehen, die durch den Lehrer qua institutionalisiert machtvollen Sprechens aufgerufen wird. Die Rekonstruktion machte deutlich, dass die Schülerin auf etwas aufmerksam machte, was sie gleichzeitig verbarg. Denn die Gründe für ihre Zugehörigkeitsproblematik wurden nämlich weder benannt noch weiter erfragt, sondern ihr


176

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Sprechakt erwähnte eben nur die Problematik als solche. Wären die Gründe hingegen dem Lehrer bekannt, etwa eine Mehrfachzugehörigkeit der Schülerin, dann hätte er seinen Unterricht, der aber nun genau eine solche multiple Identität ausschließt, durch sein Ordnungskriterium national-ethnischer Zugehörigkeit bzw. Abstammung, von vorne herein anders organisiert. Ansonsten müsste man davon ausgehen, es handele sich bei Lm um einen leicht vergesslichen Lehrer, worüber das Protokoll keinerlei Hinweise gibt, oder um einen Lehrer, dem die Kursteilnehmer nicht bekannt sind. Auch dies kann nicht sein, weil die forschungspragmatische Wahl auf diesen Kurs auch und gerade aus dem Grund gefallen war, solche Besonderheiten des Falles von Anfang an auszuschließen. Die Idee bestand nun einmal darin, einen möglichst alltäglichen Fall zu rekonstruieren. Folglich muss die Art und Weise, die hier deutlich wird, einer anspielungsreichen öffentlichen, weil vor Publikum geäußerten, und dennoch verborgenen, weil die Gründe dafür unerwähnt bleiben bzw. vorausgesetzt werden, Heimlichkeit, darin bestehen, den bereits informierten Zuhörer dafür zu interessieren. Nur derjenige also, der informiert ist, der den Kontext der Äußerung kennt, kann auch darauf reagieren. Das Publikum muss also aus den informierten Schülern bestehen. Hierin scheint auch der Grund für ihr kommentierendes Kichern zu liegen.

Emergenz versus Reduktion Es hätte sich, durch die Frage nach Zugehörigkeit der Schülerin ausgelöst, aber eine Vielzahl möglicher sinnvoller und, durch die Komplexität der Zugehörigkeitsproblematik bedingt, emergenter Anschlüsse, die im Zusammenhang, dem Land Afghanistan zuzugehören, ausgedeutet wurden, sinnvoll ergeben können. Die multiplen Zugehörigkeitsweisen werden aber vom Lehrer in seiner Antwort dagegen auf den Wissensbegriffbegrenzt, die inhaltliche Komplexität somit wiederum reduziert. Seine Antwort ist, so ergab es die Rekonstruktion, strukturlogisch funktional, da der Unterrichtsprozess weiterläuft. Er hält zwar an seinem Unterrichtsplan der Gruppenarbeit fest, einen Fragebogen zu entwickeln, dessen Fragen im Folgenden dann den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe gestellt werden. Jedoch um den Preis eines unterkomplexen Zugehörigkeitskriteriums, das - und hierin liegt bildungsbezogen interpretiert die praktische Konsequenz des Falles - seine sozialisierende Kraft erhält. Das Kriterium signalisiert den Schülern eine Teilnahme am Unterricht in den dafür vorgesehenen national-ethnischen Kategorien als Türken, Russen, Afghanen etc. Die Frage der Schülerin ist auch deswegen so interessant, genauer beleuchtet zu werden, gerade weil mit ihrer Antwort deutlich wird, inwiefern die Institution Schule ihren Bildungsauftrag in diesem Sinne unterläuft, da die Bildungsdimensionen, die in der Sache Zugehörigkeit liegen, im Unterricht nicht entfaltet werden,


3. Zugehörigkeitsfragen und ihre Bearbeitung im Unterricht-

177

und auch deswegenso ausfiihrlich rekonstruiertwurden. Statt die Bildungsdimensionen aufzufächernwird unterrichtstechnisch reagiert, das Geschehenfunktional bearbeitet. Der Unterricht läuft als Prozess und Organisationweiter, weil hier sequenzlogischdeutlich gemacht werden konnte, dass die national-ethnische Zugehörigkeitsdimension auf Nachfrage der Schülerin"Wozu gehöre ich denn eigentlich" in eine Wissenskategorie umgemünzt wird. Sinnlogischbetrachtet hätte Lm über diesewidersprüchliche semantischeVerschiebung stolpernkönnen.Auch der Fall ,genialer Didaktik' im Sinne einer paradoxen Interventiontritt nicht ein: Die national-ethnische Zugehörigkeit selbst derart zum Thema zu machen, etwa indem der Lehrer auf die ihm gestellte Frage antwortet: "Genau, deswegenmachen wir das Ganze hier ja, weil Zugehörigkeitenkomplexer sind", folglich die Zugehörigkeitsproblematik reflexiv zu wenden. Integration versus Desintegration

Brisantwird die Zugehörigkeitsthematik aber dennochdadurch, dassLm institutionell Zugehörigkeit zuspricht. Den Schülernbleibt nichts anderesübrig, als sich zuzuordnenund einzuordnen, sichalsounter dienational-ethnische Dimension zu subsumieren, ganz gleich, welche subjektiven Strategiensie entwerfen, sich dieser zu entziehenoder welcheTaktiksie wählen,um deutlichzu machen,dass sie eben gar nicht in der Lebenslage sind, als Russe,Afghane,Türke, Inder etc. zu sprechen. Ihr Artikulationsrahmen wird eingegrenzt statt ermöglicht, obwohlsie als individuelle Personenangesprochen sind. In der Rolle des Lehrersdaraufzu setzen,die Schüler artikulierten sich schon von sich aus, wenn sie Schwierigkeiten mit Zugehörigkeiten hätten, muss als naiv eingestuftwerden, da die Machtder Institution, die sich in ihrengesellschaftlichen Funktionen, trotzallerKritikdaran,manifestiert. DieNachfrage zeigt nun auch, wie routiniertim Unterrichtvom Lehrer gehandeltwird, wobei sich die Routineeher an einemreibungslosen Ablauf des Unterrichts orientiert, statt, wie es nicht nur wünschenswert wäre, sondernim Sinne des schulischen Bildungsauftrages nötig wäre, sich an der Bildungsbewegung der Schülerzu orientieren. DieseEinschätzung sollabernicht als Schuldzuweisung an Lm missverstanden werden, sondern vielmehrdeutlich machen, wie wenigdie Schulorganisation als solche in der Lageist, sichan denBildungsprozessen von Schülern zu orientieren, denn Lms Handelnist organisationsbezogen geformt. Der zeitlicheRahmeneben vorgegeben, den Bildungsinhalt so zu organisieren, ihm eine Form zu geben, die auch in die zeitliche Taktung etwaeinerUnterrichtstunde von 45 Minutenpasst.Die Rekonstruktionsminiatur zeigt allerdings, wie wenig das schulische Settingaugenscheinlich dazu in der Lage ist, auf spontane Äußerungen seitensder Schülereinzugehen,


178

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

sie in den Unterricht zu integrieren, obwohl sie als solche durch die personale Adressierung darauf in Form von Gruppenarbeit ausgerichtet war. Es entsteht folgende Paradoxie: indem Lm versucht, die Künstlichkeit der Vermittlungssituation dadurch aufzubrechen, die Schüler als lebensweltliche Personen zu integrieren, desintegriert er sie, weil zum einen der Artikulationsrahmen zu stark eingeschränkt ist und die Schüler die latente Übergriffigkeit auf sie als Personen zurückweisen. Zum anderen scheinen sie zu ahnen, dass sie doch mehr zum Personal eines Unterrichtsplans werden, als dass sie sich als ernstzunehmende Personen im Sinne von Bildungssubjekten artikulieren können.

4.

Schülerkonßikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten "Vor allem mit der Frage der Religion." "So Kulturen, das ist irgendwie nicht modern." (Miniatur IV)

Der nun folgenden Rekonstruktion liegt, wie bereits angekündigt, gegenüber den vorherigen Rekonstruktionen nicht länger ein Unterrichtstranskript zu Grunde, sondern das Protokoll einer Gruppendiskussion" mit Schülern, die nach Abschluss der Unterrichtsreihe ca. ein halbes Jahr später außerhalb der Schule mit Ihnen geführt wurde. Gemäß der Fallbestimmung, wie sie im forschungsmethodischen Kapitel vorgenommen wurde, spielen hier folglich interaktionslogische Dimensionen insofern keine Rolle, als sie sich auf die Praxis Gruppendiskussion mit Schülern beziehen, denn das empirische Material wird hier nicht daraufhin untersucht, welche Sinnlogik die sozialen Prozesse und interaktionsbezogenen Dynamiken innerhalb der Gruppendiskussion als Praxis bestimmt, sondern es geht hier ganz um die Logik der subjektiven Aneignung, also die Verstehensprozesse und subjektiven Theorien, Deutungen und Deutungsmuster der Schülerinnen und Schüler, die in ihren Beiträgen in Bezug aufden Unterricht, seine Struktur oder Organisationsform und seine Themen, deutlich werden. Letztlich soll an diesem empirischen Material anschaulich gemacht und plausibilisiert werden, wie die Schüler den eigenen Unterricht, den sie selbst besucht haben, in ihre eigenen Sinnkontexte einarbeiten. Aufgrund des insgesamt objektiv-hermeneutischen Zuschnitts des Forschungsdesigns und der heuristischen Unterrichtsskizze, die mit den Begriffen von Unterrichten und Aneignen operierte und die neben der Funktion, Unterricht als wechselseitigen hermeneutischen Prozess der Schulakteure zu verdeutlichen, eben auch dazu dienen sollte, die erkenntnisleitende empirische Aufmerksamkeit zu systematisie78

Es lässt sich im Anhang finden.


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

179

ren, steht also folglich der Text der Diskussionsbeiträge seitens der Schüler zur Rekonstruktion und nicht die sich im Protokoll ausdrückende Interaktionslogik der Diskussionspraxis als solcher. Die Rekonstruktion wird nun wiederum in einzelnen Sequenzen dargestellt, deren Durchführung jetzt allerdings weniger feinsequenzanalytisch nachgezeichnet werden, sondern vornehmlich mehr deren Ergebnisse präsentieren soll, nachdem das minutiöse sequenzanalytische Vorgehen anband der letzten drei Miniaturen ausreichend exemplifiziert wurde, um zu verdeutlichen und nachvollziehbar zu machen, aufwelchem Weg die Ergebnisse gewonnen wurden. Es wird an dieser Stelle auch aus rein räumlich bedingter Rücksichtnahme so verfahren, denn nun werden auch etwas längere Protokollauszüge vorgestellt. Die Konsequenzen, die sich aus dem jeweiligen Verhältnis von Extension und Plausibilität ergeben, sind bereits an anderer Stelle, zu Beginn der Falhniniaturen, diskutiert worden, sodass dies im hiesigen Zusammenhang nicht wieder aufgegriffen werden soll. Um das umfangreiche empirische Material zu systematisieren, sind vorab daher methodisch eher inhaltsanalytisch motivierte Bemerkungen den Sprechakten vorangestellt und damit Zäsuren gesetzt worden, um daraufhin die für die Fragestellung interessantesten Passagen auszuwählen und zu rekonstruieren.

Rekonstruktion Der Einstieg in die Gruppendiskussion verliefzunächst vor allem für den Forscher äußerst interessant, denn er konnte durch die Schülerreaktionen darüber belehrt werden, dass der Impuls, den er mit seinem Diskussionseinstieg verknüpfte, in zunächst anderer Weise seitens der Schüler gelesen wurde, als er es intendiert hatte . Als Einstieg diente eine kurze visuelle Präsentation einer Szene aus dem aufgezeichneten Unterricht, die auch diejenige Miniatur enthielt, die in der vorliegenden Arbeit als Miniatur III zuletzt rekonstruiert wurde. Ausgewählt wurde diese Szene, weil in ihr Zugehörigkeit aufgrund der Einteilung, die Lm für die Gruppenarbeit vorgenommen hatte, persönlich problematisiert wurde. Gezeigt wurde in der Szene aber ebenso kurz ein Vorlauf, der zeitlich vor der Äußerung der Schülerin lag, in welchem der Lehrer das Unterrichtssetting der Gruppenarbeit, die Einteilung der Schüler in nationalethnisch geordnete Gruppen und das Ziel, eine Befragung der Schüler untereinander in Gang zu setzen, vorstellt, damit die Schüler nach der doch inzwischen vergangenen Zeit, noch Mal die Gelegenheit dazu bekamen, sich an den damaligen Unterricht zu erinnern. Nachdem ihnen also die Szene gezeigt wurde, steigen die Schüler zunächst (Z. 68-141) damit ein, ihr eigenes Befremden über das Medium zum Ausdruck zu


180

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

bringen. Sie konzentrieren sich in ihren Kommentaren mehr auf die Darstellungsweise denn den Inhalt der Äußerungen. Sie sind belustigt und irritiert darüber, sich und ihren alten Klassenraum zu sehen, in den sie offenbar jetzt nicht mehr gehen, und wundem sich, wie auffallend laut die Nebengeräusche in der Stunde waren. Sie erwägen, ob dies auch an der technischen Aufnahme und der Mikrophonierung in der Forschungssituation gelegen haben könnte oder ob der Lautstärkepegel normal für den Unterricht sei. Es schließt sich danach, auf Problematisierung des Forschers hin, eine eher unterrichtstechnische Phase (Z. 141-219) an, in der diskutiert wird, ob die Einteilung in Gruppen im Kontext des Unterrichts als didaktische Instruktion des Lehrers den Schülern überhaupt klar wurde. Hier wird deutlich, dass nicht alle sofort begriffen haben, was zu tun ist, aber kurze Zeit später ihnen deutlich wurde, was sie denn nun tun sollen. Dies wird dann verallgemeinernd besprochen, wie sie ihrerseits im Unterricht jeweils für sich versuchen, Aufinerksamkeit auf das offizielle Unterrichtsgeschehen zu lenken, und wie dies ihnen gelingt oder misslingt. Ebenso wird in diesem Zusammenhang auf das soziale Verpflichtungsgefiige des inoffiziellen Unterrichtsgeschehens verwiesen (Z. 208t), das innerhalb der Peers bzw. innerhalb des Kursverbandes zwischen den Schülern herrscht. 79 Im Anschluss an die Frage, die der Forscher der Diskussionsgruppe stellt, ob sie denn das Thema der Stunde, aus der sie sich den Ausschnitt anschauten, interessant gefunden haben (Z. 240t), entsteht plötzlich eine Diskussion über den Inhalt der Stunde, der dann auch für die Forschungsfragen im engeren Sinne aufschlussreich wurde, insbesondere zunächst für diejenige nach dem fallspezifischen Kulturbegriff, der sich nun hier in der Aneignungslogik der Schüler widerspiegelt. Nach anfänglichem Zögern und eher etwas zurückhaltenden Antworten, die wahrscheinlich der Vokabel ,interessant' geschuldet sind, welche dem Sprachgebrauch des Forschers entstammt und nicht demjenigen der Schüler - also vermutungsweise überwiegend seine Perspektive als diejenige der Schüler dokumentiert - entsteht eine freigängige Passage, in der von einigen Diskussionsteilnehmern durchaus Aspekte des Unterrichts hervorgehoben werden, die sie als interessant bewerten. Hervorzuheben ist, dass durchgängig diejenigen Gesichtspunkte als eben interessant eingestuft werden, die sie nicht wussten. Weiter wird deutlich, vor allem denjenigen Kulturen etwas abgewinnen zu können, die nicht als deutsche" bezeichnet wurden. Diese sei schließlich bekannt. Am Unbekannten scheint also vor allem das Fremdartige zu faszinieren. Nicht mittels Wissen über das für sie jeweils ganz 79 80

In der ersten Miniatur ist auf diese Passage der Gruppenarbeit bereits Bezug genommen worden . Der Wortlaut des Textes übernimmt an dieser Stelle und im Folgenden die im Unterricht etablierte sprachliche Einteilung, in der Sprache des Falles die national-ethnische Einteilung, auf deren Probleme bereits hingewiesen wurde.


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

181

unterschiedlich Fremde aufgeklärt zu werden, ist das für die Schüler, die sich äußern, Interessante, sondern über Fremdes, i.S. des Unbekannten als solches etwas zu erfahren. Dies erinnert an leichte Formen des Exotismus, der sich hier dadurch zeigt, das Fremde als solches zu adorieren, wie es sich beispielsweise Äußerungen über ein indisches Farbenspiel entnehmen lässt." Die durch die Unterrlchtsgestaltung zugeschriebene deutsche Kultur, über welche die so genannten Deutschen Auskunft geben müssen, wird als eher uninteressant wahrgenommen, wie es die Äußerungen deutlich machen. Die Deutschen seien hinsichtlich ihrer eigenen Kultur zudem uninfonniert, sie wissen nichts über ihre Kultur, wird behauptet. Darüber hinaus wird der Vorwurf laut, religiöse Feste würden nicht deswegen gefeiert, weil man religiös sei, sondern weil man Geschenke bekäme, folglich statt an Religion am Konsum interessiert sei. AufNachfrage seitens des Forschers, wie sie sich erklärten, dass ihrer Meinung nach diese Schüler wenig über ihre Kultur wissen, antwortet eine Schülerin im Wortlaut des sich anschließenden Sprechakts, der nun wieder genauer rekonstruiert werden soll: [

.. . ]

Sw2: [

Ja, ich glaube, die interessieren sich nicht für ihre eigene Kultur (lacht). Also manche ... (Z.329f)82

... ]

Da zuvor keine Frage gestellt wurde, die positiv oder negativ beantwortet werden kann, ist Ja ein interaktionslogisch wohlgeformter Anschluss, mit dem in zustimmender Weise inhaltliche Aspekte der Diskussion aufgenommen und bejahend fortgesetzt werden . Die Schiilerin Sw2 greift an dieser Stelle die in der Diskussion bereits benannte etablierte kulturelle Differenz auf, indem eine andere Gruppe oder Mehrzahl von nicht näher bestimmten Individuen - in der Diskussion vorher als Deutsche benannt - mit die bezeichnet wird. Gerade in der Unbestimmtheit drückt sich Anonymität aus und kann so gelesen werden, die dementsprechend Bezeichneten entweder nicht näher definieren zu wollen oder zu können . Da es jedoch um andere Schüler aus dem Kurs geht, die der Schülerin bekannt sind, wäre es ihr möglich gewesen, sie sogar namentlich zu bezeichnen, aber offenbar soll dies hier eben nicht geschehen.83 Die Anonymität kann aber auch als Abfälligkeit 81 82 83

Vgl. Z. 286f. des Transkripts zur Gruppendiskussion, das erstellt worden ist. Es liegt der Arbeit im Anhang bei. Diese und die folgenden Zeilenangaben beziehen sich aufdas Transkript der Gruppendiskussion. Die Schiilerin verweist an anderer Stelle der Gruppendiskussion noch Mal explizit daraufhin, die hier Benannten nicht beim Namen nennen zu wollen (vgl. Z. 441) . Daraus lässt sich schließen,


182

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

gelesen werden, diejenigen erst gar nicht als Personen zu bezeichnen, sondern als unpersönliche Gruppe, der in dieser Form dadurch auch eine persönliche Anerkennung nicht zukommt. Die Mischform ist dabei das Entscheidende, dies gleichsam in der Schwebe zu halten .84 Die Anderen, also die im Unterricht so genannten Deutschen, werden nun als solche Schüler qualifiziert, die sich nicht für ihre eigene Kultur interessieren. Damit werden eben auch, beiläufig und doch logisch implizit, Wir und Die gegenübergestellt, was die Frage nach der Form der Vergemeinschaftung der Gruppen aufwirft. Aufwelche Weise konstituiert sich die eine Gruppe gegenüber der anderen? Wird die Opposition noch Mal aufgegriffen, inhaltlich noch weiter bestimmt werden? Der anderen Gruppe wird ein Manko attestiert, sich nichtfiir die eigene Kultur zu interessieren , und dadurch werden die Gruppen in Kulturinteressierte und Kulturuninteressierte klassifiziert. Es ist zu vermuten, dass sich die Schülerin als kulturinteressiert einstufen wird und sich somit in einer Gruppe der Kulturinteressierten verortet. Jedoch wird ihre Aussage von ihr selbst stark relativiert, indem sie mit ich glaube daraufverweist, das Ausgesagte vielleicht nicht ganz genau zu wissen, sondern eher zu vermuten. Denn hier spielt der Glaube in einem wahrnehmungs- oder erkenntnisbezogenen und nicht im religiösen Sinne eine Rolle. Mit dem BegriffInteresse versucht die Schidenn sich den fraglichen Sachverhalt zu erklären , indem sie auf die Verbindung der anderen Schüler mit dem Gegenstand Kultur eingeht. Damit vermutet sie etwas über deren Innenwelt. Sie nimmt damit ebenso die Frage des Forschers auf der ja danach gefragt hatte, ob der Unterricht fiir die Schüler interessant war. Ihre Antwort lässt sich aufdie Formel bringen: interessant sein kann das, worin jemand sich interessiert zeigt. Was sie sich zu erklären versucht, ist, warum eine Gruppe so wenig Interessantes über die ihnen zugeschriebene Kultur zu berichten wusste undfindet eine Antwort im mangelnden Interesse. Zudem wird die Aussage mit dem Zusatz versehen Also manche und damit, zusätzlich zur vorherigen Relativierung, nun in seiner Verallgemeinerungsfdhigkeit eingeschränkt wird, folglich die vorherige Sequenz auch diesbezüglich relativiert. Ihr Lachen (lacht) nimmt der sprachlichen Klassifikation einerseits sei-

84

sie zwar dem anwesenden Forscher gegenüber nicht denunzieren zu wollen , aber sie dennoch genau zu charakterisieren. Den Wortlaut in der Schwebe zu halten, lässt Interpretationen auf das Verhältnis der Sprecher zum Forscher zu. Dies beträfe allerdings die fallbezogene Interaktionslogik der Gruppendiskussion als Forschungspraxis, die, wie eingangs erwähnt, nicht rekonstruiert werden soll. Dennoch ist daran hervorzuheben, dass einerseits die an der Diskussion Teilnehmenden bereitwillig und gern Auskunft geben und selbstverständlich gleichzeitig Grenzen ziehen. Als Untersuchungssubjekte, die sie sind, stecken sie ihren Rahmen, in dem sie etwas sagen wollen .


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

183

ne soziale Schärfe, die aber andererseits aufrein sprachlicher Ebene in scharfer Kontur bestehen bleibt. Ihr Lachen kann sich aber ebenso auf die Diskrepanz von eigener Kultur der Anderen und deren Desinteresse beziehen . Das Eigene kann als dasjenige an Kultur gelten, das es zu einemje Eigenen macht. Folglich in dieser Lesart zu ihnen wie selbstverständlich gehört. Dass diese Selbstverständlichkeit anscheinend nicht gilt, mag fiir die Schülerin zum Lachen gewesen sein. Wirhaben es hier mit einer kulturalisierten Klassifizierung seitens einer Schülerin zu tun, die Schüler des Kurses Praktische Philosophie in Gruppen zu ordnen. Diese zuschreibende Klassifizierung, die trotz allen Bemühens sprachlicher Relativierung seitens der Schülerin offen und freimütig geäußert wird, und wahrscheinlich letztlich wohl auch dem Umstand, dass gerade diejenigen, die ihr als an ihrer eigenen Kultur Uninteressierten gelten, persönlich zur Gruppendiskussion nicht erschienen sind", geschuldet ist, erhält im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion den Stellenwert, als ein Deutungsmuster der sozialen Strukturlogik der gesamten Gruppe zu fungieren, denn alle, die sich an der Diskussion beteiligen, akzeptieren diese und beziehen sich darauf, auch wenn sie sich jeweils ganz unterschiedlich dazu positionieren. Es darffolglich als ein bestimmendes Deutungsmuster innerhalb der Gruppe der anwesenden Diskutanten gelten. Insgesamt wird bis zu dieser Stelle der Gruppendiskussion daneben deutlich, dass die Begriffe national-ethnischer Zugehörigkeit - die Deutschen - seitens der Schüler benutzt werden. Genau so, wie sie auch schon im Unterricht benutzt wurden. Die Schülerin deutet eine inhaltliche Attraktivität, das Interessantsein des Unterrichts als ein persönliches Interesse: interessant sein kann das, woran sich jemand interessiert zeigt. Es wird noch zu diskutieren sein, inwieweit sich diese so formulierte Deutungsweise aufdie Unterrichtsgestaltung beziehen lässt. Vermutlich steht sie im engen Konnex zum Unterricht, denn dieser setzte seitens des Lehrers, wie gesehen, in besonderer Weise aufPersonalisierung.

8S

Wobei die Einladung sowohl an alle ging, wie auch die Eltern schriftlich darüber informiert wurden . Sie wurde im Kurs vom Forscher ausgesprochen, als alle daran teilnehmenden Schüler anwesend waren, und an alle gerichtet. Selbstverständlich war es aber freiwillig, der Einladung zu folgen, somit eben die Teilnahrne an der Gruppendiskussion insgesamt ins Belieben der Teilnehmenden gestellt. Eine Verpflichtung daraufhätte aus forschungsmethodischer Sicht vielleicht den Vorteil gehabt, dass die gesamte Gruppe anwesend gewesen wäre , doch auch den Nachteil , den schulischen Zwang zur Teilnahme in die Gruppendiskussion hinein zu verlängern, von der man sich doch methodisch das Gegenteil, freie Gesprächspassagen zu ermöglichen, verspricht. Wenn nun gleich zu Beginn den Diskutierenden signalisiert wird, nicht aus freien Stücken anwesend zu sein, wäre womöglich das Ziel schon gefährdet gewesen (vgl. zur Methode der Gruppendiskussion Bohnsack 2000).


184

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Im weiteren Verlauf ist zu beobachten, welchen Kulturbegriff diese Schülerin, aber auch die anderen Diskussionsteilnehmer nun benutzen, welchen sie aus der Vielfalt möglicher Auffassungen für sich wählen und damit als symbolische Ressource gebrauchen, um die für sie relevante soziale Praxis sowie deren Akteure zu beschreiben. Wird die bis hierher genutzte national-ethnische Begrifflichkeit weiter genutzt, wird sie näher ausformuliert? Die Schüler legen dann folgend im Zusammenhang mit Kultur den Fokus auf Religion und Religionszugehörigkeiten, die im Kurs vielfach - Muslime, Juden , Christen, römisch-katholisch, evangelisch, russisch-orthodoxe - vertreten sind. In der Gruppendiskussion wird auf einen Konflikt verwiesen , der im Folgenden beschrieben wird und der die anschließende Diskussion in weiten Teilen inhaltlich bestimmt. [

.. . ]

Sw2:

... vor allem mit der Frage der Religion, da konnten halt einige einfach manche Sachen nicht einsehen, die wir dann erklärt haben, vor allem über den Islam und seitdem ist das halt so'n bisschen so, dass auch wenn ich dann was zum Unterricht sag', dass ich dann so'n bisschen komisch angeguckt werde und die halt manchmal blöde Kommentare abgeben und ich hab' denen das jetzt auch schon gesagt, aber das interessiert die nicht wirklich. (Z. 409-417)

[

... ]

Kultur, so wird in dieser Passage deutlich , ist für die Schülerin mit Religion verknüpft. Bezieht man diesen Kulturbegriff aufseine soziale Funktion, die er hier fallspezijisch bekommen hatte, so gibt es folglich Religiöse und Atheisten in der Schidergruppe. die dadurch weltanschaulich strukturiert wird. Hier reproduziert sich, so lässt sich mit Blick aufdie schulische Strukturbildung sagen, die institutionelle Organisationsstruktur, denn Zugang zum Kurs haben diejenigen Schüler, die Religion abwählen und diejenigen, die einer Religion angehören, die nicht als Fach angeboten wird. Der Unterricht, wenn man so will, hat es also bereits mit dieser Strukturbildung zu tun, bevor er beginnt. Deutlich wird, dass es wohl einen Konflikt um Religionszugehörigkeit gegeben hat und die Schülerin sich wieder mittels erster Person Plural, wir, vergemeinschaftet. Unklar bleibt weiterhin, wer zu dieser vergemeinschafteten Gruppe gehört und wer sich dazu zählt. Sieht sie sich innerhalb einer Gruppe von Muslimen? Denn inhaltlich geht es ja um die


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

185

Religion des Islam, über den die Schülerin und andere wohl gesprochen haben in der Situation, aufdie sich hier bezieht. Sie erklärt sich die Ablehnung der Anderen, von denen sie komisch angeguckt wird und blöde Kommentare erhält, mit mangelnder Einsicht und wieder mit mangelndem Interesse. Interessieren scheint, so lässt sich schließen, neben einer Haltung des Subjekts zur Welt auch eine Form der Lebensführung zu sein, etwas ernst zu nehmen und etwas aufnehmen zu wollen. Das Interesse spricht sie der anderen Gruppe, zu der sie sich in Opposition sieht, ab. Zu deren Lebensführung gehört es aus ihrer Sicht wohl, sich nicht zu interessieren, denn das interessiert die nicht wirklich. Die Negation, etwas nicht wirklich zu tun, legt die Frage nach der Deutung nahe, was hier unter wirklich verstanden wird? Hier kann wirklich nicht als Modus einer Entität, wie sie ist oder erscheint, oder wie etwas als solches oder anderes erkannt werden kann, gedeutet werden, denn es geht ums Interesse von Personen , nämlich um das Nicht interessiert sein der Schülerinnen. wirklich bezieht sich also nicht auf die Welt, sondern auf das Subjekt, aufseinen Zustand, seine Haltung oder Einstellung zur Welt oder seine Glaubwürdigkeit. Wernicht wirklich an etwas interessiert ist, dessen Interessen mögen ganz woanders liegen . Im vorliegenden Material hat das Desinteresse in der Deutung seitens der Schülerin jedoch auch eine soziale Dimension, denn Desinteresse an der Sache Islam, bedeutetfür die Schülerin ein Desinteresse an ihr als Person, nicht nur weil sie augenscheinlich religiös ist und dies auch zeigt, sondern weil sie diesen Zusammenhang den Anderen erklärt, sie also an deren Einsicht appellierte. Sie deutet es also so, auch dann zurückgewiesen zu werden, wenn sie sich aufdie anderen einlässt. Darin, so muss gefolgert werden, drückt sich eine Diskriminierungserfahrung aus, aufgrund einer religiösen Zugehörigkeit abfällig bewertet zu werden, weil sich aufdie Versuche, den Glauben zu erklären, die Schüler nicht einlassen. Hierin wird wahrscheinlich auch der Grund der Schülerin für ihre vorherigen sprachlichen Abfälligkeit gegenüber den diskriminierenden Schülern liegen, sie als anonyme Gruppe, und nicht als Personen zu benennen. Sie also auf der beschreibenden sprachlichen Ebene ebenfalls nicht als Personen ernst zu nehmen. Im unmittelbaren Anschluss an diese Passage greift in der Gruppendiskussion eine andere Schülerin das Wort und knüpft sogleich an den Wortlaut an. Aufschlussreich wird sein, zu sehen, ob und in welcher Weise sie den vergemeinschaftenden sozialen Plural (wir) aufgreift, den ihre Vorrednerin benutzt hatte. Sie bezieht zwar ebenfalls Stellung und ebenso stellt sie sich in Opposition zu der anderen Gruppe, doch mit einem ganz anders gelagerten Erklärungsansatz. Sie formuliert ihn als eine subjektive Theorie aus mit den folgenden Worten.


186 [

... ]

Sw4:

[

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Ich glaube, die haben irgendwie eine skeptische Einstellung dazu, so Kulturen, das ist irgendwie nicht modern. Also ich nehm' das so auf, dass die eine skeptische Einstellung haben, halt Skeptiker, das interessiert sie nicht. Dass finde ich doof, mich für meine eigene Kultur zu interessieren, so schätze ich das ein. Ich hatte diesen Eindruck. ( ... ) (Z.418-424)

... ]

Diese Schülerin formuliert ebenfalls eine subjektive Wahrnehmung: ich nehm' das so auf Hier ist bemerkenswert zu rekonstruieren, welche subjektive Theorie sie hat, sich einerseits die Ablehnung von Sw2 seitens der anderen Schüler aber auch deren fehlendes Interesse an der eigenen Kultur, das sie wohl auch so wie Sw2 wahrgenommen hat, zu erklären. Von ihr wird dazu aber ein anders gelagerter Kulturbegriffgenutzt. Sie setzt Kulturen in Gegensatz zum Skeptizismus, der für sie mit Modernität zusammen gehörig erscheint. Wer sich für Kulturen interessiert, ist nicht modern und die Weltanschauung des Skeptizismus verträgt sich nicht damit. Kultur scheint hier, wenn auch nicht in ihren Worten, etwas mit Tradition, zu tun zu haben, wie es sinnlogisch nahe liegt, ihn als Gegenbegriffzur Moderne zu verwenden. Den Modernismus der anderen Schüler charakterisiert sie in Bezug aufderen Desinteresse, wer skeptisch ist, interessiert sich nicht für Kultur. Während der Skeptizismus im philosophischen Sprachgebrauch bedeutet, an (dogmatischen) Erkenntnissen zu zweifeln, radikalisiert er sich in den Worten der Schülerin anscheinend zum Nihilismus, jeglichen Sinn.jedwede Ordnung oder Möglichkeit, etwas zu erkennen, zu bestreiten. So mag dann auch das mangelnde Interesse seine Erklärung finden denn solche Skeptiker finden doof, sich für die eigene Kultur zu interessieren. Sie formuliert dies sprachlich aus der Innensicht der Anderen, es ist also ihre subjektive Alltagstheorie über die innere Haltung der anderen Schüler, die sie als ihre Bewertung, so schätze ich das ein, formuliert und damit relativiert. Im weiteren Wortlaut belegt sie, nach einer kurzen Vergewisserung, ob Sw2 auch betet, ihren Eindruck, den sie von den anderen Schülern geäußert hat, mit einem Beispiel, der den vorher eingeführten Skeptizismus erläutert. Diesem Auszug lässt sich dann auch ihre auch emotionale Haltung entnehmen und zeigt darüber hinaus die Form von Vergemeinschaftung, die in Frage stand .


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten [

187

... ]

Sw4:

( ... ) Also, zum Beispiel, wenn die K. gesagt hat, dass sie, du betest ja, oder? ..

Sw2: Ja. Sw4: Ja, da haben sie so gelacht und ich find' das gar nicht komisch. (424-428) [

... ]

Der bereits beschriebene Konflikt, aufden an dieser Stelle Bezug genommen wird, gewinnt durch das Lachen über die Schülerin auch an emotionaler Schärfe. K., Sw2, wird, weil sie betet, ausgelacht und die Schülerin Sw4 teilt die abwertende Haltung der anderen Schüler zum Beten nicht. Im Gegenteil: sie findet keine Komik darin, sondern zeigt ihre Sensibilität für die Diskriminierung von Sw2, die durch das Lachen zum Ausdruck kommt. Während die anderen sich also über K. erheben, weil sie sich über deren Glauben lächerlich machen, sieht sie darin eben nun mal nichts Witziges. Insofern teilen beide Schülerinnen die gemeinsame Position, im Beten nichts Lächerliches zu sehen . Damit gewinnt der angenommene Skeptizismus seitens Sw4 in ihrer Deutungsopposition Moderne-Tradition weiter an begrifflicher Präzision, denn, so lässt sich die Sinnlogikformulieren, wer nicht glaubt, ist in dieser Deutung Skeptiker. Wenn etwas nicht zum Lachen ist, muss es ernst sein oder es ist nicht gestattet, darüber zu lachen. Zu glauben muss aber einen besonderen Stellenwert gerade auch in der Haltung zu sich selbstfür die Schülerinnen bedeuten, die wiederum mit einem Konzept von Interesse zu tun hat. Glauben ist eine innerliche Gewissheit, die, als Kulturtechnik betrachtet, ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst ist. Die Ernsthaftigkeit als Gegenteil zur Komik ist ein Gut oder ein Wert, der hier anscheinend von beiden Sprecherinnen geteilt wird. Das Lachen der Anderen über den Glauben vergemeinschaftet die beiden Schülerinnen auch dadurch, sich von ihm abzusetzen und sich durch Abgrenzung (die) von den Lachenden zu solidarisieren /" Dies drückt sich auch in ihrer Position dazu aus, die sie jetzt hier in der Gruppendiskussion vertritt, sich solidarisch zu zeigen.

86

Die Vermutung lägenun allzu nahe, das Motiv,sich zu solidarisierenliege darin,dass beide Schülerinnen derselben Glaubensgemeinschaftangehörten,aber dies trifft nicht zu. An einer anderen Stelle in der Gruppendiskussioninformiertsich der Forscher über die Religionszugehörigkeiten. Sw2 ist Muslima, was sie auch äußerlich in ihrer Kleidung deutlich macht, und Sw4 gehört der russisch-orthodoxenKirchengemeinschaftan.


188

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Zwischenzeitlich zusammen gefasst, lässt sich sagen: Durch die Frage danach, ob denn der Unterricht, aus dem den Schülern eine kurze Szene gezeigt wurde, für sie interessant gewesen sei, wird eine Diskussion angestoßen, die bis hierher, auf den Kulturbegriff bezogen, zeigt, dass Kultur von den Diskussionsteilnehmern vor allem mit Religion in Verbindung gebracht wird. Religion scheint hier für sie nicht nur ein mehr oder weniger festes System von Glaubenssätzen zu sein, sondern vor allem Funktionen für ihren lebensweltlichen Relevanzrahmen zu erfüllen: Erstens für eine Lebensführung im Sinne einer Ethik oder eines spezifisch ernsthaften Selbst- und Weltverhältnisses, das ein Konzept von Interesse an Kultur ganz grundsätzlich ermöglicht. Denn auch ihnen nicht geläufige Kulturformen interessant zu finden, erklärten sich die Schüler in Bezug auf den Unterrichtsinhalt mit dem Interesse, das dann deutlich wird, wenn diejenigen Kulturvertreter ihre Kultur selbst auch interessiert. Zweitens ist Kultur und damit Religion eine Ordnungssymbolik, eine symbolische Ressource, die benutzt wird in sozialen Abgrenzungs-, Ausgrenzungs-, Einschließungs- und Ausschließungsprozessen innerhalb der Peers oder der Schülergruppe bis hin zur Diskriminierung, also der negativen sozialen Bewertung einer Person aufgrund ihrer symbolischen, im vorliegenden Fall religiösen, Zugehörigkeit. Nun ist fiir den weiteren Diskussionsverlaufvon Bedeutung, zu rekonstruieren, ob und in welcher Weise das symbolische Inventar rund um Religion als Kultur aufgegriffen und dargestellt wird. Welche Deutungen werden die anderen Diskussionsteilnehmer äußern? Ist die ernsthafte religiös begründete Haltung zur Welt eine, die alle teilen oder inwieweit differenziert und individualisiert sich diese? Welche normative Verbindlichkeit hat sie fiir die anderen und was erklären sie sich wie darüber? Wiederum wird der Konflikt zwischen den beiden schon benannten Parteien, die daran beteiligt waren, erwähnt und diskutiert. Zuvor meldet sich eine andere Schülerin zu Wort, die ihr religiöses Selbstkonzept vorstellt: [

.. . ]

SwO:

[

... ]

... also ich bin zwar jetzt Moslem, aber ich zeig das, also ich mein jetzt, zum Beispiel, ich faste und ich bete auch in der Zeit und ich geh jetzt auch samstags in die Moschee, damit ich da dann auch was lern, so Koran und so, aber die meinten, wenn man das schon macht, dann richtig so mit Kopftuch, aber man muss ja, also ich mein, jeder muss seine eigene [unv.] ... (Z.509-515)


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

189

Die islamischeReligionszugehörigkeit wird hier von der Schülerin aus ihrer Sicht beschrieben. Sie ist ebenfallswie Sw2 Muslima, in ihren Worten: Moslem. Sie erwähnt die Rituale des Fastens und Betens und des samstäglichen Gangs in die Moschee, über die sichfür sie ihreZugehörigkeitaugenscheinlich ausdrückt. Der Moscheegang geschiehtfür sie auch mit dem Ziel, etwas aus dem Koran zu lernen. Sie verwendet aber keine alltäglichen, durch Kleidung sichtbarenZeichen im Gegenteil zu Sw2. Für sie stehen eher Rituale und Praxen, sich religiöszu betätigen, im Vordergrund ihrer Zugehörigkeit. Diese sind als Techniken des Selbst (im Sinne der Antike), als kulturelle Übungen - ich faste und ich bete - zu verstehen, die sich allerdings auch in Gemeinschaft praktizieren lassen: eine soziale Dimension ist bei allemSelbstbezugalso mit eingeschlossen. Fasten als eine Technik begriffen, Enthaltsamkeitzu üben, Beten als Meditation verstanden, eine Technik der innerlichen Versenkung in sich selbst oder in einen Gedanken, seinen Glauben, wenn man so will. Also eine intensive Selbstbeschäftigung, die darum aber nicht solipsistisch sein muss, sondernvielmehreinesozial-räumliche Vergemeinschaftung mit anderen Gleichgesinnten darstellen kann: ich geh jetzt auch samstags in die Moschee. Die Deutungder religiösen Betätigungist kognitiv-emotional aufs Lernen ausgerichtet. Die Inhalte des Lernensgibtfür sie der Koran vor, welcher die Glaubenssätzeformuliert, enthält. Hervorzuheben ist, dassfür die Schülerinan ihrerReligionszugehörigkeit eher den Selbstbezugbetont als beispielsweise den Inhalt von Glaubenssätzen deutlichzu machen. Sie berichtet des weiteren über den Konflikt mit der anderen Schülergruppe, die meinten, wenn man das schon macht, dann richtig so mit Kopftuch, Es geht folglich um eine überzeugendeForm einer Glaubenspraxis, die unterschiedlich definiert wird in den Konfliktparteien. Nach Deutung der hier sprechenden Schülerin, die ihren Glauben eher aufInneres denn auf äußerliche Zeichen der Zugehörigkeit gegründetsieht, kann die Meinung der anderenSchülerzwingendnur zu ihrem Unverständnis darüberführen. Währendnämlich die Anderen in ihrerSicht reklamieren, etwas sei erst dann eine überzeugendeGlaubenspraxis, wenn sie auch äußerliche Kennzeichenderselben trage, istfür sie der Glaubenja dann richtig ausgeübt, wenn sie sich an den Ritualen und Techniken einer Innerlichkeit beteiligt, die sich gerade aufnicht sichtbare Zeichen gründen. A'ußerlichkeit istfür sie kein Zeichenfür Innerlichkeit. Sie entdeckt in der Meinung der Anderen den normativen Vorwurf, etwasfalsch zu machen. Demgegenüberstellt sie sich aufden Standpunkt einer individuellenEigenständigkeit- jeder muss seine eigene - , deren Inhalt leider aufdem Band unverständlich war. Ihre Religionsausübungist also nicht nur inhaltlich an eine Kulturtechnik des Selbst geknüpft, sondern mit einer Entwicklungsaufgabe, seineje individuelleEigenständigkeitzu entfalten, verbunden.


190

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Durch ihre Deutung wird ein Bild ihres Glaubens gezeichnet, das Individualität und Eigenständigkeit, also Freiheitlichkeit in der Entscheidung hervorhebt. Es geht für sie nicht bloß um die Übernahme irgendwelcher äußerlichen Zeichen, sondern die Teilnahme an religiösen Ritualen sind, die Logik des Deutungsmusters extrapolierend, erst dann sinnvoll, wenn sie auf eigenständige Weise praktiziert werden und wenn sie aufdiese Weise zu etwas Eigenem zu einem Bestandteil der Person wird. Das je individuell Eigene ist hier die eigensinnige Weise der Religionsausübung. Sie bestätigt also in ihrer Interpretation die mit der Religionsausübung - Beten, Fasten - verbundene ernsthafte Innerlichkeit. Ebenfalls bestätigt sie die lebensweltliche Bedeutung, welche Religion für sie hat. Die etwas klischeehafte Polarität zwischen Modeme und Tradition, Religiosität und Skeptizismus wird dadurch jedoch um Individualität und Eigenständigkeit oder Eigensinnigkeit erweitert und auf diesem Wege differenziert. Direkt an den Sprechakt der Schülerin anschließend, sprechen zwei Schülerinnen, wovon die erste, Swl, insgesamt oder in Teilen bestätigt, was SwO gerade eben in die Diskussion eingebracht hat. Es ist leider an dieser Protokollstelle aufgrund der Unverständlichkeit der Aufnahme nicht auszumachen. Jedenfalls wird auch von einer weiteren Schülerin etwas bestätigt und dann weiter ausformuliert. [

... ]

Swl:

... [unv.] ja ....

Sw3:

... ja, die haben dann gesagt, du weißt nicht, was du machst, und weißt nicht, wer du bist .... (Z.516-518)

[

... ]

Im Bericht der Schülerin Sw3 wird nun u. a. Identität eingeführt. Es wird ein Vorwurfder Anderen reformuliert, der persönlich adressiert, du, wurde, diese Person wisse weder, was sie mache, noch, wer sie sei. Bei dieser Person handelt es sich wohl um SwO. Das persönliche Fürwort kann aber auch in verallgemeinernder Weise gebraucht werden". Die Ä'ußerlichkeit des in Rede stehenden Zeichens, das Kopftuch nicht zu tragen, führte zum Vorwurf, nicht wirklich religiös zu sein und in diesem Sinne nicht zu wissen, wer man ist. Während Swl also für sich reklamiert, eine individualisierte Form der Religionsausübung zu praktizieren und damit implizit deutlich gemacht hat, es sei ihre Entscheidung, auf welche Weise sie ihre Zugehörigkeit zeigen möchte, verweigern ihr die Anderen, laut Sw3 die Anerken87

Wie im ersten Teil des Refrains eines Schlagers von Juliane Werding: "Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, ein Mädchen kann das nicht" (1975).


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

191

nung als Person, die eine solche religiöse Lebensform pflegt. Sie handele vielmehr, ohne ein Wissen davon zu haben - du weißt nicht, was du machst - und, darin spiegelt sich die hohe Identifikation mit Religion, die wohl von allen Diskutierenden bis zu dieser Stelle geteilt wird, wisse nicht, wer sie sei - weißt nicht, wer du bist - . Wennjemand, eine Person, nicht weiß, wer sie ist, dann hat sie ein Problem, ihre Identität festzustellen. Wennjemand nicht weiß, was er macht, weiß er nicht, welche Motive ihn bewegen bzw. in welchen Kontext er gestellt ist, der sich aufihn, sein Handeln auswirkt. Oder aber dieser Person sind die Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst. Damit wird der Person ihre Mündigkeit und Eigenständigkeit seitens der Anderen aber nun gerade aberkannt. Die Tragik besteht in diesem Fall darin, dass diejenige Schiilerin, die eben aufInneres setzt, nun aufgrund dessen , aufäußerlich sichtbare Zeichen zu verzichten, von den Anderen in Bezug auf ihre religiöse Identität als unüberzeugend wahrgenommen wird. Wer das Symbol nicht zeigt, tritt nicht sichtbar dafür ein, so wird die Logik der Ablehnenden lauten . Folglich wird eine DijJerenzierungsmöglichkeit zugunsten von Eindeutigkeit und Sichtbarkeit negiert. Ein Identitätskonzept, das aufsichtbare Zeichen von Zugehörigkeit reduziert wird. Sichtbare Eindeutigkeit hingegen scheint von den Anderen geradezu gefordert zu werden .

Die Schülerin reforrnuliert hier aus ihrer Sicht Vorwürfe der anderen Schüler, die eine überzeugende Identitätsentwicklung im Zusammenhang mit Religiosität bestreiten. Die Konzepte, wie Religion dann je persönlich gedeutet wird, entstehen strukturlogisch durch den Streit, den sie selbst als aggressiv charakterisieren und der von allen Beteiligten, die anwesend sind, immer wieder benutzt wird, um sich daran deutend und selbstvergewissemd abzuarbeiten." Er stellt für sie implizit einen negativen Bezugspunkt für ihre eigene Vergemeinschaftung dar, die sie sich 88

Wichtig ist forschungsmethodisch an dieser Stelle für die bisherige Rekonstruktion sowie das Folgende festzuha!ten, dass die hier rekonstruierte Logik der wechselseitigen Zuschreibungen aus den Interpretationen der anwesenden Schüler entwickelt worden ist. Insgesamt wird hier nochmals deutlich, wie die anwesenden Schüler sich in Opposition zu der anderen Schülergruppe positionieren. Der die Diskussion bis hierher doch erheblich bestimmende Konflikt gewinnt eine starke Kontur für die Deutungen in Bezug auf Kultur und Religion. Es ist wie ein Diskurs innerhalb der Gruppe , der das Ereignis des Streits zu bearbeiten sucht. Er scheint eine deutliche identitätsstiftende Kraft zu entwickeln. Deutlich wird, wie emotional aufgeladen die Auseinandersetzung für die Schüler gewesen sein muss . Für die Rekonstruktion der Deutungen und ihrer Logik ist es dabei ganz unerheblich, ob die nicht anwesenden Schüler all das wirklich so gesagt haben, denn diesbezüglich ist allein wichtig, dass sich die Anwesenden in ihren Aussagen den nicht Anwesenden gegenüber positionieren und ihre Interpretationen, die sie auf Formen von Zugehörigkeit und Lebensfiihrung beziehen, dadurch gewinnen, ausformulieren und präzisieren. Der tatsächliche Konflikt, mag eher tatsächlich viel spielerischer oder bloß eine Provokation gewesen sein, ist dafür irrelevant, denn es geht an dieser Stelle um die Deutungen des Konflikts seitens der Schüler.


192

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

selbst gegenüber durch jeweiligen positiven Bezug aufeinander sprachlich durch ja anzeigen. Indem sie versuchen, die Vorwürfe und Anklagen der Anderen zu entkräften, konstituieren sie sich als Gruppe , in der sie jedoch je individuelle eigensinnige Entwürfe von Glaubenspraxis und Zugehörigkeit vertreten. Gegenüber einem Vorwurf, der sich aus ihren Schilderungen schließen lässt und der vermutungsweise lautet, religiöse Zugehörigkeit basiere schlicht aufTraditionalismus und Zwang, der zu Unwissen und mangelnder Identitätsentwicklung, Unselbstständigkeit und Unmündigkeit führe , ergreifen die Schülerinnen Partei für Freiwilligkeit und Eigenständigkeit, die sich damit verträgt, zu glauben oder auch an religiösen Ritualen teilzunehmen. Allen gemeinsam ist die Ablehnung reiner Äußerlichkeit, wie es auch die folgende Schülerin formuliert: [

.. . ]

Swl:

[

... ja es ist einfach da und man muss im Herzen selber, also diese Religion, die man hat, dazu muss man Moslem sein und man muss jetzt nicht irgendwie, nur weil man Moslem ist oder aus einem anderen Land zum Beispiel, wo Leute total verdeckt rumlaufen, muss man jetzt auch hier verdeckt rumlaufen. (Z.519-524)

... ]

Was einfach da ist, ist natürlich, von sich aus da, ist selbstverständlich und muss nicht problematisiert werden. Es ist in schlichter Weise gegeben und nicht gemacht. Als nicht Gemachtes kann es auch nicht künstlichsein odergekünstelt. Der Ort, wo es sitzt, ist im Herzen, also im Inneren des Menschen. Das Herz ist ein zentrales Organ, welches lebensnotwendig ist. Wenn es aufhört zu schlagen, endet das Leben. Es istfür die menschlicheExistenzbuchstäblich ausschlaggebend. Das Wort Herz ist vielfachmetaphorisch aufgeladenund bezeichnetoftmalsExistenziellesfür den Menschen. Es geht hier um Religion, die man hat und dazu muss man in einerspezifisch existenziellen Weise religiös sein. Moslem ist man eben nicht durch äußerliche Kennzeichen oderKonventionen - verdeckt rumlaufen - , sondern durch ebendiese spezifisch existenzielle Weise. Auch diese Deutungslogik bestätigtinsgesamtdie charakteristischeInnerlichkeitund damitdie Ablehnungvon.Au' ß erlichkeit im Zusammenhangmit Religionszugehörigkeit und -aus übung. Aufschlussreich ist aber darüberhinaus, dasssich eine etwaige Verbindlichkeit auch nicht aus einemKonventionalismus des Herkunftskontextes eines anderen Landes ergeben darf. Man


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

193

wird wohl in dieser Logik aus einem anderen Land kommen können, wo der Islam konventioneller oder äußerlich strenger, wo Leute total verdeckt rumlaufen, gepflegt wird. Aber dies muss sich nicht aufdas Leben im hiesigen Kontext übertragen . Dazu muss keine Kontinuität hergestellt werden , es bestehtfür die Schülerin keine Notwendigkeit dazu . Im Gegenteil, so lässt sich schließen, kann es auch zum diesbezüglichen Bruch zum Herkunftskontext kommen. Dies wiederum passt in die Logik von Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit, und ebenso auch zur Ablehnung eines religiös-konventionellen Traditionalismus. Eigenstdndigkeit und Eigensinnigkeit gründen aber letztlich für die Schülerinnen in einerfreiheitlichen Entscheidung, wie es der sich unmittelbar anschließende Passus verdichtet. [

.. . ]

Sw2:

Ja, und das haben die eben halt auch nicht eingesehen, dass man das freiwillig macht ...

SwO:

... ja ...

Sw2:

... sondern egal, wer das macht, der wird gezwungen ... (Z. 525-529)

[

... ]

Hier wird der Konflikt, um den sich die Gruppendiskussion bis zu diesem Sprechakt drehte, hinsichtlich der Einschätzung von Motiven, ein religiöses Leben zu führen, in scharfer Opposition der Konfliktparteien zueinander durch Sw2 hervorgehoben . Während die einen behaupten, Religionsausübung könne nur aus Zwang geschehen, reklamieren die anderen für sich das genaue Gegenteil, sich freiwillig für die Religion zu entscheiden.

Die Gruppendiskussion nahm bislang, ausgehend von der Frage, ob der Unterricht für die Schüler interessant gewesen sei, ihren weiteren Verlauf entlang einer Interpretation über ein spezifisches Konzept von Interesse hin zur lebensweltlichen Bedeutung von Religiosität, dessen vergemeinschaftende Funktion vor allem durch Abgrenzung von einer zugemuteten säkular-skeptischen Logik seitens anderer Schüler für die Diskutierenden verbindlich wurde. Es sind dabei unterschiedliche sowie gemeinsame Deutungen von Religion als Kultur im Sinne einer Lebensform von den Schülerinnen in der Diskussion benannt und deren Sinnlogik hier rekonstruiert worden. Darüber hinaus ist die spezifische Relevanz von Religionszugehörigkeit, religiös begründete Praxen und Rituale für die Lebenswelt der


194

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Schülerinnen deutlich geworden. Sie alle thematisieren ihren Bezug zur Religion nicht durch Inhalte und deren Verbindlichkeit, sondern prominent, welchen Einfluss und welche Bedeutung Religiosität hinsichtlich ihrer persönlichen und sozialen Identität haben. Sie alle, so lässt sich vorläufig zusammen fassen, eignen sich Religion in je individueller Weise an und davon ausgehend bildet ihre Religiosität gegenüber einer Problematisierung oder Kritik von außen, hier im Fall durch eine andere Schülergruppe, die sie, übereinstimmend mit der national-ethnischen Ordnungslogik des Unterrichts, als die Deutschen charakterisieren, eine Quelle für Vergemeinschaftungen und eine Ressource der Fremdzuschreibung. Die Frage, die sich hier folglich anschließen muss, ist die, ob die Schülerinnen in ihrer Selbstzuschreibung ebenfalls einer national-ethnischen Ordnungslogik folgen und ob sie überhaupt eine solche Symbolordnung für sich selbst benutzen. Wenden wir mit dieser Perspektive den Blick wieder zurück ins Transkript der Gruppendiskussion, so lässt sich aus der folgenden Textstelle zunächst entnehmen, dass für die Schülerinnen durchaus Mehrfachzugehörigkeiten eine Rolle spielen. Das Konzept Mehrfachzugehörigkeit taucht zum ersten Mal an der Stelle auf, als es darum geht, das Selbstkonzept der Schülerin zu erklären, die in der Szene, die als Diskussionsimpuls diente, ihre Zugehörigkeit problematisiert hatte, und auf die zurück zu kommen der Forscher nun gebeten hatte. Die Interpretation von SwO beginnt zunächst damit, den familiären Kontext der Schülerin, die nicht anwesend war in der Diskussion, zu erläutern. Deren Mutter sei Deutsche (Z. 566). [

.. . ]

SwO:

.... die Eltern haben sich getrennt. ( ... ) ja, das ist halt auch so, wie bei H. und mir, da kam jetzt so, ja nur weil jetzt eine Person Mist gemacht hat, heißt das jetzt nicht, das ganz Afghanistan so ist. Weil das ist so in Gegenwart von uns, weil sie akzeptiert sich gar nicht so als Afghanerin, aber ab und zu, da ist das halt ....

Swl :

. .. zum Beispiel, wo es ihr was bringt, da sagt sie dann zum Beispiel , also, ich bin ja auch aus Afghanistan ...

(Handyklingeln) SwO : [

.. . ]

[unv.] aber sonst, nee, ich bin Deutsche und Moslem zu sein ist irgendwie voll scheiße, allgemein ... (568-581)


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

195

Die Trennung der Eltern wird hier von SwO heran gezogen, um zu erklären , wie es zu einer Ablehnung des afghanischen Bezugs seitens der anderen Schülerin kommen kann . Damit werden persönlich-biographische Motive zur Erklärung eingeführt. Der Vater der Schiilerin, deren Zugehörigkeitskonzept erklärt wird, kommt wohl aus Afghanistan und hat anscheinend Mist gemacht Offenbar wird dem Vater die Schuld an der Trennung gegeben. SwO lehnt aber eine Verallgemeinerung über diesen spezifischen Kontext hinaus ab: heißt das jetzt nicht, das ganz Afghanistan so ist Die Abgrenzung vom afghanischen Kontext - sie akzeptiert sich gar nicht so als Afghanerin - wirdfür die berichtende Schülerin auch sozial virulent: das ist so in Gegenwart von nns. SwO akzeptiert hingegen für sich, Afghanin zu sein. Wenn es eine unzulässige Verallgemeinerung durch die andere Schülerin kommt, kann auch sie davon betroffen sein. Es wird dann nicht nur ganz Afghanistan abgelehnt, sondern auch sie. Das so seitens SwO interpretierte Selbstkonzept der in Rede stehenden Schülerin scheint aberflexibel zu sein, denn sie möchte aufeine gelegentliche Ausnahme hinweisen - aber ab und zu - , die allerdings von Swl inhaltlich ausformuliert wird. Dies lässt sich als strategischer Wechselzwischen Kulturzugehörigkeiten verstehen, die jetzt national-ethnisch seitens der Schülerinnen aufgefasst werden : wo es ihr was bringt, da sagt sie dann zum Beispiel, also, ich bin ja auch aus Afghanistan. Leider werden die Gelegenheiten nicht weiter benannt, in denen SwO und Swl einen strategischen Wechsel behaupten. Aus dem weiteren Verlauf lässt sich zumindest schließen, dass es vor allem dann der deutsch-afghanischen Schülerin aus Sicht von SwO lohnenswert erscheint, aufihre afghanisehe Zugehörigkeit zu verweisen, wenn es nicht um die Religionszugehörigkeit zum Islam geht: aber sonst, nee, ich bin Deutsche und Moslem zu sein ist irgendwie voll scheiße, allgemein. Letzteres verweist dann auch wieder darauf, dass es sich um eine Ausnahme handelt, sich aufden afghanischen Kontext zu beziehen.

Kulturelle Mehrfachzugehörigkeit spielt hier eine Rolle im Sinne einer Strategie. Wenn es Vorteile verschafft, so wird es dieser Schülerin von einer anderen attestiert, dannwerden die Kulturzugehörigkeiten gewechselt. Es ist leider nicht auszumachen, worin der Vorteil bestehen könnte. Wenn allerdings weiterhin gilt, was bisher zur rekonstruierten Deutungslogik einer nationalethnischen Kultur der Deutschen gehört, dannlässt sich eine Attraktivität durchaus vermuten, die wahrscheinlich in der Exotik, der Attraktivität von Fremdheit liegt. Allerdings gilt dies bis aufweiteres nur vermutungsweise, weil es nicht durch das empirische Material gedeckt, sondern ex negativo geschlossen wird. Deutlich wird auch das die natio-


196

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

nal-ethnische Begriftlichkeit und Ordnungslogik als symbolische Ressource in den Distinktionsprozessen eine dominante Rolle spielen innerhalb der Schülerkultur. Eine deutlich strategische Ausrichtung von Mehrfachzugehörigkeit, die auf diesem Wege genutzt wird, zeigt auch der folgende Ausschnitt, in welchem über einen Schüler gesprochen wird, der wiederum nicht anwesend war in der Gruppendiskussion. Eine Schülerin schildert eine Situation, in der sie ihn innerhalb der von ihr so genannten russischen Gruppe, womit sie explizit den Sprachgebrauch des Unterrichts aufgreift, um Hilfe gebeten hat, er sie ihr aber verweigerte. Seine Ablehnung wird von ihr damit erklärt, seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu verneinen." [

... ]

Sw4:

( ... ) Ich glaube, das ist für ihn irgendwie peinlich, Russe zu sein, (lacht) glaube ich.

Swl :

Ja, und wenn es darum geht, da gibt es irgendjemand Berühmtes, weiß ich nicht, zum Beispiel in Mathe, da sagt er dann, ja, ich bin auch so gut und da ist er wieder Russe, aber zwischen seinen Freunden, da sagt er, ich bin Deutscher .

[

... ]

Die Phantasie, das Wünschenswerte oderAblehnenswerte zu unterstreichen undseine Stärkenerklärbarzu machen, kann ebensoeine QuellevonAbgrenzungodergewünschter Zugehörigkeit sein. Das machtauchdeutlich, dassdie national-ethnischen Begri.fflichkeiten mit klischeehaften Zuschreibungen über Fähigkeiten, Schwächen etc.- hier die unterstellte Fähigkeit, RussenseienbesserinMathematik - verbunden sind, die sich einem individuellen Definitionsprozess entziehen. Das Subjekt kann sich dazupositionieren, kann mit diesenBegri.fflichkeiten auchspielerisch umgehen. 89

Ein Zusammenhang der fiir die Gruppe der so genannten Russen insbesondere, aber auch fiir die anderen gilt, und dem man einmal mit biografischen Interviews weiter nachgehen sollte. Die Komplexität von fremd- und selbstzugeschriebenen Zugehörigkeiten wird hier auf eine gewisse Spitze getrieben. Es handelt sich um die Gruppe der so genannten Russlanddeutschen, die im ehemaligen Staatsgebiet der damaligen Sowjetunion deutsche Vorfahren nachweisen konnten und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen nutzten , um nach Deutschland zu migrieren . Dieser Junge migrierte, wie die Sprecherin auch, beispielsweise aus dem heutigen Kasachstan. Die Gruppe erhielt an der Schule gesondert abgehaltenen Sprachunterricht mit überdurchschnittlich mehr Stunden im Fach Deutsch. Also eine schulische Maßnalune der Extrabeschulung, die ihre institutionellen Diskriminierungsfolgen zeitigen wird. Die symbolische Etikettierung muss gewaltig sein fiir solche Schüler.


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

197

Es lässt sich aber darüber hinaus in der vorliegenden Gruppendiskussion auch noch ein anderer Strang von Mehrfachzugehörigkeit finden, der die eigene Identität berührt und zwar hinsichtlich der Sprachpraxis, über die sich ethnische Zugeh örigkeiten für die Schüler manifestieren. Hier wird auch zum ersten Mal der BegriffAbstammung erwähnt. [

.. . ]

Sw3:

[

Ja, aber so gesehen, weiß ich auch nicht, wer ich bin, ne, weil meine Eltern sind kurdischer Abstammung und ich kann n bisschen kurdisch, eigentlich bin ich dann auch ne Kurdin, aber eigentlich kann ich kein Kurdisch, also bin ich ne Türkin, aber meine Eltern sagen: nach der Abstammung her bin ich ne Kurdin, aber ich soll, ich soll eher sagen: ich bin ne Türkin, weil ich halt kein Kurdisch kann und ich find's auch so gut. (lacht)

... ]

Zu Beginn wird ein Identitätsproblem benannt - weiß ich auch nicht, wer ich bin . Dies wird jedoch nur aus einer spezifischen Perspektive - so gesehen - formuliert. Man gewinnt den Eindruck, es handele sich um ein Gedankenspiel, denn um ein ernstes Identitätsproblem, denn zum Abschluss wird der Wechsel von ethnischen und sprachgemeinschaftlichen Zugehörigkeiten von der Schülerin positiv bewertet: und ich find's auch so gut. Sie schließt sich dem Rat ihrer Eltern an, die ihr empfehlen, wenn sie über ihre Identität Auskunft geben soll, zu sagen, sie sei Türkin und nicht Kurdin, weil sie die Sprache nicht beherrsche. Auffällig ist, dass es für sie augenscheinlich Situationen gibt, in denen sie über ihre Identität Auskunft geben soll. In ihrem Relevanzrahmen, wie auch vermutungsweise in demjenigen ihrer Eltern, spielen Zugehörigkeiten keine große Rolle, was den spielerischen Charakter unterstreicht. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Reaktion aufunterkomplexe Zugehörigkeitszumutungen seitens ihrer sozialen Umwelt, statt in den Kategorien Ethnizität und Sprache vielgestaltige und heterogene Zugehörigkeiten unterscheiden zu können aufeindeutige Monokultur zu setzen. Sie begegnet dieser Zumutung mit einer spielerischen Lösung, zwischen den Zugehörigkeiten kurdisch und türkisch zu wechseln, ohne dass es für sie zu einer ernsthaften identitätsbezogenen Desorientierung kommt.


198

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

Mit dieser letzten Textpassage soll die Rekonstruktion der Gruppendiskussion bis auf weiteres erst einmal beendet werden. In der sich anschließenden Ausdeutung hingegen noch Mal auf etwas abstrakterer Ebene die Logiken der gewonnenen Deutungsmuster zusammen gefasst, präzisiert und systematisiert werden.

Strukturlogische Ausdeutung Ziel, die Gruppendiskussion durchzuführen, war es, über das Material protokollierter Unterrichtsstunden hinaus, etwas über die Aneignungsweisen der Schülerinnen und Schüler und deren Logik zu erfahren. Von der Datenerhebungsmethode wurde erwartet, die doch für schulischen, d. h. institutionalisierten Unterricht charakteristische Form eines vermittelten Sprechens der Schüler, die auch in den vorangegangenen Rekonstruktionen Thema war - die Struktur offizieller/inoffizieller Unterricht - zu umgehen, indem man der Schülergruppe außerhalb der Unterrichtspraxis eine Möglichkeit bietet, sich offen auszudrücken. Die forschungsmethodische Absicht ging auf: In der Diskussion gab es doch einige freigängige Passagen, in denen die subjektiven und sozial geteilten Deutungslogiken rekonstruierbar wurden. Die Schüler reagierten aber zunächst nicht auf den Inhalt des Diskussionsimpulses, mit dem seitens des Forschers versucht wurde, die Diskussion in Gang zu setzen, sondern auf dessen Präsentation als Videoaufzeichnung. Nach dieser Phase gelang es jedoch die Diskussion stärker auf den gezeigten Inhalt zu fokussieren, die dann anschließend um die zentralen Themen von kultureller Zugehörigkeit kreiste . Interessant ist Interessiertsein an etwas

In Bezug aufeine Aneignungslogik des Unterrichts, seiner Themen und seiner Form, seitens der Schüler lässt sich zunächst einmal grundsätzlich festhalten, dass jene in beträchtlicher Weise vermittelt über die Lebenswelt der Schüler in Erscheinung treten. Derjenige Relevanzrahmen, in dem etwas für sie Bedeutung hat, ist weniger der Unterricht als Vermittlungssituation oder sozialer Interaktion, sondern ihre sozialen Beziehungen in Peer- bzw. Schülerkultur. Der Wert, den sie dem Unterricht abgewinnen können, das für sie Interessante daran , ist dannfür sie gegeben, wenn es über ein persönliches Interessiertsein anderer an den Unterrichtsinhalten charismatisiert wird . Bezogen aufdas Unterrichtsszenario der Gruppenarbeit wurden diejenigen Beiträge zur Kulturzugehörigkeit folglich dann als interessant eingestuft, wenn sich diejenigen auch darin interessiert zeigten. Es wurde folgendes Deutungsmuster dafür, worin für sie der Wert des Unterrichts steckt, gefunden:


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

199

interessant sein kann das, woran sich jemand interessiert zeigt. Dies umfasst konzeptuell sowohl das je eigene als auch das Interesse der anderen. Religiosität als Lebenskunst und symbolischer Ressource

Die mit der Gruppenarbeit zugeschriebenen national-ethnischen Zugehörigkeitsdimensionen spielen auch fiir die anwesenden Diskussionsteilnehmer eine Rolle, vor allem in einer kulturalisierten Klassifizierung der anderen Schüler, die nicht anwesend waren, als die Deutschen. In diesem Zusammenhang berichteten die Schüler von einem Streit, dessen Interpretation, Erklärung und Bewertung die Diskussion in weiten Teilen bestimmte. Der Konflikt und dessen Deutung seitens der Schüler prägt auch die Vergemeinschaftungs- und Abgrenzungsprozesse der Schüler untereinander. Thematisch ging es in dem Disput, wie es sich den Aussagen der Schüler entnehmen ließ, um eine glaubwürdige Religionszugehörigkeit und Glaubenspraxis, an der sich die Identitätskonzepteder Schüler festmachen.Es geht hier folglich um einen Konflikt, der sich um Anerkennung von Lebensformen dreht, in diesem Sinne ist hier Kultur als Lebensweise zu begreifen, die von den anwesenden Schülern zunächst dominant als Religion aufgefasst wird. Der Streit wird an zuschreibenden Deutungen festgemacht, die sich auf die jeweiligen religiösen Lebensweisen beziehen, diese aber nicht nur verstehend einordnen, sondern auch bewerten hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft, kurz ihrer Glaubwürdigkeit. In derjenigen Sozialisationsphase von Jugend, in der sich Identitäten herausbilden, wird deutlich, dass die Schüler gegenseitig um Zugehörigkeitenkämpfen und dies zum Teil auch zu Diskriminierungen führen kann. Die wesentliche symbolische Ressource ist dabei Kultur, von ihnen begriffen als religiöse Zugehörigkeit. Den Kulturbegriff dominant als Religion zu verstehen, verspricht ihnen zweierlei: Einerseits Deutung von sozialer Welt zu sein und ihnen auf diesem Wege Regeln und Werte, die Ernsthaftigkeit und Interesse versprechen zu geben. Dadurch erwarten sie fiir sich ein ernsthaftes Selbst- und Weltverhältnis.?" Kurzum: Eine Ethik als Lebenskunst. Gleichzeitig ist das Religiöse, hinsichtlich seiner sozialen Funktion betrachtet, eine kulturelle Ordnungssymbolik,welche genutzt wird, um sich abzugrenzen, sich und den jeweilig Anderen Kultur zuzuschreiben. Über die kulturelle Symbolik laufen die sozialen Einschließungs-undAusschließungsprozesse. Hier ließ sich beobachten, welche enorme Relevanz vor allem das Thema kulturelle Zugehörigkeit fiir die sozialen Zuschreibungsprozesse innerhalb der Schülerkultur und die 90

DieErgebnisse ließensichauchreligionssoziologisch interpretieren, wasaberhiernichtgeschehen soll, denn es geht nicht um die soziale,gesellschaftliche Relevanz, die Religion fiir Jugendliche hat, sondernderen Relevanzsetzungen auf den Unterrichtzu beziehen.


200

C Fallminiaturen: Schulische Praxis Interkulturellen Unterrichts

mit ihr verbundene Praxis der persönlichen Identitätsentwicklung hat. Es findet eine Auseinandersetzung unter den Schülern mittels eines solchen Kulturbegriffes statt. Kultur ist dasjenige symbolische Mittel, so lässt sich schließen, mit dem die Auseinandersetzungen um Religiosität und damit um die eigene Persönlichkeitsentwicklung oder, wenn man so will, um die eigene Lebensfiihrung im Sinne der Ethik als Lebenskunst geführt wird . Die Auseinandersetzungen, die geführt werden, beziehen sich aufihre Vorstellung, ihr Leben zu leben. Sie zeigen sich als Akteure und verorten sich damit im Diskurs um Interkulturalität. Die anfängliche klischeehafte Deutung einer Opposition von an eigener Kultur und Tradition desinteressierten, modem-skeptischen, d. h. säkularen Deutschen und ihnen als religiös-traditionell verwurzelten Menschen, relativiert sich im Diskussionsverlauf zugunsten je eigenständiger Zugangsweisen zum Glauben und seiner Praxis. Zwar sehen sich alle vergemeinschaftet durch ihren positiven Bezug zur Religion, doch haben sie unterschiedliche Sichtweisen darauf, bis hin zu einem eigensinnigen freiwilligen Zugang. Sie bestehen auf einer freiwilligen Aneignung von Religion. Hervorgehoben wird allerdings, es müsse zum festen Bestand der Person, zu seiner Identität, gehören und keinesfalls bloß äußerlich sein. Auf Schule bezogen lässt sich die folgende These aufstellen: Die schulorganisatorische Struktur produziert über die Zugänge zum Kurs eine weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen Atheisten und Nichtatheisten. Dabei geht es nicht darum, welche Schüler Zugang zum Kurs haben, sondern welche Kriterien dafür von der Schulorganisation genutzt werden. Es geht um die Strukturlogik der Zugänge zum Kurs . Strukturlogisch betrachtet ermöglicht sie, am Kurs Praktische Philosophie teilzunehmen. Da sich der Kurs sowohl an diejenigen richtet, die Religion abwählen, also potenziell nicht gläubige Atheisten sind, und an diejenigen, deren Religion in der Schule nicht als Fach angeboten wird, also potenziell Gläubige sind, produziert er auch die Auseinandersetzung potenziell. Dass sie tatsächlich stattgefunden hat, belegt die Diskussion eindrucksvoll. Schülerkulturelle Mehrjachzugehörigkeit versus schulische Monokultur Auf eine Diskussion national-ethnischer Ordnungssymbolik in Bezug auf sich selbst lassen sich die Schüler erst auf Nachfrage seitens des Forschers ein. Als Selbstzuschreibung erscheint diese ihnen höchstens zweitrangig. Sie nehmen vor allem Stellung zu Mehrfachzugehörigkeiten. Monokulturelle Beschreibungen ihrer selbst lassen sich in ihren Äußerungen nicht finden. Wenn, dann treten sie ihnen durch ihre soziale Umwelt entgegen, der sie strategisch oder spielerisch begegnen. Sie berichten über Praxen, in denen solche Zugehörigkeiten verhandelt werden und sie kennen sie als Ausgrenzungsmittel, das auch untereinander in Dis-


4. Schülerkonflikte um religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten

201

tinktionsprozessen benutzt wird. So betrachtet existiert eine Strukturhomologie zwischen Unterrichtspraxis und Aneignungsweisen, national-ethnische Zuschreibungen zu nutzen. Hier in der Gestalt von einer Fremdzuschreibung: Die Deutschen. Lebensweltlich bedeutsam bleibt Kultur für sie vor allem Religion. Auf die Aneignungslogik des Unterrichts als Form bezogen, heißt dies, die Struktur der Gruppenarbeit, Gruppen nach national-ethnischen Kriterien zu differenzieren, wird seitens der Schüler einerseits reproduziert. Die Streitereien um die Lebensführung innerhalb der Peergroup werden mittels Kultur als Religion aber andererseits symbolisch verschärft und somit die Struktur teilweise transformiert. Sozusagen die Schattenseite des Unterrichts, diejenigen Differenzen gerade erst einzuführen, um diese mittels eines auf Interkulturellen Dialog setzenden, an Wissen und Aufklärung orientierten Blickes auf das Fremde, das sich dadurch dem Eigenen zwar als verschiedenes zeigen soll, schlägt hier durch auf die Auseinandersetzungen der Schülergruppe untereinander. Die Gruppeneinteilung schlägt durch auf den Boden der Peergroup und wird dort mannigfaltig symbolisch aufgeladen. Interpretiert man das Bildungsgeschehen normativ, lässt sich folgern, es gäbe genügend Anlässe, Schüler über Zugehörigkeitsdimensionen aufklären zu müssen. Ihnen einen Artikulationsrahmen zu bieten, der eine Grundvoraussetzung dafür wäre, sich reflexiv mit Zugehörigkeiten auseinander setzen können. Die Unterrichtsgestaltung in Form des interkulturellen Szenarios scheint jedoch dazu wenig geeignet. Es trifft ihn als didaktische Instruktion dieselbe Kritik, die schon an Interkultureller Pädagogik insgesamt geäußert wurde, nämlich kulturelle Differenzen bearbeiten zu wollen, sie jedoch damit eben genau einzuführen. Die Gruppendiskussion zeigt, welche soziale Dynamik dadurch in Gang gesetzt wird. Die Etikettierungen gewinnen seitens der Schüler, wie es sich strukturlogisch schon vermuten ließ (vgl. FalIrniniatur 11), in den Peergroupkulturen noch Mal an Schärfe, Ausgrenzungsprozesse zu forcieren. Die Aneignungsweisen der Schüler, so wird deutlich, nehmen zwar Strukturen des Unterrichts auf, aber zu je eigenen Bedingungen. Dies tun sie in bedingter Weise. Entziehen sie sich auf der einen Seite den Zumutungen, sich als Person unter unakzeptablen Diskursbedingungen in das Unterrichtssetting zu integrieren, bekommen auf der anderen Seite die durch die Unterrichtsgestaltung nahegelegten Interaktionsstrukturen ihre sozialsymbolische Definitions- und Zuschreibungsmacht. Sie werden zur symbolischen Ressource, Konflikte zu bearbeiten. Diese werden von der Schülergruppe jedoch in ganz unterschiedlicher Weise geführt, sie positionieren sich aufje verschiedene Weise zu ihm.



D Theoretische Würdigung im Kontext Reflexiver Erziehungswissenschaft

Im sich nun anschließenden Kapitel sollen die Rekonstruktionen der Fallminiaturen und ihre strukturlogischen Ausdeutungen eine theoretische Würdigung erfahren. Die Ergebnisse werden auf diesem Wege in den Kontext von Theorien gestellt bzw. mit Hilfe von Theorien reflektiert. Bevor eine solche Reflexion begonnen werden kann, muss jedoch vorher expliziert werden, was unter Reflexion hier verstanden wird und der dadurch anklingende Kontext einer Reflexiven Erziehungswissenschaft benannt werden, denn es stehen in diesem Zusammenhang ganz unterschiedliche Theorievarianten unterschiedlicher Herkunft zur Verfiigung. Es muss selbstverständlich ebenso klar sein, dass eine solche metatheoretische Betrachtung hier nicht vollständig durchgeführt werden kann, aber doch einige notwendige Hinweise liefern muss, um das Folgende angemessen verstehen zu können . Im Theoriespektrum stehen sich mindestens drei Theorieschulen gegenüber. Zum einen die systemtheoretisch orientierte Erziehungswissenschaft, deren grundständige Perspektive auf die pädagogische Praxis bereits im ersten Kapitel mit dem Begriffder Beobachtung erläutert wurde. Pädagogische Praxis und deren Institutionen bzw. Personal werden mit nüchternem Blick beobachtet und analysiert. Das so generierte Wissen kann den Praktikern zur Verfügung gestellt werden, wobei es eine deutliche Arbeitsteilung zwischen wissenschaftlichen und praktischen Beobachtern gibt. Normativ, im Sinne etwa einer Kritik an Praxis, wird sich, ihrem eigenen Anspruch nach, die systemtheoretische Erziehungswissenschaft nicht auf pädagogische Praxis beziehen, sondern als Beobachtung zweiter Ordnung (vgl. Luhmann 2001). Diesem Ansatz nicht unähnlich lässt sich das Theorieangebot im Kontext einer reflexiven Modeme verstehen. Diese auf Ulrlch Becks Theorem einer reflexiven Modeme (Beck 1986) zurückgehende Reflexive Erziehungswissenschaft untersucht mit ganz unterschiedlichen theoretischen und empirischen Mitteln pädagogische Praxis unter dem Blickwinkel einer Chancen- und Risikenabwägung. Ebenfalls herrscht hier eine ganz klare Trennung zwischen Normen innerhalb der Forschung und Normen der Praxis. Den Praktikern wird wiederum das wissenschaftliche Wissen zur Verfiigung gestellt, aber die Wissenschaftler fallen keine T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


204

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

präskriptiven Urteile über die Praxis, gerade weil sich die je spezifischen Handlungsrationalitäten nonnativ unterscheiden (vgl. Krüger 19992) . Zuletzt wäre mit Reflexiver Erziehungswissenschaft auch an eine Wissenschaft im Sinne Pierre Bourdieus zu denken, der mit dem Titel einer Reflexiven Soziologie deutlich zu machen versucht hat, dass auch die Erforschung gesellschaftlicher Praxis selbst eine gesellschaftlich vermittelte Praxis ist, die dadurch notwendig eine Besinnung auf ihre eigenen Entstehungsbedingungen zur Folge haben muss. Nonnen der pädagogischen Praxis und Nonnen ihrer Erforschung können zwar unterschiedlich sein, doch verdanken sie sich beide derselben Gesellschaft und ihren Gesetzmäßigkeiten, was es laut Bourdieu zu reflektieren gelte und ebenso möglich macht, gesellschaftliche und d. h. folglich auch pädagogische Praxis zu kritisieren (vgl. Friebertshäuser 2009 2) . Dies jedoch nicht mit dem von Bourdieu so genannten Feldherrenblick des über den Dingen stehenden Wissenschaftlers im Sinne einer freischwebenden Intelligenz, wie sie Karl Mannheim postuliert hat, sondern im Sinne eines politischen Interesses an einer Veränderung gesellschaftlicher, hier pädagogischer Praxis . Insofern kann es zu einer Solidarität zwischen den Akteuren pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaftlem kommen. Die folgenden Ausfiihrungen sind jedoch insgesamt keiner der genannten Schulen ausschließlich verpflichtet, sondern sind sowohl eine zunächst distanzierte Betrachtung pädagogischer Praxis als Reflexion auf ihre Bedingungen und Folgen, die sich an ihrer Strukturlogik durch Rekonstruktion ablesen lassen. Sie sind dann aber ebenso einer kritischen Perspektive verpflichtet, wenn die schulische Praxis ihre eigenen nonnativen Ansprüche unterbietet. In diesem Sinne setzt die Arbeit insgesamt einen kritischen Impuls, wie es auch die folgenden Reflexionen deutlich machen.

1.

Professionalisierungstheoretische Reßexionen

Aus struktur- und rekonstruktionslogischer Sicht sind die Besonderheiten des Lehrerhandelns in systematischer Weise vor allem im Rahmen einer allgemeinen soziologischen Professionalisierungstheorie als typische, meist strukturelle, Probleme seiner Handlungslogik reflektiert worden, wodurch es sich empfiehlt, die bisherigen Sequenzanalysen auch in ihrem Kontext zu diskutieren. Professionen werden gegenüber den vormaligen Berufsständen etwa fiir Stichweh (vgl. Stichweh 1996) historisch erst vor dem Hintergrund einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft virulent. ,,Die professionellen ,Funktionssysteme' (...) basieren da-


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

205

bei auf einem Wissensbestand, der sich auf existenzielle Problemlagen von Personen bezieht. Sie bedürfen für die Bewältigung ihrer Problemlagen des Wissens und der Unterstützung von Professionellen. Deren Wissen dient also der .Bearbeitung von Problemen der Strukturänderung, des Strukturaufbaus und der Identitätserhaltung von Personen" (CombelHelsper 2002, S. 31; darin: Stichweh 1994, S. 373). Welche Wissensbestände allerdings dazu nötig, allgemein, um welche Art von Wissen es sich dabei überhaupt handelt, wird kontrovers in der professionalisierungstheoretischen Debatte diskutiert. Insbesondere mit Augenmerk auf pädagogische Professionen ist umstritten, ob es sich dabei um eine bereits professionalisierte oder eine professionalisierungsbedürftige Praxis handelt, und weiter, welche deren Strukturlogik sein könnte und welche Wissensbestände und welcher Art diese sein könnten. Kann es sich beim Wissen pädagogischer um standardisierte Inhalte handeln? Sind die Strukturen pädagogischer Praxis eher als strukturelle Widersprüchlichkeiten, Paradoxien oder Antinomien zu qualifizieren? In der Diskussion (vgl. CombelHelsper 1996; dies. 2002) werden diese Fragen ganz unterschiedlich beantwortet, so dass an dieser Stelle die grundsätzlichen Perspektiven aufgeführt werden sollen, bevor die Ergebnisse der bisherigen Rekonstruktion in ihrem Kontext diskutiert werden können.

1.1 Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischer Praxis Innerhalb seiner Variante von Professionstheorie unterscheidet etwa Oevennann (vgl. Oevermann 2008) entlang der bereits behandelten Differenz von Krise und Routine verschiedene Berufstypen und zwar danach, ob deren Wissensbasis ingenieurial oder interventionspraktisch zur Anwendung kommt. Wissen könne man .Jngenieurial anwenden, also sozusagen deduktiv nomologisch, indem konkrete praktisch verwertbare Problemlösungen abgeleitet werden oder indem man Erfindungen macht, die man nachträglich in der Terminologie theoretischen Wissens begründet. Man kann aber auch Wissen interventionspraktisch anwenden, indem man es gewissermaßen an die Einsicht eines Klienten appellierend, klärend, beratend, therapierend oder sonst wie umsetzt" (Oevermann 2008, S. 58). Während also eine Wissensform standardisierbare Routinen beinhaltet, auf Krisen zu reagieren, bildet die andere genau gegenteilige Formen aus." Allerdings ist deren Trennung 91

Diese Unterscheidung erinnert an die philosophische Differenz von bestimmender und reflektierender Urteilskraft bei Kant. Bestimmend ist sie insofern eine Gesetzmäßigkeit, d. h. eine Regel, bereits feststeht und eine Erscheinung bloß unter die Regel gebracht werden muss - durch Verstandestätigkeit. Dies ist reine Subsumtionslogik. Reflektierend ist sie, insofern ihr Gesetz und Regel gerade nicht zur Verfügung stehen und sie dieselbe zur Erscheinung suchen muss (vg1. Kant 1957). Letzteres tritt fiir Kant im Urteil über das Schöne ein. Allerdings enden die Parallelen


206

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

allenfalls analytisch, gewissermaßen in idealtypischer Weise gedacht und keinesfalls dichotom zu verstehen, soll heißen : Niemals lässt sich in praxi rein ausschließlich die eine oder andere Form finden. Zu bedenken ist ferner, dass Oevennann in diesem Zusammenhang einen aus der Objektiven Hermeneutik gefolgerten spezifischen Wissensbegriffverwendet. Wissen sei nämlich kein "subjektiv zuschreibbarer mentaler Zustand", sondern "sprechakttheoretisch" bestimmt "als das Ensemble aller propositionalen Gehalte, die in Sprechakte des Behauptens eingebettet sind, und zwar so, dass man von dem konkreten Subjekt dieses Behauptens dieses Sprechaktes abstrahieren und die propositionalen Gehalte ablösen kann (Oevermann 2008, S. 59). Sie sind dann Bestandteile von objektivem Professionswissen. Sicherlich müssen diese auch subjektiv, mental, gewusst werden, doch geht es Oevennann um eine prinzipielle Ablösung vom Sprecher," Pädagogische Berufe insbesondere werden von Oevennann unter dem Focus der Herstellung, Aufrechterhaltung und Gewährleistung psychosozialer Integrität verhandelt. Hergestellt bzw. aufrecht erhalten oder gewährleistet werden soll die Autonomie der Klienten oder der Bildungs- oder Erziehungssubjekte, wie sie in schulpädagogischen - im Gegensatz zur Hilfe in der Sozialpädagogik - Zusammenhängen treffender zu benennen wären. Die interventionspraktischen Anteile lassen sich in der Pädagogik jedoch nicht standardisieren und zwar aus drei Gründen: erstens, weil bereits die Art, in der eine Diagnose zu stellen ist, jeweils an die "Einzigartigkeit der historischen Konkretheit des Bildungsprozesses einer Lebenspraxis" geknüpft bleibt. Hieraus resultiert die Unmöglichkeit, ingenieurial Wissen im Sinne von Routinen anzuwenden, da von einer Verallgemeinerungsfähigkeit nicht ausgegangen werden kann. Auch wenn auf diesen Wissenstyp zweitens, in der Therapiebegründung zurück gegriffen wird, muss sie, sobald die Therapie zur praktischen Anwendung kommt, wieder in die einmalige Bildungsgeschichte rückübersetzt werden. Dafür steht wiederum kein standardisierbares Wissen zur Verfügung. Drittens und entscheidend für ihre Nichtstandardisierbarkeit ist jedoch das strukturelle Paradox pädagogischer Berufe, in der Hilfestellung zur Autonomie nicht wieder neue Abhängigkeiten entstehen zu lassen. Die pädagogische Theorie reflektiert das seit Kant (vgl. Blankertz 1982) als Antwort auf die Frage, wie Freiheit bei dem Zwange kultiviert werden könne, oder, ein späterer Titel, als

92

an der Grenze zur Lebenspraxis, die für Oevermann zentraler Bezugspunkt bleibt , während für Kant Urteilskraft an die Verstandestätigkeit und somit ans Denken gebunden bleibt. Dies ist im Rahmen einer Profession, zumal der pädagogischen Zunft , wichtig herauszustellen. Bliebe das Professionswissen an den Sprecher gebunden, wäre es entweder überhaupt nicht oder wenn , dann allenfalls schwerlich übertragbar. Freilich mit schwerwiegenden Konsequenzen, denn Pädagogik wäre dann doch eher eine Kunst einzelner Künstler, die man sich dann im Sinne charismatischer Pädagogen oder Menschenbildner vorstellen könnte , als eine erlernbare Profession.


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

207

Erziehung zur Mündigkeit (vgl. Adorno 1968) . In Oevermanns Worten stellt sich dies Paradoxon aus Sicht des Pädagogen so dar : "Wie kann ich einen Schüler erziehen, wenn ich ihn gleichzeitig in der pädagogischen autoritären Asymmetrie von mir abhängig gemacht habe?" (vgl. Oevermann 2008, S. 63). Eine erfolgreiche Bearbeitung dieses Dilemmas kann nur erfolgen, wenn ein Arbeitsbündnis zur Grundlage gemacht wird, das in der Hilfestellung gleichzeitig möglichst viele Autonomiepotenziale weckt. Den BegriffArbeitsbündnis entlehnt Oevermann der psychoanalytischen Praxis, gleichwohl er umfassender auch jedwedes therapeutische Arzt- Patienten-Verhältnis charakterisieren kann. Ein Arbeitsbündnis einzugehen, verdeutlicht das Einverständnis des Patienten, seine Autonomie partiell und temporär aufzugeben, und damit seine Handlungskompetenz an Experten abzugeben, weil er Leidensdruck verspürt und dadurch realisiert, die Krise nicht selbst, sondern nur durch fremden Einfluss meistem zu können, wobei für Oevermann, mit der subjektiven Einsicht in die Krankheit der Heilungsprozess bereits in Gang gekommen ist. Denn ein Arbeitsbündnis einzugehen, bedeutet umgekehrt, als Patient nicht gegen die Therapiemaßnahmen des Arztes, sondern ihm entgegen, bzw. mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Das Arbeitsbündnis wird unter der strukturlogischen Voraussetzung stellvertretender Krisenbewältigung geschlossen. Da man selbst nicht weiter kommt, begibt man sich in die Hände von Experten. Interessant sind nun die strukturellen Parallelen, die sich zwischen den therapeutisch-medizinischen und den pädagogischen Berufen ergeben. Denn die Ontogenese des Menschen, also die Gesamtheit der Sozialisations- und Bildungsprozesse, die in ihrem Rahmen stattfindet, ist für Oevermann krisenhaft in sich selbst. Krisenhaftigkeit stellt quasi deren Strukturbedingung dar, denn kaum in einem anderen Prozess innerhalb der Kultur entstehe so viel Neues wie im Sozialisations- und Bildungsprozess (Oevermann 2008 , S. 63). Beide Prozesse stellen die ontogenetische Transformation von Natur zu Kultur dar," Die stellvertretende Krisenbewältigung wird für die in die Kultur hinein wachsenden Kinder durch deren Eltern und später, zumindest in modernen Gesellschaften (bei Oevermann historisch ab Schriftkultur), durch die Vertreter der Bildungsinstitutionen übernommen. Die Parallele zum Leidensdruck bildet die kindliche Neugier, welche prägnant die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Lernens, für Oevermann also der Aufbau von Routinen angesichts Krisen, darstellt. Krisen erscheinen in dreierlei Form. Es gibt traumatisierende Krisen, Entscheidungskrisen und Krisen, die durch Muße ausgelöst werden. Kinder seien in ihrem Bezug auf Welt vor allem 93

Interessant ist, wie früh Oevermann den Bildungsprozess ansetzt. Die erste Ablösungskrise stellt bere its die Geburt dar. Der Begriff Bildung vor allem in der Hurnboldt'sche Fassung hat seine naturphilosophischen Konnotationen.


208

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

mit Krisen durch Muße konfrontiert. "Neugierde stiftet das Arbeitsbündnis, denn wenn ein Kind neugierig ist, dann erkennt es strukturell mit seinen schon wissenden Teilen an, was es noch nicht weiß, aber wissen sollte und wissen möchte" (Oevermann 2008, S. 66). Es lässt sich leicht die Strukturparallele sehen zwischen den therapeutischen und pädagogischen Professionen. Während dort jedoch als Grundlage des Arbeitsbündnisses die Einsicht des Klienten in seine Hilfebedürftigkeit eine Bedingung darstellt, damit eine Heilung erfolgreich sein kann, bildet hier Neugier die Grundlage für das Arbeitsbündnis. Die fundamental formulierte These Oevermanns, die er aus diesen Strukturbedingungen ableitet, lautet, in der Schule sei kein professionelles Arbeitsbündnis zwischen Lehrern und Schülern möglich, weil durch die gesetzliche Schulpflicht den Lernenden prinzipiell die notwendige Grundvoraussetzung, neugierig zu sein, strukturell aberkannt werde. Die Pflicht, zur Schule gehen zu müssen, gesetzlich festzuschreiben, bedeute eben umgekehrt, dass dies nicht aus freien Stücken, durch subjektive Einsicht in die stellvertretende Krisenbewältigung, geschehe. Die Schulpflicht stigmatisiert folglich den Schüler, noch bevor er überhaupt die Schule betreten hat. ,,Die gesetzliche Schulpflicht besagt, du wärst nicht hier, wenn wir dich nicht dazu zwingen würden" (Oevermann 2008, ebd.). Da Neugier zu haben, den Lernenden gesetzlich aberkannt werde, könne sich folglich auch das lehrende Personal nicht professionalisieren, obwohl die schulpädagogischen Berufe dringend professionalisierungsbedürftig seien . Aus diesem Grund habe das Lehrpersonal es in praxi auch vordringlich mit einem Disziplinproblem zu tun. Im Faktum gesetzlicher Schulpflicht und nicht per se in der formalen Organisation der Schule, die im Gegenteil unabhängig davon zu betrachten sei, sieht Oevermann den ausschlaggebenden Grund für die Deprofessionalisierung pädagogischer Arbeit in der Schule trotz ihrer Professionalisierungsbedürftigkeit. Er geht sicher davon aus, dass diese auch dann noch formal organisiert wäre, wenn es keine Schulpflicht gäbe . Es gelte vielmehr zu unterscheiden, welche formalen Prozeduren aus der Schulpflicht folgen und welche nicht. In den formalen Prozeduren der Organisation Schule, welche nicht aus der Schulpflicht resultieren, sieht er folglich auch kein Hemmnis für ihre Professionalisierungsfähigkeit. Gedankenexperimentell versucht er sich kontrafaktisch eine bereits professionalisierte Schulpraxis vorzustellen und zieht den Schluss, Schule sei "von Haus aus formalisiert" (Oevermann 2008, S. 68). Hier argumentiert Oevermann ganz in den Begriffen Talcott Parsons, für den die Universalität schulischer Bildung ebenso aufihre Formalisierung hinausliefund sie darin gegenüber einer vormodernen, gemeinschaftlichen eine modeme gesellschaftliche Orientierung finde. Gegenüber partikularistischen Wertorientierungen, wie sie in der Familie in diffuser Weise weiter gegeben


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

209

werden, bildet die Institution Schule durch ihre spezifische universalistische Leistungsorientierung für die Sozialisanden den ersten Schritt, sich in einer für Parsons systemfunktional differenzierten Gesellschaft zu bewegen. Diese zieht für Parsons wie für Oevermann eine Standardisierung schulischer Organisation nach sich: "Unter den Bedingungen der Universalität ist Schille eine formale Organisation, weil sie die statistische, das heißt rein formal und abstrakt abzugrenzende Bezugs gruppe von Gleichaltrigen bzw. Jahrgangsgleichen aus einem umschriebenen Wohngebiet zu einer oder mehreren Jahrgangsschulklassen zusammenfasst, um sie kollektiv, d. h. sowohl ökonomisch kostensparend und das Gleichheitsprinzip gewährleistend, als auch den gleichen entwicklungspsychologischen Stand nutzend, in einem gemeinsamen Curriculum zu unterrichten". Hieraus resultierten auch die zeitlichen Begrenzungen wie Schuljahre und -tage , Ferien, Stundenpläne etc. Die Schille sei "schon hergestellte formale Organisation, Blueprint der institutionellen Vorkehrungen für eine als universalistische geltende Allgemeinbildung, bevor der erste Unterricht begonnen hat" (Oevermann 2008, ebd .). Die formale Organisation der Schule bildet sozusagen die Geschäftsgrundlage aller schillpädagogischen Praxis und nicht ihr Gegenteil." Hierin ist die professionalisierungsbedürftige Pädagogik immer schon, apriori, eingebettet. Deren Strukturlogik lässt sich laut Oevermann, hierin wieder nah an den Begrifflichkeiten von Parsons, als "eine widersprüchliche Einheit von diffusen und spezifischen Beziehungsmomenten" charakterisieren, in die man tritt, wenn man in die Schule kommt. Widersprüchlich ist die Einheit insofern, als in der Praxis synthetisiert werden muss, was als logische Momente auseinander fällt , "Sobald nun das so genannte Kemgeschäft der Schille, das Unterrichten zum Zwecke der Wissensvermittlung und der diese einbettenden Vermittlung von Normen, beginnt, treten unweigerlich und unvermeidbar Momente einer Strukturlogik der Vergemeinschaftung, der material rationalen Sachhaltigkeit und der Strukturlogik der Beziehung zwischen ganzen Menschen - also Momente diffuser Sozialbeziehung - hinzu, die in einer Spannungspolarität zur Logik der formalen Organisation stehen" (Oevermann 2008, S. 69). Während jedoch für Parsons die diffusen Beziehungen ganzer Menschen zueinander zugunsten der spezifischen Beziehungen der Rollenträger zueinander allmählich in der schulischen Sozialisation abgelöst werden, erhält sich in Oevermanns Sicht deren Polarität als Einheit der pädagogischen Praxis, sowohl für Lehrende als auch Lernende. 94

Damit widerspricht Oevermann dem grundsätzlichen Tenor von Interaktionsstudien etwa von Schütze, der dasLehrerhandeln geradeaufgespannt siehtzwischendenparadoxalenAnforderungen von System und Lebenswelt. Mit den Begriffiichkeitenvon Habermas lässt sich dann auch das Spannungsverhältnisals politisches Feld begreifen, in das die Akteure gestellt sind. Ihr Handeln ist ein Aushandeln verschiedener Rationalitäten.


210

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

1.2 Antinomien pädagogischer Praxis Besteht die charakteristische Eigenlogik pädagogischer Praxis für Oevermann in einer widersprüchlichen Einheit diffuser und spezifischer Beziehungsmomente, sieht Helsper in ihr eher vielgestaltige Antinomien des Lehrerhandelns am Werk, die gleichwohl konstitutiv für sie sind und die er inhaltlich ausdifferenziert und im Rahmen einer Modernisierungstheorie reflektiert (vgl. Helsper 1996,2004). Helsper habe damit ein "anspruchsvolles Modell vom Lehrberuf" (Wernet 2003, S. 30) entwickelt, wie Andreas Wernet meint. Antinomien sind für ihn weder ausschließlich Probleme theoretischer Logik noch ein Problem eines unbeteiligten Beobachters, wie sie sich etwa für Luhmann (vgl. Luhmann 2001) als Paradoxien erst für einen Beobachter zweiter Ordnung ergeben, sondern werden "im strukturtheoretischen Sinne als ein gundlegender, nicht aufhebbarer Bestandteil der Interaktion und insbesondere des professionellen pädagogischen Handeins begriffen" (Helsper 2004, S. 61f.). Helsper generiert solche antinomischen Handlungslogiken zunächst aus Idealentwürfen der Reformpädagogen und deren reflexiven Selbstbegrenzungen, also zunächst theorieimmanent: "Lässt man die hohen Ideale des reformpädagogischen Erzieher-Lehrers, die skizzierten ,Krisenszenarien' und selbstreflexiven Begrenzungen Revue passieren, so sind darin implizit Foki professioneller pädagogischer Handlungsprobleme enthalten" (Helsper 1996, S. 530). So sieht er etwa in den Anforderungen, eine spezifische Rollenförmigkeit des Handeins praktisch mit diffusem Handeln als ganzer Person zu vermitteln, eine Antinomie von Nähe versus Distanz, welche allerdings bloß einen Antinomietyp unter anderen darstellt. Daneben stehen: Subsumtion versus Rekonstruktion; Einheit versus Differenz; Organisation versus Interaktion/Kommunikation; Heteronomie versus Autonomie (Helsper 1996, S. 530ff.) . Diese sollen nun kurz umrissen werden. In inhaltlicher Nähe zu Oevermanns hier bereits referierten Feststellung, pädagogisches Handeln sei nicht zu standardisieren, formuliert Helsper eine weitere Antinomie zwischen Subsumtion und Rekonstruktion als Orientierung an der je individuellen Bildungsgeschichte, die rekonstruiert werden müsse, als auch die Einordnung des jeweiligen Falles in bereits existentes Wissen der pädagogischen Fachkräfte, also die Subsumtionslogik. Daraus leite sich zum einen das Technologiedefizit in pädagogischen Berufen ab, welches schon innerhalb der systemtheoretischen Diskussion der späten Siebziger Jahre konstatiert worden war (vgl. LuhmannlSchorr 1979), und zum anderen resultiere daraus die konstitutive Ungewissheit über die Erfolgsaussichten von pädagogischen Interventionen. Die Antinomie in Gestalt von Einheit versus Differenz reflektiert (reform-) pädagogische Ganzheitsvorstellungen angesichts einer fortschreitenden modernen Differenzierung pluraler außerpädagogischer Handlungsrationalitäten, wie sie


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

211

etwa schon bei Max Weber als Wertsphären (Weber 1972) und auch von Habermas (Habermas 1982) differenzierungstheoretisch analysiert wurden. Hier stellt sich allerdings die Frage nach deren Aktualität. "Gegenmodernistische Einheitsvisionen, die das Irritationspotenzial moderner Ambivalenz und Pluralität aufzuheben versuchen, sind nicht verschwunden. Dominierend wird aber gegenüber Einheit und Bestimmtheit im Bereich der Bildungsreflexion der Verweis auf unhintergehbare Differenz und Pluralität" (Helsper 1996, S. 534). Gerade dieser Antinomietyp wird vor dem Hintergrund der bereits rekonstruierten Sequenz zur Interkulturalität virulent. Das Verhältnis von Organisation versus Interaktion bzw. Kommunikation verweist wiederum auf pädagogische Institutionen und deren formale Verfasstheit, welche insbesondere durch reformpädagogische Ansätze immer wieder zum Gegenstand der Kritik werden. Die pädagogischen Bildungsbemühungen, die sich in Interaktionen ausgestalten, sind immer auch eingebettet in formale Prozeduren, wie sie bereits im Zusammenhang mit Oevermann erwähnt wurden, und die für ihn unabdingbare Voraussetzung einer Massenschule, selbst auch dannnoch, wenn dort professionelles Handeln möglich wäre, darstellt. Fritz Schütze wies in seinen Studien nach, dass solche formalen Prozeduren durchaus für das Lehrpersonal auch handlungsstabilisierend und entlastend sein können, denn die persönliche face-to-face-Begegnung mit ihrer Orientierung an der ganzen Person erfordert eben auch umgekehrt gleichzeitig den Einsatz als ganzer Lehrkörper. Dieser positiven entlastenden Funktion steht allerdings deren Pervertierung gegenüber, sozusagen als Furor bürokratischer Rationalität. ,,Abstrakte Zeit-, Raum- und Verfahrensregelungen führen in der Tendenz zu formalisierten Mustern, die die Antinomie von Rekonstruktion und Subsumtion in Richtung subsumtiv-abstrakter, zeitlich standardisierter, distanzierter und partialisierter Handlungsmuster drängen. Daraus resultieren ständige Kampfzonen mit den Organisationsvorgaben, in denen die Organisation nicht mehr als routinisierte Entlastung, sondern als routinisierte Erstarrung erfahren wird" (Helsper 1996, S. 535). Für Schütze stellt sich dies als ein politisches Kampffeld in einem Konflikt zwischen System und Lebenswelt dar (vgl. Habermas 1982). Autonomie versus Heteronomie verweist aufdie ebenso bereits erwähnte und mit Kant assoziierte Antinomie von Selbstständigkeit, Autonomie, und Zwang von außen, also Heteronomie. Auch Oevermann hatte dies als ein entscheidendes Strukturmerkmal pädagogischen Handelns herausgearbeitet und darin den hauptsächlichen Grund für dessen Nichtstandardisierbarkeit erkannt. "Im Rahmen der Schule nun, im Lehrerhandeln, scheint sich die Orientierung an Autonomie und Eigenverantwortlichkeit auszubreiten und zugleich auf schwer zu entknotende


212

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

Weise mit Zwang und instrumenteller Selbstbehauptung zu verstricken" (Helsper 1996, S. 536). Zusammenfassend lassen sich die folgenden Unterschiede in den Positionen der hier referierten Autoren innerhalb der Professionalisierungstheorie festhalten. Für Oevermann ist eine professionalisierte pädagogische Praxis solange nicht möglich, wie es den Zwang einer gesetzlichen Schulpflicht gibt, welche die notwendige Voraussetzung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses, Neugier zu haben, verunmöglicht. Die Allgemeine Schulpflicht stellt für ihn ein historisches Relikt dar, dessen gesellschaftliche Voraussetzungen solange gültig waren, wie eine Gesellschaft noch um die Notwendigkeit einer allgemeinen Beschulung streiten und kämpfen musste, um sie durchzusetzen. Dies hat sich für ihn allerdings längst erübrigt, denn in modemen Gesellschaften könne niemand mehr im Ernst daran zweifeln, dass angesichts ihrer objektiven Anforderungen, die sich den Subjekten stellen, ein allgemeiner Schulbesuch sich erübrige. Kontrafaktisch ließen sich aber, eben auch unter nichtprofessionalisierten Bedingungen, Gründe dafür eruieren, warum sich das pädagogische Arbeitsbündnis nicht standardisieren lässt, sowie als hauptsächliches Strukturmerkmal eine "widersprüchliche Einheit von diffusen und spezifischen Beziehungsmomenten" (Oevermann 2008, S. 69) ausmachen. Die Aufgabe, wenn man so will, die sich jedem Lehrenden stellt, ist angesichts einer Praxis, die selbst auch dannnoch formalisiert wäre, wenn die Schulpflicht entfiele, diese Einheit in praxi herzustellen. Wie sich diese Aufgabe ausgestaltet, wäre also aus rekonstruktionslogisch-empirischer Sichtweise fallweise zu rekonstruieren. Auch für Helsper gestalten sich schulpädagogische Antinornien in ihrer jeweiligen fallweisen Bearbeitung aus. Allerdings liegen diese bereits, wie gesehen, in einer vorformulierten, modellhaften Strukturabstraktion vor, die es aber ermöglicht, in forschender Perspektive den Einzelfall rekonstruktionslogisch präziser zu beleuchten und somit in seiner fallspezifischen Struktur zu bestimmen. Helsper verortet aber, wie schon angedeutet, diese Strukturantinomien professionellen pädagogischen Handelns dann im Rahmen einer allgemeinen Modernisierungstheorie, in der dann Modernisierungsantinomien auch jenseits des spezifisch Pädagogischen ganz allgemein ihre Relevanz haben. Andreas Wernet kritisiert in diesem Zusammenhang: Damit "erscheinen die Handlungsprobleme des Lehrberufs in einem unmittelbaren Übereinstimmungsverhältnis zu allgemeinen Handlungsproblemen in der Modeme" (Wemet 2003, S. 32). Es lässt sich also aus dieser Perspektive mit Wernet die Frage stellen, worin das Spezifikum professionellen pädagogischen Handelns denn dann noch bestehe bzw. ob es nicht durch die Kontextualisierung im metatheoretischen Rahmen bloß noch zu einem Fall allgemeiner Strukturpro-


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

213

bleme beruflichen Handeins in der Moderne wird. Seine Kritik, so müsse eingeschränkt werden, stelle sich allerdings nur mit Blick auf eine allgemeine Theorie professionalisierten Handelns. "Sie schließt nicht aus, dass die Modelle, die Helsper für den spezifischen Handlungsraum Schule formuliert, treffend und fruchtbar sind" (Wernet 2003 , S. 32). Hierin liegt auch für die vorliegenden Rekonstruktionen ihr Bedeutung aufschließender Charakter.

1.3 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur I im Rahmen der Professionalisierungstheorie Zunächst: Auch eingedenk der Fundarnentalthese Oevermanns einer deprofessionalisierten pädagogischen Praxis", lässt sich fragen, was unter diesen eben nicht professionalisierten Bedingungen dann im Unterricht ganz praktisch passiert, auch wenn das, was passiert, nicht professionalisiert ist. Mit Helsper lässt sich darüber hinaus der interpretative Faden wieder aufnehmen und das bisher rekonstruierte Transkript einer UnterrichtseröfInung differenzierter qualifizieren und diskutieren . Alle Strukturantinomien lassen sich dort wiederfinden, denn das Transkript mit dessen EröfInungsfigur liest sich fast wie eine Illustration der Strukturmodelle, welche mit Helsper zuvor dargestellt wurden. Betrachtet man vor dem Hintergrund der Nähe-Distanz-Antinomie die strukturlogische Ausdeutung von Wunschgefüge und passiver Notwendigkeit, so spiegelt sich genau darin sowohl der Konflikt zwischen emphatischer Nähe und berufsrollenkonformer Distanz, die sich in der Normalisierung, zum Unterrichtsgeschehen zurückzukehren - formuliert durch den Sollenssatz und die Verwendung des unpersönlichen Fürwortes ,es' - ausdrückt, wider, wie auch dessen Vermittlung. Die Personalisierung muss folglich in ihre Entpersonalisierung umschlagen. Im durchaus glaubhaften Versuch des Praktikers seine didaktische Instruktion zu emphatisieren, zeigt sich seine individuelle Lösungsstrategie, mit den Strukturproblemen fertig zu werden. Einen Wunsch auf solche Weise zu formulieren, ist im schulischen Kontext strukturlogisch also nicht inadäquat, sondern geradezu sinnfällig. Die individuelle Strategie des Lehrers, beide Anforderungen miteinander zu vermitteln, besteht darin, die schulische Praxis als Bildungspraxis durch seine Per95

Freilich lässt sich seine These auch kritisieren: Entließe man die Kinder aus der Schulpflicht bliebe trotzdem fraglich, ob ein solches, von Oevennann erwartetes, Arbeitsbiindnis gelänge . Bleibt es an subjektive Neugier gebunden, zeigt doch schon die Alltagserfahrung, dass diese auch in nichtschulischen Zusammenhängen immer wieder neu aktua1isiert werden muss. Aus dem Vertragsschluss und der Akzeptanz seiner Bedingungen durch die subjektive Einsicht, die strukturelle Krisen von Bildung und Sozialisation nicht allein bewältigen zu können, folgt nicht zwingend , ständig motiviert zu sein. Allerdings entfiele, und das wäre bereits immens , die strukturbedingte Stigmatisierung der Schüler als lernunwillige Subjekte.


214

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

son, den Einsatz seiner Person, riskant zu charismatisieren. Dieser persönlichen Charismatisierung soll umgekehrt ein emphatisches Bildungsinteresse seitens der Schüler mit ihrer persönlichen Nähe, wenn man so will, entsprechen. Allerdings müssen sie wiederum ihrerseits das Verhalten des Lehrers austarieren, die Strukturrnomente Nähe und Distanz ebenso in ihrer Aneignung des schulischen Geschehens und des Lehrerhandelns ihrerseits vermitteln, Das Strukturrnodell erweist sich also auch in der folgenden Rekonstruktion als aufschlussreich. Die Struktur bleibt konstitutiv. Die sachlichen Verrnittlungsbemühungen des Lehrers blieben stumpf, stellte er bloß auf Zwang ab. Arbeitsbündnisse, die auf Bildung abzielen, so lässt sich auch mit Oevennann sagen, bedürfen der Subjekte, ihrer Tätigkeit, ihrer Aneignung, deren Grundvoraussetzung gerade deswegen aus seiner Sicht Neugier bildet. Auch in puncto Subsumtion versus Rekonstruktion zeigt sich das empirische Material als aufschlussreich. Die Strukturantinomie lässt sich mit Bezug zum Unterrichtsgegenstand deutlich machen. Die didaktische Instruktion des Lehrers vertraut nicht bloß darauf, charismatisch in emphatischer Weise vorgetragen zu werden. Sondern die Thematisierung von Kultur und Heimat soll in persönlich identifikativer Weise durch die Adressaten selbst, die Schüler, hervorgebracht werden, indem danach gefragt wird. Die Bildungssubjekte sind damit sozusagen zur Rekonstruktion ihrer eigenen Biografie durch das Befragen aufgefordert. Dies allerdings subsumiert unter das allgemein Wissenswerte, womit unterstellt wird, aus den Biographien ließe sich etwas Allgemeines extrahieren. Heterogenität und Diversität wird vom Lehrer im Sinne eines Konzepts ethnischer Abstammung der Schüler eingeführt. Damit sind wir inmitten zentraler Problematiken Interkultureller Pädagogik." Das antinornische Verhältnis von Organisation und Interaktion, bzw. Kommunikation spiegelt sich ebenso auf der unterrichtstechnischen Seite. Die Organisation Schule verlangt vom Lehrer, seinem Unterricht eine Form zu geben. Gleichzeitig zeigt insbesondere die bislang rekonstruierte didaktische Instruktion (Befragung), dass sie nicht ohne die Kommunikation der Schüler auskommen kann. In der Unterrichtsinteraktion wird aber seitens des Lehrers nicht daraufvertraut, einen Diskurs über Zugehörigkeit entstehen zu lassen, sondern diesen vor allem, wie es die Rekonstruktion ergeben hatte, technisch zu bearbeiten. Der Organisationsgrad seiner Instruktion ist hoch. Die Schüler, so ist zu vermuten, können sich diesem nur anpassen. Damit ist nun eng die Antinomie zwischen Heteronomie und Autonomie verbunden. Heteronom wird ein Befremden der jeweiligen Schüler untereinander vorausgesetzt, ganz ohne dass vom jeweiligen Frageinteresse ausgegangen wird. Damit ist die strukturelle Schwierigkeit verbunden, wie aus der heteronomen, un96

Vgl. Kapitel A der Arbeit.


1. Professionalisierungstheoretische Reflexionen

215

terrichtstechnischen Instruktion eine autonome Auseinandersetzung werden kann. Dies ist auch mit Blick wiederum aufInterkulturelle Pädagogik und ihre Strukturproblematik bedeutsam, da durch diese Form des Unterrichts Fremdheit und Unwissen vorab für die Schüler heteronom unterstellt wird. Das Strukturproblem, dem Helsper die begriffliche Gestalt von Einheit versus Differenz gibt, ist nun mit Blick auf den Problemaufriss einer Interkulturellen Pädagogik vor dem Hintergrund einer pluralisierten Gesellschaft besonders interessant, beleuchtet zu werden. Denn die didaktische Instruktion des Lehrers, welche, strukturlogisch gesprochen, zum Ziel hat, die Schüler sich in puncto Heimat und Kultur gegenseitig befremden zu lassen und diese Differenz voneinander, ihre Heterogenität, die drohende, stigmatisierende Fremdheit gleichzeitig abzufedern, verdeutlicht das Spannungsgefiige, in dem sich interkultureller Unterricht befindet, welcher Differenz und Heterogenität vor pluraler Schülerschaft thematisieren und mehr noch, sie in diesem Fall selbst als Personen einbeziehen möchte. Da die Einheit der Schülerschaft durch den jeweiligen Kulturbezug systematisch in Frage gestellt zu sein scheint, die jeweilige Differenz die Einheit grundsätzlich bedroht, wird sie in der didaktischen Instruktion durch die gleiche Rollenverteilung, einmal in der Rolle von Fragenden und einmal von Befragten, technisch bearbeitet und normativ dadurch aufgeladen, dass dies getan werden soll. Ein entscheidendes Strukturmoment Interkulturellen Unterrichts und damit Interkultureller Pädagogik, so lässt sich als Strukturhypothese schließen, ist die normative Behauptung der Einheit des Differenten. Alle sollen darin gleich sein, verschieden zu sein. Dadurch soll Einheit quasi auf höherer Ebene wiederhergestellt werden. Doch erweist sich diese Einheit latent als krisenhaft, wie es auch die folgende Theoretisierung belegen wird. Die widersprüchliche Einheit des Differenten lässt sich auch als strukturtheoretische Bewährungsgestalt einer Interkulturellen Pädagogik, auf die Strukturprobleme institutionalisierten schulischen Unterrichts zu reagieren, begreifen. Das konnte hier fallspezifisch in der Eröffnungsfigur des Stundenbeginns rekonstruiert werden. Damit schlägt sich aber ebenso das allgemeine gesamtgesellschaftliche virulente Thema des Umgangs mit Heterogenität schulpraktisch im fallspezifisch Besonderen dieser rekonstruierten Eröffnungssequenz nieder. Durch die professionalisierungstheoretischen Reflexionen auf das Fallmaterial wird darüber hinaus deutlich, dass Interkultureller Unterricht als Fall Interkultureller Pädagogik ebenso ein Fall allgemeiner schulischer Praxis ist. Er ist eine besondere Form der widersprüchlichen Einheit von Differenz.


216

2.

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominante und fragile Ordnungen

2.1 Identitäts- und Diskurstheorie Die Rekonstruktionen der Arbeitsanweisung des Lehrers ergaben vielfältige Ordnungen, die mit ihr gestiftet werden. Diese Ordnungen lassen sich mit dem Diskurskonzept, wie es auch in Teilen bereits im Theoriekapitel der vorliegenden Arbeit in der Beschäftigung mit Paul Mecheril und dessen Migrationspädagogik kurz erwähnt und umrissen wurde, theoretisieren. Mit der protokollierten Arbeitsanweisung, der didaktischen Instruktion in Form einer Gruppenarbeit, werden sprachlich sowohlInteraktionsordnungen in symbolischer, in diesem Fall auch physischer Weise ablesbar. Das asymmetrische Verhältnis der schulischen Interaktion zwischen Lehrern und Schülern rahmt deren Kommunikation: die Frage ist hier: wer spricht aus welcher Position heraus und kann wodurch wie welche Ordnungen für das Unterrichtsgeschehen festschreiben? Durch die Rekonstruktionsminiatur wird der allgemeine Diskurs Interkultureller Pädagogik hinsichtlich kultureller Identitätskonstruktionen auf der spezifischen Unterrichtsebene fassbar und im Rahmen einer allgemeinen Diskurstheorie, wie sie etwa Michel Foucault entwickelt hat, aufmikrologischer Ebene beschreibbar," Im alltagspraktischen Diskurs des Unterrichts sind Selbst- und Fremdzuschreibungen kultureller Identität eingetragen, sie zirkulieren und werden als symbolische Ordnungen für die Interakteure in praxi verhandelbar", Der rollenspezifische Interaktionsrahmen, in Gestalt institutionalisierter Beziehungen der Sprecher zueinander, bestimmt den Grad der Verhandelbarkeit. Hier entsteht diskursive Macht, die zwar institutionell verankert ist, wobei aber ebenso in Rechnung zu stellen ist - und damit auf einen weiteren Forschungskontext Bezug genommen-, dass Schüler sehr wohl auch eigensinnige Strategien entwickeln, aufdie Zumutungen, denen sie passiv ausgesetzt sind, aktiv zu regieren." Das bedeutet, Macht ist nicht in erster Linie als Durchsetzung der je eigenen Interessen eines vermeintlich Mächtigen, wie etwa des Lehrers durch 97

98 99

Damit wird nicht im engeren Sinne an eine Diskursanalyse, wie sie etwa von Keller et al. (vgl. Keller, Reiner u. a. 2001) im Rahmen qualitativer Forschungsmethoden entwickelt worden oder wie sie auch in der Linguistik üblich ist, angeknüpft, denn methodisch beruhen die hiesigen Ausfiihrungen ja weiterhin auf den Rekonstruktionen, die objektiv-hermeneutisch gewonnen wurden . Der Bezug zur Diskursanalyse erfolgt an dieser Stelle in Form einer theoretischen Reflexion der rekonstruierten Ergebnisse und geschieht deshalb mit Bezug zur Gnmdlagentheorie Michel Foucaults (Foucault 1991). Vgl. zu Zuschreibungsprozessen Dannenbeck 2002. Strategien sind hier nicht ausschließlich im Sinne des Zweck-Mittelkalküls gemeint, sondern weit zu fassen. Vgl. Schülerstrategieliteratur. Auch zur Theorie der Alltagspraktiken: De Certeau, Michel : Die Kunst des HandeIns. Merve 1988


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

217

seine institutionalisierte Rolle und deren Funktionen, zu verstehen, sondern als ein relationales Geflecht zwischen Akteuren in Praxisfeldern. Die Überlegungen Paul Mecherils wurden hier bereits im Theoriekapitel herangezogen, um deutlich zu machen, inwieweit Akteure dazuin der Lage sein können, dominante Zuschreibungen zu unterlaufen, in ihrer Rigidität aufzuweichen bisweilen vollständig umzudeuten oder gar aufzulösen. Auf seine Überlegungen soll hier nun noch einmal konkreter eingegangen werden, um die Rekonstruktionen in dieser Art Theoriekonzept zu kontextualisieren. Zunächst wird verdeutlicht, inwieweit das Konzept kultureller Identität im Diskurs seinen Ausdruck findet und auf welche Art darauf bezogene Fremd- und Selbstzuschreibungen in ihm zirkulieren. Ferner muss erläutert werden, aufwelche Weise sich allgemeine Diskurse im Unterricht niederschlagen. 100 An dieser Stelle die Identitätsdebatte aufzuarbeiten, kann jedoch nicht gelingen, ohne den Gegenstand leichtfertig zu reduzieren, deshalb werde ich mich nur auf diejenigen Aspekte kultureller Identität konzentrieren und solche auswählen, die lohnenswert erscheinen, in die Reflexion der rekonstruierten Unterrichtsminiatur mit hinein genommen zu werden, sowie diejenigen, welche versprechen, den identitätspolitischen Diskurs, wie er in der Fallrekonstruktion deutlich wird, beleuchten zu können. Kulturelle Identität ist ein äußerst umstrittenes und vielschichtiges Konzept und Teil eines breiten und umfassenden grundsätzlichen Identitätskonzeptes (vgl. Keupp 2006 3) , das kontrovers diskutiert wird. Identität, die Mit-sich-selbst-Gleichheit, ist Kohärenz inmitten verschiedenartigster Erfahrungen. Stand der Dinge ist dabei sicherlich die Einsicht, dass persönliche Identität ein Resultat aus einem je subjektiven Konstruktionsprozess ist, der jedoch nicht solitär für sich, sondern stets in wechselseitiger Abhängigkeit mit der gesellschaftlichen Umwelt abläuft. Die Konstruktionen werden interaktiv mit der Umwelt gestaltet, bisweilen auch bewusst ausgehandelt. Subjekte konstruieren folglich nicht nur sich selbst, sondern werden durch ihre soziale Umwelt und deren Akteure ebenso konstruiert. Hier lässt sich auch auf die Begriffe Selbstzuschreibungen und Fremdzuschreibungen'?' zurückgreifen. Die Frage, die nun im Zusammenhang mit Kultur entsteht, ist die, ob Kultur als Zugehörigkeitsdimension für soziale Akteure als symbolisches und/oder normatives Inventar für ihre wechselseitigen Zuschreibungen und Identitätskonstruktionen genutzt wird oder nicht und wenn ja, auf welche Weise dies geschieht. Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde bereits implizit die Frage nach einer plausiblen theoretischen Fassung des Begriffes Kultur gestellt. Wenn 100 Vergleiche die britische Schulforschung zum Diskurskonzept etwa in der Fallstudie zum feministischen Emanzipationsdiskurs vertreten durch eine Lehrerin gegenüber einem sexistischen Diskurs eines Schülers (vgl. Walkerdine 1991). 101 Wie sie auch im Labe1ing-approach durchaus üblich sind.


218

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

wir uns nun in der Theoretisierung der Fallrekonstruktion daran erinnern und uns die sozialen Konstruktionsleistungen vergegenwärtigen, wird nicht zuletzt im Sinne auch des linguistic turn deutlich, dass ein wesentliches Medium von Konstruktionen Sprache ist, die wiederum als Sprechakte in Diskurskontexten geordnet ist und als Sinndimensionen hier fallbezogen rekonstruktionslogisch-empirisch erschließbar wird. Diskurs ist aus strukturalistischer Sicht der grundlagentheoretische Versuch, deutlich zu machen, dass nicht Sprecher als Subjekte eine Sprache sprechen, um etwas zu bezeichnen oder sich auszudrücken, oder mittels Sprache sprechhandeln!", sondern dass dem Subjekt in Geltung und Genese die Sprache systematisch vorausgeht. Sozialisationsbezogen heißt dies, wir werden nicht nur in einer Sprache zu Subjekten sozialisiert, sondern zugespitzt lässt sich sagen, nicht Subjekte sprechen die Sprache, sondern die Sprache ermöglicht so etwas wie ein Subjekt-sein. Der Diskurs konstituiert also sprachlich und sozial das Subjekt.l'" Was fiir die Subjektkonstitution gilt, lässt sich erweitern: "Soziale Wirklichkeit, Gesellschaft, Individuum, Subjekt, körperliche Materialität und Sexualität werden ebenso wie spezifische Identitätskategorien nicht als präexistente Gegebenheiten vorausgesetzt. Sie stellen keine immer schon vorhandene objektive Realität dar, die im Sinne einer Abbildung der Realität bloß symbolisch repräsentiert werden. Die »Dinge« haben jenseits oder vor ihrer diskursiven und das heißt, sprachlichen und sozialen Konstruktion kein inneres, ursprüngliches Wesen oder ,intrinsische Bedeutung', die ihnen vor aller sprachlichen Beschreibung und begrifflich-kategorialen Zuordnung Existenz verleihen. Vielmehr bilden sie diskursiv erzeugte Objekte, die erst im Zuge ihrer Repräsentation den Status des Realen erlangen. Diskurse bringen das hervor, was sie bezeichnen" (Bublitz 2003, S. 55). Mecheril entfaltet mit Bezug zu Bublitz und Foucault den Diskursbegriff als eine Art Aussagesystem: "Unter »Aussagen« sind hierbei nicht allein gesprochene Worte zu verstehen, sondern in einem weiteren Sinn alle mit Bedeutung versehenen und Bedeutungen erzeugende Zusammenhänge und Prozesse wie Bilder, Gesten, architektonische Gebilde und institutionelle Abläufe". Speziell Letztgenanntes verdeutlicht, wie unverzichtbar die Erkenntnisse der Diskurstheorie fiir die vorliegende Falltheoretisierung sind, ergab doch die Fallrekonstruktion von Miniatur 11, wie dominant z, B. in Form des offiziellen und inoffiziellen Unterrichtsgeschehens schulisches Sprechen durch die Institution geformt ist. "Insbesondere weil Diskurse in komplexer Weise mit Institutionen verbunden sind, konstituieren sie sich als materielle Wirklichkeit" (MecheriI2004, S. 43; H i. 0 .). Diskurse sind 102 Im Sinne der Sprechakttheorie (vgl. Austin, How to do things with words, 1972). 103 Diese völlig kontraintuitive Prämisse fiihrt stets zu Missverständnissen bzw. zu ihrer offenen Ablehnung, da wir alltagstheoretisch davon ausgehen wir sprechen als Sprachsubjekte.


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

219

also produktiv, sie erschaffen z. B. eine bestimmte Art des Sprechens über etwas. Sie erzeugen damit auch die Gegenstände, etwa des Wissens und ebenso die Art und Weise, in der etwas gewusst wird, dessen Grenzen, aber auch Möglichkeiten und zuletzt auch die Wissenden selbst. Indem sie Gebrauch machen vom Diskurs, werden sie zu dem, was der Diskurs nahe legt. So legt etwa ein theologischer Diskurs fest, was sein Gegenstand ist. Etwa der Glaube an eine höhere Macht und wie diese auszusehen hat, beispielsweise als Trinität oder als Naturkraft, der Modus, davon zu wissen, wäre zu glauben und gegebenenfalls (s)eine Zeugenschaft darüber, Devotionalien und sonstige Zeichen, bzw. die Rationalisierung des Glaubens im Sinne belastbarer Theoreme und Argumente. Er legt aber ebenso das Subjekt fest: den Gläubigen in seiner Se1bstvergewisserung oder Meditation. Oder der wissenschaftliche Diskurs, der das Experiment bzw. die Beobachtung als Quellen der Erkenntnis ansieht und den Wissenschaftler als Subjekt des Gewussten erzeugt. Die Institutionen sind entweder die Kirche oder die akademischen Naturwissenschaften, die den Diskurs, freilich unter ganz verschiedenen, je anderen Vorzeichen ordnen und dadurch reglementieren. Mit der Institutionalisierung sind Fragen nach der Definitions- oder besser Ordnungsmacht verbunden, wobei insbesondere Foucault den Machtbegriff über den Herrschaftsbegriff hinaus erweitert, wie bereits schon im Theoriekapitel der vorliegenden Arbeit erwähnt. "Macht ist für Foucault ein »totales« Phänomen; sie kommt nicht allein dort vor, wo Repressionen zu beobachten sind, sondern sie ist vielmehr eine konstitutive Dimension des Sozialen und des Symbolischen" (MecheriI2004, S. 45) . Foucault selbst hat sich in seinen Studien vor allem mit historischen Erscheinungsformen von Macht und deren Wandel beschäftigt. Die Geschichte der Schule hat in Deutschland vor allem Ludwig Pongratz machttheoretisch interpretiert und verschiedenartige Disziplinar- und Kontrolltechniken systematisiert (vgl. Pongratz 1995). Die Frage nach Macht im Diskurs ist nicht ausschließlich damit zu beantworten, wer sich im Diskurs als definitionsmächtig erweist, Themen oder Gegenstände des Wissens zu lancieren oder zu institutionalisieren, sondern wie der Diskurs selbst als produktive Macht kontrolliert wird. Hierzu Foucault: "Ich setze voraus, dass injeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu bannen" (Foucault 1991, S. lOt). Die Ordnungen des Diskurses werden also nicht nur produziert, sondern sind stets in ihrer ordnungsstiftenden Funktion bedroht. Die Diskursproduktivität erhält so auch einen ausführbaren dekonstruierenden Charakter, denn im Prozess des Diskurses kann es möglich sein, Ordnungen zu desta-


220

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

bilisieren. Überhaupt bietet die Diskursanalyse eine theoretische Handhabe, mittels derer strukturelle Ordnungen reflektiert werden können. In diesem Sinne soll sich im Folgenden auf den Diskursbegriffbezogen werden. Identitätskonzepte wiederum hängen politisch mit dem Diskurskonzept zusammen. Der Bezug zur je spezifischen Identität sollte ursprünglich eine Differenz markieren und deutlich machen, dass soziale Bedingungen, die für allgemein gehalten werden, sich eben nicht verallgemeinern lassen, weil spezifische Lebensbedingungen oder Lebensweisen unreduzierbar unvergleichbar sind. Hierüber aufzuklären, bzw. für eine spezifische Mikropolitik auch und besonders von Minderheiten gegen Hegemonien im Diskurs zu votieren oder einzutreten, geschah immer auch unter dem Titel kulturelle Identität. Doch dieser politische Kampfum Anerkennung einer spezifischen Identität hatte wiederum seine Schattenseite. Denn: ,,Freilich wird darin die Problematik des Konzepts deutlich. Zum einen erscheint es letztlich wieder als Versuch, Identität an einer Form der Gruppenzugehörigkeit festzumachen. Es ist dann eben das ,Ostdeutsche' oder die ,türkische Herkunft', worauf Identität begründet wird - als wären nicht auch ostdeutsche oder türkische Erfahrungen individuell sehr verschieden. Es verbirgt sich häufig ein neuer Substantialismus hinter dem Verweis auf kulturelle Identität, als ob nicht auch kulturelle Praktiken sehr differenziert, regional verschieden und historisch bedingt wären" (Keupp 2006 3 S. 172). Das Individuum muss sich im Diskurs um kulturelle Identität selbst verorten können. Kohärenz stiftet etwa eine biographische Erzählung seiner selbst, deren Identität kann angesichts pluraler Lebensformen sehr vielgestaltig sein. Dies spricht hinsichtlich Zugehörigkeit oder Herkunft letztlich für biografische Narrationen, wie sie etwa Dannenbeck (Dannenbeck 1999) und mit Bezug zur Bildungsbiographie Hummrich (Hummrich 2002) vorgelegt haben.

2.2 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur 11im Rahmen der Identitäts- und Diskurstheorie Im vorliegenden Fall betreffen die Ordnungen, wie eingangs erläutert, vor allem eben Kriterien kultureller Zugehörigkeit, entlang derer die Schüler durch das pädagogische Setting einer Gruppenarbeit eingeteilt werden. Sie werden zwar als Bildungssubjekte angesprochen, doch stellt die Zugehörigkeit zur Gruppe ein bloß subsumtives Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe her. Setzt sich ein Individuum an den für es vorgesehenen Tisch, gehört es in gewisser Weise zu dieser Gruppe und wird in ihr symbolisch vergemeinschaftet. Es ordnet sich symbolisch-praktisch unter. Unter dem Stichwort einer Autonomieerweiterung wird für sie dadurch eine heteronome Rahmung verbindlich. Kulturelle Identität wurde in der Fallminiatur durch das Abstammungskriterium eingefiihrt, was sich als problematisch für die


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

221

Selbstverortung erweisen kann, denn Zugehörigkeit kann und muss, wenn sie die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht fahrlässig reduzieren will, multidimensional gefasst werden (vgl. z. B. Nohl2006). Dies führt deshalb dannauch thesenartig zu der Beobachtung, mit der die Rekonstruktion schloss, dass die Schüler den sich anschließenden schleppenden Unterricht zwar mitmachen, sich also den praktischen Prozeduren fügen, sich zu Gruppen ordnen, aber ebenso deutlich ihre Ablehnung dokumentieren, soweit sie dies im institutionellen Rahmen, in ihrer Schülerrolle, können. Es scheint nicht ihr Diskurs zu sein. Zumindest nicht ein solcher, der zu ihren Bedingungen geführt wird, sondern er muss ihnen heteronom erscheinen. Ihr Sprechen ist dadurch zwar eingeschränkt, doch zeigen sie ihre Haltung durchaus mittels lakonischer Antworten. Warum dies nicht ein Diskurs zu sein scheint, der sie ermächtigt, über das zu reden, was ihnen wichtig ist, darüber klärt die Rekonstruktion der didaktischen Instruktion dieser ethnisierten Gruppenarbeit auf. Zur Erinnerung: die Rekonstruktion ergab an der Schwellenphase zum Unterrichtseinstieg und damit zur spezifischen Unterrichtsordnung als interaktionsbezogener Rahmenstruktur der Schule diejenige einer Ordnung von offiziellem und inoffiziellem Unterrichtsgeschehen, womit sich an die bereits in der Schulforschung etablierte Unterscheidung schulischer Kommunikationskultur in Vorder- und Hinterbühne von Zinnecker (vgl. Zinnecker 1975) denken lässt. Mit ihr wird aus diskurstheoretischer Sicht deutlich, inwieweit das schulische Sprechen reglementiert ist: es lässt sich nach Beginn der Unterrichtsstunde eben nicht mehr alles artikulieren, sondern der Unterricht bedarf als Interaktion spezifischer, formaler Kommunikationsformen - der Artikulationsrahmen wird gesteckt, in seiner Offen- oder Geschlossenheit aufgespannt und das Sprechen dadurch reglementier- und sanktionierbar. Das anfängliche Durcheinandersprechen informeller Schülerkultur wird, so lässt sich aus der Rekonstruktion schließen, geformt durch formelle Unterrichtskommunikation, wobei ebenso deutlich wird, dass damit die Peerkommunikation nur in den Hintergrund gedrängt und keinesfalls für die Peers unverbindlich, sondern lediglich mehr oder minder ins Verborgene - die Hinterbühne - gedrängt wird. In Disziplinierungen, eine solche Form (oder aber auch andere) im Unterricht zu installieren und gegenüber den Schülern durchzusetzen, besteht eine der alltäglichsten Aufgaben des Lehrerhandelns. Die Motivationspsychologie findet u. a. hier ihre hauptsächlichen Anlässe und ihre Empfehlungen und Ratschläge Abnahme. Deutlich wird abermals, wie schon in den vorausgegangenen professionalisierungstheoretischen Reflexionen, wie schulischer Zwang - in der Miniatur in sprachlicher Gestalt einer Arbeitsanweisung - einerseits und die damit einhergehende Stiftung eines Arbeitsbündnisses - in Form einer Bitte durch Lm - anderer-


222

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

seits in praktischer Widersprüchlichkeit zusammenfallen. Mit Oevennann ist diese Interaktionsstelle als potenziell krisenhaft anzusehen, der reibungslose Ablauf, ohne dass Lm in irgendeiner Weise, etwa durch Begrüßung etc. dazu auffordern müsste, zeigt aber bereits, wie routiniert Handeln seitens der Interakteure geformt sein muss . Einer Einwilligung ins Arbeitsbündnis bedarf es erst gar nicht mehr, denn es reicht allein schon aus, bloß noch an die Unterrichtsorganisation zu erinnern, um den Unterricht in Gang zu setzen. Die Schüler willigen damit aber nicht aus freien Stücken ein, sondern sind allein durch den kaum noch eines Signals bedürfenden Anfang reflexhaft bereit, sich dem Prozedere unterzuordnen. An dieser Stelle wird alltagspraktisch in der Routine der Schüler deutlich, wie wenig schulisches Lernen aufindividuelle Bildung gerichtet zu sein scheint, sondern eher auf die Erfiillung formaler Prozeduren, von denen bildungsbezogen nicht unbedingt klar wird, ob sie die Schüler erreichen bzw. in diesem Setting ihnen einen sachlich angemessenen Artikulationsrahmen zu bieten. Die Ordnungen gegenständlicher Verortung bestätigen diesen Zusammenhang, wie es die Rekonstruktion für das sozial erwünschte bzw. unerwünschte Unterrichtsverhalten ergab, und unterstreichen darüber hinaus durch die symbolische Markierung über die Tischordnung, inwieweit die Mitglieder des Kurses zu differenzieren sind, und welche Schüler in Gruppen zusammen gehören und welche nicht. Die Tischordnung markiert damit eine gruppeninterne Homogenität und externe Differenz der Gruppen voneinander. Diese Ordnung externer Gruppendifferenz und interner Gruppenhomogenität erwies sich in der Rekonstruktion jedoch als prinzipiell brüchig, denn die Homogenität ist tatsächlich hinsichtlich kultureller Zugehörigkeit nur unterstellt und bei näherer Betrachtung nicht so eindeutig, wie es das Kriterium ethnischer Abstammung nahe legt. Es scheint wiederum um Funktionalität zu gehen, den Unterricht bloß zu organisieren, statt ihn so zu gestalten, dass er die Schüler in ihrer Bildungsbewegung erreicht. Es handelt sich aber summa summarum um eine künstliche Vergemeinschaftung durch die Ordnungsstruktur des Unterrichts, die nicht zu den Lebensbedingungen der Schüler passend installiert wird .'?' Nun kann es sein, dass die Schüler über die Komplexität der Zugehörigkeitsthematik selbst nicht Bescheid wissen. Wäre es dann nicht eine gelungene Didaktik, darüber aufzuklären? Eine Beschäftigung der Schüler damit, inwieweit wer wie zugehörig ist, ist aber bereits vorab kassiert und unmöglich, weil die Klassifikation vom Lehrer vorgegeben wurde. Ordnung entsteht und wird in diesem Fall gestiftet, indem eine monokulturelle Ähnlichkeit von Schülern qua Abstammungskriterium behauptet und diese 104

Ein Ergebnis , das vor allem auch die Gruppendiskussion zeigen wird .


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

223

auch symbolisch und sinnlich wahrnehmbar vollzogen wird, indem die auf diese Weise vergemeinschafteten Individuen sich auch in körperliche Nähe um einen Tisch herum gruppieren sollen. Die anschlussfähige Aneignungsweise, welche die Schüler ausführen können, ist, derart positioniert, allein die, sich allenfalls zu fragen, ob sie denn das Zugehörigkeitskriterium nationalethnischer Abstammung erfüllen oder nicht. Dies wird mit, vielleicht auch strategischer, Anpassung quittiert. Bis auf eine Ausnahme, in der Zugehörigkeit seitens einer Schülerin persönlich problematisiert wird, hat der Leser des Protokolls zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, den Schülern sei etwas unklar, obwohl sachlich so viel dafür spricht, dass das vom Lehrer gewählte Kriterium der national-ethnischen Abstammung unklar ist, die Zuordnung somit fragil. Daraus lassen sich identitätspolitische Schlussfolgerungen ziehen, die im Rahmen des Eingangs schon erläuterten Diskurskonzeptes nun wie folgt analysiert werden können. Es ist nicht allein die alte und gewissermaßen grobe Disziplinarmacht, die etwa durch Schulpflicht und schulische Alltagsprozeduren, in Gestalt zeitlicher und räumlicher Taktung und Organisation schulischer Bildungsprozesse, den Schülern gegenüber auftritt, sondern vielmehr eine feine Kontrollmacht!", die hier mit im Spiel ist, und dem sich die Schüler im Rahmen ihrer Möglichkeiten offensichtlich entziehen. Den Schülern wird offeriert, sich hinsichtlich ihrer kulturellen Identitätsentwürfe beteiligen zu sollen. Als Personen sollen sie mittels Gruppenarbeit in den Unterricht und damit in den identitätspolitischen Abstammungsdiskurs integriert werden. Gilt doch Gruppenarbeit als eine gegenüber dem gelenkten Unterrichtsgespräch individualisierte und durchaus freie Form, zeigt sie sich hier als sanfte Disziplinartechnik, nicht nur die Schülerbiographien für die Pädagogik bearbeitbar zu machen, sondern dies mittels eines unterkomplexen Zugehörigkeitskriteriums zu tun. Den Schülern ist der komplette Aneignungsprozess damit entzogen, sie können weder über das Zugehörigkeitskriterium selbst bestimmen, noch sich frei verorten, was aber durchaus notwendig wäre. Die Gruppenarbeit schafft nur einen vermeintlich individuellen Artikulationsraum. Der Unterricht unterbietet damit aber sein Bildungsversprechen, welches gleichzeitig die Grundlage des Arbeitsbündnisses sein müsste. Unter Bildungsaspekten ermöglicht er strukturell nur solche Aneignungen, sich subsumtionslogisch'" einzugliedern. Die Schüler entziehen sich aber im weiteren Verlauf und ziehen sich in ihre Rolle zurück und machen damit genau auf Zumutungen aufmerksam, die mit dem vermeintlich integrativen pädagogischen Setting verbunden sind und das als solches 105 Vgl. zu den Begriffen Pongratz mit Bezug zu Foucau1t (pongratz 2004). 106 Vgl. die im Rahmen der Professionalisierungstheorie diskutierte Antinomie von Subsumtion versus Rekonstruktion, die in der vorangegangenen Theoretisierung diskutiert worden ist.


224

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

ganz grundsätzlich zu überdenken wäre. Hierzu könnte eine reflexive Wendung in der Unterrichtsforschung beitragen!", die Lakonie der folgenden Schülerantworten nicht als individuelles Motivationsproblem der Schüler, keinesfalls als Disziplinierungsproblem, auf das der Lehrer motivierend zu reagieren hätte, sondern als Vermittlungsproblem, resultierend aus der spezifischen Organisation des Bildungsangebots und seiner institutionellen Rahmung, anzusehen. Die Schüler reagieren auf Form und Inhalt. Zum einen wäre ihre Weigerung ernst zu nehmen, die Zumutung, Auskunft über sich zu geben, zurückzuweisen und zum anderen zu registrieren, in welchen identitätskulturellen Diskurs sie sich nicht eintragen wollen. Sie weigern sich quasi, mit dieser Stimme zu sprechen, und sind damit informell näher an den Lebensbedingungen einer pluralisierten Gesellschaft als das pädagogische Setting dies nahe legt. Stellt dieses noch aufkulturelle Differenzen ab, führt sie damit aber allererst ein, was die Gefahr der Ethnisierung mit sich bringt, sind die Schüler über derartige "stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit" (Nassehi 1997) längst hinaus. Sie spielen das Unterrichtsspiel zwar mit, aber zeigen doch fast an jeder folgenden Protokollstelle ihren Unmut darüber, der als solcher erst einmal zu interpretieren wäre. Das durchaus seitens des Pädagogen ernst zu nehmende Bildungsangebot kann als Angebot schülerseits nicht ernstgenommen werden, da es weit hinter ihre biographische Dimension zurückfällt, die wiederum aber doch ihre einzige Ressource sein kann, Fragen über ihre kulturelle Identität zu beantworten. Wie soll dies auch einem Mädchen angesichts des angebotenen Artikulationsrahmens nur annähernd gelingen, das als so genannte Russlanddeutsche mit ihren Eltern nach Deutschland migriert ist, zuvor aber in Kasachstan, das bis 1991 Sowjetrepublik gewesen ist, gelebt hat, sich an den Tisch der russischstämmigen Schüler zu setzen? Die Reduktion von Komplexität ist erkauft um den Preis einer fehlenden, aber durchaus notwendigen Reflexion über komplexe Zugehörigkeitsdimensionen. Galt die Schülerin doch zuvor qua behördlich zugewiesener Abstarnmungsgeschichte in Kasachstan bislang als Russlanddeutsche, wird sie im hiesigen gesellschaftlichen Kontext des Unterrichts als russischstärnmig bezeichnet. Die Vergemeinschaftungsform, ganz gleich, ob sie generell Fluch oder Segen bedeutet, abzulehnen oder doch wünschenswert ist, kann auf diese Weise nur um den Preis der Unauthentizität gelingen. Der Abstarnmungsdiskurs mit all seinen Problemen wird als Teil des Interkulturellen Diskurses in dieser Unterrichtsminiatur praktisch-produktiv, indem Identität als kulturelle Identität qua Zugehörigkeit zu einer Gruppe vom Lehrer als Zuordnungskriterium eingeführt wird. Während Migration hingegen beständig 107 Grundsätzliche Überlegungen dazu, welche Konsequenzen forschungsprogrammatisch und hocbschuldidaktisch daraus zu ziehen sind, folgen im Abschlusskapitel der Arbeit.


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

225

Grenzen problematisiert (vgl. Mecheril2004, S. 42) und damit tendenziell hinterfragt oder auflöst, zieht der Abstammungsdiskurs sie wieder ein und stiftet damit ein diskursive Ordnung und zwar ganz unabhängig davon, wie sich diese zu den Selbstverortungen der Schüler verhält. Interkulturelle Pädagogik, so lässt sich material schließen, behauptet auch in dieser Miniatur wiederum wie in der vorausgegangenen die Einheit des Differenten. Strukturlogisch darf man nun also davon sprechen, dass die Fallstrukturhypothese, wie sie in Auseinandersetzung mit der Professionalisierungstheorie im Kapitel zuvor rekonstruiert worden war, sich hier nicht falsifizieren lässt, im Gegenteil reproduziert sie sich. Die Schülergruppe wird hinsichtlich ihrer nationalethnisch-kulturell gesetzten Identität in Untergruppen differenziert und gleichzeitig wird dadurch die Verschiedenartigkeit als für die Gruppen je Gleiches behauptet. Zieht man die Ergebnisse der vorausgegangenen Miniatur zur Befragung und der damit verbundenen Fremdheitsunterstellung hinzu, wird an dieser Protokollstelle fallspezifisch deutlich, dass das jeweils Andere, Migrierte und Nichtmigrierte auf der Unterrichtsebene über den Abstammungsdiskurs konstruiert werden. Der Diskurs ordnet sozusagen das Ereignishafte (vgl. Foucault 1978), das durch Migration auftritt. Das Ereignishafte wird sichtbar, wenn Zugehörigkeiten, diskursive Ordnungen, in Frage gestellt werden, Grenzziehungen etwa unklar werden. Interessant wird sein, zu sehen, wie dieser Zusammenhang in der nächsten Fallminiatur bearbeitet wird. Die ordnungsstiftende Funktion des Abstammungsdiskurses national-ethnischer Zugehörigkeit ist sozusagen immer genau dann bedroht, sobald er mit der Komplexität von Zugehörigkeitsdimensionen von Biographien Migrierter oder deren Migrationshintergründe, deren -geschichte konfrontiert wird. Dies geschieht in dieser Miniatur jedoch nur latent. Ein abschließender, eher explorativer Gedanke, weiterführende Forschung anzustoßen, bezieht sich auf das Desiderat, das Frank-OlafRadtke formuliert hat: "Gezielt zu beobachten" seien, laut Radtke, nämlich Gelegenheiten, in denen gegebenenfalls ethnische Unterscheidungen genutzt werden, und zwar auf der "Ebene der pädagogischen Interaktion zwischen Lehrern und Schülern, überwiegend in der Form Unterricht, und der Kommunikation der Schüler untereinander. Abgesehen von dem wichtigen Komplex des Spracherwerbs ist bislang wenig bekannt über die Prozesse, in denen Kinder die Bedeutung ethnischer Unterscheidungen lernen, wenig über den Gebrauch der [symbolischen, Zus . T. G.] Ressource Ethnizität in der pädagogischen Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern bzw. in der Gleichaltrigengruppe" (Radtke 2004, S. 642). Die vorliegende Fallminiatur und ihre Theoretisierung kann hier allerdings als eine solche Gelegenheit angesehen werden und weitere wichtige Indizien liefern, wie ethnische Zugehörigkeit ge-


226

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

lernt wird, was sicherlich nicht nur didaktisch-inhaltlich in einem pädagogischen Setting, wie dem rekonstruierten, sondern ebenso durch deren Form geschieht. Die Schüler lernen im vorliegenden Fall, so ließ sich zeigen, hinsichtlich Ethnisierungskriterien sich in Gruppen einzuordnen, und sich in einem für sie heteronomen Abstammungsdiskurs, wie er auf der Unterrichtsebene installiert wurde, zu verorten.

2.3 Reformulierung der Strukturlogik von Miniatur 111 im Rahmen der Identitäts- und Diskurstheorie Die rekonstruierten Strukturen von Fallminiatur III lassen sich ebenfalls wie die vorherige Miniatur im Rahmen von Diskurs- und Identitätstheorie reformulieren und somit theoretisch würdigen. Sie sind ebenso als strukturlogische Bestätigung der zuvor aufgeworfenen Strukturproblematiken zu lesen. An dieser Fallminiatur lässt sich gegenüber der vorherigen aber die subjektive Seite der Schüler, exemplarisch am Sprechakt einer Schülerin, sich im unterrichtsbezogenen Diskurs verorten zu müssen, belegen. Die Miniatur wird im Rahmen der Diskurstheorie auch deswegen diskutiert, weil sie gegenüber der vorherigen Strukturrekonstruktion zeigt, wie die zugemutete Fremdzuschreibung in einen Status gelangen könnte, durch die Interakteure verhandelbar zu werden. Gleichzeitig wird durch sie ebenso deutlich, wie die potenziell mögliche Verhandelbarkeit in der Unterrichtspraxis bearbeitet wird. Aus diskurstheoretischer Sicht ist die Nachfrage der Schülerin, wozu sie denn eigentlich gehöre, als Ereignis zu werten. Denn es geschieht etwas unvorhergesehen. Eine zunächst als unbedeutend und alltäglich triviale Situation einzuschätzende Nachfrage einer Schülerin problematisiert, hingegen diskursanalytisch betrachtet, die latenten und bereits freigelegten Ordnungsstrukturen des Unterrichts. Diese berührt sie in einem empfindlichen Punkt. Die monokulturelle, national-ethnische Subsumtionslogik der Gruppeneinteilung des Unterrichts wird fragwürdig, denn ihre Äußerung lässt sich als Thematisierung von Mehrfachzugehörigkeit verstehen. Die vorherige Einteilung könnte, so ergab es die rekonstruierte Strukturlogik von Emergenz versus Reduktion, dadurch im Unterricht selbst verhandelbar werden. Dass sie es nicht wird, bzw. wie seitens des Lehrers darauf reagiert wird, hat dann die weitere Rekonstruktion gezeigt. Die vorherige Einteilung wird einfach um ein weiteres Kriterium, etwas über die eigene - also durch den Sprechakt zugeschriebene - Kultur zu wissen, erweitert, damit aber ebenso auch die Logik der Gruppeneinteilung fortgeschrieben, weil sie weiterhin für die Interaktion verbindlich bleibt und nicht aufgehoben wird. Strukturlogisch gesprochen handelt es sich demnach um eine fallbezogene Reproduktion durch Erweiterung. Durch die problematisierende Nachfrage gerät das Unterrichtssetting in eine Krise, die je-


2. Selbst- und Fremdzuschreibung, Macht, dominanteund fragile Ordnungen

227

doch, so plötzlich sie auch entstanden ist, ebenso rasch bearbeitet wird. Die monokulturelle Rahmung im Sinne einer Abstammung wird lediglich weiter aufgefächert, indem nun auf Wissen abgestellt wird, jedoch als solche nicht aufgegeben. Lm handelt als institutionalisierter Sprecher - der insgesamt asymmetrische Kommunikationsrahmen wurde hinlänglich rekonstruiert - und schreibt die Rahmung verbindlich fest. Der Machtaspekt des institutionalisierten Sprechens wurde bereits schon hervorgehoben. Die fallbezogene Strukturhypothese der Einheit des Differenten kann nur um den Preis einer monokulturellen Verortung und damit einer Subsumtion der Schüler aufrecht erhalten werden. Andernfalls müsste der Unterricht vollständig neu organisiert werden. Dass er nicht verändert wird, zeigt in pragmatischer Weise , welchen organisationslogischen Zwängen er genügen muss und welchen er letztlich geschuldet ist. Der Lehrer selbst handelt aus diesen Zwängen heraus, seine Unterrichtsgestaltung aufrecht erhalten zu müssen. Er ist im vorliegenden Fall nicht in der Lage, die relativ unbekümmerte und spielerische Äußerung der Schülerin bildungsbezogen zu interpretieren, sondern reagiert, wie es die Rekonstruktion ergab, rein unterrichtspragmatisch. Bildungsbezogen wären aber mit der Äußerung der Schülerin durchaus über den Fall hinaus andere Anschlüsse möglich gewesen, in der Zugehörigkeit in seiner Komplexität und Vielgestaltigkeit hätte thematisiert werden können. Die Strukturlogik des Sprechaktes der Schülerin aber wurde als persönliche versus spielerische Zugehörigkeit rekonstruiert. Ihr Sprechakt blieb in ununterscheidbarer semantischer Schwebe zwischen seinem pragmatischen Bezug zur Unterrichtsgestaltung, in welche Gruppe sie nun gehen soll, und der persönlichen Krise einer Identitätsproblematik, ausgelöst dadurch, tatsächlich nicht zu wissen, wozu man gehört. Sie versteckt sich öffentlich im Lichte der zugemuteten Zugehörigkeit. Die semantische Schwebe erweist sich als folgerichtige Reaktion auf die Unterrichtsorganisation, denn die Schüler sollen sich in einem Rahmen persönlich artikulieren, der nicht der ihre ist. Die Integration als Person in diesem Unterrichtssetting ist ungewollt darauf angelegt, zu misslingen, weil sich die Schüler mit ihrer Person nicht verorten können. Wie zuvor schon erläutert und vor allem in der Gruppendiskussion deutlich wurde, befinden sie sich in ihrer Lebenswelt in weitaus komplexeren Zugehörigkeitsdimensionen als sie ihnen hier angeboten werden. Wenn man so will, müssen sie sich um Dimensionen ihrer selbst künstlich reduzieren und reagieren entsprechend durch Nachfragen wie: "Wozu gehör ich denn eigentlich?" Wahrscheinlich mit den besten Absichten, die Schüler zu integrieren, lädt der Lehrer die Unterrichtsorganisation emphatisch auf. Konsequenz ist jedoch, die Schüler de facto zu desintegrieren - strukturlogisch wurde


228

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

dies als Integration versus Desintegration gedeutet. Auf Seiten der Schüler kann dies schlüssig nur als latente Übergriffigkeit und nicht als authentisches Bildungsangebot gelesen werden. Die Reaktion darauf ist, sich spielerisch einer Zugehörigkeit zu entziehen und die Verortung in Gruppen von Türken, Russen, Afghanen etc. bloß zu mimen. Ein vermeintlich autonomer Artikulationsrahmen wird ihnen als heteronomer offeriert. 108 Wenn an dieser Stelle innerhalb der Argumentation einmal ein Vorgriff auf die noch folgende Theoretisierung der Ergebnisse, die aus der Gruppendiskussion resultieren, erlaubt ist, dann lassen sich dort Hinweise finden, die diese Überlegung stützen. Den Schülern ist ein Spiel mit Mehrfachzugehörigkeit durchaus vertraut, so lässt sich dort erfahren. Es gehört zu ihrem Alltag und wird auch in seiner Attraktivität wahrgenommen, etwa taktischer Natur. Hieran lassen sich weitere Überlegungen anschließen, inwieweit nicht nur plurale Identität, Mehrfachzugehörigkeit oder Hybridität (Reckwitz 2006, Mecheri12009 2, Keupp 2006 3) im Alltag, sondern als Identitätsressource, als symbolisches Inventar fiir die Schüler in ihren Auseinandersetzungen eine erhebliche Bedeutung haben. Auch die Bewunderung, der Exotismus hybrider, nicht so eindeutig zuzuordnender Identitäten, kann hier eine Rolle spielen. Zugespitzt hieße dies aber, auf den Unterricht bezogen, dass dieser wiederum an der komplexen Lebenswelt vorbei orientiert organisiert wurde. Deren Facettenreichtum wird reduziert statt emergiert. Dies ist folgenreich gerade deswegen, weil die Unterrichtsform als Gruppenarbeit, die den Schülern einen Artikulationsrahmen verschaffen soll, durch das Zuordnungskriterium diesen geradezu wieder verschließt. Ein Widerspruch, der direkt aus dem Diskurs um den Interkulturellen Dialog folgt und hier praktisch wird. Die Einheit kultureller Differenz, die als fallbezogene Strukturform eingeführt wird, wird bloß postuliert und auf der Ebene des offiziellen Unterrichtsgeschehens von den Schülern mitgespielt. Die Schüler bilden also umgekehrt, wenn sie sich nicht angemessen artikulieren können, bloß die Stichwortgeber, das Personal einer Unterrichtsform, die sie auch deswegen nicht erreichen kann, weil ihre alltägliche Erfahrung hinsichtlich pluraler Lebensformen viel reichhaltiger und komplexer ist, als es die Modelle Multikultur und Interkulturalität zulassen, die aber wiederum den Unterricht in seiner offiziellen Logik bestimmen. Die Schüler entziehen sich der Zumutung, die ihnen als Subjektivierungsweise angeboten wird. Dadurch entsteht aber ebenso fiir sie keine Möglichkeit einer bildenden Reflexion, die thematisch durchaus möglich wäre. Wir werden nicht zu Zeugen eines Kampfes um (mono-) kulturelle Identität, sondern wir sehen allenfalls ein Spiel mittels Mehrfachzuge108 Zu denAntinomien despädagogischen Handelns lassensichBezügeherstellen, wiesie im Kontext der Professionalisierungstheorie am Anfang des Kapitelsreferiertwurden.


3. InterkulturellerUnterricht als Inszenierungder Einheit des Differenten

229

hörigkeiten. Die Emergenz des Geschehens, die nicht realisierten Anschlüsse, die alle wichtigen Dimensionen der Komplexität beinhalten könnte, wird zugunsten der reduzierten Unterrichtsorganisation aufgegeben. Auf den Unterricht als Diskursgeschehen bezogen heißt dies mikropolitisch, dass der Diskurs um interkulturelle Pädagogik, mit seinem heimlichen Lehrplan von Monokulturalität, hier den Schülern institutionell signalisiert, sich als monokulturelle national-ethnische Identitäten verorten zu müssen. Dem Zwang offiziellen Sprechens im Unterricht begegnen sie, indem sie spielerisch damit umgehen. Hierin zeigt sich ihre Mikropolitik der Aneignung des Unterrichtsstoffes und seiner didaktischen Instruktion als ethnisierte Gruppenarbeit.

3.

Interkultureller Unterricht als Inszenierung der Einheit des Differenten

3.1 Inszenierung oder Bewährungsmythos? Der schon angedeutete Inszenierungscharakter der Interkulturellen Pädagogik und die Metapher des Spiels, die bereits an einigen Stellen im Argumentationsgang der Arbeit gebraucht worden ist, oder die Rede eines spielerischen Umgangs seitens der Schüler, subjektiv auf die objektiven, d. h. institutionalisierten, Zumutungen des Unterrichts zu reagieren, sollen nun abschließend ihre theoretische Würdigung erfahren. Dazu werden einmal die Ergebnisse der strukturlogischen Ausdeutung, wie sie sich aus der Gruppendiskussion ergeben haben, sowie im Rückbezug die bisherigen Ergebnisse der Rekonstruktionen, ihrer Ausdeutungen und Theoretisierungen aufeinander bezogen. Im engeren Fokus steht dabei , forschungsmethodisch gesehen, die Diskussion der Fallstruktur, wie sie sich aus dem empirischen Material hat erschließen lassen . Die Fallrekonstruktionen ergaben zunächst die Strukturhypothese, Interkultureller Unterricht gestalte sich in Form einer normativen paradoxen Einheit des Differenten aus. In den verschiedenen strukturlogischen Ausdeutungen und Theoretisierungen konnte danach die Fallstrukturhypothese nicht falsifiziert werden, sondern sie ließ sich im Gegenteil erhärten und wurde aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln beleuchtet und facettenreich diskutiert. Im Rahmen der Professionalisierungstheorie pädagogischer Praxis konnte gezeigt werden, wie die antinomischen Spannungen des Unterrichts, in dem kulturelle Differenz mittels der didaktischen Instruktion einer Befragung im Rahmen von Gruppenarbeit thematisiert wird , bearbeitet werden. Das sich gegenseitige Be-


230

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

fremden-lassen der Schüler untereinander darfnur soweit gehen und ausdifferenziert werden, wie die Gemeinsamkeit als behauptete, tatsächlich aber widersprüchliche Einheitlichkeit zu keiner Zeit aufgegeben wird. Die Verschiedenartigkeit in diesem Unterrichtssetting kann auf individueller Ebene nicht thematisch werden. Denn dann bräche unterrichtstechnisch die Einheitlichkeit auf, die zugleich kulturalistisch differenziert wird. Die Fallstruktur zeigt also ein spannungsreiches strukturlogisches Gefüge . Logisch sinnfällig lässt sich im Kontext einer pädagogischen Professionalisierungstheorie daraus die Konsequenz ziehen, Interkulturelle Pädagogik und mit ihr Interkultureller Unterricht als spezifisch pädagogische Form der widersprüchlichen Bewältigung einer pluralen Einwanderungsgesellschaft unter Bedingungen einer sich in ihren Antinomien radikalisierenden Modeme, wie es sich im Anschluss an Helsper (Helsper 1996, 2004) darstellt, zu begreifen. Mit der Fallstruktur gingen weitere spannungsreiche Antinomien einher, die sich in den folgenden Miniaturen zeigen ließen. So konnte mit Bezug zur Diskursund Identitätstheorie ausdrücklich hervorgehoben und mikropolitisch vertiefend diskutiert werden, dass den Schülern im vorliegenden Fall heteronom ein monokulturell geschlossener Artikulationsrahmen durch das institutionalisierte Lehrerhandeln eröffnet wird, der aber als Erweiterung von Autonomie inszeniert wird . Dadurch sind fallpraktisch, weil schulische Kommunikationen stets asymmetrisch geformt sind, kommunikative Spielräume, eine hybride Identität, bzw. eine Identität, die sich durch Mehrfachzugehörigkeiten auszeichnet, verschlossen und faktisch gerade nicht erweitert worden. Die Institution zeigt sich machtvoll darin, den Diskurs um Interkulturalität zu formen und zu begrenzen. Der Diskurs Interkultureller Pädagogik, dessen theoretische Dimensionen im ersten Kapitel entfaltet wurden, konnte hier in praxi auf sozialer Mikroebene im Unterrichtsprozess beobachtet werden. Freigelegt wurde strukturlogisch Monokulturalität als heimlicher Lehrplan der Interkulturellen Pädagogik, wie sie sich fallspezifisch in Unterrichtsminiaturen ausformte. Dies vor allem durch den didaktischen Inhalt des Unterrichts, der zunächst Identität als national-ethnische Abstammung den Schülern zuwies. Trotz einer problematisierenden Nachfrage einer Schülerin blieb sie für die Interaktion verbindlich. Es wurde lediglich kurzerhand auf eine wissensbasierte Entscheidung der Schüler konzeptuell umgestellt, dabei widersprüchliche Konzepte zwischen Entscheidung, einer Kultur anzugehören, und dem vorherig eingeführten Kriterium der Abstammung, in Kauf genommen. Hier konnte nochmals deutlich gezeigt werden, wie wenig sich im Unterricht am Inhalt und dessen Vermittlung zur Seite der Subjekte, sondern stattdessen an seinem störungsfreien Ablauf orientiert wird. Seine reibungslose Durchführung scheint wichtiger als sein Zweck zu sein.


3. InterkulturellerUnterricht als Inszenierungder Einheit des Differenten

231

In der Ordnungslogik, mittels derer die Diskurspraxis des Unterrichts aufgespannt wurde, positionieren sich die Schüler sprechaktpraktisch durch spielerisches Mitmachen. Sie gliedern sich ein und machen damit ein doppeltes Verhältnis zum Unterricht auf: Einerseits wird von ihnen verlangt, mitzuarbeiten. Sie tun dies , obwohl ihre lakonischen Antworten auf die Fragen im Unterricht zeigen, wie wenig sie sich unter die Subsumtionskategorie national-ethnische Zugehörigkeit, die ihnen qua Kriterium Abstammung zugeschrieben wurde, ordnen können. Denn sie können aufgrund ihrer Lebensverhältnisse schlichtweg gar nicht wissen, wie ein Afghane, Russe, Türke etc. so ist und antwortet, sondern mimen sie lediglich. Auch gehört es gar nicht zu ihren Identitätskonzepten, sich auf diese Weise zu verorten. Andererseits kommen sie damit in die Situation, sich in einem heteronomen und ungeeigneten Artikulationsrahmen äußern zu müssen. Sie können folglich weder den Unterrichtsinhalt einer Befragung noch ihre zugeschriebene Identität ernst nehmen. Die Konsequenz daraus ist, den Unterricht als Inszenierung begreifen und mitgestalten zu müssen. Das heißt, das Unterrichtskonzept zwingt sie dazu. Welche tatsächliche Relevanz sie kultureller Zugehörigkeit und Identität beimessen, zeigte die Gruppendiskussion, deren Ergebnisse hier nun noch einmal reformuliert werden sollen.

3.2 Reformulierung der Strukturlogik aus der Gruppendiskussion: Miniatur IV Die Beiträge der Gruppendiskussion boten eine Fülle an Deutungen und Deutungsmustern, die nun mit Bezug zur Fallstruktur des Unterrichts gelesen werden sollen . Sie werfen zwar ein Licht aufdie außerunterrichtliche Lebenswelt der Schüler, waren aber nicht als deren Ausdrucksgestalt, sondern als Protokoll der Aneignungslogiken des Unterrichtsgeschehens, übereinstimmend mit der vorherigen Bestimmung des zu untersuchenden Falles rekonstruiert worden. Dennoch ist vor allem ihre Lebenswelt auch für die Aneignungslogik auf den Unterricht bezogen, vor allem seine Themen, aber auch seine Form der Unterrichtsgestaltung, bedeutungsvoll. Sie setzt den Relevanzrahmen ihrer Deutungen. Ihre Aneignungsweisen, wie sie sich generell aus der Gruppendiskussion rekonstruieren ließen, sind allesamt über die Schülerkultur vermittelt. Der Unterricht als Lebenspraxis erscheint dabei nicht so maßgebend. Seine inhaltlichen Themen, kulturelle Zugehörigkeiten, ihre Selbst- und Fremdzuschreibungen, besitzen aber für ihre außerschulische Lebenspraxis eine besondere Relevanz. Durch die Rekonstruktion der Deutungen, wie sie innerhalb der Gruppendiskussion thematisch wurden, konnte deren Sinnlogik bestimmt werden. Zunächst zeigte sich unter dem Label Interessant ist Interessiertsein an etwas, dass sich für die Schüler ein Interesse vor allem dann entwickelt, wenn es sich


232

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

persönlich charismatisieren lässt; sowohl das eigene als auch das Interesse Anderer. Bezogen auf die letztlich scheiternden Bemühungen des Lehrers im Fall, den Unterricht als Bildungspraxis zu emphatisieren und persönlich zu charismatisieren, kann man diesen Zusammenhang nur als eine besonders tragische Ironie einstufen. Denn beide Seiten, Schüler wie Lehrer scheinen dasselbe zu wollen, nämlich eine authentische Bildungspraxis, die aber, so ließ sich zeigen, aus den bereits benannten Gründen nicht als Arbeitsbündnis zustande kommen kann. Über diese spezifische Deutungslogik des Interesses, spann sich der Gesprächsfaden über die besondere Form einer Innerlichkeit weiter zur dominant vertretenen Auffassung von Kultur als Religion, die von ihnen in Form von Religiosität als Lebenskunst und symbolische Ressource lebenspraktisch relevant wird. In Bezug zum Unterricht wurde dabei deutlich, dass sie zunächst nicht an die dort verwendete Form von Zugehörigkeit im Sinne einer monokulturellen national-ethnischen Identitätszuweisung, sondern an einen davon ganz verschiedenen, recht traditionellen, wenn man so will, Begriff von Kultur als Glaubensrichtung anknüpfen. Ihrem Deutungsmuster des Interesses gemäß interpretieren sie folgerichtig Religion als subjektive Lebenskunst, als ein spezifisches innerliches Selbstverhältnis, das seine besondere soziale Energie in einem Streit, auf den immer wieder Bezug genommen wurde, erhält. In ihm wird zwar funktional eingeteilt, diversifiziert in mindestens zwei Gruppen, doch geht es vor allem um die Glaubwürdigkeit der Streitenden, also um deren Verhältnis zu sich selbst in Bezug zu den Anderen. In ihrer Deutungslogik ist gerade derjenige glaubwürdig, der an etwas glaubt. So lässt sich für sie sinnlogisch Kultur als Lebensweise auch mit Religion verknüpfen. In den sozialen Auseinandersetzungen wird sie aber zu einer symbolischen Ressource, um zu differenzieren, auch um zu bewerten und abzuwerten bis hin zur Diskriminierung. Auch wenn sie zwar nicht nach national-ethnischen Kriterien, wie der Unterricht, ihre sozialen Abgrenzungsprozesse, und die damit verbundenen sozialsymbolischen Ein- und Ausschließungsdynamiken steuern, differenzieren sie doch nicht minder. Sie nutzen dazu Religion als symbolischer Ressource, allerdings mit starkem Bezug zur Innerlichkeit, die sie als je individuelle begreifen. Sie haben keine monokulturelle, sondern eine individualisierte Deutung von Religion. Die Sozialität der Religiösen, ihre Vergemeinschaftung als Gruppe, besteht in einer glaubwürdigen je spezifischen Lebensform, deren Gemeinsamkeit darin besteht, aufje individuelle Weise religiös zu sein. Damit zeichnen sie nicht nur ein modemes, weil individualisiertes, Bild von Religion und religiöser Zugehörigkeit, sondern eben auch kein monokulturelles, denn ein solches Konzept ist offen für Mehrfachzugehörigkeiten. Dies kann jedoch nur den Stellenwert eines Ideals haben, zeigen sie doch im Streitfall in den


3. InterkulturellerUnterricht als Inszenierungder Einheit des Differenten

233

Abgrenzungen zwischen den Gruppen, wie schnell diese individualisierte Offenheit auch wieder geschlossen werden kann. Dennoch formulierten sie dies alles vor dem Hintergrund eines Konzepts von Mehrfachzugehörigkeit, das für sie 00hintergehbare Lebenspraxis ist. Sie scheinen sich nicht vorstellen zu können, dass es anders sein könnte. Dem steht das schulische Unterrichtssetting gegenüber, das bei aller Kulturdifferenz insgeheim einem Konzept von intrakultureller Monokultur folgte, wie sich dies als Schülerkulturelle Mehrjachzugehörigkeit versus schulische Monokultur verdichten ließ. Die Schüler sind in ihren lebensweltlichen Erfahrungen über ein solches Setting, wie es der Interkulturelle Unterricht entwirft, längst hinaus. Dennoch sind sie, zieht man die Ergebnisse der Gruppendiskussion zum Streit um eine glaubwürdige religiöse Praxis noch einmal zu Rate, nicht in der Lage, dies reflexiv zu wenden und damit dessen Bedingungen aufzuklären. Trotzdem könnten ihre lebensweltlichen Erfahrungen einer pluridimensionalen Zugehörigkeit und zwar als Normalfall dafür einen Ausgangspunkt liefern.

3.3 Inszenierungspraxis Interkulturellen Unterrichts Die Inszenierung einer Praxis weist gegenüber ihrem idealtypischen sinnlogischen Gegenteil einer authentischen Praxis eine Als-ob-Struktur auf. Mit dem Begriff Inszenierung wird aber im hiesigen Zusammenhang weder auf eine ästhetische Praxis noch auf eine diagnostizierte Ästhetisierung gesellschaftlicher Phänomene (vgl. Willems, Herbert/Jurga, Martin 1998) rekurriert, sondern die Inszenierung der untersuchten pädagogischen Praxis wird hier begriffen als eine notwendige Reaktion auf die Strukturprobleme des Unterrichts innerhalb der pädagogischen Institution als solcher, kein realistisches Arbeitsbündnis zwischen den Akteuren herstellen zu können. Die Ursache, nicht zustande zu kommen, konnte mit den theoretischen Bezügen zu Oevermanns Professionalisierungsforschung bereits eingangs deutlich gemacht werden. Die Frage muss dann aber mit Blick auf schulische Empirie folglich lauten, was denn dann an die Stelle eines Arbeitsbündnisses tritt. Daraufkönnen die vorliegenden Rekonstruktionsergebnisse nur eine zunächst fallbezogene Antwort geben . Mit dem Unterricht wird eine Interkulturelle Pädagogik als widersprüchliche Einheit des Differenten inszeniert, dessen Form seitens des Lehrers subjektiv emphatisiert und charismatisiert und seitens der Schüler subjektiv erduldet und mitgespielt wird . Durchgesetzt wird er objektiv um den Preis des heimlichen Lehrplans von Monokulturalität. Wodurch die Schüler paradoxerweise die Personen, als die sie angesprochen werden, bloß als Kulturrollenträger (des Türken, Russen, Afghanen etc.) spielen. Weil die Unterrichtsform inszeniert ist, wird so getan, als ob die Schüler bildungsbezogen als Personen integriert werden könnten. Es liegt sinologisch nahe, aus Sicht des Lehrers den Un-


234

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

terrichtsbeginn mit einer Charismatisierung, in Gestalt eines Wunsches einzuleiten, später in Form der Bitte, sich auf sein Angebot persönlich einzulassen. Wenn sich schon kein authentisches Verhältnis aufbauen lässt, so wird die Inszenierung als authentische persönlich auratisiert. Die Schüler arbeiten an der Inszenierung mit, allerdings ohne deren Subjekte zu sein. Bezieht man die strukturlogischen Ausdeutungen, wie sie sich aus der Gruppendiskussion ergeben haben, mit ein in die Überlegungen zur Inszenierungspraxis, dann lässt sich aufdas Unterrichtsgeschehen zurückschließend behaupten, es muss sich notwendigerweise um eine Inszenierungsform mit drei Dimensionen handeln: Erstens ist es bereits auf der Unterrichtsebene nicht als tatsächliche Stiftung eines Arbeitsbündnisses zum Zweck der Erweiterung von Autonomie, d. h. als eine authentische Bildungspraxis, zu begreifen, sondern stattdessen, ganz unabhängig von den subjektiven Intentionen, eine Organisationsform, die sich nicht an den Subjekten orientiert, sondern deren struktureller Sinn darin besteht, den Unterricht funktional als Prozess störungsfrei ablaufen zu lassen. Die didaktische Instruktion hat also bereits den Charakter einer Inszenierung, sie spiegelt eine Als-ob Situation. Zweitens die Reaktionen der Schüler darauf, darin bestehen, mitzuspielen, und das heißt für sich auf eigene Rechnung am Geschehen teilzunehmen. Damit aber bezogen auf den Inhalt, eine Identität zu spielen, dessen Konzept sie persönlich nicht erfüllen können. Sie inszenieren sich folglich, als ob sie diejenigen national-ethnisch Zugehörigen wären, die das Unterrichtssetting verlangt. Drittens, weil der Unterricht als lebensweltlich authentisch inszeniert wird. Hier wird so getan, als ob er die Lebenswirklichkeit im Sinne der Zugehörigkeit der Schüler thematisiere, was er aber, wie es die Ergebnisse der Gruppendiskussion anschaulich machten, gerade nicht leisten kann . Er reduziert die tatsächlichen Zugehörigkeitsdimensionen der Schüler in monokultureller Weise, woraus resultiert, dass die Schüler ihr Interesse am Gegenstand, der ja im Unterrichtssetting aus ihrer authentischen Lebenswirklichkeit bestehen sollte, nicht entwickeln können, stattdessen lakonisch launig sich in seine Prozeduren fügen . Obwohl das Thema kulturelle Zugehörigkeit für sie durchaus eine lebensweltliche Relevanz hat.

3.4 Bewährungsmythos Interkulturellen Unterrichts Die Interkulturelle Pädagogik, die sich hier als fallspezifisches Konzept von Interkulturellem Unterricht rekonstruieren ließ, ist auch als Variante eines Bewährungsmythos zu diskutieren, Anforderungen radikaler Heterogenität zu bewältigen, mit denen Schule und damit auch Unterricht in einer pluralen Einwanderungsgesellschaft, deren komplexe Dimensionen im ersten Kapitel beschrieben wurden, konfrontiert werden.


3. InterkulturellerUnterricht als Inszenierungder Einheit des Differenten

235

Oevennanns Methodologie folgend, sind Routinen einer Lebenspraxis so zu verstehen, angesichts von Krisen zur Bewährung ausgesetzt zu sein . Krisenhaft ist eine Lebenspraxis aber prinzipiell, laut Oevennann ihr Nonnalfall, aufgrund ihrer handlungspraktischen Zukunftsoffenheit, wie dies methodologisch in Kapitel B ausgewiesen wurde. Insofern können die Unterrichtsminiaturen allesamt als handlungspraktische Krisen - des Unterrichtseinstiegs, der Ordnung von Unterricht, der Reaktion auf eine diese Ordnung problematisierende Nachfrage - gelten . Doch zeigt die untersuchte Unterrichtspraxis ihre Krisenhaftigkeit nur latent. Zu keiner Zeit ließ sich am Protokoll eine manifeste Krise ausweisen, in dem Sinne, dass sequenzielle Anschlüsse nicht länger zur Verfiigung standen. Vielmehr wurden umgekehrt diejenigen Handlungsroutinen rekonstruierbar, welche die Lebenspraxis Interkultureller Unterricht in seiner Krisenanfälligkeit handlungsstabil halten. Dies jedoch nur um den Preis, keine realistische, authentische Bildungspraxis zu sein. Beobachten ließ sich vielmehr, und die Rekonstruktionen konnten dies detailliert aufzeigen, aufweIche Weise weder auf der Interaktionsebene zwischen Lehrer und Schülern ein bildungsbezogenes Arbeitsbündnis zustande kam, noch der Inhalt des Unterrichts, sein Bildungsgehalt, emergiert, seine Komplexität entfaltet wurde. Dadurch ist Interkultureller Unterricht, wie er sich hier fallspezifisch lebenspraktisch ausfonnte, aber kein gelingendes Konzept, die Vermittlungsprobleme und strukturlogischen Antinomien zu bearbeiten, sondern bloß eine pädagogische Inszenierung des Gelingens, kulturelle Differenzen thematisieren und sie sozial, im vorliegenden Fall durch Gruppenarbeit, bearbeiten zu können. Wir konnten ein beidseitiges Unterordnen von Schüler wie Lehrer unter eine formale Unterrichtsorganisationsform beobachten. Die Einteilung in Gruppen folgt dabei, auf mikrosoziologischer Ebene betrachtet, dem makrosoziologischen utopischen Modell einer multikulturellen bzw. multiethnischen Einwanderungsgesellschaft, dessen Probleme bereits im ersten Kapitel der Arbeit theoretisch erörtert wurden und die in den fallspezifischen Rekonstruktionen nun praktisch wieder auftauchen. Wenn aber mit dem Konzept Interkultureller Unterricht die strukturlogischen Antinomien der pädagogischen Praxis nicht gelingend, und zwar nach ihren immanenten Maßstäben beurteilt, bearbeitet werden können, heißt das dann, sie bleiben nicht stillstellbar? Denn nichts anderes hatte schon Helsper in seiner Variante der Professionalisierungstheorie behauptet (vgl. Helsper 1996). Die Antinomien, hier prominent die von Einheit versus Differenz herausgestellt, haben den Stellenwert nicht nur konstitutiv für pädagogische Praxis, sondern auch unaufhebbar zu sein (vgl. Helsper 2004, S. 61f).109 Sie in pädagogischer Praxis prinzipiell nicht still stellen zu können, versucht das rekonstruierte Konzept Interkultureller Päda109

Siehe auch die professionalisierungstheoretische Reflexion zu Beginn dieses Kapitels.


236

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

gogik demgemäß dadurch zu bearbeiten, durch Differenzierung gesellschaftliche Einheit wieder herzustellen. Dies aber nur um den Preis, intrakulturelle Monokulturalität quasi durch die Hintertür wieder einzuführen. Wenn allerdings das Konzept ein Reaktionsmuster auf die prinzipielle Nicht-Stillstellbarkeit ihrer antinornischen Praxis ist, dannließe sich mit Oevermann durchaus die These aufstellen, es handele sich beim Konzept Interkulturellen Unterrichts schlicht um einen Bewährungsmythos. Hat dieser doch zum Ziel, eine solche Nicht-Stillstellbarkeit zu bearbeiten. Bewährungsmythen haben, laut Oevermann, "die Funktion, das Bewährungsproblem in seiner Nicht-Stillstellbarkeit dennoch durch die Artikulation einer utopischen Bewährungsmöglichkeit erträglich zu machen, aber indem sie das versuchen, artikulieren sie zugleich auch das Bewährungsproblem als solches und erneuern damit seine Virulenz und seine Nicht-Stillstellbarkeit" (Oevermann 2001, S. 321). Die strukturelle Analogie zwischen Problemen pädagogischer Praxis und solchen Problemen, die laut Oevermann zur Bearbeitung mittels eines Bewährungsmythos führen, ist nur so lange überzeugend, wie man die Antinomien der pädagogischen Praxis für prinzipiell genau so nicht stillstellbar hält, wie die Probleme, die aus der Endlichkeit menschlicher Existenz resultieren. Denn diese bildeten den Entdeckungszusammenhang für die religionssoziologischen Überlegungen Oevermanns zum Bewährungsmythos'". Die Probleme aber, die sich für den Menschen durch seine endliche Existenz stellen, sind doch nicht von gleicher strukturlogischer Qualität, wie diejenigen der pädagogischen Praxis. Während die Nicht-Stillstellbarkeit jener prinzipiell nicht aufzuheben ist, bleiben die Antinomien dieser nur solange bestehen, wie sie, wie der rekonstruierte Fall auch, unter bestimmten institutionalisierten Bedingungen praktisch werden muss. Pädagogische Praxis bedarf nicht eines Bewährungsmythos zur utopischen Lösung diesseitiger Probleme, sondern schlichtweg einer besseren Praxis. Die lässt sich wiederum nicht ohne weiteres unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen entwickeln. Es kann nicht darum gehen, zum rekonstruierten Fall einen weiteren als vermeintlich bessere Alternative hinzuzufügen, sondern um die Abschaffung der Bedingungen, die dazu führen, dass sich derzeit pädagogische Praxis ausschließlich in Antinomien rekonstruieren lässt. Man muss seinen Lösungsvorschlag nicht akzeptieren, um zu erkennen, dass die Überlegungen Oevermanns zur Abschaffung der Schulpflicht dazu die Qualität besitzen, so grundsätzlich über schulische Praxis nachzudenken, wie es erforderlich wäre. Denn warum soll es prinzipiell so sein, dass 110

Das theoretische Konzept des Bewährungsmythos ist ursprünglich im Kontext religionssoziologischer Überlegungen Oevennanns entstanden. Schon dort kündigte sich zwar an, dass es seine Plausibilität auch für andere Lebenspraxen haben kann, deren Kennzeichen aber doch ein Strukturproblem prinzipieller Nicht-Stillstellbarkeit sein muss .


3. InterkulturellerUnterricht als Inszenierungder Einheit des Differenten

237

es überhaupt keine bessere pädagogische Praxis geben kann, als diejenige, die wir vorfinden und die in der Professionalisierungstheorie von Helsper mittels pädagogischer Antinomien charakterisiert wird? So treffend seine Rekonstruktionen sind, so hilfreich auch darin, pädagogische Praxis zu beschreiben, irrt Helsper aber letztlich, indem er die Antinomien prinzipiell als konstitutiv unaufhebbare Widersprüche von Praxis fest schreibt, anstatt sie als falsche Praxis zu reflektieren, zu der es eine bessere Alternative prinzipiell geben könnte. Solange sich der allgemeine institutionelle Rahmen pädagogischer Praxis, die hier als Interkultureller Unterricht rekonstruiert wurde, nicht ändert, kann die Bildungspraxis ihr Gelingen nur inszenieren. Was wir am Fall als pädagogisches Konzept haben ablesen können, lässt sich jedoch nicht als Bewährungsmythos begreifen, sondern als besondere Form einer allgemeinen Form der pädagogischen Inszenierung. Mit anderen Worten ninunt das Versprechen Interkulturellen Unterrichts zwar eine Hypothek auf die Zukunft einer friedliebenden Utopie auf. Doch besteht die praktische Diesseitigkeit des Konzepts aus einem Exerzitium sanfter Kontrolle durch Disziplinartechnik, dem sich die Schüler im Diskurs aussetzen müssen. Die Schüler sollen diese Utopie schon jetzt in praxi verwirklichen. Wenn der Unterricht aber durch seine Form sozialisiert, wie wir es durchaus annehmen können, dann werden den Schülern homologe Artikulationsräume ethnisch bestimmter Identitäten, die sie sein sollen, als Partizipationsweise am Unterricht signalisiert. Sie werden dadurch mit unzumutbaren Identitätszumutungen konfrontiert. Sie antworten zwar mit Spiel, doch macht der Unterricht damit ernst. Im Konzept Interkultureller Unterricht, wie er sich rekonstruieren ließ, drückt sich das pädagogische Ideal homolog bestimmbarer national-ethnisch-kultureller Handlungsräume aus, die letztlich wiederum eine Einheitsphantasie sind, demgegenüber sich die gesellschaftliche Wirklichkeit weit und uneinholbar entfernt hat. Die Interkulturelle Pädagogik ist dieser Wirklichkeit gegenüber eher eine Befriedungsphantasie, die zudem die tatsächlich stattfindenden sozialen Kämpfe mittels Kultur als symbolischer Ressource, ihren Verbindungen zu sozialen Positionen etwa, auch als symbolische Gewalt (Bourdieu, 1995 2) welche ebenfalls in der Gruppendiskussion der Schüler in ihren Auseinandersetzungen um religiöse Glaubwürdigkeit ihren Ausdruck fanden, ignoriert. Die pluralen Diversifizierungen der fortgeschrittenen modemen Gesellschaft lassen ein solches Ideal, das die Interkulturelle Pädagogik, wie sie fallweise rekonstruiert werden konnte, nicht nur alt aussehen, sondern ihre Praxis auch nicht länger als wünschenswert erscheinen. Die Schüler aber zahlen einen hohen Preis für die Teilnahme am Unterricht und darin besteht der Ernst des Identitätsspiels. Um das multikulturelle, vermeint-


238

D TheoretischeWürdigung im Kontext ReflexiverErziehungswissenschaft

lieh bunte, Gespräch miteinander führen zu können, müssen sie sich einem Identitätskonzept unterordnen, das dem ihren nicht entsprechen kann. Und dies, obwohl sie doch, vom Unterrichtskonzept her gesehen, diejenigen sein sollen, die so frei von der Seele autonom über ihre Kultur und Heimat - wir erinnern uns : so hieß die Unterrichtsreihe - sprechen sollen . Sie sollen zu Subjekten im Unterrichtssetting werden, doch können sie dies nur zu unakzeptablen Bedingungen tun . In der Inszenierungspraxis muss eine besondere Attraktivität liegen, immer wieder auf diese Form Interkultureller Pädagogik, als handele es sich um eine betäubende Stimulans, zurückzugreifen. Wir haben gesehen, wie sie intrakulturelle Monokulturalität beinhaltet und eine Vorstellung transportiert, das gesellschaftliche Faktum von Differenz utopisch harmonisieren und damit wieder vereinheitlichen zu können, statt mehrdimensionale gesellschaftliche Pluralität als Faktum auch praktisch anzuerkennen. Gegenüber den Entwicklungslinien der pädagogischen Theorie, wie sie im ersten Kapitel nachgezeichnet wurden, lässt sich die praktische Pädagogik des vorliegenden Falles als irreflexiveinschätzen. Weder ist ein solches Konzept in der Lage, auf seine Bedingtheit institutionalisierten Sprechens und Handelns zu reflektieren, noch die aus dem Konzept resultierenden Zuschreibungsprozesse als solche, nicht zuletzt auch in ihren identitätspolitischen Konsequenzen, zu erkennen . Stattdessen macht das Konzept blind gegenüber der pluralen Wirklichkeit, in dem auf Differenzen abgestellt wird, die neue Vereinheitlichungen erzeugen.


E Fazit und Ausblick

Die vorliegende Arbeit leitete die Frage, wie Gesellschaft unter den Bedingungen von Heterogenität in der Institution Schule kulturelle Differenz thematisiert. Die Antwort wurde praxisbezogen an einer Einzelfallstudie entwickelt, welche die Mikrologik von Interkulturellem Unterricht und seine reale Bildungspraxis rekonstruierte. An einzelnen didaktischen Instruktionen wurde gezeigt, wie interkulturelle Themen im Unterricht geformt werden, welche organisationsspezifische Rahmung diese hatten und welche Konsequenzen dies für die unterrichtliche Praxis der beteiligtenAkteure hatte. Das empirische Erkenntnisinteresse bestand darin, die Lebenspraxis Interkulturellen Unterrichts im Feld zu studieren und ihn anhand einer Unterrichtseinheit zum Thema "Kultur und Heimat" in der Jahrgangsstufe 9 eines städtischen Gymnasiums zu rekonstruieren. Kulturelle Differenz konnte dort nicht nur in alltäglicher Lebenspraxis, sondern auch als explizites Unterrichtsthema beobachtet werden. Zusätzlich zu den Beobachtungen im Unterricht des Faches Praktische Philosophie wurden Ergebnisse einer Gruppendiskussion mit dort beteiligten Schülern hinzugenommen. Forschungsmethodisch verfolgte die Arbeit ihr Erkenntnisinteresse mit extensiver Lektüre der protokollierten Praxis, die in eine rekonstruierte Fallstruktur mündete. Das Forschungsinteresse kommt damit dem Forschungsdesiderat nach, das etwa Radtke (Radtke 2008 2) und auch Helsper/ Böhme (HelsperIBöhme 2010 2) formuliert haben: In mikrologischen Studien, die Mikroprozesse von Lehrer-Schüler-Interaktionen, aber auch von Peerkultur, daraufhin zu untersuchen, wie im weitesten Sinne kulturalistische Unterscheidungen, etwa ethnische, eingeführt und Zuschreibungen bzw. Etikettierungen gesetzt werden. Im Aufmerksamkeitsfokus stand, die spezifische Konstellation für die Thematisierung von Interkulturalität und das Praktisch-Werden des hierfür gewählten pädagogischen Konzepts zu rekonstruieren. Obwohl der Stellenwert solcher Markierungen und die didaktischen Rahmungen sicher nicht folgenlos für den schulischen Erfolg oder das Gelingen/Scheitern schulischer Karrieren sind, wollte diese Arbeit hierzu bewusst keinen Zusammenhang herstellen, sondern die sozialisierenden Effekte, die mit Unterricht einhergehen, in explorativer Weise an den im Unterricht stattfindenden Interaktionen beobachten.

T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


240

E Fazit und Ausblick

Die schulische Sozialisation im Unterricht wurde in Mikroprozessen rekonstruiert und zu den Ergebnissen aus der Gruppendiskussion über die Institution Schule in kontrastierender Lektüre in Beziehung gesetzt. Dort ließen sich authentische Protokolle von Aneignungsprozessen in Bezug aufdie Unterrichtsinhalte finden, während diese schülerseits in den Unterrichtsprotokollen nur vermittelt über den Aussagerahmen des offiziellen Unterrichtsgeschehens in Erscheinung traten. Die Begriffe Unterrichten und Aneignen sind dabei explorativ heuristisch für die Fallrekonstruktion genutzt worden. Damit sollten die hermeneutischen Prozesse, den Unterrichtsgegenstand sowie die didaktische Instruktion seitens des Lehrers wie auch der Schüler zu deuten, in möglichst offener Weise rekonstruiert werden können. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, dass sie nicht nur unterschiedlich ausfallen, das war im Vorhinein schon zu vermuten, sondern dass deren Deutungen als Zuschreibungen zu ganz unterschiedlichen Bedingungen durchgesetzt werden können. Das didaktische Geschehen des Unterrichts wurde in diesem Sinne in der Arbeit sozial interpretiert und weniger unter Lehr-lLerngesichtspunkten. In einem weiten Sinne wurden auch interaktionsbezogene Bildungsprozesse untersucht. Mit Oevermann wurde dabei ein Bildungsbegriffbenutzt, der sich auf sein krisentheoretisches Modell stützt. Er entspricht damit nicht einem in der quantitativen empirischen Bildungswissenschaft momentan üblich gebräuchlichen Begriffvon Kompetenz, wie er etwa bei den großen large-scale-assessment-Studien (PISA) operationalisiert wird, um Bildungsprozesse empirisch abzubilden. Die ebenfalls von Oevermann entwickelte objektive Hermeneutik erwies sich insgesamt als eine gegenstandsadäquate Forschungsmethode, da sie, wie anfangs bereits vermutet, durch ihr antisubsumtionslogisches Vorgehen nicht nur davor schützt, bereits schon in der rekonstruktiven Forschungstätigkeit kulturalistische Differenzen vorauszusetzen und sie im Fall zu identifizieren, sondern sie stattdessen aus dem Fall zu rekonstruieren. Die Paradoxien des Multikulturalismus sind bekannt, jedoch ist deren Praxis in Mikroprozessen schulischen Unterrichts bisher noch nicht beleuchtet worden. Das erste Ergebnis der vorliegenden Studie sind also die entwickelten Rekonstruktionen selbst. Denn hier konnte das Praktisch-werden eines Konzepts Interkultureller Pädagogik in der Schule an einem Fall aufgefächert werden. In den Mikroprozessen des Unterrichts zeigte sich, wie kulturelle Differenzen eingefiihrt und bearbeitet werden, welche sozialen Dynamiken sie in Gang setzten, welche Zuschreibungsprozesse darüber entstanden und welche Konsequenzen dies für die beteiligten Schulakteure hatte. Diese Ergebnisse wurden in den Theoretisierungen zur Rekonstruktion im Kontext bestehender Theorien reflektiert. Eine wesentliche Klammer bildeten dabei die professionalisierungstheoretischen Reflexionen.


E Fazit und Ausblick

241

Denn die Ergebnisse der Arbeit weisen einen deutlichen Zusammenhang zu den schulischen Handlungsantinomien auf, wie sie im Rahmen der Professionalisierungsforschung und ihrer Theorie in Bezug auf schulische Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern rekonstruiert worden sind. Dass sich hier alle Antinomien finden lassen, kann als eine weitere empirische, hier rekonstruktionslogische, Bestätigung ihrer Theorie über schulische Praxis verstanden werden und ist nicht weiter überraschend, aber in der disziplinären Verbindung zur Interkulturellen Pädagogik bisher noch nicht erarbeitet worden. Dadurch konnte die interkulturelle Unterrichtspraxis als eine spezifische Gestalt allgemeiner Unterrichtspraxis rekonstruiert werden, die Antinomie von Einheit versus Differenz zu bearbeiten, indem eine widersprüchliche Einheit der Differenz inszeniert wurde. Somit ist, wie zuvor projektiert, Unterricht als organisationsspezifische Form der Bewältigung gesellschaftlicher Pluralität deutlich geworden, die sich jedoch als konkrete Lebenspraxis höchst krisenhaft darstellte und keinesfalls unter normativen Gesichtspunkten als gelingende Bewältigungsform angesehen werden kann. Ein weiteres Ergebnis ist, dass das Konzept Interkultureller Pädagogik, das hier fallspezifisch rekonstruiert wurde, irreflexiv und in Bezug auf die Institutionalisierung machtvollen Sprechens über interkulturelle Inhalte deshalb als naiv einzuschätzen ist. Es lässt sich zwar nicht mehr von stigmatisierenden und essenzialisierenden Interaktionsprozessen, wie sie für die assimilationistische Ausländerpädagogik charakteristisch waren, sprechen, dennoch entstehen neue geschlossene und vereinheitlichende Kulturalismen. Nicht nur die in Kapitel A nachgezeichnete theoretische Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik ist über solche Konzepte hinaus, sondern auch die Praxis hätte anders ausfallen können. Dass sie dies nicht tat, konnte mit Bezug zu den Zwängen der Institution Schule gezeigt werden. Mit Bezug zur Diskurs- und Identitätstheorie ließ sich in machttheoretischer Weise festhalten, welche Artikulationsräume der Unterricht eröffnete und welche er verschlossen hat. Gleichzeitig wurden die Strategien der Schüler eruiert, aufdiese Artikulationsräume zu reagieren. Es wurde herausgestellt, welche Aneignungen die Schüler in Bezug auf die mit Interkulturalität assoziierten Themen wie Differenz, Heterogenität, Fremdheit, Anderssein selbst haben und dass ihre Aneignungen stets vermittelt sind über die lebensweltliche Relevanz, die sie ihnen beimessen. Im Unterricht jedoch, so ließ sich fallspezifisch rekonstruieren, ordneten sie sich einerseits der dort herrschenden Vorstellung von kultureller Zuschreibung unter, machten aber andererseits deutlich, wie sie sich diesen Identitätszumutungen spielerisch entziehen. Auf diese Weise tragen sie aber genau zu derjenigen Gestalt der Inszenierung bei, wie sie in den Fallstudien als das Geschehen dominierend herausgestellt werden konnte. Dies tun sie, weil ihnen Artikulationsräu-


242

E Fazit und Ausblick

me angeboten werden, die nicht mit ihrer Lebenswelt vereinbar sind und sie sich dennoch im Unterricht artikulieren müssen. Interkultureller Unterricht, so wie er in diesem Fall rekonstruiert worden ist, wurde dadurch zur Inszenierung der Einheit des Differenten. Abschließend lässt sich normativ kritisch sagen, im vorliegenden Fall wird der Gegenstand des Interkulturellen Unterrichts reduziert, statt emergiert. Den Gegenstand didaktisch zu reduzieren, geschieht aber nicht aus sachlogischer Notwendigkeit der Vermittlung, sondern aus organisationslogischen Zwängen heraus. Dadurch kann er die Komplexität seines Gegenstandes nicht abbilden. Wenn also weder die Komplexität des Gegenstandes ernst genommen werden kann, noch seine Praxis, weil sie maßgeblich inszeniert wird, dann kann Interkultureller Unterricht als Bildungspraxis ebenso nicht ernst genommen werden. Der rekonstruierten naiven Verstrickung der Akteure, die fallspezifisch aufgedeckt werden konnte, ließe sich am besten durch Reflexion auf die pädagogische Praxis begegnen. Dies wurde in der Arbeit unter dem Titel einer reflexiven Erziehungswissenschaft angedeutet. Mit den Arbeiten von Mecheril und Hamburger sind dazu anschlussfähige Anknüpfungspunkte einer reflexiven Interkulturellen Pädagogik ausgearbeitet worden (vgl. Mecheril2004, Hamburger 1999, 2009). Disziplinpolitische Konsequenz könnte daraus sein, eine dringend notwendige systematische Verbindung von reflexiver Interkultureller Pädagogik und Professionalisierungstheorie zu schaffen. Liegen doch hier Potenziale vor allem für die Reflexion auf pädagogische Praxis. Die einschlägigen Publikationen zur Professionalisierung im Zusammenhang mit Interkultureller Pädagogik setzen dazu aber bislang zu einseitig auf Kompetenzerwerb seitens des pädagogischen Personals (vgl. Auernheimer 2008 2) , auch wenn zum Teil von .Kompetenzlosigkeitskompetenz" (MecheriI2008 2, S. 15) gesprochen wird. Fallrekonstruktionen, wie die vorliegende aus dieser Arbeit, könnten beispielsweise in der Hochschuldidaktik der Lehrerbildung darüber hinaus das Materialliefern, praxisnah forschend Interkulturellen Unterricht zu erkunden, mit dem Ziel, ein Reflexionswissen aufzubauen. Damit müsste sich die Lehramtsausbildung stärker fallorientiert profilieren. Dabei geht es weniger darum, Unterrichtstechniken zu entwickeln, sondern auf die institutionellen Bedingungen der Praxis zu reflektieren. Dazu wäre es allerdings weniger nötig, so früh wie möglich praktisch zu werden, sondern umso mehr, eine etwaige Muße, die ein Studium bieten müsste, zu nutzen, um vom Handlungsdruck entlastet, pädagogische Praxis thematisieren zu können. Hier könnte auch der Ort sein, Schule nicht nur zu reformieren, sondern radikal zu überdenken, wie dies sich etwa in den überlegungen Oevermanns


E Fazit undAusblick

243

zur Schulpflicht oder zur Professionalisierungsbedürftigkeit pädagogischer Praxis und deren faktischer Deprofessionalisierung ausdrückt (vgl. Oevennann 2003) . Durch das explorative Vorgehen der Arbeit und die extensive Lektüre des vorliegenden Falls sind neben den zuvor geschilderten Ergebnissen zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für weitergehende Fragen und empirische Forschung virulent geworden. Einige von ihnen sollen ausblickend, aber nur kursorisch, vorgestellt werden. Für die vorliegende Fallstudie ist beispielsweise der Bezug zur allgemeinen Unterrichtsforschung und Didaktik zugunsten der extensiven Lektüre des empirischen Materials nicht intensiver verfolgt worden. Eine theoretische Würdigung des vorliegenden Falles unter dieser Perspektive würde ggf. weitere ertragreiche Rekonstruktionen, insbesondere zum Verhältnis didaktischer Instruktionen und fallspezifischer Inszenierungspraxis, innerhalb der Interkulturellen Pädagogik liefern. Die möglichen Anschlüsse zur Schulpädagogik wiederum sind ebenfalls explorativ und zeigen vor allem weiteren Forschungsbedarf an, solche Fälle Interkulturellen Unterrichts weitergehend zu rekonstruieren. Die in der Arbeit zum Abschluss hin entwickelte These von der Inszenierungspraxis Interkulturellen Unterrichts wäre in kritischer Weise im Zusammenhang mit dem zu diskutieren, was Böhme (vgl. Böhme 2000) oder auch Lenzen (vgl. Lenzen 1985) im Rahmen allgemein pädagogischer Mythenforschung erarbeitet haben, bzw. Rieger-Ladich zur "Mündigkeit als Pathosfonnel" (vgl. Rieger-Ladich 2002) entwickelt hat. Durch die Diskussion der Ergebnisse im Kontext der Diskurs- und Identitätstheorie können weiterführende identitätspolitische Fragestellungen entwickelt werden, die etwa im Rahmen der schulpolitischen Diskussionen zu Teilnahme und Teilhabe weiter erörtert werden könnten. Denn die Ergebnisse sind anschlussfähig an Überlegungen, wie eine Demokratisierung von Schule weiterhin aussehen könnte und welche Partizipationsfonnen, gerade auch unter interkulturellen Aspekten, zu entwickeln wären (vgl. etwa Rihm 2003) . Ebenfalls lassen sich Bezüge zur diskursanalytischen Arbeit, wie sie etwa von Safiye Yildiz zur Interkulturellen Erziehung und Pädagogik vorgelegt wurde, herstellen (vgl. Yildiz 2009). Unter schulsozialisationstheoretischer Perspektive wäre es interessant, weiter systematisch die Frage aufzuwerfen, wie die unterrichtsbezogenen Unterscheidungen in die Schülerkultur oder Peerkultur sickern und ggf. umgedeutet werden, wie sie ein Eigenleben bekommen, deren soziale Praxis symbolisch zu strukturieren. Mit dem hier dokumentierten Material wurde sehr anschaulich, wie solche Etikettierungsprozesse ablaufen, welche Dimensionen sie annehmen und welche Relevanz sie bekommen. Auch wären im engen Kontakt zur schulischen, d. h. unterrichtlichen Praxis Identitätsentwicklungsprozesse speziell unter interkulturel-


244

E Fazit und Ausblick

ler Perspektive zu rekonstruieren. Hier liegen mit den Arbeiten von Hummrich (Hummrich 2002) anschlussf채hige Biographierekonstruktionen vor. Auch die Studie von Martina Weber (Weber 2003a) bietet hier Verbindungspunkte zu den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit.


Literatur

Achs, Oskar [u. a.] (Hg.) (1997): Lehrplanreform - Neuvermessung der Landkartedes Lernens (Vorträge und Diskussionenanlässlichdes 2. Enropäischen Bildungsgespräches ,96). Wien. Adomo, Theodor W. (1973): NegativeDialektik. Frankfurta. M. Adorno, TheodorW. (1968): Erziehungzur Mündigkeit. Frankfurta. M. Allemann-Ghionda, Cristina(1994'): Multikulturund Bildungin Europa. Bern [u. a.]. Allemann-Ghionda, Cristina(1999): Schule,Bildungund Pluralität.Bern [u. a.]. Apitzsch, Ursula (1999): Biographieforschung und interkulturelle Pädagogik. In: Krüger, Heinz-H.I Marotzki,Winfried(Hg.): Handbucherziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen, S. 471-486. Apitzsch, Ursula (Hg.) (2003): Migration, Biographieund Geschlechterverhältnisse. Münster. Apitzsch, Ursula (2006):Biographieforschung und interkulturelle Pädagogik. In: Krüger,Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried(Hg.): Handbucherziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden, S.499-514. Auernheimer, Georg(1993): Einwanderungsland Deutschland. Göttingen. Auernheimer, Georg(1996a) (Red.): Pädagogikin multikulturellen Gesellschaften. Jahrbuch fiir Pädagogik . Frankfurtam Main [u. a.]. Auernheimer, Georg [u. a.] (l996b) : Interkulturelle Erziehungim Schulalltag. Fallstudien zum Umgang von Schulen mit der multikulturellen Situation . Münster [u. a.]. Auernheimer, Georg(Hg.) (2001a): Interkulturalität im ArbeitsfeldSchule. Empirische Untersuchungen über Lehrer und Schüler. Opladen. Auernheimer, Georg (Hg.) (200lb): Migration als Herausforderung fiir pädagogischeInstitutionen. Opladen. Auemheimer, Georg (Hg.) (2002): Interkulturelle Kompetenz undpädagogische Professionalität. Opladen. Auernheimer, Georg(20033): Einfiihrung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt. Auernheimer, Georg(2004): Drei JahrzehnteInterkulturelle Pädagogik- eineBilanz. In: KarakasogluAydm,Yasemin(Hg.): Migrationsforschung und interkulturelle Pädagogik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis . Ursula Boos-Nünningzum 60. Geburtstag. Münster [u. a.], S.17-28. Auernheimer, Georg(20075) : Einfiihrung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt. Auernheimer, Georg(Hg.)(2008 2) : Interkulturelle Kompetenz undpädagogische Kompetenz. Wiesbaden. Austin, John 1. (1972): Zur Theorieder Sprechakte. Stuttgart. Badawia,TarekJHamburger, FranzlHummrich, Merle (Hg.) (2003):Wider die Ethnisierungeiner Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurta. M. [u. a.]. Bade, Klaus 1. (Hg.) (1992): Aktuell-Kontrovers: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Hannover. Bauer, Ullrich (2002): Selbst-und/oderFremdsozialisation. Zur Theoriedebatte in der Sozialisationsforschung. In: ZSE 2/02. S. 118-142.

T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


246

Literatur

Beck, Ulrich (1983) : Individualisierung sozialer Ungleichheit. Zur Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen. Fernuniv. Gesamthochschule Hagen. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Aufdem Weg in eine andere Modeme. Frankfurt a. M. Beck, Ulrich (1997) : Was ist GlobaJisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a. M. Bernfeld, Siegfried (1925): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Wien. Blankertz, Herwig (1982): Die Geschichte der Pädagogik. Vonder Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar. Böhme , Jeanette (2000) : Schulmythen und ihre imaginäre Verbürgung durch oppositionelle Schüler. Bad Heilbrunn/Obb. Böhme, Jeanette (2006): Die Objektive Hermeneutik als typografischer Forschungsansatz. Reflexionen aus der heuristischen Perspektive einer medienökologischen Bildungsforschung. In: Rahm, Sybille [u. a.] (Hg.) : Schulpädagogische Forschung. Organisations- und Bildungsprozessforschung. Perspektiven innovativer Ansätze. Innsbruck, S. 43-54 . Böhme, JeanettelHelsper, Werner(2010'): Jugend und Schule. In: Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden, S. 619-660. Bohnsack, Ralf (2000): Gruppendiskussion. In: Flick, UwelKardoff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.) : Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg. Bohnsack, Ralf(2003 5) : Rekonstruktive Sozialforschung . Einfiihrung in qualitative Methoden. Opladen. Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hg.) (1998): Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplin äreZugänge qualitativer Forschung. Opladen . Bohnsack, RalfINohl, Arnd-Michacl (1998) : Adoleszenz und Migration - empirische Zugänge einer praxeologisch fundiertenWissenssoziologie. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdiszipliniire Zugänge qualitativer Forschung. Opladen, S. 260-283 . Bohnsack, RalfINohl, Arnd-Michael (2001): Allochthone Jugendcliquen: Die adoleszenz- und migrationsspezifische Suche nach habitueller Übereinstimmung. In: Bukow, Wolf-Dietrich (Hg.): Auf dem Weg zur Stadtgesellschaft. Die multikulturelle Stadt zwischen globaler Neuorientierung und Restauration. Opladen, S. 73-93. Bommes , Michael (1996): Die Beobachtung von Kultur. Die Festschreibung von Ethnizität in der bundesdeutschen Migrationsforschung mit qualitativen Methoden. In: Klingcmann, Carstcn [u. a.] (Hg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994. Opladen, S. 205-226. Bommes, Michael (1999) : Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat. Opladen Bommes, Michael (2002): Migration, Raum und Netzwerke. Über den Bedarfeiner gesellschaftstheoretischen Einbettung der transnationalen Migrationsforschung. In: Schriften des Institutes für Migrationsforschung und interkulturelle Studien, H.ll. Osnabrück, S. 91-105 . Boos-Nünning, Ursula (1983): Aufnahmeunterricht, muttersprachlicher Unterricht, interkultureller Unterricht. Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung zum Unterrichtfiir ausländische Kinder in Belgien, England, Frankreich und den Niederlanden. München. Boos-Nünning, Ursula [u. a.] (1984): Krise- oder Krisengerede? Von den Pflichten einer illegitimen WISsenschaft. In: Reich, Hans-H.lWittek, Fritz (Hg.) : Migration, Bildungspolitik, Pädagogik. Essen, S. 7-33. Borelli, Michelle (Hg.): Interkulturelle Pädagogik. Baltmannsweiler. Borre1li,MicheIe (Hg.) (I 992a): Zur Didaktik interkultureller Pädagogik. Teil I: Systematik, Geschichtsdidaktik, Geschichtsunterricht, Sprachdidaktik, Deutschdidaktik. Baltmannsweiler. Borrelli, Micheie (Hg.) (1992b): Zur Didaktik interkultureller Pädagogik. Teil 11: Politische Bildung, Grundschule, Literaturunterricht, Geschichte der interkulturellen Erziehung. Baltmannsweiler.


Literatur

247

Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Frankfurt a.M. Bourdieu, Pierre (19914) : Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. Bourdieu, Picrrc (19952) : Was heißt sprechen? Zur Ökonomiedes sprachlichen Tausches. Wicn. Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme arn Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob . Wiesbaden. Brcidenstein, Gcorg/Kcllc, Hclga (2002):Die Schulklasseals Publikum. Zum Verhältnis von Peer Culture und Unterricht. In: Die Deutsche Schule. 94, 3, S. 318-329. Bublitz, Hannelore (2003): Diskurs. Bielefeld Büchncr, Peter (Hg.) (1990): Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich. Studie zum Wandel der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in der BundesrepublikDeutschlandund in Großbritannien. Opladen. Bude, Hcinz/Willisch, Andreas (Hg.) (2008): Exklusion: die Debatte über die "Überflüssigen".Frankfurta. M. Bühler-Niederberger, Doris(1991): Legasthenie: Geschichte und FolgeneinerPathologisierung. Opladen. Bukow,Wolf-Dietrich(Hg.) (2001):Auf dem Wegzur Stadtgesellschaft. Die multikulturelleStadtzwischen globaler Neuorientierungund Restauration. Opladen. Bukow,Wolf-Dietrich/Llaryora, Roberto (1998'): Mitbürgeraus der Fremde- Soziogeneseethnischer Minoritäten. Opladen. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2008): Migrationsbericht2008. Nürnberg/Berlin. Claessens,Dieter (1972): Familieund Wertsystem. Eine Studiezur "zweiten, sozio-kulturellen Geburt" des Menschen und der Belastbarkeitder .Kemfamilie". Berlin. Cornbe,Arno/Helsper,Werner (1994): Was geschieht im Klassenzimmer?Weinheim. Combe, Arno/Helsper, Wemer(19972) : PädagogischeProfessionalität. Untersuchungen zum TypuspädagogischenHandelns. Frankfurt a. M. Cornbe,Arno/Helsper,Wemer (2002): Professionalität.In: Otto, Hans Uwe [u. a.] (Hg.): Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz. Opladen, S. 29-47. Czock, Heidrun (1993): Der Fall der Ausländerpädagogik. Erziehungswissenschaftliche und bildungspolitische Codierungder Arbeitsmigration. Frankfurt a. M. Dannenbeck,C1emens (1999): Herkunft (er)zählt. Befundeüber Zugehörigkeiten Jugendlicher. Münster [u. a.]. Dannenbeek, Clemens (2002): Selbst- und Fremdzuschreibungen als Aspekte kultureller Identitätsarbeit. Opladen, De Ccrtcau, Michel (1988): Kunst des Handclns. Berlin. DeutschesPISA-Konsortium (Hg.)(2004): PISA2003. DerBildungsstand derJugendlichen in Deutschland. Ergebnissedes zweiten internationalen Vergleichs. Münster. Dichm, Isabcll/Radtke,Frank-Olaf(1997): Bildungsinha1tc in einer ,,multiku1turcllen Gesellschaft"Problemeder Thematisierung ethnischer Differenzin der Schule. In: Achs, Oskar [u. a.] (Hg.): Lehrplanreform- Neuvermessung der Landkarte des Lernens (Vorträgeund Diskussionen anlässlich des 2. Europäischen Bildungsgespräches,96). Wien, S. 46-65. Diehm,IsabellJRadtke, Frank-Olaf(1999): Erziehungund Migration. Eine Einführung. Stuttgart[u. a.], Dirim, lnci (1998): "Var mi lan Marmelade?"- türkisch-deutscherSprachkontaktin einer Grundschulklasse. Münster [u. a.]. Dittrich,EckhardJ./Radtke, Frank-Olaf(Hg.)(1990): Ethnizität. W"lSsenschtift undMinderheiten. Opladen. Dumke, Jürgen (2001): Interkulturelle Entwicklungspädagogik: Soziales Wissen und Lernen. Erziehung infrüher Kindheit in Gesellschaftmit kulturellerDiversit ät. Münster [u. a.].


248

Literatur

Esser, Hartrnut (1980) : Aspekte der Wanderungssoziologie: Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse. Darmstadt. Essinger, Helmut (Hg .) (1984) : Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. Baltmannsweiler. Essinger, Helmut (1986) : Annäherung an eine Theorie und Praxis Interkultureller Erziehung. In: Tumat, Alfred J. (Hg .): Migration und Integration. Sulzberg, S. 15-34. Essingcr, Helmut/Graf, Jochen (1984): Interkulturelle Erziehung als Friedenserziehung. In: Essinger, Helmut/Ücar, Ali (Hg .): Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. Sulzberg, S. 15-34. Essinger, Helmut/Ucar, Ali (Hg .) (1984) : Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. Sulzberg. Fcnd, Helmut (1980): Theorie der Schule . München [u. a.]. Flick, Uwe [u. a.] (Hg .) (2008 6) : Qualitative Forschung. Ein Handbuch . Reinbek bei Hamburg. Foucault, Michel (1978) : Dispositive der Macht. Ober Sexualität. Wissen und Wahrheit. Berlin. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. Freire, Paulo (1972) : Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart. Freire, Paulo (1974): Erziehung als Praxis der Freiheit. Stuttgart. Freud, Sigmund (1991): Neue Vorlesungen. Frankfurt a. M. Friebertshäuser, Barbara (Hg.) (2009'): Reflexive Erziehungswissenschaft. Wiesbaden. Friedeburg, Ludwig von/Habermas, Jürgen (Hg.) (1983) : Adomo-Konferenz 1983. Frankfurt a. M. Fürstenau, Sara (2004a) : Transnationale (Aus-)Bildungs- und Zukunftsorientierungen. Ergebnisse einer Untersuchung unter zugewanderten Jugendlichen portugiesischer Herkunft. In: Zeitschrift fiir Erziehungswissenschaft. H. 7, S.33·57. Fürstenau, Sara (2004b): Mehrsprachigkeit als Kapital im transnationalen Raum. Perspektiven portugiesischsprachiger Jugendlicher beim Obergang von der Schule in die Arbeitswelt. Münster [u. a.], Fürstenau, Sara/Gogolin, Ingrid/Yagmur, Kutlay (Hg .) (2003): Mehrsprachigkeit in Hamburg. Ergebnisse einer Spracherhebung an den Grundschulen in Hamburg. Münster. Fürstenau, Sara/Gomolla, Mechthild (Hg.) (2009): Migration und schulischer Wandel : Unterricht. Wiesbaden. Garz, Dctlcf/Kraimcr, Klaus (Hg .) (1983): Brauchen wir andere Forschungsmcthodcn? Beiträge zur Diskussion interpretativer Verfahren. Frankfurt a. M . Gogolin, Ingrid (1994): Der monolingua1e Habitus der monolingualen Schule . Münster [u. a.], Gogolin, Ingrid (Hg .) (1997): Großstadt-Grundschule - eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster [u, a.], Gogolin, Ingrid (Hg.) (2000): "Man schreibt, wie man spricht". Ergebnisse einer international vergleichenden Fallstudie über Unterricht in vtelsprachigen Klassen . Münster [u. a.]. Gogolin, Ingrid (Hg .) (2001) : Sehulbildung für Kinder aus Minderheiten in Deutschland 1989-1999. Münster [u. a.], Gogolin, Ingrid (Hg .) (2005a) : Migration und sprachliche Bildung. Münster [u. a.]. Gogolin, Ingrid (2005b): Interkulturelle Bildungsforschung. In: Tippelt, Rudolf(Hg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen, S. 263 - 279 . Gogolin, Ingrid/Prics, Ludger (2004): Stichwort: Transmigration und Bildung. In: Zeitschrift fiir Erziehungswissenschaft, H. 7, S. 5-19. Gogolin, Ingrid [u. a.] (2006): Einfiihrung in die interkulturelle Pädagogik. Opladen. Gomolla, Mechthild (2005): Schulentwieldung in der Einwanderungsgesellschaft. Strateg ien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster [u. a.]. Gomolla, Mechthild/Radtke, Frank-Olaf(2007'): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule . Wiesbaden.


Literatur

249

Götze, LutzlPommerin, Gabrie1e (1986) : Ein kulturtheoretisehes Konzept für interkulturelle Erziehung. In: Borelli, Michelle (Hg.): Interkulturelle Pädagogik. Baltmannsweiler, S. 110-126. Griese , Hartmut M. (Hg .) (1984) : Der gläserne Fremde. Opladen, S. 59-70 . Grusehka, Andreas (1988) : Negative Pädagogik. Wetzlar. Gutman, Amy (1995) : Das Problem des Multikultura1ismus in der politischen Ethik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin, 43, 2, S. 273-305. Habermas, Jürgen (1973) : Kultur und Kritik. Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen (1982) : Theorie kommunikativen HandeIns. Frankfurt a. M. (2 Bde .). Habermas, Jürgcn (1988) : Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. Hall, Stuart (1994) : Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg. Hamburger, Franz (1984) : Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft. In: Griese , Hartmut M . (Hg .) Der gläserner Fremde. Opladen, S. 59-70 . Hamburger, Franz (1999) : Zur Tragfähigkeit der Kategorien. .Ethnizität" und "Kultur" im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2. Jg., H. 2, S. 167-178. Hamburger, Franz (2009) : Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer./Ur einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim und München. Harant, Stefan (1987 2) : Schulprobleme von Gastarbeiterkindern. In: Reimann, HelgalReirnann, Horst (Hg.) : Gastarbeiter. Opladen, S. 243-263. Heintze, Andreas [u. a.] (Hg.) (1997): Schule und multiethnische Schülerschaft. Sichtweisen, Orientierungen und Handlungsmuster von Lehrerinnen und Lehrern. Frankfurt a. M. Helsper, Wcrner (1996) : Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Combe, Amo/ Helsper, Werner: Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum TYpus pädagogischen Handeins. Frankfurt a. M., S. 521-569. Helsper, Werner (2004) : Antinomien, Widersprüche, Paradoxien: Lehrerarbeit - ein unmögliches Geschäft? Eine strukturtheoretisch-rekonstruktive Perspektive auf das Lehrerhandeln. In: KochPriewe, Barbara [u. a].: Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung. Bad Heilbrunn, S. 49-98 . Helsper, Werner [u. a.] (2008) : Pädagogische Professionalität in Organisationen. Neue Verhältnisbestimmungen am Beispiel der Schule. Wiesbaden. Helsper, WernerlBöhme, Jeanette (Hg.) (2004): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden. Herwartz-Emden, Leonie (2000) : Einwandererfamilien. Geschlechterverh ältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück. Hohmann, Manfred (1989) : Interkulturelle Erziehung - eine Chance fiir Europa? In: Hohmann, Manfred/Reich , Hans H. (Hg.): Ein Europa für Mehrheiten und Minderheiten. Münster [u. a.], S. 1-32. Hohrnann, Manfred/Reieh, Hans H . (Hg.) (1989): Ein Europa fiir Mehrheiten und Minderheiten. Münster [u. a.]. Holzbrecher, Alfred (1997): Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens . Opladen Ho1zkamp, Klaus (1995): Lernen. Subjektwissensehaftliehe Grundlegung. Frankfurt a. M. [u. a.]. Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M . Horkheirner, MaxiAdorno, Theodor W. (1981): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 3. Frankfurt a. M. Hormel, Ulrike/Seherr, Albert (2004) : Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden. Hununrieh, Merle (2002): Bildungserfolg und Migration. Biographienjunger Frauen in der Einwanderungsgesellschaft. Opladen


250

Literatur

Hurrelrnann , Klaus (1974) : Soziologie der Erziehung. Weinheim [u. a.]. Kant, Immanuel (1957) : Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Darmstadt. Karakasoglu-Aydm, Yascmin (Hg.) (2004): Migrationsforschung und interkulturelle Pädagogik. Ak-

tuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis; Ursula Boos-Nünning zum 60. Geburtstag. Münster [u, a.], Keller, Reiner [u. a.] (Hg.) (2001): Handbuch sozialwissenschaftliehe Diskursanalysc. Opladcn. Keupp, Heiner (2006 3) : Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der SpätmoderneoReinbek bei Hamburg. Kiesel , Doron (1996): Das Dilemma der Differenz. Frankfurt a. M. Klingernann, Carsten [u. a.] (Hg.) (1996) : Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994. Opladen Kloeters , Ulrike (Hg.) (2003) : Schulwege in die Vielfalt. Handreichungzur Interkulturellenund AntirassistischenPädagogik in der Schule. Frankfurt am Main [u. a.]. Koch-Priewe, Barbara [u. a.] (2004) : Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung. Bad Heilbrunn. Kraimcr, Klaus (Hg.) (2000) : Die Fal1rckonstruktion . Sinnverstehen in der soziaiwissenschaftltchen Forschung. Frankfurt a. M. Krüger, Heinz-Hermann (1999 2) : Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladcn. Krüger, Heinz-Hermann (Hg.) (2010) : Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden. Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hg .) (2006): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden. Krüger-Potratz, Mariarme (2005) : Interkulturelle Bildung. Eine Einfiihrung. Münster [u, a.], Krüger-Potratz, MarianneILutz, Helma (2002) : Sitting at a crossroads. Rekonstruktive und systematische Überlegungen zum wissenschaftlichen Umgang mit Differenzen. In: Tcrtium Comparationis, 8. Jg., H. 2, S. 81-92. Leggewie, Claus (1990) : Multikulti. Spielregelnfür die Vielvälkerrepublik: Nördlingen. Lciprecht, Rudolf (200 I): Alltagsrassismus. Eine Untersuchungbei Jugendlichen in Deutschland und den Niederlanden. Münster [u. a.]. Lehmann, Rainer H../Peek, Rainer/Gänsfuß, Rüdiger (1997): Aspekte der Lemausgangslage von Schülcrinncn und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen . Bericht über die Untersuchung im September 1996. Hamburg: Behörde für Bildung und Sport. Lentz , Astrid (1995) : Ethnizität und Macht. Ethnische Differenzierungals Struktur und Prozess sozialer Schließung im Kapitalismus. Köln . Lenz, Tlse(1996) : Grenzziehungen und Öffnungen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Ethnizität zu Zeiten der Globalisierung. In: Dies ./Germer, AndreaIHasenjürgen, Brigitte (Hg.): Wechselnde Blicke . Opladcn , S. 200-228 . Lenz, Tlse/Germer,AndreaIHasenjürgen, Brigitte (Hg.) (1996) : Wechselnde Blicke . Opladen. Lenzen, Dieter(1985): Mythologie der Kindheit. Reinbek bei Hamburg. Lenzen , Dictcr (1999) : Jenseits von Inklusion und Exklusion. DisklusiondurchEntdifferenzierung der Systemcodes. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2. Jg., H. 4, S. 545-555. Luhmann, Niklas (1974): Soziologische Aufklärung 1. Aufsätzezur Theoriesozialer Systeme. Opladen . Luhmann, Niklas (1987): Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Opladen. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (2. Bde.) . Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (2001) : Aufsätze und Reden. Stuttgart .


Literatur

251

Luhmann, Niklas (2002) : Das Erziehungssystem der Gesel1schaft. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (2006): Soziale Systeme . Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard (1979) : Reflexionsprobleme im Erziehungssystcm. Stuttgart . Mecheril, Paul (2002): .Kompetenzlosigkeitskompetenz''. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Auemheimer, Georg (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Opladen, S. 15-34. Mecheril, Paul (2003): Prekäre Verhältnisse. Ober natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. Münster [u. a.], Mechcril, Paul (2004): Einfiihrung in die Migrationspädagogik. WeinheimIBasel. Mecheril, Paul (2009) : Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridttdt. Wien Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2010) : Kemcurriculum ,,Prakti sche Philosophie", Juni 1997. www.1earn-line.nrw.de/angebote/praktphilo/curriculurn/curricu.htrnl M üller, Hermann (Hg.) (1974): Ausländerkinder in deutschen Schulen. Stuttgart. Mü11er-Dohm, Stefan (Hg.) (1991) : Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. Frankfurt a. M. Müller-Dohm, Stefan [u. a.] (Hg.) (1993) : "Wirklichkeit" im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. Nagie, Nadia (1999) : Interkulturelle Bildungsgänge. Junge Menschen aus deutsch-arabischen Familien. Münster [u. a.]. Nassehi, Annin [u. a.] (1990): Zu einer Theorie biographischer Identität. Epistemologische und systemtheoretischeArgumente. In: Bios . Opladen, S. 153-187 . Nasschi, Annin (1997) : Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte . Köln [u. a.]. Nassehi , Annin (1997): Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die multikulturelle Gesellschaft. In: Ders . (Hg.): Nation , Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln [u. a.], S.177-208. Neufert, Siegfried (1974) : Soziale Auswirkungen der Ausländergesetzgebung. In: M üller, Hermann (Hg.): Ausländerkinder in deutschen Schulen. Stuttgart, S. 16-26. Nieke, Wolfgang (1990) : Zur Theorie interkultureller Erziehung. Kulturrelativismus als Herausforderung für die Pädagogik. Essen . Nicke, Wolfgang (2000'): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Opladen Nohl, Arnd-Michael (1996): Jugend in der Migration. Türkische Banden und Cliquen in empirischer Analyse. Baltmannsweiler. Nohl, Amd-Michacl (2000): Migrationslagerung und Differenzerfahrung. Vergleichende Milieukonstruktionen zu männlichen Jugendlichen aus einheimischen und zugewanderten Familien in Berlin und Ankara. Dissertation. Freie Universität Berlin. Nohl, Amd-Michac1 (2001): Migration und Differenzerfahrung. Junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich. Opladen . Nohl, Arnd-Michael (2003): Adoleszenz- Bildung - Migration. In: Badawia, Tarek/Harnburger, Franz/ Hurnmrich, Merle (Hg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt a. M. [u. a.], S. 167-180. Nohl, Amd-Michael (2006): Konzepte interkultureller Pädagogik. Bad Heilbrunn. Nonnenrnacher, Frank (Hg.) (2008): Unterricht und Lemkulturen. Eine Feldstudie zum Themenbereich Migration. Schwalbach. Oevermann, Ulrich [u. a.] (1979) : Die Methodologie einer "objektiven Hermeneutik" und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart, S. 352-433 .


252

Literatur

Oevennann, U1rich (1983a): Henneneutische Sinnrekonstruktion: Als Therapie und Pädagogikmissverstanden. Oder: Das notorische strukturtheoretischeDefizit pädagogischer Wissenschaft. In: Garz, DetleflKraimer, Klaus (Hg.): Brauchen wir andere Forschungsmethoden? Beiträge zur Diskussion interpretativer Verfahren . Frankfurta. M., S. 113-155. Oevermann, Ulrieh (1983b): Zur Sache: Die Bedeutung von Adomos methodo1ogisehem Selbstverständnis fiir die Begründung einer materialen soziologischenStrukturanalyse. In: Friedeburg, Ludwig von/Habermas,Jürgen (Hg.): Adomo-Konferenz1983.Frankfurt a. M., S. 234-292. Oeverman, Ulrieh (1991): Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärungder Entstehungdes Neuen. In: Müllcr-Dohm,Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. Frankfurt a. M., S. 267-336. Oevennann, U1rieh (1993):Die objektiveHermeneutikals unverzichtbaremethodologiseheGrundlage fiir die Analyse der Subjektivität. Zugleich eine Kritik an der Tiefenhermeneutis: In: MüllerDohm, Stefan [u. a.] (Hg.): "Wirklichkeit"im Deutungsprozess. ~rstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. Oevermann, U1rieh (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisiertenHandelns. In: Combe,Arno/Helsper, Wemer (Hg.): PädagogischeProfessionalität. Untersuchungen zum Typuspädagogischen Handeins. Frankfurta. M., S. 70-182. Oevermann,Ulrich (1997'): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisiertenHandelns. In: Combe, AmolHelsper, Wemer: PädagogischeProfessionalität. Untersuchungen zum Typuspädagogischen Handelns. Frankfurt a. M., S. 70-182. Oevcrmann,Ulrieh(2000):Die Methodeder Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischenundpädagogischenPraxis. In: Kraimer,Klaus (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftliehenForschung. Frankfurt a. M., S. 58-157. Oevcrmann, Ulrieh (2001a): Bewährungsdynarnik und Jcnseitskonzcpte. Konstitutionsbedingungen von Lebenspraxis. St. Augustin. Oervermann,Ulrieh (2001b): Die Struktur sozialer Deutungsmuster- Versucheiner Aktualisierung. In: Sozialer Sinn. H.l., S. 35-81. Oevennann, U1rieh (2002): Klinische Soziologieauf der Basis der Methodologieder objektivenHermeneutik. Manifest der objektiv hermeneutischenSozialforschung. (Manuskript). http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltextel20051540/pdf/ ManifestWord.pdf, Funddatum: 26.8.2010. Oevennann, U1rich (2003): Zur Behinderung pädagogischerArbeitsbündnisse durch die gesetzliche Schulpflicht. In: Rihm, Thomas (Hg.): Schulentwicklung. Vom Subjektstandpunktausgehen.... Wiesbaden, S.69-94. Oevennann, U1rich (2004): Objektivität des Protokolls und Subjektivitätals Forschungsgegenstand. In: Zeitschrift fiir qualitativeBildungs-,Beratungs-und Sozialforschung, H. 2, S. 311-336. Oevermann,Ulrieh (April 2004): Über die Vor-und Nachteile von typischen Daten der sogenannten quantitativenBildungs- und Sozialforschung. (Manuskript). Oevermann,Ulrich (2006): Wissen, Glauben,Überzeugung. Ein Vorschlag zu einer Theoriedes Wissens aus krisentheoretischerPerspektive. In: Tänz1er, Dirk [u. a.]: Neue Perspektivender Wissenssoziologie. Konstanz, S. 79-118. Oevermann, Ulrich (2008): Profession contra Organisation? StrukturtheoretischePerspektiven zum Verhältnis von Organisationund Profession in der Schule. In: Hclsper, Wcmer [u. a.]: Pädagogische Professionalitätin Organisationen. Neue Verhältnisbestimmungen am Beispiel der Schule. Wiesbaden, S. 55-78. Ohlhaver,Frank/Wcrnct, Andreas(Hg.) (1999): Sehulforsehung-Fal1analyse-Lehrerbildung. Op1aden. Otto,HansUwe [u. a.] (Hg.) (2002): Erziehungswissenschaft: Professionalität undKompetenz. Opladen.


Literatur

253

Parker, Ian (2008 6) : Die Diskursanalytische Methode. In: Flick, Uwe [u. a.] (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. S. 546ff. Hamburg. Parsons, Talcott (20027): Sozialstruktur und Persönlichkeit. Eschborn bei Frankfurt a. M. Parsons, Ta1cott(2003 6) : Das System moderner Gesellschaften. Weinheim [u. a.], Pongratz, Ludwig A. (1995) : Freiheit und Zwang - Schulische Strafformen im Wandel. In: Die Deutsche Schu1c, 2, S. 183-195. Pongratz, Ludwig A. (2004): Freiwillige Selbstkontrolle. Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft. In: Ricken , Norbert (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden, S.243-259. Pott, Andreas (2002) : Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozeß. Eine Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration. Opladen . Prengel, Anncdore (2006 3): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller,feministischer und integrativer Pädagogik. Wiesbaden. Pries, Ludger (1998) : "Transmigranten" als ein Typ von Arbeitswanderern in pluri-Iokalen sozialen Räumen Das Beispiel der Arbeitswanderungen zwischen Puebla/Mexiko und New York. In: Soziale Welt, Jg. 49, S. 135-150. Pries, Ludger (2001): Internationale Migration. Bielefeld. Radtkc, Frank-Olaf (1992): Mu1tiku1turalismus - vier Formen der Ethnisicrung. In: Bade, Klaus 1. (Hg .): Aktuell-Kontrovers: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Hannover, S. 149-152. Radtkc, Frank-Olaf (1995): Interku1turclle Erziehung. Über die Gefahr eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus. In: Zeitschrift f. Pädagogik, 41, S. 853-864. Radtke , Frank-Olaf(2004): Ethnizitätund Schu1e. In: Helsper, WernerIBöhme , Jeanette (Hg.): Handbuch der Schu1forschung. Wiesbaden, S. 625-646 . Radtke, Frank-Olaf(2008'): Schule und Ethnizität. In Helsper, WemerIBöhme, Jeanette (Hg.) : Handbuch der Schu1forschung. Wiesbaden, S. 651-672 . Radtke, Frank-Olaf/Bommcs, Michael (1993): Institutionalisierte Diskriminierung von Migrantcnkindern . Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule . In: Zeitschrift fiir Pädagogik, 39. Jg., H.3, S.483-497. Rahm, Sybille [u. a.] (Hg.) (2006) : Schu1pädagogischc Forschung. Organisations- und Bildungsprozessforschung. Perspektiven innovativer Ansätze. Innsbruck. Reckwitz, Andreas (2006) : Das hybride Subjekt . Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Modeme zur Postmoderne. Weilcrswist. Reich, Hans-H./Holzbrecher, AlfredIRoth, Hans-Joachim (Hg.) (2000) : Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch . Opladen. Reich, Hans-H./Wittek, Fritz (Hg.) (1984): Migration, Bildungspolitik, Pädagogik. Essen . Reichertz, Jo (1986) : Probleme qualitativer Sozialforschung. Zur Entwicklungsgeschichte der objektiven Hermeneutik. Frankfurt a. M. [u. a.]. Reichcrtz, Jo (2008) : Objektive Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie. In: Flick, Uwc [u. a.]: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg, S.514-524. Reimann, HelgalReimann, Horst (Hg.) (1987) : Gastarbeiter. Opladen. Reuter, Ju1ia (Hg.) (2010) : Postkoloniale Soziologie . Bielefcld. Ricken, Norbert [u. a.] (Hg.) (2004): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden . Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Konstanz . Rihm , Thomas (Hg.) (2003) : Schu1entwieklung. Vom Subjektstandpunkt ausgehen...Wiesbaden. Rosen, Lisa (Hg.) (2008) : Macht-Kultur-Bildung. Münster [u. a.].


254

Literatur

Roth,Hans-Joachim(2000): AllgemeineDidaktik.In: Reich,Hans H.lAlfredHolzbrecherlDers. (Hg.): Fachdidaktikinterkulturell. Ein Handbuch. Opladen, S. 11-53. Roth, Hans-Joachim (2002): Kultur und Kommunikation. Systematische und theoriegeschichtliche Umrisse interkulturellerPädagogik. Opladen. Schiffauer, Werner[u. a.] (Hg.) (2002): Staat- Schu1e - Ethnizität. Politische Sozialisationvon Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster [u. a.]. Schrader,Achim/Nikles, Bruno W./Griese, Hartmut M. (1976): Die Zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischerKinder in der Bundesrepublik. Kronberg. Schrocder, Christoph/Chlosta, Christoph/Ostermann, Torstcn(2003): Die Durchschnittsschu1c und ihrc Sprachen. Ergebnissedes Projekts "SprachenerhebungEssener Grundschulen" (SPREEG). EIise 3, I, S. 43·139. Schütze, Fritz (1997'): Organisationszwängc und hoheitsstaatlicheRahmenbedingungen im Sozialwesen. Ihre Auswirkung aufParadoxien des professionellen Handelns. In: Combe,Amo/Helsper, Wemer: PädagogischeProfessionalität. Untersuchungen zum Typuspädagogischen Handelns. Frankfurta. M., S. 183-275. Schweitzer,Helmuth (1994): Der Mythos vom interkulturel1en Lernen. Zur Kritik der sozialwissenschaftliehenGrundlageninterkulturellerErziehung und subkulturellerSelbstorganisation ethnischer Minderheiten am Beispiel der USAund der BundesrepublikDeutschland. Münster [u. a.]. Stichweh, Rudolf(1994): Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. Stichweh, Rudolf. (1996): Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft. In: Combe, AmolHelspcr,Wemer (Hg.):PädagogischeProfessionalität. Untersuchungen zum Typuspädagogischen Handelns. Frankfurt a. M., S. 49-69. Tänzler, Dirk [u. a.] (2006): Neue Perspektivender Wissenssoziologie. Konstanz. Tippelt, Rudolf(Hg.) (2005) [unv. Nachdruckder 1. Ausg.]: Handbuch Bildungsforschung. Opladcn. Tönnies, Ferdinand(1926): Gemeinschaft undGesel1schaft. Grundbegriffe der reinenSoziologie. Berlin. Treibel,Annette (20033) : Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. Weinheim. Turnat, Alfred 1. (Hg.) (1986): Migration und Integration. Sulzberg. Türcke, Christoph (2006): Heimat Eine Rehabilitierung. Springe. Vink, Jan (1974): AußerschulischeFördermaßnahrncn für ausländischeKinder. In: Müller, Hermann (Hg.): Ausländerkinderin deutschenSchu1en. Stuttgart,S. 127-142. Wagner, Hans-Josef(2001): ObjektiveHermeneutikund Bildung des Subjekts. Weilerswist Walkcrdinc, Valcrie(1991): Schoolgirlfictions. London. Walter, Paul (2001): Schule in der kulturel1en Vielfalt. Beobachtungenund Wahrnehmungen interkulturellen Unterrichts. Opladen. Weber, Martina (2003a): Heterogenitätim Schu1alltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen. Weber, Martina(2003b): Ethnisierungsprozesse im Schu1alltag:AkteurInnenzwischenStrukturund Eigensinn. In: Badawia, TarckIHamburger, FranzlHummrieh, Merle (Hg.):Widerdie Ethnisicrung einer Generation. Beiträge zur qualitativenMigrationsforschung. Frankfurt a. M. Weber, Max (1972): Wirtschaftund Gesellschaft. Tübingen. Weißköppel, Cordu1a (2001): Ausländerund Kartoffeldeutsche. Identitätsperformanz im Alltag einer ethnisch gemischten Realschulklasse. Weinheim[u. a.]. Wernet, Andreas(2003): Pädagogische Permissivität. SchulischeSozialisationundpädagogischesHandeinjenseits der Professionalisierungsfrage. Opladen.


Literatur

255

Wernet, Andreas (2006'): Einfiihrung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden . Willcms, HcrbcrtJJurga,Martin (1998): Inszcnierungsgcscllschaft . Ein einführendes Handbuch . Opladcn. Yildiz, Safiye (2009) : Interkulturelle Erziehung und Pädagogik. Subjektivierung und Macht in den Ordnungen des nationalenDiskurses. Wiesbaden. Zinnecker, Jürgcn (1974) (Hg.): Der heimliche Lehrplan. Untersuchungen zum Schulunterricht. Weinheim [u. a.].

Internetquellen Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2010) : Kemcurriculum ,,Prakti sche Philosophie", Juni 1997. www.leam-line.nrw.de/angebote/praktphilo/eurrieulumleurrieu.html. Funddatum: 26.08 .2010. Oevermann, Ulrich (2002): Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik. Manifest der objektiv hcrmeneutisehen Sozialforschung. (Manuskript). http :// publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2005/540/pdf/ ManifestWord.pdf Storz, HenninglWilmes, Bemhard (2008): Die Reform Staatsangehörigkeitsrechts und das neue Einbürgcrungsrecht, www.bpb .de/thcmcn/OHCOPK.html. Funddatum: 4. 8. 2008.



Hinweise zur Transkription Bedeutung

ErklärungIHinweis

kurzes Absetzen Kurze Pause Mittlere Pause Pause

mit Leerzeichen absetzen (1-2 Sekunden) (2-3 Sekunden) (Dauer in Sekunden)

haben Sie

ausgelassener Buchstabe

haben Sie Zustimmung Vemeinung Verzögerung abzebrochenes Wort

Verschleifung

Darstellung (.)

1(..)

(...) (6) haben S e hamse mhmh Hm,hmh Äh,ähm,öh Imm ... [unv.]

Text schwer oder unverständlich, Unsicherheit bei Transkription

Handyklingeln

Geräusche im Hintergrund

(lacht)

Lachen

Sm Sw Lm I

Schüler männlich Schülerin Lehrer männlich Interviewer

nach Reihenfolge des Auftretens nummeriert, danach Identität zugewiesen: SwOz. B.

HeuT. z. B.

Großbuchstabe für anonymisierte Person

in Gruppendiskussion anderer Teilnehmer

E.

Auslassungen von identifizierbaren Daten

Orte, Name von Dritten etc.

Das darf doch ... ... doch darf es!

Überlappung und ins Wort fallen

SZENENAUSSCHlITTT Zusatzinformation vom Videoband

Das Projekt fokussierte insgesamt auf fünf Protokolle von Unterrichtssequenzen sowie auf eine Gruppendiskussion. Die Unterrichtssequenzen wurden sowohl als Ton- als auch als Videoaufuahme dokumentiert, die Gruppendiskussion ausT. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


258

Hinweisezur Transkription

schließlich als Tonaufuahme. Auf der Basis dieser Aufzeichnung sind für die Rekonstruktion schriftliche Protokolle erstellt worden, die sich in der Regel auf die Tonaufuahme bezogen. Lediglich zur Überprüfung bei Unverständlichem oder zur genauen Identifikation von Sprechern wurde die Videoaufuahme hinzugezogen. Die hierbei entstandenen Transkripte folgen chronologisch vollständig dem Verlaufdes Unterrichts und der Gruppendiskussion. Dem Paradigma der Wörtlichkeit folgend, wurden keine Auslassungen und auch keine Ergänzungen vorgenommen. Die Transkripte weisen verschiedene Sprecher aus, die sämtlich anonymisiert wurden. Auch in den Protokollen vorkommende weitere Personen oder identifizierbare Orte wurden anonymisiert. Ziel war es, unter diesen Maßgaben einen lesbaren Text zu generieren, der den Charakter der jeweiligen Situation und Sprecher erhält. In Anlehnung an etablierte Transkriptionsregeln wurde obige Systematik für die Transkription zugrunde gelegt. Die Transkripte, die sich im Anhang befinden, sind diejenigen, welche den Wortlaut, aufden sich die vorgestellten Miniaturen beziehen, beinhalten. Zu Beginn jeder Rekonstruktion wird auf das entsprechende Transkript verwiesen, das sich in diesem Anhang befindet (siehe Fußnote zu Beginn der Miniaturen I bis IV). Die Zeilen der einzelnen Transkripte sind fortlaufend nummeriert. Auf Zitate aus diesen Transkripten wird durch eine Zeilenangabe verwiesen: z. B. (Z. 2-4) .


Anhang

UnterrichtsprotokoU I

10

15

20

25

30

[unv .] Schüler : reden durcheinander Lm: Ja, Guten Morgen. Schüler: reden weiter durcheinander Lm: (lauter) Guten Morgen ... Schüler : Guten Morgen Herr T. Lm: Macht Ihr mal Fenster zu, bitte . Ja, ich hatte das ja schon angekündigt und wie ihr seht haben wir mannigfachen Besuch. Das ist auf der rechten Seite Herr 01debaer, ist doch Richtig, oder? Rm: Ja, das ist richtig .... Lm: Das ist der Referendar, der heute zuschauen wird. Er ist zuständig für die Fächer Deutsch und Philosophie und wird sich den Unterricht anschauen vielleicht auch einmal hier Unterricht machen. Der Herr mit den Kopfhörern, das ist der TG und der wird eine Doktorarbeit über das schreiben, um die es hier geht und die beiden Damen, Schüler: (lachen) Lm: .... ähh die Dame und der Herr rechts und links .... Schüler: (lachen) Lm: ... die sind technisch behilflich und haben die Sachen hier aufgebaut und werden gleich mit euch im Anschluss an die Stunde mit einigen ein Interview fuhren. Mit K. habe ich ja schon gesprochen, R. ist, denke ich, auch klar und dann hätte ich gerne noch jemanden ( ... ) vielleicht können sich mal alle diejenigen melden, die in der 9L sind? ( ... ) Ja, M. würdest du für ein Gespräch zur Verfügung stehen? Frau P. ist einverstanden. Ja? Schüler: (lachen)

T. Geier, Interkultureller Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93087-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


260

Anhang I.m.:

35

40

45

50

sml :

Sm2: Swl: Lm: 55

Sw2: I.m.:

60

Sw3: Lm:

Sw3: I.m.:

65

Sw4: Sw5: I.m.:

70

75

Mach mal( .. ) Ja? Die K macht das auch. Ok. Mach mal. Ja, ähm, ich möchte gerne, dass ihr in dieser Stunde mit euren Mitschülern eine Befragung durchführt und die soll sich beziehen auf die Heimat und die Kultur der Schülerinnen und Schüler, die ihr befragt, es sollen alle befragt werden. Also es sollen nicht nur diejenigen befragt werden, die eine andere Heimat und eine andere Kultur haben als die hier in E. geborenen Kinder oder aus E. stammenden Kinder, sondern es sollen alle befragt werden. Ich hatte euch als Hausaufgabe gegeben, dass ihr euch ein bisschen was überlegen solltet zum Begriff der Heimat. Und ich unterstelle jetzt, das habt ihr getan, und dann taucht da jetzt ein anderer Begriff auf und zwar der der Kultur. ( ... ) Und wenn ihr jetzt die Aufgabe bekämet, andere zu befragen nach ihrer Kultur, nach welchen, ähh, Unterpunkten würdet ihr die befragen. Was gehört eurer Meinung nach zur Kultur, wonach man fragen könnte. Religion . Lebensweise und Tradition . Sitten und Gebräuche. mhmh .... ( ... ) Gibt es noch mehr? Ja, Kunst, mein ich Mich würd' auch noch ein Punkt interessieren, der meiner Meinung nach auch etwas mit Kultur zu tun hat und das ist das Essen, oder ich sag mal : essen und trinken. Ok. Fällt euch noch etwas ein? (unverständlich) Bitte was? Kleidung? Jaa. ( ... )ja, bitte, S. Ne, das wollte ich auch sagen. Musik!? Reicht. So, jetzt kriegt ihr gleich ,ne Aufgabe und bevor ihr die Befragung durchführt, müsst ihr einen Fragebogen entwickeln, ihr sollt einen Fragebogen entwickeln, mit dem ihr die anderen auf ihre Heimat und ihre Traditionen hin befragt und weil das ja total unterschiedlich ist, wo die Leute herkommen, ähm, möchte ich gerne, dass ihr Gruppen bildet, die versuchen, den Fragebogen so ein bisschen so zurecht zu schneiden auf die spezielle Herkunft derer, die ihr da befragt. Ich möchte gerne, dass sich jetzt


Unterrichtsprotokoll I

80

85

90

95

100

105

110

115

261

alle die melden, die türkischer Herkunft sind oder türkisch .... gut, das sind vier, das ist ok. Ich hätte gerne eine Gruppe, die sich speziell die türkischstämmigen Mitschüler vornimmt und dann haben wir zwei aus Afghanistan, sehe ich das richtig? Ja, gut, ja, dann hätte ich auch gerne eine Gruppe, die sich speziell mit den Schülerinnen aus Afghanistan beschäftigt und dann haben wir Iran .... 8m3: Irak ... Lm.: Irak. Aber Iran gab's auch, glaube ich, oder? Sw6: Nein. Lm.: Dann zeigen mal all' diejenigen auf, die weder, nein, dann gibt's die russische Fraktion: Eins, zwei, drei, vier, ja und dann möchte ich gerne eine Gruppe haben, die sich mit den Russischstämmigen beschäftigt . Und dann bist du der Einzige, der übrig bleibt, sehe ich das richtig? Y, was ist deine Herkunft? sm4: Marokko. Gut, dann haben wir also jetzt, ähh, die anderen .... Lm.: Sw7: Herr T? Lm.: Ja. Sw7: Wozu gehöre ich denn eigentlich, gehöre ich nicht auch zu Afghanistan? Lm.: Ähm ... Schüler: .... (kichern) ... Lm.: Also, wenn du über Sitten, Kultur und Heimat Afghanistans bescheid weißt, dann gehörst du auch dazu . Kannst Dich entscheiden . Sm5 : Gut, dann gehöre ich ja auch zu den anderen .... Lm.: Wozu gehörst du dann? Sm5: Ich gehöre zu der Gruppe mit Irak und Marokko. Lm.: Ok. Und woher stammst du? Sm5 : Indien . Lm.: ..• Gut, . Sm5 : ... glaube ich Schüler: (kichern) So, und dann müssen sich mal alle, ähh, deutschstämLm.: migen Schüler mal melden. ( ... ) 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12. Super, ähh, brauch' ich vier Gruppen a drei Leute. So, ihr drei: Türkei, ihr: Afghanistan, ja? Ähh, wo sind noch drei? .. SwH: .. . hier ...


262

Anhang I.m.:

Sw9 120

I.m.:

125

... macht ihr die Anderen ( .. )den Rest ..... welche [unv .] haben wir denn dabei? .. bitte was? Ne, nur die deutschstämmigen [unv .] und dann brauch' ich noch sind noch drei Leute übrig? Ja, dann macht ihr die Gruppe der Afghanen, ach nee, ihr macht die Russen . So setzt ihr euch mal zusammen und setzen sich die Gruppen mal zusammen, die jetzt zusammen gehören .....

[ ] Jetzt beginnt für etwa 10 Minuten die Gruppenarbeit [ I.m.:

[ 1 130

135

140

145

150

155

160

So, in zwei Minuten macht ihr Schluss und dann geht die Befragung los. 2 Min.

So, dann brecht mal ab . Egal, ob ihr jetzt das Gefühl habt, fertig zu sein oder nicht, das ist nicht schlimm ( ... ) Also, ihr könnt so, wie ihr jetzt sitzt, einfach sitzen bleiben. Das ist glaub ich kein Problem. Und, ähm, wir werden mit den Befragungen mit Sicherheit in dieser Stunde nicht fertig werden, sondern wir werden das noch in die nächste Stunde hineinziehen Wir brauchen uns also keiner Hektik zu unterziehen und ich möchte das so machen, dass die Befragungen öffentlich stattfinden, das heißt, dass ihr euch jetzt nicht mit einer Gruppe trefft und die befragt, sondern ich glaube, die Antworten sind für alle in der, in dem Kurs so interessant, dass alle alles mitkriegen sollten. Ok, dann möchte ich gerne, dass ihr anfangt. Ihr habt die Gemischtwarengruppe zu befragen, oder? Ist das richtig? Ja? Also stehen jetzt Rede und Antwort Y, Mund A. Und die haben jetzt zunächst Vorrecht mit ihren Fragen, aber selbstverständlich können alle anderen, die auch noch etwas von denen wissen wollen, auch ihre Fragen stellen. Klar. Auf geht's Sw1 : Ähm, was schreibt deine Religion vor? Oder schreibt sie überhaupt etwas vor? Sm1: ... [unv.] Koran [unv.] . Schüler: .... (kichern) (murmeln) . I.m.: Also, ihr müsst jetzt speziell jemanden fragen, den ihr ansprechen wollt. ( ... ) Wen? Sw1 : Ja, M. ( ... ) ( ... ) Ja, das ist sehr viel . Wir haben das ja auch mit dem, Sm2 : mit dem, ähh , mit der Kopftuchgeschichte. Das [unv.] Sw1: Kannst du ein bisschen lauter sprechen? I.m.:


Unterrichtsprotokoll I

263

Ja, das würde jetzt länger dauern als ein paar Minuten, das alles zu erklären, ähh, zu besprechen weil es .... ... kannst du vielleicht ein paar Beispiele nennen? S"l : Sm3 : .... schon ganz schön viel ist .... ganz konkret, also so etwas wie keinen Alkohol trinken, kein Schweinefleisch, so was, halt . ( ... ) Lm: Also mich würde jetzt interessieren, wie ist das mit Gottesdienstbesuch? Vorgeschrieben? Ja, so freitags, also Feiertag bei den Moslems, und 8m2: ähm, da geht man in die Moschee. ( ... ) S,,2: Also man soll während der Fastenzeit auf jeden Fall beten, wenn man fastet und was gibt's noch? .. Sm4 : ... also man soll generell, also generell ist es uns eine Pflicht, dass man jeden Tag, also fünf mal am Tag, betet, also nicht nur freitags oder während der Fastenzeit, also auch, und so während des Fastens, da ist das natürlich auch ziemlich streng SmS : ... und machst du das fünf mal am Tag? Sm4: Ja, ich mach das. ( ... ) Lm: Geht ruhig weiter. Ähm, ja. Gibt es bedeutende Traditionen in deinem S"l: Land? Schüler : (lautes Murmeln) Sm4: Ja, ich hab da einfach ihr müsst irgendwie konkret jemanden ansprechen ich hab da einfach [unv .] [unv.] also Tradition . Mhh, weiß ich jetzt nicht. SmS: Lm: Ihr habt ja jetzt den A total rausgelassen. Der A sm3:

165

170

175

180

185

190

Sm6 :

195

S"l :

••• ähm ••••

Lm:

... darf ich da mal einhaken? Zur Religion: Welcher Religionsgemeinschaft gehörst du denn eigentlich an? Ja, mh, Sikh heißt die. Kannst du ein bissehen was darüber erzählen? Also, im Grunde gibt es nur acht Prozent, die dieser Religion angehören. Ja und das ist so und hat schon

Sm6: 200

..... also zu den Feiertagen weiß ich also recht wenig, so und zu Religion weiß ich schon etwas, aber zu den Feiertagen oder zu irgendwelchen Gebräuchen weiß ich recht wenig, also ich wüsste jetzt nicht so recht, was ich dazu sagen soll ....

Lm: Sm6:


264

205

210

215

220

225

230

235

240

Anhang 1st in e~n~gen Punkten gleich mit dem Islam. Man geht in ein Gurdwar(a) beten, jeden Sonntag, und man muss sich vor dem Gebet waschen und ein Kopfbedeckung ist wichtig, wenn man betet. Ja, und die richtig streng Gläubigen, die schneiden sich nicht die Haare und den Bart, ja und das war's .... ... und praktizierst du diese Religion, hier in Lm: Deutschland? Sm6: Ja, also ich geh' eigentlich schon jeden Sonntag in ein Gurdwar(a). ( ... ) ( ... ) Ähm, wie lebst du, also nach bestimmten Regeln Swl : oder ist das unterschiedlich von Person zu Person, mein ich. Sm4: Ja, also erst mal nach den Regeln des Islams, das halt aber, ja ziemlich festlich[?] ... ... ja, kannst du da mal ein paar nennen? Swl: Sm4: Ja, also, wir tragen da eine ziemlich traditionelle Kleidung. Swl: Und wie sieht die Kleidung dann aus? Sm4: Puh, ja, also beim Djelaba ... ... bitte was? Swl: Sm4: Djelaba. Ich weiß nicht ... ja, erklär doch mal. Lm: Ja, ich überlege da jetzt, wo man das hätte gesehen Sm4: haben können . Oder . Das ist, wie so'n Umhang, quasi und der wird dann, wie so'n Tuch, der eine Teil geht vorne rüber, der andere hinten und der Mittelteil geht über den Kopf und, ja .... Schüler: .... (kichern) . . . Sm4: Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll [unv.] Swl: Und tragt ihr den zu bestimmten Zeiten oder? Sm4: Ja, mh, also jetzt hier tragen wir den nicht ... [unv.] Swl: Bitte? Sm4: ... hier tragen wir die normale Kleidung . Swl: Habt ihr bestimmte Sitten und Gebräuche? Sm4: ( ... ) Ja, da haben wir doch jetzt schon etwas zu gesagt, oder? Swl: Gibt es bestimmte Gerichte oder Speisen, die zu bestimmten Festen oder Feiern zubereitet werden, oder bestimmte Getränke? Und werden die dann nur zu Festen


Unterrichtsprotokoll I

245

250

255

260

265

270

275

280

285

265

zubereitet oder auch im Alltag? Oder wird nach bestimmten Küchenregeln gekocht? Ja, also bei uns gibt es Bulwar, das gibt es auch bei 8m2: den Türken, und das wird auch generell, also im Alltag zubereitet ... Sm4: Ja, ich kenne jetzt auch nur Gerichte, die so im Alltag zubereitet werden. Das ist zum einen Couscous und einmal Tagine. Das ist so'n Topf, so'n Keramiktopf. Da werden dann Gemüse und Fleisch und das wird dann darin erhitzt und gedampft. Kommt oben wie so' n Hut drauf, ja, und damit das alles so zusammen erhitzt wird. Das nennt man dann Tagine. Ja und bei uns gibt es, je nachdem, so kleine TeigtaSm6: schen, das sind Samosas gefüllt mit verschiedenen Sachen, meistens Kartoffeln oder so was und das ist man dann. Swl: Ähm. Inwiefern unterscheidet sich eure Kleidung von anderen Kulturen, oder unterscheidet sie sich übe r haupt und richtet sich das nach der Familie? Also du hattest da ja schon was zu gesagt. Sm4: Ja, also man kann sich das auf jeden Fall nicht so vorstellen, wie westliche Kleidung. Ähm, also ungefähr wie ich vorhin beschrieben hab, so, wie so'n Mantel halt. (lacht) Swl: Und die anderen? 8m2: Ja bei uns haben wir dasselbe wie die Westlichen und Frauen dürfen halt nicht so freizügig herumlaufen. Sm6: Ja und bei uns gibt es so was, wie Y schon gesagt hat, d.h. Dari und sieht eigentlich genauso aus. Das ist nur für die Frau und die Männer ziehen halt so eigentlich auch westliche Kleidung an. Swl: Ok. Und hört ihr bestimmte Musik, die jetzt zu eurer Kultur passt? Sm6: Also ich jetzt nicht. 8m2: Also ich jetzt: wenig Swl : aber zwischendurch mal? 8m2 : Ja . Swl: Ja, kannst du das mal irgendwie mal beschreiben? Sm2: Ja, so arabische Popmusik. Schüler: .... (lachen) .... Swl: Ok, danke schön. 8m2 : Ja, und du jetzt? Sm4: Wer? Ich?


266

Anhang Ja. sm4 : Ich hör' nicht soviel . Das müsstet ihr eigentlich alle kennen . Ihr guckt doch alle diese Filme ..... Schüler : (lachen) Lm : So. Rest der Klasse: Gibt es über das, was die jetzt gefragt haben, hinaus noch Fragen an die drei? ( ... ) ( ... ) Ja, S? Sw2: Ja, würdet ihr Deutschland als eure Heimat bezeichnen, oder nicht? sm4: Joa .... Sw2: .... warum? .... sm4 : ... Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen ( ... ) Lm: Mich würde interessieren: Fahrt ihr manchmal in die Länder, aus denen ihr stammt? Oder gar nicht, Y? sm4: Joa. sm2: Ja. sm6 : Also ich nicht so oft, aber schon so alle vier Jahre. Lm : Ja, das ist ja auch eine Riesenreise, natürlich, ne o ( ... ) Gut . Danke schön . Ich schlage vor, ihr macht weiter und fragt jetzt die deutschen Mitschüler .... Schüler: .... (lachen) ... Lm: [unv.] Sm4 : Fangt ihr mal an. Sw3: Also, was für typische Gerichte gibt es? Schüler: .... (lachen) ... Lm: Also sprecht mal ruhig gezielt jemanden an. Sw3: L. Sm7: Ja, also ich kenn eigentlich nur Sauerkraut mit Schweinshaxe smB : Buäähhhh Schüler: (lachen) Sm7: ..... ja und hier im Ruhrgebiet, da gibt es eben Currywurst, die kann keiner besser . Lm: Ok. Nächste Frage. Sw3: Ok. Habt ihr eine Religion und wenn ja, haltet ihr euch daran? J. 5mB : Also eigentlich habe ich keine Religion, woran ich mich halte. Lm: Nun, das ist ja jetzt hier auch eine spezielle Situation, da wir uns im Kurs Praktische Philosophie befinsm2:

290

295

300

305

310

315

320

325


Unterrichtsprotokoll I

330

335

340

345

350

355

360

267

den, aber ist denn hier im Kurs jemand, der von sich sagen würde, ne, wer gehört denn einer Religion an ? Von den deutschen Schülern. Ja, evangelisch .... ähh, evangelischer Christ ..... Sm9: Lm.: ... evangelischer Christ? Sm9: Ja. Lm.: Ja, würdest du dich auch als ein solcher bezeichnen, oder nicht? Weiß ich nicht, bezeichnen schon, obwohl ich mich Sm9: nicht daran halte. 5,,1: Also ich bin zwar auch evangelischer Christ, aber ich würde mich nicht als ein solcher bezeichnen, da ich die Religion auch infrage stelle. Also die Bedeutung selber und was alles dazu gehört. Lm.: Würdest du von dir selber sagen, dass du einigermaßen bescheid weißt über deine Religion? 5,,1 : Ja, schon. Lm: [unv.] bestimmte Vorschriften? 5,,1: ( ... ) Ja, also abgesehen von den zehn Geboten, also so, wie da gerade jetzt auch auf Kleidung bezogen, also das jetzt nicht. Also, die haben gefragt, ihr müsst denen antworten. Lm.: 5,,1 : Also auf Kleidung bezogen oder auf Musik, so was eigentlich eher nicht . Also da gibt es dann halt die zehn Gebote, die halt vorschreiben, also das Verhalten, nicht töten, nicht stehlen . ( ... ) Ok. Weiter . Lm : 5,,4: Gibt es typische Musik eigentlich? Schüler: .... (raunen) . .. (murmeln) ... Fragt speziell jemanden sonst kriegt ihr keine AntLm: wort. [komplett unv.] SmlO: .... also jetzt nicht so typisch, nicht so krass unterschiedlich wie zum Beispiel arabische Musik . Da hört man das viel mehr als wenn man jetzt deutsche Musik hört . 5,,4: Wie und warum feiert ihr eure Feiertage? 5,,5: Ostern oder Weihnachten. Also ich feier' Weihnachten

365

Schüler: (lautes Durcheinanderreden) Entschuldigung: Also könnte ihr bitte das Reden einstellen und einander zuhören, sonst ist es doof.

Lm.:


268

370

375

380

385

390

395

400

Anhang Ja, also ich feiere Weihnachten so: da gibt es dann eben Geschenke und darin kommt die ganze Familie zusammen und essen zusammen, aber wir haben eben keinen besonderen Grund, warum wir das feiern. smll : Ja das ist bei mir eigentlich auch so . Wir machen das halt mehr so aus Tradition . Das ist schon so'n Standard, dass das Fest gefeiert wird . Sw3 : Gibt es Traditionen, an die ihr euch haltet? ( ... ) Nein .... Sm12: Sw5: ... also Tradition( ... ) Also ich will noch Mal was zu den Festen fragen, Lm: also, gibt es neben Weihnachten Feste, von denen ihr sagen würdet, das sind Feste, die zu unserer Kultur, zu unserer Tradition gehören? Sv6 : Ostern. Lm: Und wie feierst du das? Sw6: Tja, früher bin ich zu meinen Großeltern gefahren und habe dort Eier gesucht und jetzt sieht man die Familie, meine kleine Cousins, zum Beispiel. Schüler: ... (murmeln) ... Sv7: Ja also das kann man jetzt nicht wirklich als fest bezeichnen aber Silvester, da weiß ich, dass das in andern Kulturen anders gefeiert wird und deswegen könnte man schon sagen, dass das bei uns speziell ist und das ist bei mir halt auch, so, zum Beispiel mit Silvesterknallern. Lm: Weitere Fragen ... Warum fühlt ihr euch mit eurem Land verbunden? Sw3: sm4: Also, das Warum ist in Klammern. Das heißt: Fühlt ihr euch mit eurem Land verbunden und dann warum? Nehmt drei Leute dran, dass ihr drei unterschiedliche Lm: Antworten bekommt. Wen wollt ihr befragen? Sund? Sv5:

Sm2:

L ...

... und wen noch? ... G vielleicht noch. Schüler: (lachen) Lm: So jetzt. .. Lm:

Sm2:

405

[Pausenqonq ertönt] Lm:

sm12:

oh . ahhh .


Unterrichtsprotokoll 11

269

UnterrichtsprotokoU 11

10

lS

20

25

30

35

[unv.] Schüler:reden durcheinander Lm: An diesen Tisch setzen sich bitte die türkischstämmigen . .... . Lärm . Lm : Und an diesen Tisch setzen sich bitte nur die russischstämmigen Schülerinnen und Schüler. Swl: Wie lange dauert das? .... Lärm ..... sm: Ich habe keinen Stift . .... Lärm..... Lm : Guten Morgen. (5 Sek.) Schüler: Guten Morgen (leise) Lm: Diejenigen Schülerinnen und Schüler außer den Beiden ..... diejenigen Schülerinnen und Schüler, die beim letzten Mal schon befragt worden sind bzw gefragt haben, die verlassen jetzt die Klasse und kommen in genau 10 Minuten wieder, ja? [unv.] .... Lärm [unv .] .... Lm : ..... genau, in 10 Minuten seid ihr wieder hier .... .... Lärm ..... Sw2: Wurden wir beiden schon befragt? .... Lärm . (Tür wird zugemacht) Lm : So und dann möchte ich bitte, dass die deutschen Schüler und Schülerinnen sich zusammen setzen, die gemeinsam Fragen erarbeitet haben ..... und zwar, warte mal, jetzt, entweder an diesen runden Tisch oder diesen runden Tisch [unv .] ••••• Lärm.... Lm: ..... und du gehörst an ..... (Tür geht auf) Sw3: Entschuldigung . Warum soll ich das entschuldigen? Lm : (Tür wird wieder geschlossen) Sw3: ( ... ) Wir waren noch zur Toilette.


270

Anhang I.m.:

40

45 S,,4: I.m.:

Ihr hattet zuvor 20 Minuten zeit, zur Toilette zu gehen. Der Unterricht hat seit 5 Minuten begonnen und ich seh' das nicht ein, warum ihr so spät kommen müsst. Das geht jetzt nicht nur gegen dich , sondern ebenso gegen S. und ( .... ) gegen [unv.] (5 Sek.) Ähm, diejenigen, du setzt dich mit denjenigen zusammen, die Fragen erarbeitet haben, das sind die beiden ( ... ) wenn ich das richtig sehe, sind doch eure Fragen beim letzten Mal schon gestellt worden? Ja . Dann verlasst ihr den Klassenraum . Und seid in 7 Minuten wieder hier .

••• • Lärm •••• 50

55

60

65

70

75

80

Kirchenglocken läuten .... Tür geht zu. I.m.: Ok. So, jetzt geht's los . Ähm, ich möchte gerne, dass die Gruppen, die jetzt zusammen sitzen, alle eine Aufgabe übernehmen und zwar hattet ihr ja alle Fragen erarbeitet, die ihr denen, die ihr noch nicht gefragt, äh, die, denen, die ihr noch nicht befragt habt, stellen sollt. Jetzt habt ihr beim letzten Mal mitbekommen, dass die Fragen ein bisschen schwierig waren zu beantworten, weil sie meiner Meinung nach sehr, sehr weit gestellt worden sind. Ähh, versucht mal, eure Fragen, die ihr euch überlegt habt, ähh zu überarbeiten, und zwar zu überarbeiten auf zweierlei Hinsichten, nämlich erstens, wenn da Fragen dabei sind, von denen ihr findet, die sind überflüssig, weil die, ähh, von denen ihr merkt, die sind nicht so gut geworden, dann streicht die. Und : macht so konkrete Fragen wie möglich. Also stellt nicht die Frage: Was sind deine Traditionen, sondern stellt 'ne Frage: Was gibt es bei euch für Feste? Zum Beispiel. Oder: Gibt es bei euch bestimmte Essensgewohnheiten? Oder so was. Also möglichst enge Fragen, klare Fragen stellen, dass die Leute die auch möglichst beantworten können. Da habt ihr jetzt noch sieben Minuten Zeit und dann [unv.] ( ... ) Schüler reden miteinander I.m.: (leise) Ihr werdet noch befragt [unv .] Schüler reden miteinander I.m.: Können mal bitte all' diejenigen aufzeigen, die nach dieser Stunde keinen Unterricht mehr haben. ( .. ) Das sind viele. Ok. ( ... ) Das ist Unaba. Und wen nehmen


Unterrichtsprotokoll 11

271

wir denn noch? Samira, ok? Oder hättest du lieber einen Jungen?

85

Bm:

Das ist ganz egal.

Lm.:

Gut.

Schüler reden leise miteinander [Gruppenarbeit; Lehrer geht zu den Gruppen und fragt nach, ob die Arbeitsanweisungen verstanden worden sind.]

Lm.: 90

Lm.: 95

100

105

110

115

120

125

Alles klar bei euch?

[3 Minuten, Lehrer verlässt den Klassenraum und holt die zuvor ausgewiesenen Schülerinnen und Schüler wieder in den Klassenraum] Ja, ich mache jetzt schon mal eine Ankündigung. Und zwar werden wir am nächsten Freitag. Montag ist ja kein Unterricht, das wisst ihr, ne? Also unsere nächste Stunde ist der Freitag. Am Freitag werden wir noch einen Besuch bekommen. Und zwar nicht jemand, der euch aufnehmen wird, sondern jemand, der auch 'was erzählen wird. Und zwar gibt's eine Vereinigung von, ähm, Migranten, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und die hier in Essen eine Vereinigung gegründet hat und die sich mit der Situation dieser speziellen Volksgruppe beschäftigt hat und die möchte euch, ähh, ich hab mit denen Kontakt aufgenommen und das ist der Herr Hahn, der da kommen wird und der Herr Hahn wird uns in der 5. Stunde etwas erzählen über die Situation der Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion, derjenigen in Essen speziell und, ähm, nach diesem Vortrag, den er halten wird, besteht die Möglichkeit zur Diskussion, die ich natürlieh gerne ergreifen möchte, ähm, er sagt nur, dass er länger braucht als eine Unterrichtsstunde und deshalb möchte ich euch bitten, also diejenigen, die keinen Unterricht mehr haben nach der Stunde, dann sich bereit zu erklären, noch ein wenig hier zubleiben für dieses Gespräch und diej enigen, die bei Frau Merkel Unterricht hätten, die sind für die Zeit beurlaubt, also ihr könnt dann hier bleiben und braucht dann nicht in den Französischunterricht, also erst danach in den Französischunterricht zu gehen, ähm, und könnt dann hier bleiben,. Also ich fänd' es sehr schön, wenn ihr da keine Probleme damit hättet, ein bissehen länger zu bleiben. Also ich find' das sehr lohnenswert, weil die Gelegenheit, jemanden zu haben, der sehr, sehr gut bescheid weiß über die Situation und der uns sicherlich ganz, ganz viel erzählen kann, dass wir ihn anzapfen können und da finde ich es ganz


272

Anhang

130

135

140

sml: Sw5: Sw6: 145

Sml : Sw5 : ISO

•••• Schüler

Sw6:

ISS

Sw5: Sml : 160

Sw5 : Sw6: Sw5:

165

sinnvoll, dass wir das so machen. (.) Ok. Dann möchte ich jetzt gerne damit anfangen, dass die Befragung unserer beiden afghanisehen Mitschülerinnen beginnt. Also ich möchte das Ganze, also das Ganze ist ja eine Veranstaltung, hört ihr zu, bitte, das Ganze ist ja eine Veranstaltung, die ja dem ganzen Kurs dienen soll ( .. ), also der ganze Kurs, der soll ja profitieren davon, dergestalt, dass ihr etwas erfahrt über die Situation eurer Mitschüler, von denen ihr vielleicht nicht soviel gewusst habt oder mit Sicherheit nicht soviel gewusst habt und deshalb, also wenn die Fragen, die jetzt von der Gruppe an eure Mitschüler gestellt werden, also, wenn euch die nicht ausreichen, dann könnt ihr gern Nachfragen stellen. Ja? ( .. ) Ihr seid dran. Findet ihr Afghanistan als eure Heimat? Ja, schon irgendwie .... .... ja, also ich auch, weil, auch wenn es da jetzt halt nicht so, (.) auch wenn wir da nicht leben, aber als ich da hingegangen bin, da, weiß nicht, da fühlt man sich irgendwie schon zugehörig. Zu welcher Religion gehört ihr an? Ja, Moslem (kichert)

Sml : Sw6 : (

... )

sml:

lachen

.

Also es gibt zwei verschiedene, ähm, also es gibt einmal den Propheten Mohammed und einen Propheten Ali und die, die ähm, die, die ähm an Mohammed glauben , die sind Sunni [Sunniten] und die, die an Ali glauben sind Schiiten und also ich, ähm gehöre halt zu den Sunniten. Ja. Gibt es Einschränkungen eurer Lebensweise, also jetzt auf Kleidung bezogen? Ja, ne, also bei mir jetzt nicht .... .... also bei mir schon. Also ich darf auf keinen Fall bauchfrei anziehen, aber sonst so . ... also ok, baufrei jetzt nicht, aber sonst so ..... nicht . ..... und essen? Ja, kein Schweinefleisch. Ja, mhh. Seid ihr mit der Religion oder der Herkunft zufrieden, oder?


Unterrichtsprotokoll 11 170

Sw6: SwS:

273

Ich schon. Ja ..... sehr .

Schüler lachen Sml : SwS: 175

Sml: Lm.: 180

Sw6 : Lm. :

Sml: SwS: 185

Sml: Sw6 : Lm. :

190

SwS: Sw6: Lm. :

SwS : 195

Sw6 : Lm.:

200

Sw6: SwS:

205

Lm. :

Sw6 : 210

Warum seid ihr nach Deutschland gekommen? Ja, ähm, also bei uns war das so, dass in Afghanistan gab es ja Krieg und dann hatten wir halt die Möglichkeit nach Deutschland zu kommen, so ungefähr. Also wir sind sozusagen dem Krieg entflohen. (.) Und feiert ihr auch deutsche . ... ja das wüsste ich gerne auch von P. wie das war . Ja, bei mir war das genauso wie bei der U. mh. Feiert ihr auch deutsche Feiertage, Weihnachten zum Beispiel? mhmh (verneinend) ( ... ) Das war's auch schon . Kein Problem (leise) So. Frage an die Klasse: Wollt ihr noch mehr wissen? (4 Sek.) Ich wüsste gern noch etwas: wie lang seid ihr jeweils schon in Deutschland? Ja, ich leb' seit zwölfeinhalb Jahren hier. Ich bin hier geboren, lebe komplett hier, also 15 Jahre . Und wart ihr jemals schon mal in Afghanistan? Ja, ich nicht. Ich war letztes Jahr. Also ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Also wenn sich die Situation also so entwickelt, dass sich eine friedliche Situation dort ergibt, hättet ihr vor, oder eure Familie, zurückzugehen? mhmh (verneint) Also ich nicht . Weil, also ich war fast zwei Jahre als ich hier hin gekommen bin, bin hier sozusagen aufgewachsen, also Kindergarten, Grundschule und alles und, ich weiß nicht, das wäre schon ein bisschen komisch, wenn ich dann wieder auf einmal so von Deutschland nach Afghanistan gehen würde . [unv.] Also für mich jetzt nicht so . mhmh Ja, also bei mir auch, weil ich bin ja auch hier geboren, eben, und als ich da hingegangen bin, dann


274

215

220

225

230

235

240

245

250

Anhang

konnte ich gar nicht die Schilder lesen, weil ich kann die nicht so gut, also die afghanische Schrift, ja und deswegen und ich möchte auch gerne hier studieren und .... Habt ihr denn überhaupt die deutsche StaatsangehörigLm: keit? Sw6: Ja. Lm: Ok. Dann, ähm, ( .) macht ihr? (3 Sek .) Rascheln . Tuscheln . Stühle rücken . Sw7: Also, was bezeichnet ihr als eure Heimat und warum? Sw8: Das ist jetzt schwer zu beschreiben. Also wir sind jetzt alle hier in Deutschland geboren und hier aufgewachsen, aber wenn wir in die Türkei fahren, dann ist das Verhältnis, ist das irgendwie schon so, dass ich das Gefühl hab', meine Vorfahren, also meine Eltern, kommen von hier her, aber so ganz wohl fühle ich mich dort auch nicht und ich würd' eher als meine Heimat Deutschland, glaub ich, beschreiben. ( .. ) Sw7: Ähm .... .... lass' doch noch jemand anderes Lm: . Sw7: ... ach so . Sm2 : Also, ich würde als meine Heimat schon die Türkei bezeichnen, weil die Hälfte meiner Familie, ähm, wohnt da und wir fahren ja auch öfters dahin, tja ( ... ) Sw9: Ja und ich würde meine Heimat als Deutschland eher bezeichnen, weil ich bin hier geboren und aufgewachsen, wenn ich jetzt nach, also, wenn ich jetzt in Türkei gehe, dann fühl' ich mich eigentlich schon wohl, aber hier fühle ich mich halt noch ein bisschen wohler. SwlO: Also ich würde meine Heimat als Deutschland bezeichnen, weil ich hier aufgewachsen bin und mich schon eigentlich angepasst habe, aber wenn ich in, ähm, Türkei bin, dann fühl' ich mich auch wohl, dann werde ich nicht mehr so als, na, ja, Ausländer angesehen, sag ich mal, sondern so als Dazugehöriger, ( .. ) aber hier fühle ich mich trotzdem wohl . Ähm, was sind die typischen Sitten und Gebräuche der Sw7: Türken? Sw8: Ja, da gibt es jetzt viele, also, wenn man das so, also typische Sitten haben wir jetzt eigentlich nich', (kichert) und das ist jetzt auch so, dass wir alle aus einer anderen Region stammen, also, und das ist immer von Region zu Region meistens die Sitten


Unterrichtsprotokoll 11 255

260

Sw?: SwB:

265

Sw?: Lm: 270

SwB :

Lm: 275

280

285

290

295

SwB:

275

und Gebräuche oft anders sind und man kann das jetzt nicht so verallgemeinern, so siehe: in der Türkei gibt es diese Sitten und Gebräuche, das ist jetzt so schwer . ... ok. ( ) Ähm, wie feiert ihr eure Hochzeit oder überhaupt Hochzeiten? Ja, das sind halt meistens halt Hochzeiten, wo es halt Musik gibt, Tanzen und Essen und, haha, nach 'ner Weile, haha, gibt man halt Geschenke der Braut und das ist halt, so gesehen, fast genauso wie eine deutsche Hochzeit, also da ist jetzt eigentlich nicht ganz so viel Unterschied. ... ach so.... ( ... ) Wer macht die Musik? Ja, also ein Orchester ist da meistens da, so. Da ist eine Gruppe, der Eine ist Sänger, der Andere spielt Keyboard, meistens sind da halt türkische Gruppen. mhmh. Und was ist das für Musik? Ist das Volksmusik oder ist das Popmusik .... ... das ist halt ( .. ) also es gibt Volksmusik und es gibt auch moderne, so Popmusik, und die Musik unterscheidet sich dann halt wieder von Region zu Region.

(4 Sek .) Sw?: Ähm, was wird den türkischen Mädchen vor der Ehe alles verboten? S?? : phhhh . Schüler lachen teilweise. SwB: Also das hat, glaub ich, nix damit zu tun, dass die aus Türkei stammen, sondern eher, wenn dann, dann was mit der Religion und nicht, dass das Türken sind und .... Sw?: ...... jaa ..... SwB : .... von der Religion her gibt es natürlich, ähm, vor der Ehe darfst du halt nur nicht, was du nach der Ehe darfst, ist das dann halt der Geschlechtsverkehr, und das darfst du halt vor der Ehe nicht. Sw?: Ach, so. ( .. ) Ähm, wie wichtig ist eure Religion? SwB: Für mich ist das sehr wichtig. 8m2: Für mich ist das auch wichtig. Sw9: Für mich auch SwlO: Ja, auch .


276

Anhang Aber da frag' ich mal nach. Das ist ja wahrscheinlich von unterschiedlicher Wichtigkeit? ... Schüler : (durcheinander) ..... ja, ja ..... I.m.: ..... Also bei den Mädchen kann ich dass sehen, K trägt ja Kopftuch, die beiden anderen Mädchen tun das nicht: hat das was mit der Intensität zu tun der Stellung zur Religion oder sind das einfach unterschiedliche Sichtweisen, die die Familien haben? Sw9 : Also bei mir ist das so, dass meine Oma zum Beispiel trägt auch ein Kopftuch, aber meine Mutter nicht. Das kommt also eher auf die Familien an, wie die also darüber denken, also ich muss nicht ein Kopftuch tragen. SwlO: Also bei mir trägt eigentlich gar keiner Kopf tuch. Ja, mh, das hat jetzt auch nicht immer was mit der SwH: Familie zu tun. Also mir steht es frei, ob ich das möchte oder nicht, das ist halt meine eigene Entscheidung und, ähm, das hat also was damit zu tun, dass ich schon recht früh an meiner Religion interessiert war und immer das ein bisschen erforscht hab' und immer halt, immer mehr wissen wollte, darüber und irgendwie gehört der Glaube, wenn man lebt, dazu. Ich könnte ohne meinen Glauben gar nicht so ein richtig schönes, glückliches Leben haben, hab' ich halt so das Gefühl. I.m.: Ok, dann seid ihr jetzt dran und stellt eure Fragen an die deutschen Schüler und ich schlage vor, ihr macht das so, dass ihr eure Fragen immer direkt an zwei Schüler direkt richtet, weil sonst wird's, glaub ich, schwierig mit der Antwort . Also nehmt euch zwei raus, die die Fragen beantworten sollen und bei der nächsten wieder zwei und so weiter . I.m.:

300

305

310

315

320

325

(5 Sek .) 330

335

340

D und P, welche verschiedene Art der Religion ist bei euch vorhanden? Sm3: Also bei uns in Deutschland gibt es so ziemlich alle Religionen, aber ich sag' mal die deutsche Volksreligion ist erst mal die christliche, aber, ich mein, hier gibt's ja auch viele Migranten und deswegen gibt's hier auch viele andere Religionen. Ja, dem habe ich nichts mehr beizufügen. Sw7: Schüler : lachen I.m.: Vielleicht sollte man noch sagen, auch wenn das jetzt vielleicht Eulen nach Athen tragen ist, dass die Sw9 :


Unterrichtsprotokoll 11

Lm. :

christliche Religion sich ja in zwei große Gruppen spaltet. Ja, in die katholische und die evangelische. So ist es. Ähm, kannst du uns vier wichtige, bedeutende Traditionen nennen? Wen nehmt ihr dran?

sw9 :

K ••••

Sw?: Lm.: 345

277

Sm2:

Schüler: lachen.

350

355

360

(4 Sek.) und L..... (Gespräch beiseite : Dann frag doch. Ne hab ich schon.) Lm: .... Könnt' ihr bitte das Fenster zumachen? Fenster wird geschlossen. Lärm Lm: Dankeschön. ( ... ) Bitte antwortet laut und deutlich. Wer ist dran? 8m3: Ich . Lm: Ja . Sm3 : Ehm, also eben Ostern , ähh , Nikolaus, Weihnachten und Sylvester, also das sind für mich so die wichtigsten. Sw9:

(3 Sek.)

Sm4: Sm2: 365

Gehören Geburtstage auch dazu? Zu euren Festlichkeiten? Joa, geht so. das ist nicht so traditionell, aber das ist halt so'n Standardding gewesen und deswegen [unv. ]

Lm:

Was ist denn eigentlich Tradition? Was ist denn 'ne Tradition? ( ... ) Wie würdet ihr das Wort denn übersetzen?

370

(4 Sek .)

375

Ja sowas, was von Jahr zu Jahr mir den gleichen Sachen gefeiert wird. Mhmh, also Traditionen sind für euch immer mit Feiern Lm: verknüpft? Swll: Ja, also in dem Fall, den L. da gesagt hat. Aber generell nicht so wirklich, aber schon, also (lacht). Schüler: lachen Lm: Ich frage noch Mal: Was heißt denn eigentlich Tradition? Das ist so Tradition bei uns!? ( ... ) J . Swll :


278 380

385

390

395

400

405

410

415

420

Anhang Sw12:

Ja, ehm. Also nicht wirklich Routine, aber dass es schon sozusagen normal ist, dass man ein Fest zum Beispiel jedes Jahr ungefähr gleich feiert ..... Lm: .... also ich frag' mal .... Sw12: ... also die Gewohnheit, dass es jedes Jahr wiederkommt und irgendwie gleich ist, ungefähr ... Lm : ... ok. Also ich frag' jetzt aber noch Mal: Tradition hat immer etwas mit Feiern und mit Festen zu tun? Sw13: Also ich glaub es hat mehr was damit zu tun, dass man etwas feiert als warum man etwas feiert, weil, ich sag mal, viele wissen doch gar nicht mehr, warum man das und das feiert. [unv. ] K. Lm: SwB: Also viele bezeichnen ja auch das Bleigießen an Sylvesterabend auch als Tradition und da feiert man ja auch nichts ... Tradition ist das, was man aus einem bestimmten Grund macht und immer wieder macht, meiner Meinung nach. Lm : Ok. Tradition wär's zum Beispiel, dass die Kinder im ersten Schuljahr eine Schultüte kriegen . Tradition ist es auch, wenn man, weiß ich nicht, ähh , beim Trinken mit den Gläsern anstößt . Das sind Traditionen . (SSek .) Ok. Sm2 : Ok. Welche Gerichte und Getränke werden häufig in Deutschland gegessen und getrunken, N.? . S???: (flüstert) Jetzt kommt bestimmt Bier . Schüler: .... lachen . ( ... ) SmS: Ähm, Bier würd' ich mal sagen ..... Schüler : .... lachen . Sm5 : .... ja, das gibt's in keinem Land mehr, also das ist schon so'n Getränk, was hier, weiß nicht, getrunken wird, würd' ich mal sagen ( ... ) und dann das, was die Leute schon gesagt haben also, Currywurst oder so was. ( ... ) Schüler: ... lachen ... Lm: Also auch da wieder die Frage : Was ist ein traditionelles deutsches Gericht? Und traditionell heißt da : es ist hierher gekommen aus früheren Zeiten . Tradition heißt so was wie Herkunft . Also das was seit langen Jahren schon existiert, was in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Kulturkreis so gemacht wir, so gegessen, so getan wird . Das ist Tradition . Was ist eurer Meinung nach ein traditionelles deut-


Unterrichtsprotokoll 11

279

sches Gericht? Sagen mal die Deutschen: Gibt's ein traditionelles deutsches Gericht? 425

(5 Sek.) Sw7:

430

Lm:

Sm6 : Sw9 : Lm: 435

SwB:

440

sm7: 5mB: 445

Lm: 450

SwB: Lm:

455

Swll:

Ja, ich finde irgendwie, viele essen ja andere, verschiedene Sachen. Also zum Beispiel Sylvester essen alle anders, am Geburtstag essen alle anders, auffe Hochzeit oder, essen alle irgendwie andere Sachen. Also da gibt es irgendwie kein festes Gericht. Ok. An Sankt Martin wird doch immer eine Gans gegessen . Ja, mh, (flüstert) ( ... ) [unv.] Nächste Frage. Findest du das Leben in Deutschland schön? Und warum? Also das ist jetzt, (lacht), zum Beispiel mit der politischen Lage oder mit der sozialen Lage, ja, einfach, ob du das Leben in Deutschland schön findest, wie es ist. Und da frag ich mal, jetzt, wer hat denn wenig gesagt, mh, K. und T. Ja, ich bin schon mit dem Leben hier zufrieden und mit der politischen Lage setz' ich mich jetzt nicht so oft auseinander. ( •• ) Also ich bin auch soweit zufrieden, also mit der politischen Lage, also uns geht's allen gut, ich denk, mal, wir können nicht meckern über irgendwas und eben: uns geht's gut. Ich denk' es ist schön, in Deutschland zu wohnen, zu leben. ( ... ) Macht ruhig weiter. Das war's. Ok. Dann, äh, diejenigen, die die ( .) Russischstämmigen, ( .) obwohl ich gar nicht weiß, ob ihr alle wirklich aus Russland stammt oder aus anderen Gebieten? ( .) Ja? Russland . Also die Russischstämmigen. Welche Gruppe ist das? Ihr? ( .. ) Auf geht's. Ähm . Was für Religion gibt es in Russland?

(4 Sek.) Sm9: 460

Lm:

465

Also in Russland gibt es verschiedene Religionen, wie zum Beispiel die [unv.]-kirche und die Muslimen, aber die meisten Leute sind orthodox. Aber ich bin selber nicht gläubig. ( ... ) Darf ich eben eine Zusatz frage stellen? Was schätzt ihr, wie viel Prozent der Menschen in Russland überhaupt einer Religion angehören, oder vielleicht wisst ihr das ja sogar? ( ... )


280

Anhang Sw14: Lm:

Sw14:

mhmh (verneinend) Und was schätzt ihr? (leise) also 70, ich glaube 60 Prozent ....

Lärm, Lachen 470

Bitte was? 60 bis 70 Prozent ( ... ) Äh, was für besondere Feiertage gibt es? 5w11: Sw14 : Also, wir feiern der Neujahr und dann Ostern, auch die [unv.], das ist Feiertag, und 7. Januar, Weihnachten, und 1. September, das ist der erste, also erste Schultag, und noch die Fastnachtswoche, ja, das war's. 5wll : Was gibt es für landesübliche Gerichte? Sw15: Also zum Beispiel gibt es so Pfannkuchen, die werden ganz oft gegessen und ja und weiter weiß ich irgendwie nicht, ah, dann gibt's noch so Teigtaschen mit irgendwat gefüllt .... Schüler: .. kichern .. Sw15: ..... meistens mit Kartoffeln ..... Lm: .... sagst du uns mal die Namen? Sw15 : Ja, ähm, Blini ..... ..... und diese Pfannkuchen, wie heißen die? ... Lm: Sw15: .... ja ..... SJD9: ... nein, die heißen Blini .... .... Blini .... Sw15: Lm: Blini? Sw15: Ja. ( ... ) Gibt es auch westeuropäische Musik in den Charts? Sw11: 5w14: Ja, da gibt es welche . Also ich höre da jetzt keine Musik, weil ich leb' da ja jetzt schon ganz lange nicht mehr, aber ich glaub' schon . Sw11: Bist du in Russland geboren oder kommen nur deine Eltern da her? Sw15: Ja, ich bin da geboren. Sm9: Ja, ich auch. Sw14: Ich auch. Wie lange habt ihr denn da gelebt? Sw11: Sieben Jahre, glaub ich . Sw14: Ja, ich hab' 15 Jahre da gelebt. SJD9 : Sw15: Ja, ich habe da auch ungefähr 15 Jahre gelebt. Lm:

Sw14:

475

480

485

490

495

500

505


Unterrichtsprotokoll 11 Svll: Swls: Sm9 : Swll : 510

Sw14:

515

sm9:

520

Swls: Swll : Lm:

525

281

Gibt es traditionelle Kleidung? Also ich würd' nicht sagen ..... ... Nein . ( .. ) Würdest du Russland als deine Heimat bezeichnen, wenn ja, warum? Ich weiß es gar nicht, das ist jetzt schwer. Ich bin zwar dort geboren, aber ich bin mit sieben Jahren hierhin gezogen und ich war bisher nur einmal da und ich werde da jetzt nicht unbedingt noch Mal hinfahren, also ich weiß es nicht. Ich würde sagen, Deutschland ist meine Heimat. Also ich würde Russland schon als meine Heimat bezeichnen, weil ich hab' dort schon 15 Jahre gelebt und ich fahre dorthin ganz oft, ja ... Ja, Russland ist meine Heimat, weil ich nur anderthalb Jahre in Deutschland wohne. ( ... ) Das war's . Dankeschön . Jetzt dürft ihr eure Fragen stellen und ich schlag mal vor, weil ich jetzt gemerkt habe, dass die Fragen, die gerade gestellt wurden auch schon zum Teil in der letzten Woche gestellt worden sind, fragt die Fragen, von denen ihr findet, dass sie anders sind oder ein bisschen neu.

(6 Sek.) 530

sm9:

Wie verbringt man in Deutschland Freizeit? Am Wochenende oder Urlaub?

(5 Sek.)

Lm: Sw16 : 535

Lm:

sm9: Lm: Sm? : 540

SmlO :

Lm: 545

Sw13: Sv?: Lm:

Alle verstanden, die Frage? Ne. Dann noch Mal. Ja, Wie verbringt man in Deutschland Freizeit? So, und sagt jetzt jeder mal was dazu . N. wie verbringst du deine Freizeit . Ja, also entweder Freunde treffen oder Fußball oder irgendwelchen Sport . Also ich seh' jetzt nicht, dass man in Deutschland etwas macht, was man in anderen Ländern nicht macht. [unv.] K, wie verbringst du deine Freizeit? Ja, also mit meinem Freund oder mit Reiten. Ja, auch mit Reiten ..... ... kannst du ein bisschen lauter sprechen, bitte? ...


282

Anhang Sv7: Lm:

550

Sw14 : Lm : 555

Ja, mit Tennis, Reiten oder meinem Freund. Möchte noch jemand etwas anderes sagen, was noch nicht gehört worden ist? ( ... ) Gut . Habt ihr noch Fragen? Ja, aber die wurden alle schon gestellt . Ja, ich glaube, dann sind wir durch, oder? Ähm, dann möchte ich, dass ihr jetzt, ähm, eine schriftliche Aufgabe erledigt.

Schüler rascheln Lärm, Stühle rücken. Schüler reden durcheinander. (20 sec.) Lm: 560

565

570

Sw17: Lm: 575

Ja, ich schick mal eben was vorweg. Ich finde, dass wir durch diese, ähm, also mir ist es so gegangen und ich weiß nicht, wie es euch gegangen ist. Ich hab ganz viel neues erfahren, was ich nicht gewusst hab', zum Teil Persönliches, zum Teil aber auch Allgemeines über die Länder und es hat immer wieder 'ne Rolle gespielt, bei allen, die Frage nach der Heimat und ich wüsste gerne von euch, was ist überhaupt Heimat, also ich weiß, dass das schwer ist, zu beantworten, aber versucht das mal . Also, ( . . ) nein, nein, nein, nein, ihr sollt jetzt nicht die Antwort geben, was ist meine Heimat, ja? Also, meine Heimat ist Deutschland, oder so, sondern was ist eigentlich Heimat. Schreibt 'ne Definition. Ne Lexikondefinition von Heimat. ( .. ) Eine Definition, wie sie im Lexikon stehen könnte Also stichpunktartig? Weiß nicht, ob Lexika stichpunktartig vorgehen . Aber der Leser muss es zweifelsfrei verstehen können .

(15 sec .)

Lm :

58ß

(3 Min.)

Ich hol mal eben ein Lexikon, oder? Smll: Tschüß. Lm : verlässt den Klassenraum . Schüler: werden lauter. (2 Min.) Tür geht auf . Lehrer betritt den Klassenraum . Schüler werden leiser . Lm : So . Definition eins, L. Sm12: [unv.]

Lm:

585

Also ich hab nichts dagegen, wenn ihr das zusammen mit einem Nachbarn besprecht, aber ihr müsst in fünf Minuten fertig sein.


Unterrichtsprotokoll 11 590

595

600

605

610

615

620

625

283

ähm, erstens Ruhe, zweitens lauter. sm12: Der Ort, an dem jemand geboren oder aufgewachsen ist, oder wo man sich wohl fühlt und an dem man viele Freunde hat . I.m.: Gut . Definition zwei, K. sw13: Heimat ist das Land, aus dem die Vorfahren und Familie stammen und wo die Religion ist und wo wir herkommen . I.m.: und G. sm13: Meiner Meinung nach ist die Heimat der Ort oder das Land, wo man herstammt. Die Heimat muss nicht gleich der Geburtsort sein, aber der Ort, wo die ganze Familie ist. I.m.: S. Swll : Das Land oder der Ort, wo man sich wohlfühlt . I.m.: K. Sw7: Jaa, ich hab' das auch, da also, wo man geboren ist und dort, wo man sich wohlfühlt. Ja. I.m.: Und J. Sw17: J.? Ja . Schüler : lachen . Sw17 : .... Heimat ist ein Ort, an dem man sich wohlfühl . Es ist das Land, in dem man seine Freunde seine Familie hat. Tja. I.m.: T. sm9: Ja, der Ort, wo man sich wohlfühlt, wo man sehr gute Freunde hat . I.m.: Ein bisschen lauter . sm9: Ja. Heimat ist der Ort . ..... hey, hört doch mal zu, bitte .... I.m.: ..... Heimat ist der Ort, wo man, äh, sich wohlfühlt, sm9: wo man sehr gute Freunde und Familie hat. Wo man sich, ja ( ... ) Ok, danke schön. Und G. sucht jetzt mal aus dem LexiI.m.: kon das Stichwort und liest vor. sm12: Ja, da kenn ich mich jetzt nicht so aus . ( ... ) I.m.:

Gong ertönt . Lärm I.m.:

ja, das wartet jetzt bitte noch ab, ein paar Minuten .

Lärm sm12: I.m.:

Gefunden. Jetzt bitte Ruhe! Das ist das Duden-Lexikon.


284

Anhang

630

sm12:

635

Lm:

Sm?? : Lm : 640

Sv??:

Ähm, Land, Landesteil oder Ort, in dem man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu hause fühlt. Oftmals, äh, gefühlsbetont aufgrund einer engen Verbundenheit gegenüber einer bestimmten [unv.]. Danke schön . Jeder stellt, halt, halt, halt, ähm, jeder formuliert schriftlich eine Frage, die er Herrn Hahn beim nächsten Mal ..... ... Boah, scheiße . .... stellen will . Jaaa dem Herrn Hahn?


Protokoll Gruppendiskussion

285

Protokoll Gruppendiskussion I:

10

IS

Gruppe:

I:

20

2S

30

3S

40

... und daraus resultierte ja dann irgendwann das Bedürfnis, noch interviewt zu werden und parallel dazu haben wir uns eben mit dem Datenmaterial beschäftigt und haben dazu noch weitere Fragen entwickelt, ähh, die wir euch heute gerne stellen möchten und das läuft so ab, dass ich euch gleich jetzt einen Ausschnitt aus einer Stunde zeige, und zu dem Ausschnitt kann ich gleich was sagen und zwar, ähm, und zwar ist das natürlich eine statische Kamera, also nicht enttäuscht sein: es gibt keine besonderen Schnitte, man sieht auch vor allen Dingen Herrn T. und die Tafel und nur die ersten beiden Reihen von hinten. Das geht leider anders technisch nicht, also nicht böse sein, wenn ihr da nicht drauf seid ... .. . lachen .... ... das ging einfach technisch nicht anders und, ähm, ja, davon zeige ich euch jetzt gleich so ungefähr 4 Minuten. Ähh, vielleicht noch Mal zur thematischen Einführung, worum ging es denn da eigentlich noch Mal? Und zwar war das ja eine ganze Unterrichtsreihe, die haben wir von euch besucht und da ging es um Kultur und Heimat und das ist jetzt die erste Stunde, zuvor habt ihr, glaube ich, eine Hausaufgabe bekommen, da solltet ihr aufschreiben, was für euch der Begriff der Heimat aussagt und in dieser Stunde habt ihr dann aufgrund von Herrn Ts Fragen, euch, ja, Themen überlegt, die mit dem Oberthema Kultur zusammenhängen und die hat Herr T. dann an die Tafel geschrieben und dann, ähh, leitet er über in eine Gruppenarbeit und das ist für uns eine interessante Phase des Unterrichts und zwar, weil die den Unterricht jetzt neu strukturiert und uns geht's darum, wenn ihr das jetzt guckt, dann könnt ihr für euch die Frage im Kopf behalten, wie habt ihr eigentlich damals diesen Unterricht erlebt und wenn wir das gleich so'n bisschen diskutieren könnten, dann fände ich das sehr schön. Ja? Muss ich sonst noch etwas dazu sagen? Da schau ich jetzt mal auf meine schlauen Zettel. ( ... ) Ja, und dann vielleicht noch ein bisschen was zu den Regeln, wie wir hier miteinander umgehen, also das ist jetzt hier überhaupt kein Unterricht, ich werde euch auch nicht drannehmen, so, also, ihr müsst auch nicht aufzeigen, sondern es geht darum, ein möglichst normales Gespräch, wie ihr das führt,


286

Anhang

Gruppe:

bei dem ihr ja auch nicht aufzeigt und euch gegenseitig drannehmt, zu führen. Mhh, ich habe mir zwar ein paar Fragen überlegt, aber, mir wäre es ganz lieb, wenn ihr eure individuelle Sicht auf den Unterricht, also ganz spezifisch eure eigene Sicht darstellen würdet und vielleicht können wir die dann ein bißchen diskutieren. Ok? Ok. lacht.

I:

ox.

Gruppe:

lacht Ahh, noch was: also alles das, was ihr jetzt hier sagt und wir sehen hier jetzt auch viel Herrn T. und dann ist es natürlich klar, dass man sich auch über Herrn T. unterhält, ähm, alles das, was ihr über ihn sagt, im Positiven oder Negativen werde ich ihm natürlich nicht weiter sagen. Auch wenn ich mit ihm befreundet bin, ist es natürlich selbstverständlich, dass ich das nicht mache. Ist klar, ihr sollt euch hier frei äußern können und ihr braucht dann nichts zu befürchten, auch wenn ihr sagt, ich find' den Herrn T. doof, ähh, dann werde ich das nicht weitersagen. Ok. Gut. Dann geht's los. ( ... ) Hoffe ich.

45

50 SwO:

55

I:

60

65

SZENENAUSSCHNITT vom Videoband (ca. 4 min.)

I: 70

(

... )

Swl :

Gruppe:

I: Swl:

75

Gruppe:

I: Gruppe: (

80

.. )

I:

Sw2:

85

Sw3:

Das war's. Cool. (lacht) Cool? Ja . kichert Aha. kichert Ja, vielleicht stell' ich noch Mal die Frage, die wir uns überlegt haben, ähm, ja, wie seht ihr das? Wie erlebt ihr das? Wie würdet ihr das beschreiben? Ist ja ne ganz alltägliche Situation. Ja, das ist jetzt n bisschen komisch, das jetzt selber zu sehen ... ... ja ...


Protokoll Gruppendiskussion Sw2:

90

Gruppe: (

95

... )

Sw3 :

I: Gruppe:

I: 100

Gruppe :

I: Sw2: 105

110

Swl: Sw3:

I: 115

Sw4 : Sw3: Sw4

120

I: (SSek. ) Gruppe:

I: (Ssec. ) Sw2: 125

I:

287

.... weil wenn man im Unterricht sitzt, empfindet man das anders aber wenn man das jetzt so betrachtet, das ist ja jetzt auch ne lange Zeit her, wenn man jetzt zurück blickt, teilweise hat man das ja schon vergessen, dass man das hatte und wenn man das jetzt sieht, dann erinnert man sich wieder daran. Vor allem: das ist ja noch unser alter Klassenraum ... lacht

Ja, das finde ich auch so. Also, ich habe jetzt cool gehört, das habe ich, glaube ich noch nicht verstanden .... lacht .. und seht ihr das alle so, dass es einen Unterschied macht, wenn man das jetzt guckt, als wenn man in der Situation ist ... .... Ja ... ... und worin besteht denn der Unterschied für euch? Also wenn man im Unterricht sitzt, dann nimmt man das alles nicht so wahr, dann macht man halt irgendetwas, oder auch man merkt gar nicht, was jeder, wer überhaupt was sagt, man ist eigentlich immer nur auf den Nachbarn konzentriert (lacht) und wenn man das jetzt so sieht, dann, also dann merkt man halt Sachen, die man, die einem vorher nicht aufgefallen sind ... ... ja, auch wie laut das auf einmal wird, wenn er dann sagt, ja, ok, setzt euch alle mal zusammen ... ... viele Nebengeräusche ... Wie geht euch das? Eigentlich genauso, ja. Jetzt kann ich verstehen, warum sich die Lehrer ärgern, wenn wir .... .... ja ... (lacht) .. . . . quasseln, ... ... weil das doch ganz schön stört . (kichern) Was fällt euch jetzt auf, was sonst nicht auffällt? Ja, wie gesagt, die Nebengeräusche, halt . Ja, denn wenn man im Unterricht sitzt, dann nimmt man das gar nicht so wahr ... . . ja ..


288

Anhang Sw2:

130

I: 135

Sw2 :

140

I: 145

Sw2: ISO

ISS

160

I: Gruppe: 165

Swl :

SwO : 170

... der Lehrer redet irgendetwas oder dort redet irgendjemand irgendetwas, aber man merkt das gar nicht soo, dass das so schlimm ist, also jetzt mit dem Umsetzen, dann wurd' das auf einmal so laut. Weiß jetzt nicht, ob das am Mikrophon liegt, oder so, aber es wurd' dann schon extrem laut. Das ist schon laut . ( .. ) Also ihr nehmt da jetzt die Lehrerperspektive ein und sagt, ja, kann ich verstehen, dass die jetzt häufiger mal genervt sind . Ja, manchmal passiert das ja auch, dass jemand Zwischenkommentare gibt und dass einer was in die Klasse sagt . Ja, man empfindet das im Unterricht auch leicht störend, aber wenn man das jetzt so sieht, dann ist das ein bissehen noch extremer, sag' ich ma. Mhmh. Also als wir uns das angeguckt haben, mussten wir doch lange Zeit darüber nachdenken, was ihr jetzt eigentlich tun sollt und wir waren super erstaunt darüber, dass ihr euch so wunderbar zusammensetzt, ähh, könntet ihr uns das noch Mal sagen, was ihr da jetzt in der Situation machen solltet? Ja, also im Unterricht habe ich das auch nicht auf den ersten Augenblick gleich verstanden, da wusste ich jetzt nicht: müssen wir jetzt einen Fragebogen über unsere eigene Heimat entwickeln oder da war jetzt auch ein bissehen Verwirrung, aber später als wir uns dann in diese Gruppen zusammen gesetzt haben, wurd' das ein bissehen klarer ... also wir sollten ja diejenigen, also, es gab ja halt verschiedene Kulturen bei uns im Unterricht und, ähm, jeder, also jede Gruppe sollte sich eine andere Kultur aussuchen und über die andere Kultur etwas schreiben und die, die nicht aus der deutschen Kultur kommen, sollten über die deutsche Kultur einen Fragebogen erstellen und das wusste ich zunächst gar nicht, ja, ich muss sagen, das versteht man nicht auf Anhieb. Ist das denn allen so gegangen? Ja, doch ... ... ja, bei mir und U. war's doch auch so, wir dachten, wir sollten jetzt üben, was wir über unsere eigene Kultur .... ... ja, dass sich jetzt zum Beispiel einige dahin setzten, zum Beispiel die Gruppe der Deutschen, dass die jetzt zu uns kommen und uns sofort befragen, ja, jetzt so, aber wir wussten nicht, dass die jetzt erst einmal zusammen sitzen und gemeinsam Fragen auf stellen, ja, über die anderen Fragen aufstellen, joa.


Protokoll Gruppendiskussion I: 175

S,,4: Gruppe : S,,4 : 180

Gruppe: I:

185

S,,4: S,,5 : S,,4 :

I: S,,4: 190

I: S,,4 :

200

205

210

Könnt ihr euch noch erinnern, wie euch das gegangen ist? Ja, mir war das eigentlich sofort klar, was wir machen sollten .... (lacht) [unv.] (lacht) Saß die russische Gruppe da zusammen und hat was für Fragen entwickelt? Für deutsche Kultur . Oder für türkische? Weiß i ch nicht mehr. Aber auf jeden Fall Fragen an eine andere Kultur und du kannst dich erinnern, dass das in der Situation auf jeden Fall klar war? Ja. Mhmh •••

Also, ja, für mich persönlich .... . . . (lacht) ... ... war das klar ... ... vielleicht lag das ja daran, dass wir irgendwie was anderes gemacht haben im Unterricht .... Gruppe: (lacht) ... weiß jetzt nicht ... S"X: I: Was anderes? Was ist denn was anderes? Gruppe: (einzelne lachen) ... S,,2: ... ja, zum Beispiel reden oder dass man nicht richtig hingehört hat, weil, manchmal bemüht man sich wirklich nicht zu reden und wirklich aufzupassen, aber dann sagt der was, der was und dann hat man einfach kein Lust mehr einfach zuzuhören, weil (.) manchmal wird das auch ein bisschen uninteressant. Ja, man sagt so, ... S"O: ... lacht. .. S"l: ... ja jetzt hör ich zu, jetzt mach ich mit, aber dann S"O: kommt so'n klein [unv .] Zettelchen ... (lacht) ... S"l: ... ja, dann ist man sozusagen verpflichtet mit jemanS"O: dem zu reden oder Zeit zu haben ... Gruppe: ... (lacht) ... S"X: S,,4: S,,2:

195

289


290

Anhang SwO:

215

I: SwX:

I: Sw4:

Gruppe: 220

I: Sw2 :

225

Gruppe :

I: Gruppe: 230

Sw2:

Gruppe : 235

Sw2 :

240

I: Sw4: Sw2:

Gruppe: 245

Sw3:

250

SwO:

255

... und so was. Ja . Und das ist Konsens unter euch? Joa ... Also stimmt ihr dem alle zu? Oder? ... joa ... (lacht vereinzelt) Ok. Und war das jetzt ein interessantes, ein für euch interessantes Thema, oder? Ja, das Thema war eigentlich schon interessant, aber bei dieser Reihe konnte ich mich daran erinnern, dass da die Klasse ziemlich laut war, wo sie auch dabei waren, und ich weiß nicht, ob das an ihnen lag, so von wegen Kamera und so ... . . . (lacht) ... ... keine Ahnung ... ... (lacht) ... ... also die Klasse war eigentlich schon ziemlich laut, aber das ist dann halt so, dass man halt versucht zuzuhören, was der sagt, irgendwann, will man sich gar nicht mehr darum bemühen zuzuhören ... ... (Einzelne kichern) ... ... (lacht) ... ja, is' so. Zumal wenn man eine Frage hat und der Lehrer kann noch nicht einmal die Frage verstehen, weil da irgendjemand anderes gerade was sagt, dann hat man manchmal einfach keine Lust mehr auf den Unterricht. Ja. Aber war das jetzt ein interessantes Thema für euch? Ja, eigentlich schon .... ... ja, schon ... ... (einzelne) .. joa, ja ... schon Ja, ich fand' das eigentlich sehr interessant, weil dann haben wir ja eigentlich zum Beispiel über die russische Kultur etwas kennen gelernt, weil da gab's manchmal Sachen, die ich so nicht wusste und nach diesem Unterricht ... ... also, ich finde da waren ja auch russische, türkische und keine Ahnung, die "Anderen u und das fand' ich schon interessant, aber jetzt über die deutsche Kultur, also ich mein, da wusste man schon, das war so festgesetzt, Weihnachten, Ostern, mehr gibt es da ja jetzt nicht und deswegen war das ein bissehen un-


Protokoll Gruppendiskussion

I: SwO: 260

I: SwO : swl : 265

Gruppe:

I: Sw4:

I: 270

sw2 :

Sw5:

Gruppe: 275

Sw2:

Swl : SwO: 280

Sw2: Swl:

285

290

Gruppe:

I: Swl : 295

Gruppe: Swl:

291

interessant, weil das wussten wir ja jetzt schon alles ... . . . mhmh ... .. aber jetzt hier zum Beispiel über die türkische oder über die russische war schon interessant zu wissen ... ... mhmh ... ... was die haben, und . . . ... genau ... ... (einzelne lachen). Könnt ihr euch noch daran erinnern, was ihr da heraus bekommen habt? (leise) ja ... ... (einige lachen) ... ... ja, zum Beispiel in der russischen Kultur, da war das an einern Tag im Januar zum Beispiel, dass die da Weihnachten gefeiert haben, stimmt das? Ja. (lacht) [unv .] ... ... ja, und halt, was gab's denn da noch? Über die indische Kultur hat man halt auch was erfahren, mit dem Tempel gehen und mit den Liedern ... ... Ja ... ... und mit dem Farbspiel .... ... das sind so Sachen, die ich mir gemerkt habe, weil ich die ... ... ja, man hat sich auch eigentlich mehr die Feste gemerkt, nicht so die religiösen, ich sag' mal halt hier so die Daten, wann irgendwann, irgendwas ... zum Beispiel der Grund für dieses Fest hat man sich nicht gemerkt, man hat sich nur gemerkt, dass die da so mit Farben herum gespielt haben, aber nicht, warum die das jetzt gemacht haben. Das haben die ja gesagt, aber das wissen die eben nicht mehr ... (lacht laut durcheinander) Und wie erklärst du dir, dass du das eine noch weißt und das andere eben nicht? Keine Ahnung. Ich denke, das wird ein bissehen interessanter dadurch, dass die ... .... (einzelne lachen) ... ... mit Farben gespielt haben, aber warum die das maehen ....


292

Anhang I:

StIl: 300

I:

stIl : S,,2:

305

S"O: StIl: S"O :

310

I: StIl: S"O: 315

Gruppe:

S,,2 : StIl : 320

Gruppe:

StIl: S,,2 : StIl: 325

S"O : I:

S,,2: 330

Gruppe:

S,,2:

335

... also, weil du das interessanter findest? .. ... sicher .... ... nicht, weil es nicht zur Sprache gekommen ist? .. ... nein, nein, weil ich das ... ... ja, ich hab mich manchmal gefragt, warum oder irgendwie so, da wussten auch manche nicht die Antwort .... ... ja, jetzt zum Beispiel, Weihnachten. Warum feiert ihr Weihnachten? Weil ich da ... .... Geschenke krieg' ... .... ja, und da wusste doch gar keiner, warum . Und da hat Herr T. dann gesagt, keine Ahnung, da hat er sich dann aufgeregt und, ich glaub', T. hat dann was gesagt, der wusste so'n bisschen . ... warum man Weihnachten feiert . ... ja ... ... ja. ( ... ) Aber ich hab' das auch schon wieder vergessen (lacht) ... ... (lacht) .. . ... ja, ich weiß nicht, das ist doch sowieso so .... .... ja, Weihnachten denken die halt an Geschenke, fertig ... . . . . (lacht) .... ... ich denke eben nicht, dass da irgend' was passiert is' mit irgend jemandem ... ... das ist doch Christi Geburt ... ... ja, das denke ich auch (lacht) ... ja, ok, aber nicht so detailliert, jetzt, ja mit der Geburt, das ist schon klar, aber die [unv.]. Und wie erklärt ihr euch, dass die Deutschen das nicht wussten? Ja, ich glaube, die interessieren sich nicht für ihre eigene Kultur (lacht). Also manche ... ... (einige lachen) ... ... die im Unterricht sitzen, vor allem, die haben ja auch Religion abgewählt und die interessieren sich dann halt nicht mehr so richtig für ihre Religion . Ja, wie gesagt, also das ist für die eigentlich schon so Tradition oder was Allgemeines, dass man Weihnachten feiert .


Protokoll Gruppendiskussion

I: 340

Gruppe:

Sw2: I: 345

Sw4: Sml: 350

355

360

Sw5: I: Sw2: Sw4: I: Sw2.

I: Swl :

365

I: 370

Gruppe:

I: Gruppe:

I: 375

Sw2:

293

Mhmh. Ihr seid ja auch ein komisch zusammen gewürfelter Haufen, muss man sagen ... (lacht) Ja, das ist auch so . Also in Bezug auf die Religiösität, weil, ähm in diesem Kurs sitzen ja, die Christen, die eben diese Religion abgewählt haben, bzw. den Religionsunterricht abgewählt haben und eben ihr, die ihr einer anderen Religion angehört. Bei euch weiß ich das zum Beispiel gar nicht. Ich bin orthodox. Ich auch. Ich bin Jude . Mhmh . ( .. ) Aber Religion war doch eigentlich nicht so das Thema ... .. Ne, eigentlich nicht ... ... ja ... .... sondern Kultur, oder? ... ja, Kultur, aber das gehört ja eigentlich schon auch teilweise dazu, so zur deutschen Kultur dazu, wie die das beschrieben haben, dass das so ist, dass die Deutschen das einfach so feiern . Ja .. ... ja, und eigentlich gehört zur Kultur ja auch eigentlich die Religion, jetzt zum Beispiel auch bei Weihnachten, das hat ja auch was mit der Religion zusammen Hängendes, aber darauf achtet man jetzt irgendwie nicht, die achten jetzt ja gar nicht darauf, ob das jetzt was Religiöses ist, sondern einfach nur darauf, [unv.] Feiertag, eben. Ja. Also ihr macht da jetzt eine starke Opposition auf: die da und wir hier .... (lacht) ... das ist natürlich ... (lacht) ... die da sind jetzt auch gar nicht hier. Das ist vielleicht auch ganz interessant . Warum sind die eigentlich nicht hier? Ja, also die wollten, also viele haben sich ja auch nicht anschreiben lassen, dass sie überhaupt kommen wollten und die, die kommen wollten, hatten danach wohl doch keine Lust mehr dazu ...


294 380

Anhang Sw1:

S"O I: Gruppe: I: 385

S,,4:

Gruppe :

I:

390

S,,2:

Gruppe:

S,,2: 395

S"l : 400

S"O : S"l: S,,2: 405

Gruppe :

S,,2 : 410

415

S,,4: 420

... Mhmh (lacht) ... ... ja .... .. habt ihr gehört von denen? (bejaht vereinzelt) Mhmh. Also ich hab' nix gehört ... (lacht) Kann man das dann verlängern? Nehmt ihr die deutsche Kultur so war? Dass das vorwiegend Menschen sind, die sich nicht für ihre Kultur interessieren? Nein, also jetzt nicht, also es gibt bestimmte schon, vor allem in diesem Kurs, gibt es so'n paar die sind uninteressant .... (Zustimmung vereinzelt) ... also sind uninteressiert an ihrer eigenen Kultur, sag' ich mal, aber ich sag' das jetzt nicht für alle, die ganzen Deutschen .... ... also ich denke, dass ist vor allem bei den Jüngeren so, die Älteren gehen ja auch immer in die Kirche und einige jüngere gehen zwar auch noch in die Kirche, und ich weiß nicht, aus unserem Kurs jetzt die .... ... (lacht) . ... (lacht) [unv.] Ich glaub' das liegt auch daran, dass, wie sie jetzt gesagt haben, dass wi r jetzt so'n bisschen kritisch sind mit denen, also das liegt auch daran, wi r hatten auch mal so'n bisschen Probleme, sag' ich mal, ... ... (lacht vereinzelt) ... ... vor allem mit der Frage der Religion, da konnten halt einige einfach manche Sachen nicht einsehen, die wir dann erklärt haben, vor allem über den Islam und seitdem ist das halt so'n bisschen so, dass auch wenn ich dann was zum Unterricht sag', dass ich dann so'n bisschen komisch angeguckt werde und die halt manchmal blöde Kommentare abgeben und ich hab denen das jetzt auch schon gesagt, aber das interessiert die nicht wirklich . Ich glaube, die haben irgendwie eine skeptische Einstellung dazu, so Kulturen, das ist irgendwie nicht modern . Also ich nehm' das so auf, das die eine skeptische Einstellung haben, halt Skeptiker, das interessiert sie nicht . Dass finde ich doof, mich für mei-


Protokoll Gruppendiskussion

425

Sw2: Sw4: SwO : 430

435

Sw4: Sw2:

440

Gruppe: Sw2: Swl : Gruppe: I:

445

Sw2: Gruppe: Sw2 :

I: 450

Sw2:

I: Sw2:

455

Swl: Sw2 :

Gruppe : 460

Sw2:

295

ne eigene Kultur zu interessieren, so schätze ich das ein. Ich hatte diesen Eindruck. Also, zum Beispiel, wenn die K. gesagt hat, dass sie, du betest ja, oder? Ja. Ja, da haben sie so gelacht und ich find' das gar nicht komisch. Ja, oder als sie gesagt hat, dass sie das alles freiwillig macht, dann haben die andern gesagt, ja klar, du wirst bestimmt gezwungen und obwohl sie gesagt hat, sie macht das von sich aus so, da haben die ihr das eben nicht geglaubt und haben gedacht, du wirst bestimmt dazu gezwungen. Ja, das ist doch die Sache des Glaubens ... ... ja sie haben das eben nicht eingesehen, und seitdem ist das Verhältnis zu denen so ein bisschen ( .. ) seltsam (lacht). Also nicht die ganze Klasse, so, aber bestimmte Gruppen ... ... (einige bejahen) ... ... ich will jetzt auch keine Namen nennen. Bestimmte drei Mädchen. (einige lachen) Ähm ... ... was jetz' alles wieder so aufkommt. Das hat jetzt zwar nicht soviel mit der Frage oder so zu tun .... . . . (lachen) .... .. aber ... ... aber das hat was mit dem Unterricht zu tun . ... ja, mit dem Unterricht hat das was zu tun . ... genau .... einerseits hat das was mit den Unterricht sehr stark gestört, das hat auch der Herr T. gesagt, dass wir das sein lassen sollen, aber ... ... die wollten ja echt mit dir streiten, ne? . ... ja, genau, während wir da diskutiert haben [ ] zwei Stunden ja, am Ende haben sie es etwas eingesehen, und jetzt sind sie [unv .] [unv.] ja, und jetzt ist das nicht mehr so schlimm, vor allem seit der Zehnten, auch seit der Klassenfahrt geht's jetzt wieder. Ja.


296

Anhang Swl:

465 (

.. )

Sw2 :

470

475

I: Sw2:

480

I:

485

Gruppe:

I: 490

Gruppe :

Sw2:

I: 495

Sw2: Swl:

I: Sw2: 500

505

Swl:

ja, die interessieren sich schon dafür, was du jetzt so machst. Auch auf der Klassenfahrt habe sie dich auch gefragt, aber (.) komisch. das ist ja auch wichtig, sag ich mal, für die Harmonie in der Klasse, auch für den Unterricht und mittlerweile l äuft das, so sag ich mal, ganz gut . Wir können auch so wirklich ehrlich zueinander sein, aber eine Zeit lang hatte ich wirklich so gar keine Lust mehr, etwas zu sagen, weil ich dachte, dann kommt da jetzt wieder, ach, das stimmt doch gar nicht [unv .] . ... Ja . ... nicht, weil ich mich jetzt nicht durchsetzen kann, sondern einfach weil es zulange wieder gedauert hätte. Das hätte sich dann wieder über drei Stunden hingezogen und die hätten es wieder nicht kapiert und deshalb ( ... ) Ja. ( ... ) Ja, als ihr dann diese Fragen entwickelt habt und dann ging dieses Fragespiel los, dann wurde, glaube ich, auch die Frage nach der Religion gestellt, und dann antwortet, wenn ich das richtig noch im Kopf habe, ähm, der M: ja, wir hatten das ja auch mit dem Kopftuch. ja [vereinzelt] und wenn man da jetzt nicht dabei war, so wie ihr, dann haben wir uns gefragt, ja, was heißt das denn jetzt? Wie : wir hatten das jetzt mit dem Kopftuch? .. ... lacht. .. ja, das war genau diese Diskussion ... ... und das scheint sich auf diese Geschichte zu beziehen ... ... diese ziemlich aggressive Diskussion (lacht) ... .. ja .. ... die war sehr aggressiv?. ja, ziemlich, also, ich meine, ich stand da irgendwann allein (lacht) war diejenige, die dann weiter diskutiert hat und die waren, die haben wirklich nicht geglaubt, was ich gesagt hab' und haben immer sofort gesagt, egal, was ich gesagt habe, ne, das stimmt nicht und da wurd' die Stimmung dann immer lauter und lauter [unv.] ... ... [unv.] ihr tragt ja kein Kopf tuch ...


Protokoll Gruppendiskussion Sw2: Swl: SwO : 510

515

Swl :

Sw3: Swl: 520

525

Sw2: SwO : Sw2:

530

Gruppe:

Sw2:

535

I:

Sw2: 540

545

550

297

... [unv.] . ... [unv.] . '" also ich bin zwar jetzt Moslem, aber ich zeig das, also ich mein jetzt, zum Beispiel, ich fast und ich bete auch in der Zeit und ich geh jetzt auch Samstags in die Moschee, damit ich da dann auch was lern, so Koran und so, aber die meinten, wenn man das schon macht, dann richtig so mit Kopftuch, aber man muss ja, also ich mein, jeder muss seine eigene [unv.] ... ... [ ... ] ja .... ... ja, die haben dann gesagt, du weißt nicht was du machst und weißt nicht, wer du bist .... ... ja es ist einfach da und man muss im Herzen selber, also diese Religion, die man hat, dazu muss man Moslem sein und man muss jetzt nicht irgendwie, nur weil man Moslem ist oder aus einem anderen Land zum Beispiel, wo Leute total verdeckt rumlaufen, muss man jetzt auch hier verdeckt rumlaufen. Ja, und das haben die eben halt auch nicht eingesehen, dass man das freiwillig macht ... ... ja ... ... , sondern egal, wer das macht, der wird gezwungen ... (lacht) ( .. ) Ja, der Herr T., der hat mich da auch so ein bisschen unterstützt und hat dann auch wirklich recherchiert und dann halt auch wirklich so Beweise gezeigt und gemacht und auch irgendwelche Zitate oder ein Theologe, der seine Meinung dazu gegeben hat und so. Zitate aus dem Koran jetzt? Wofür, für die Freiwilligkeit? Ne, ja, also, halt über das Kopftuch tragen an sich . Ja, weil es gibt ja die einen, die sagen, dass man das nicht machen muss, halt weil im Koran jetzt nicht steht: du musst ein Kopftuch tragen, sondern das ist halt ein bisschen, also dass man halt einen Schleier tragen soll, ein Tuch und da gibt es für diese Wort so viele Bedeutungen, dass man jetzt nicht wirklich weiß, ob damit jetzt das Kopftuch gemeint ist, ähm, und von den Zitaten vom Propheten, da wird da halt auch so geschrieben, dass man das halt machen sollte, aber es ist kein Zwang und ich habe das auch eigentlich gemacht, weil ich lebe meine Religion aus und ich mache das auch freiwillig und die haben das nicht eingesehen und so kam halt diese Diskussion auf.


298

Anhang I: S,,4:

555

S,,2 : S,,4 : S,,2: I:

560

565

S"l: [unv .]

ja, ihr Mutter ist Deutsche, aber .... ... [unv.] ... .... die Eltern haben sich getrennt. Und die schimpft S"O: doch so unheimlich so: über den Vater und [unv.] ja, das ist halt auch so, wie bei H. und mir, da kam jetzt so, ja nur weil jetzt eine Person Mist gemacht hat, heißt das jetzt nicht, das ganz Afghanistan so ist. Weil das ist so in Gegenwart von uns, weil sie akzeptiert sich gar nicht so als Afghanerin, aber ab und zu, da ist das halt .... S"l: ... zum Beispiel, wo es ihr was bringt, da sagt sie dann zum Beispiel, also, ich bin ja auch aus Afghanistan ... Handyklinqeln [unv.] aber sonst, nee, ich bin Deutsche und Moslem S"O : zu sein ist irgendwie voll scheiße, allgemein ... S,,2: ... ja und das wissen auch viele und auch [unv.] und vor allem merkt man auch so'n bisschen: wozu gehör' ich eigentlich? Und dann guckt sie so komisch. Weil hätte sie gesagt: Zu welcher Gruppe soll ich gehen, hätte man nicht gelacht, aber: wozu gehör' ich eigentlich, das klingt dann so ein bisschen, dass sie selber nicht weiß, wer sie überhaupt ist ... S"O: ... ja ... ... ja, genau . R. ja auch, der ist in Kasachstan geboS"l : ren und ist ja jetzt sozusagen, also eigentlich Deutscher, aber der hat sich ja jetzt auch nicht gefragt, wozu gehör ich denn eigentlich . Der hat sich ja erst

s"O : Gruppe:

570

575

580

585

590

Wie habt ihr diese Diskussion wahrgenommen? Ich wusste gar nicht, dass diese Diskussion statt gefunden hatte ... .... ich mein, da war sie ja noch nicht in der Klasse ... ... [unv.]das war in der Stunde ... ... ja, das war am Anfang der Neun. ( ... ) Ich weiß jetzt nicht, ob ihr euch noch an die Szene erinnert, und wir können die auch ruhig noch Mal gucken, ähm, ihr werdet ja da gefragt, was ihr seid und da sagt, glaube ich, die S.: wozu gehör' ich denn eigentlich? Und dann wird gelacht. Ja, ich find' das auch voll komisch irgendwie ....


Protokoll Gruppendiskussion

595

SwO: Sw4: Gruppe:

Sw4 : 600

605

Swl:

610

I: Gruppe :

Sw4 :

299

einmal, glaube ich, für die Russen gemeldet, oder? und dann meinte er, er wäre nicht [unv.] ... ja. Der spricht mit uns gar nicht. einige kichern Ich mein, der ist total unfreundlich zu uns . Der, wir haben den, einmal war es so, dass ich irgend etwas nicht verstanden habe, ja, als ich noch nicht so gut Deutsch konnte und da hab' ich ihn gefragt und da sagt der einfach nix . Ich dachte, er hilft . [unv .] Ich glaube, das ist für ihn irgendwie peinlich, Russe zu sein, (lacht) glaube ich . Ja, und wenn es darum geht, da gibt es irgendjemand Berühmtes, weiß ich nicht, zum Beispiel in Mathe, da sagt er dann, ja, ich bin auch so gut und da ist er wieder Russe, aber zwischen seinen Freunden, da sagt er, ich bin Deutscher. mh. kichert [vereinzelt] Aber das ist nicht richtig . (lacht)

[unv . ] 615

Sw3:

620

Gruppe: 625

I: Sw3 :

630

Sw2 : 635

Ja, aber so gesehen, weiß ich auch nicht, wer ich bin, ne, weil meine Eltern sind kurdischer Abstammung und ich kann n bisschen kurdisch, eigentlich bin ich dann auch ne Kurdin, aber eigentlich kann ich kein Kurdisch, also bin ich ne Türkin, aber meine Eltern sagen: nach der Abstammung her bin ich ne Kurdin, aber ich soll, ich soll eher sagen: ich bin ne Türkin, weil ich halt kein Kurdisch kann und ich find's auch so gut. (lacht) lacht Da sagen deine Eltern, dass du das sagen sollst ... ... nein, so ja : F ., bist du ne Kurdin . Ich so : Ja . Aber dann meinten die, F ., so : unsere Vorvorfahren waren eigentlich Türken und dann sind die so gesiedelt in so einem Dorf, wo halt Kurdisch gesprochen wird und dann haben sie das halt selber gelernt und dann meinten sie, dass die auch Kurden wären und eigentlich wissen die auch nicht so genau, wer sie sind . Also das Problem haben wir auch in der Türkei . Also meine Oma und mein Opa, die haben in Makedonien gelebt, eine lange Zeit und später sind die dann hierhin gekommen, also als der Krieg angefangen hat,


300

Anhang

640

645

Sw3:

I: 650

Gruppe:

I: 655

Sw2:

I: 660

also, wo Jugoslawien halt noch zusammen war und dann sind die halt in die Türkei eingesiedelt, weil zwei ältere Tanten sind aber in Makedonien geboren, meine Mutter aber in der Türkei, aber das war halt ein türkisches Dorf in Makedonien. Also weiß ich jetzt auch nicht, bin ich nun türkischer oder makedonischer Abstammung. Von daher ist das schon ein bisschen kompliziert. Ich bin jetzt beides: Kurdin und Türkin, bin ich auch. Also jetzt hör' ich so'n bisschen raus: erst habt ihr gesagt, ja, das war überhaupt kein Problem, wir haben sofort unsere Gruppe gefunden, ähm... lacht ... bis auf S., die das nicht so genau wusste und jetzt sagt ihr aber alle, ja, ich komme da und da her und das ist alles irgendwie doch ein bisschen durch einander, aber trotzdem sagt ihr: ok, ich geh' jetzt mal in diese türkische Gruppe . Ja, also ich bin ja jetzt auch eher Türkin und hab's da leichter. Oder in die russische Gruppe. Jetzt frag ich gerade vorher die Drei und da sagt ihr, dass nur Einer aus Russland kommt. ( ... ) Also hättet ihr doch eigentlich alle sagen können: Moment mal, Herr T. so einfach, wie sie sich das vorstellen geht das nicht, oder?

( ... ) 665

Sw4:

670

I: Sw4 :

I: 675

680

Sw5: I:

Weiß ich nicht. Ich habe da ja nichts zu sagen. ( ... ) Ich wusste irgendwie ja sofort, da ss ich in der russischen Gruppe bin und ich wollte mich, ja, auch nicht melden und in eine andere Gruppe gehen, weil, ja, da s ist ja meine Kultur, also, warum soll ich da s jetzt nicht machen? Ich weiß doch über meine Kultur bescheid. Warum soll ich mich schämen dafür? Nein, das meinte ich das nicht. Ja, ja. Also ich meinte, klar, man kann das jetzt so interpretieren, dass sich die S. für etwas schämt und deswegen nicht genau wusste, zu welcher Gruppe sie gehört. Das meinte ich aber nicht, sondern ihr hättet ja alle sagen können, wir kommen gar nicht alle aus Russland, sondern du kommst aus Kasachstan ... ... ja, Kasachstan ... ..• und du aus Usbekistan, oder? .


Protokoll Gruppendiskussion ... mhmh ... ... ach SO, das meinten sie . Also, was ich meine ist, dass ihr so bereitwillig Auskunft darüber gebt . Also auch Afghanistan . Ich glaube, du bist hier geboren ... .... hier geboren . ... und du nicht . ... mhmh ...

sm1: S,,4:

685

I:

S"O : I: S"l: 690

(

...

)

S"O : I:

695

700

S"O: S"l:

S"O S"l :

705

Gruppe :

710

I:

S"O: 715

Gruppe :

S"O:

720

301

Mb, mir macht das nix aus ... Also, es war ganz klar: Afghanistan, da kann ich jetzt was darüber zu erzählen? Joa. Ja, das kommt davon, wie man aufgewachsen ist, von den Eltern, die haben uns ja viel darüber erzählt. Mein Bruder und ich haben immer Deutsch gesprochen zu Hause und sie haben immer gesagt, wir sollen Afghanisch mit ihnen reden ... ja ... und dann waren wir in Afghanistan und die dachten, eigentlich können wir kein Afghanisch, und dann haben die mit den Eltern gesprochen, ja wie heißt den deine Tochter und wie alt ist die denn und da habe ich dann gesagt, hey, könnt ihr mal mit mir reden, ich kann auch afghanisch reden und die so, ey super, du kannst ja Afghanisch, voll cool ... ... lacht ... Ich kann mich an den Unterricht erinnern an diese TafeIn, an die Plakate, da ging es um das Weltbürgerrecht von Kant und das sollte in verschiedene Sprachen von euch übersetzt werden und das Afghanisch schreiben machte euch Probleme. Ja, das war damals so. lacht Aber jetzt haben wir Unterricht und gehen in die Moschee und da sind halt fünf Klassen und da lernt man halt dazu. Wir sind jetzt beide in der Vierten und da f ängt man in der Ersten sofort an, Buchstaben zu lernen und in der Zweiten, ja, Lesen und Schreiben und Dritte auch du in der Vierten kommt halt auch das Beten hinzu und wir können jetzt also schon, also, wenn jemand sagt, also schreibt das, dann können wir das jetzt eigentlich schon schreiben, aber damals wa-


302

Anhang

725

Swl: 730

735

SwO: 740

Swl:

SwO :

ren wir da noch nicht. Also ein bissehen konnte ich ja schon, aber noch keine Texte schreiben und jetzt könnte ich das schon mal. Ja, mein Vater hat auch mit mir, so ab und zu mal, so am Abend gesagt: so, jetzt komm mal her und lern mal das Alphabet und so, also, das Alphabet konnte ich jetzt auch, aber das andere ist total schwer, weil wenn der eine und der andere Buchstabe zusammenkommt, zum Beispiel wir denken das bund p zusammen gehören kann zusammen zu irgendeinem Buchstaben werden oder so und da sagte er, nein, das ist falsch, weil, also wenn wir schreiben wollen, keine Ahnung, Apfel, dann schreiben wir gar kein A hin, also es ist total kompliziert . .. . lacht . ... da kommt kein anderer Buchstabe oder ein Buchstabe hat mehrere Bedeutungen, zum Beispiel eins heißt Baum... ... lautes Lachen ....

[unv.] 745

Swl:

Was hast du denn?

Lachen Unruhe

Swl: SwO : 750

Swl.

755

SwO:

760

I: Sw5: Sml : Sw4 :

765

I:

Ja, also ich mein', das gibt es dann als 0 oder U und auch als I, ne? Also, das U das gibt es ja gar nicht. Das wird mit dem afghanis ehen Buchstaben E gesprochen. Ja; oder in meinem Namen gibt's ein I und im Afghanisehen gibt's gar kein I, also das wird da gar nicht benutzt, dafür gibt es da ein anderes Zeichen, da heißt [unv.] und das wird dann in meinen Namen eingesetzt, das versteh ich auch nicht. Und deswegen konnte man jetzt auch nicht, also wir konnten das Ganze noch nicht, also wie das richtig geschrieben wird. Aber jetzt ist da schon besser geworden. Das war für euch sicherlich auch ein Problem, die neuen Schriftsprache? ja . mhmh. Also bei mir war es so, ich hatte ja auch früher Englisch gelernt und da kannte ich ja dann schon. Also gut. Ok, ihr wusstet, wo ihr hingehörtet, das war irgendwie kein Problem ...


Protokoll Gruppendiskussion Swl: Sw2: 770

Swl : Sw2 :

775

(

... )

Swl: Gruppe:

Swl : 780

785

790

795

SwO :

303

... obwohl es doch eins war, eigentlich, oder? Mh? Ja, zum Beispiel bei Dir mit Makedonien oder bei ihr mit Kurdistan [unv .] Ja, also der M der hätte ja auch sagen können, er ist aus Kurdistan, aber das gibt es ja nicht wirklich. Das ist ja auch so was ähnliches. Also ich muss jetzt mal was erzählen ... lacht Also als ich nach Afghanistan gefahren bin, da dachte ich, dass da alle mit Schleier rumlaufen müssen, und auch das das früher so gewesen ist, aber: das war nicht so . Also als ich jetzt da war, da war das zwar so, aber da war das jetzt so, weil das alles war mit Osama Bin Laden und den Taliban so war, weil wegen dem Krieg, weil das war deswegen, dass alle so verschleiert rumlaufen . Aber als meine Mutter dort gelebt hatte, da konnten die einfach so, also nicht so richtig Kopf tuch wie bei K hier so, sondern eine ganz leichtes, so, das zwar dann runter gefallen ist, aber das war dann auch egal . Die sind dann einfach so rumgelaufen . Oder die hatten eine ganz normalen Rock an oder T-shirt und jetzt ist das auf keinen Fall, denn wenn man da jetzt mit nem Rock rumläuft, dann gaffen die einem hinteher und sagen, oh, was hast du den da an und oh, das ist ja voll eng .... ... und da quatscht dich dann einfach einer von der Straße an.

[unv.] Swl: 800

805

SwO: Swl: Gruppe :

I: Swl:

810

Gruppe:

Ja, und meine Mutter, die meinte auch, die haben alle unser Land zerstört und der Osama, der war ja Araber und alle geben jetzt aber Afghanistan die Schuld, obwohl wir ja gar nicht daran beteiligt waren, sondern die sind ja alle aus Arabistan, quatsch, Arabien gekommen und haben sich bei uns so eingenistet, sozusagen, weil die haben dann so komische [unv.] gebaut ... ... krass ... ... voll krass, ja ... lacht Und warum wolltest du das jetzt erzählen? Weil es Spaß gemacht hat. lacht


304

Anhang [unv.] I:

815

Sw2 :

820

825

830

I: Sw4: 835

Sw5: Sw4:

I: 840

Sw2 : 845

Sw3 : Sw2:

850

Sw3:

Ok. Ich finde das interessant . Gut . In der Unterrichtsstunde habt ihr dann zusammen gesessen und die Fragen entwickelt . Und gestern im Interview da hat der B gesagt : Ja, ich hab das gemacht mit den Fragen, aber im Grunde weiß ich schon alles . Ich glaube, der meinte die Fragen an die Deutschen . Weil, ich mein, die wissen genau soviel wie wir, ich mein, wir sind hier geboren und wir sind mit der deutschen Kultur aufgewachsen und dann ist das ja so, als würde man Fragen an sich selbst stellen . Aber, also so typische Volkstänze, das wüssten wir jetzt beispielsweise auch nicht, solche Fragen, die wir auch nicht wussten, so typische Musik für die deutsche Kultur, das wussten wir auch nicht soviel sagen, das war halt immer Schlager, was die da so geantwortet haben, aber ich glaub, das meinte der damit, aber bei der anderen Kultur, da wussten wir jetzt ja nicht soviel . An die russische Kultur oder afghanische Kultur, da heben wir halt die meisten Sachen drüber erfahren . Mhmh. Und wir haben darüber aber die deutsche Kultur besser kennen gelernt, weil wir vorher gar nicht soviel wussten, ja. Ja, über die Feste wusste ich schon etwas, aber über die Feiertage ... ... ja, [unv .] Ich habe das von B deshalb erwähnt, weil ich das halt merkwürdig finde, dass ihr halt viel von euch wisst und im Unterricht müsst ihr dann Fragen an euch richten, das finde ich halt merkwürdig . Seht ihr das auch so? Ja, es war halt schon ein bisschen komisch, weil es waren halt immer die gleichen Fragen ... ... ja ... ... und jede Gruppe, die die deutschen befragen mussten, hatten alle die gleichen Fragen und dann ging es so weiter, jetzt seid ihr dran und wir hatten jetzt auch keine neuen Fragen mehr, so richtig, und dann haben die dann auch teilweise immer das gleiche geantwortet. Aber ich fand, da gab es schon ein paar Fragen, da fand ich, jeder hat schon ein paar Fragen gestellt,


Protokoll Gruppendiskussion 855

Sw2:

860

I:

865

Gruppe: Sw2 : Gruppe : 870

Sw2: Swl: SwO:

875

Swl :

SwO: Gruppe: 880

I:

305

die er nicht so wusste. Ich meine, ich wusste nichts über Volkslieder ... ... ja, das habe ich auch damit gemeint, dass wir halt versucht haben, Fragen zu stellen, die wir nicht wissen konnten, aber die konnten die auch nicht beantworten. Ja. Und dann hab ich den B gefragt: Warum hast du das denn nicht gesagt, warum hast du nicht gesagt: ich brauche keine Fragen zu stellen, ich weiß schon alles. Da hat der zu mir gesagt, ja, das ist ja Unterricht. lacht Ja, man will sich ja nicht gegen den Willen des Lehrers widersetzen ... .. . lacht. .. .. sag ich mal. Wenn der Lehrer das gerne machen möchte, dann macht man halt mit. Oder [unv.], dann gehst du eben auch in die Gruppe der Deutschen, oder? Joa Ja, ich mein das so: ich kenn mich da schon gut aus, dann würd' der Lehrer doch sagen, dann geh in die Gruppe mit J. oder? [unv.] lacht Ähm, ist das, was ihr dann im Unterricht erfahren habt, das, was euch interessiert, oder [unv .]

BANDSEITENWECHSEL Sw2: 885

Gruppe: Sw2:

890

SwO: Sw2: Sw3 : 895

Swl:

[ ... ]weil, weiß ich nicht, das war halt, mit der deutschen Kultur, das ist halt n bissehen unnötig. lacht Ja, weil wir wussten doch auch alles. Wir haben auch zum Beispiel gefragt, welche Feste feiert ihr, da kam dann: Ostern und Sylvester, ja, das wissen wir auch. Ja und auch das, was wir vorher an der Tafel aufgeschrieben haben, Feste, Religion, alles, was zur Kultur mitgehört, das wussten wir alles schon ... ... aber das mit den Volksliedern und Tänzen und so ... ... ja, das ... ... das wussten wir ja nicht ... ... ja, das wussten die ja auch nicht.


306

Anhang Sw3:

900

905

S,,2: S,,3 : S,,2: S,,3:

I:

S,,2:

910

Gruppe :

S"l : S,,2: 915

S,,3: 920

S,,2: S"l : 925

S"O :

930

S"l:

... ja, aber danach haben wir das doch erfahren. Zum Beispiel, warum feiert man Ostern. Ich hab's zwar jetzt wieder vergessen, aber (lacht) ... ... ja, hast du dir das jetzt nicht behalten? neo Ja, dann hat das ja vielleicht doch nichts gebracht. ja, ich mein aber in der Situation hat das viel gebracht, da habe ich schon etwas Neues erfahren über die deutsche Kultur ( ... ) ein bisschen. Ein bisschen. Und wenn ihr das hättet selber organisieren sollen. Wie hättet ihr das gemacht?( ... ) Ja, ich hätte mal jetzt halt die Kulturen, die halt fremd sind, sag ich mal, außerhalb der deutschen Kultur ... ... lacht(vereinzelt) ... .. ja, aber die russische Kultur war dir doch auch fremd ... ... ja, aber diese ständige Wiederholung, darum ging's mir jetzt, das waren ja schon vier, fünf Gruppen, die einen Fragebogen an die Deutschen erstellen mussten und das war ja dann halt immer wieder das Gleiche und immer wieder das Gleiche, das war unnötige Zeitverschwendung, würde ich sagen. Ja, man hätte es doch so machen können, das jede Gruppe zu einer Kultur einen kleinen Vortrag .... ... ja, das finde ich zum Beispiel besser .... ... ja, aber das Problem ist, dass die sich überhaupt gar nicht dafür interessiert haben, finde ich ... [unv .] ja, bei unseren Fragen, da war das halt voll komisch. Das Gleiche, was andere die gefragt haben, haben die uns dann gefragt. Genau dasselbe. Wir haben so gefragt, welche Feste feiert ihr und fühlt ihr euch als Deutsche, ja, und da haben die uns genau dieselben Fragen gestellt ... ... ja, genau so war's ...

[unv. ]

S,,2: S"O: S,,2: 935

... ja, das waren dann ja meistens islamische Feste . Und so afghanische. Ja, also ich hätte das gut gefunden, so wie E. das gesagt habt, eher eine andere Kultur als die eigene vorzustellen, finde ich irgendwie besser ...


Protokoll Gruppendiskussion Sw1: S"O: 940

S,,3 : 945

I: S,,2: I: S,,2: Gruppe :

950

S,,2 :

I: S,,2: 955

Gruppe:

S,,2:

960

I:

965

S,,2: Gruppe:

S,,2:

307

... Ja, aber das muss man doch nicht so machen .... ... Ja, ich glaube, da lernt man das vielleicht besser, denn dann lernt man halt so'n bissehen auswendig und da bleibt das . Zum Beispiel wissen wir ja jetzt überhaupt gar nicht mehr, was die Deutschen überhaupt gesagt haben . Ja, und ich hab' mir das auch gar nicht aufgeschrieben . Mhmh. Ja, das meinen wir jetzt ganz ehrlich. Bitte? Wir sind jetzt ganz ehrlich über das Thema . lacht Nein, ich mein, bei Herrn t. hätten wir jetzt ja nicht gesagt, was wir nicht gut fanden. Warum nicht? Ja, ich sag' jetzt mal, da hätte der Herr T. wahrscheinlich so'n bissehen verletzt darauf reagieren können, denn der hat sich das ja jetzt ausgedacht ... ... lacht ... ... ja, jetzt nicht direkt verletzt, aber der wird dann vielleicht auch denken, ja, ist denn jetzt alles, was ich jetzt mache vielleicht falsch. So im Unterricht. Vielleicht fand der ja die Aktion gerade ganz toll ( ... ) Also du meinst, du möchtest das Lehrerhandeln nicht weiter problematisieren, weil du Angst hättest, ihn soweit zu verstören, dass er nicht mehr klarkäme. Ja, teilweise ... ... kichert ... Ja, nein, nicht wirklich, aber ( ... )

[unv. ]

I: 970

I:

Sw4: I: 975

Geht euch das auch so?

[unv. ]

Gruppe:

S,,4:

Und wie seht ihr das? Genau so wie die K. Also, ihr macht mit, weil ihr sonst Angst habt, den Lehrer zu gefährden . Mh . .. . kichert. .. Ja, von der einen Seite schon, aber von der anderen glaube ich, wollen die Lehrer auch, dass die Schüler


308

Anhang

980

I: 985

Sw4: Sw2: Sw4 : 990

I: Sw4:

I: 995

Sw4:

1000

Sw2 :

1005

I: 1010

Sw4: 1015

1020

I:

daran interessiert sind, und wenn wir uns nicht dafür interessieren, dann, ja, macht das dem Lehrer auch keinen Spaß. Deshalb sollen wir dann ja auch sagen, was uns interessiert und was wir gerne machen wollen. Das, ja, das ist eine andere Seite. Ja und habt ihr denn da jetzt dann Fragen gestellt, die euch interessieren, in der Gruppe? Könnt ihr euch noch dran erinnern? Ja ... ... ja ... ... ja, eigentlich schon, ich hab' schon gefragt, was mich interessiert und wir haben auch alles erfahren, was wir wissen wollten. Wisst ihr noch, wie das ablief in den Gruppen in etwa? Öhm ... .. habt ihr noch ne Vorstellung? Also ihr habt eich zusammen gesetzt und dann? Wie ging es dann weiter? Wie seid ihr auf die Fragen gekommen? Wir haben untereinander gesprochen und miteinander diskutiert, was wir eigentlich wissen wollen und was wir aufschreiben sollen, was uns interessiert, was wir besonders spannend finden. Das war auch so auf der Tafel, da hatten wir zum Teil aufgeschrieben, was zur Kultur gehört und da hatten wir Musik. Gut. Dann haben wir Fragen über die deutsche Musik gestellt oder über Religion, also welche Frage kann man bezüglich deutscher Kultur und Religion stellen, das war dann halt eher so, wie wir an das Problem heran gegangen sind. Also gab es zwei unterschiedliche Strategien. Die eine war: ich guck an die Tafel, da seh' ich diese Begriffe und jetzt stell ich mit diesen Begriffen eine Frage und ihr habt euch gefragt, was interessiert mich denn eigentlich? Ja, zum Beispiel, wir sollten auch die Fragen an die deutsche Kultur stellen und, zum Beispiel die Frage nach der deutschen Musik, das wussten wir schon und das wollten wir eigentlich nicht wissen und deshalb haben wir dann eine andere Frage gestellt. Also ja, wir haben, ähm das, was auf der Tafel stand, also eigentlich nicht als Muster genommen, sondern, ja von uns selbst halt geschrieben. Ja. Mhmh .


Protokoll Gruppendiskussion Sw4: I:

1025

Gruppe : [

... ]

309

Ja, so war's. Ja, ich habe jetzt keine Fragen mehr . Vielen Dank an euch . Tsch端ss ...


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.