Albrecht Dornauer: Innsbruck, die toteste aller toten Hosen

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auszug #10

widerstand und wandel 70er Ăźber die 19

Albrecht Dornauer innsbruck, die toteste aller toten hosen

jahre in tirol


impressum Herausgeber: aut. architektur und tirol (www.aut.cc) Konzept: Arno Ritter Redaktion: Arno Ritter, Claudia Wedekind Lektorat: Esther Pirchner Gestaltung und Satz: Claudia Wedekind Grafisches Konzept und Covergestaltung: Walter Bohatsch, Wien Gedruckt auf Magno Volume 115 g Gesetzt in Frutiger Lithografie und Druck: Alpina Druck, Innsbruck Buchbindung: Koller & Kunesch, Lamprechtshausen © 2020 aut. architektur und tirol, Innsbruck © der Textbeiträge bei den Autorinnen und Autoren © der Abbildungen bei den jeweiligen Rechteinhabern Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in ­irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers ­reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme ­verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. ISBN 978-3-9502621-7-9

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.


Albrecht Dornauer innsbruck, die toteste aller toten hosen

Vergleicht man die Tiroler, aber auch die gesamtösterreichische Mu­­sik­ szene der Nachkriegszeit mit jenen der angrenzenden Nachbar­­län­der, fällt auf, dass es hierzulande einen eklatanten Mangel an Infras­truk­tur und an Vertrauen der Musikindustrie in das Verkaufspotenzial von Musik abseits von Klassik und Volksmusik gab. Auch existierten keine US-­ame­­ rikanischen Militärbasen, die anderswo meist dafür sorgten, dass mit den Soldaten auch die neuesten Entwicklungen der Popkultur über den Atlantik kamen. Österreich hatte eine „lange Leitung“, alles erreichte die Alpenrepublik mit regelmäßiger Verspätung von drei bis fünf Jahren. In Österreich gab es auch kaum Austausch zwischen Ost und West: Vor­arlberg orientierte sich an der Schweizer Szene, die gerade in Zürich stets recht zeitnah informiert war, Tirol und Salzburg bekamen die Neuig­keiten aus dem damals sehr aktiven München und in Kärnten lugte man über die Karawanken nach Norditalien. Der Rest Österreichs war vom Eisernen Vor­ hang umgeben, fokussierte sich auf Wien und damit oft auf sich selbst, was erklärt, warum wenige Produktionen jener Zeit den Sprung über die Grenzen schafften. „Weltberühmt in Österreich“ war schon damals eine karrierehemmende Bezeichnung. Dennoch war Wien als Hauptstadt Sitz der Musikindustrie, wo internationale und nationale Labels wie EMI Columbia, Philips, Decca oder der österreichische Branchen­krösus Amadeo ihre Agenten auf der Suche nach jungen Talenten in die Nacht hinausschickten. War die Information über neue Entwicklungen der interna­tio­ nalen Musikkultur einmal in Wien angekommen, brauchte es dennoch meist ein bis zwei Jahre, bis die Industrie das Vertrauen fasste, etwas aus Österreich zu versuchen, mit Betonung auf „versuchen“. Wirk­lich fördernd stand die Industrie nur hinter der Klassik und der Volksmusik. Nicht einmal das erfundene Genre „Austropop“ wurde bis Mitte der 1970erJahre wirtschaftlich ernst genommen. Die Tiroler Szene war in Wien ohnehin kein Thema, zu weit weg war Innsbruck mit seinem ein­zementierten Bild jodelnder, Lederhosen und Dirndl tragender Menschen samt zu­ gehöriger Alpenidylle. „Die Nazis waren schon weg und die Ausländer noch nicht da, deshalb haben sie halt uns mit den langen Haaren verdroschen.“ Alfred Pawlin, Wiener Beatmusiker bei Jesus H.C., wanderte 1971 nach Südostasien aus

In den 1960er-Jahren war Tirol kulturelle Einöde. Auch war ein ­ i­gener Stil generell nicht im Sinne der Zeit, vielmehr war gewünscht, dass e ­infolge der „British Invasion“ und der damit ausgelösten weltweiten


­ e­geisterung für Beatmusik alle Bands wie die Beatles oder Rolling Stones B klingen sollten, weil sich die Spielorte in der Provinz niemals die Originale hätten leisten können. Tiroler Bands konnten nur durch Flucht ins nahe Bayern reüssieren, zu Hause blieben ihnen nur die schon damals bestehenden Après-Ski-Lokale im Wintertourismus oder Auftritte in Tanzschulen. Den Schritt über die Grenze taten viele, am erfolgreichsten mit Veröffent­ lichungen in Deutschland, Jugoslawien und Spanien war die Combo The Boys. Auch die erste jemals produzierte österreichische Beat-LP ging auf das Konto dieser Gruppe, erschienen beim Münchner Label Inter­ national, das stets eine gute Anlaufstelle für junge heimische Musiker war. Als einzige andere Gruppe kamen The Venture Five im Ausland zu einem Plattenvertrag. Eine Single veröffentlichten sie mit eigenem Stil beim eben­falls in München ansässigen Label Juke Box, dann entdeckte das Groß­label Tempo die Band – und vorbei war es mit dem eigenen Style. Brave Coverversionen internationaler Hits waren, was der Markt verlangte. Alle weiteren Tiroler Bands mit klingenden Namen wie The Vampires, The Fools, The Playboys, The Firebirds, The Stone Beats, The Shakers, The Midnight Brothers oder auch The Rags schafften es zwar, mehr oder weniger regelmäßig aufzutreten, nicht aber den Schritt hin zu einer Recording-Karriere zu setzen. Es fehlte einfach an Infrastruktur, in Tirol

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The Boys (um 1964), die erfolgreichste Innsbrucker Beatband der 1960er-Jahre


gab es außer den auf Folklore und Volksmusik spezialisierten Kleinlabels Alpenklang, KSK, DiskOtone und Tyrola (später Tyrolis) keine Musik­ industrie. Nach der Rundfunkreform von 1967 mitsamt der Gründung von Ö3 änderte sich unter dem neuen Generalintendanten Gerd Bacher und ­seinem Team Grundlegendes. Bacher holte den Illustrator Erich Sokol an Bord, der dem ORF als einer der ersten Rundfunkanstalten eine Corporate Identity verpasste. In Wien war der neu aufgestellte ORF offen für kon­ troverse Produktionen, egal ob in Film oder Musik. Beispielsweise bezahlte man 1969 John Lennon und Yoko Ono ihren Stalker-Film „Rape“, in dem der Kameramann eine Frau durch die Stadt verfolgt und sie schließlich in einer Gasse in die Enge treibt. In den Bundesländern war das neue Pro­­ gramm zwar nicht so extrem, dennoch wehte auch dort langsam ein ­leichter Wind der Veränderung. Nach Plänen von Gustav Peichl wurden in allen Landeshauptstädten außer in Bregenz – es entstand in Dornbirn – neue Landesstudios gebaut. In Innsbruck wurde es 1972 fertiggestellt, Tiroler Landesintendant war ab 1967 Hans Hauser. Dieser war zwar bei Weitem kein Freund der jungen Rockmusik, ließ aber dennoch seinem U-Musikreferenten Hermann Egger relativ freie Hand. Egger holte sich mit Werner Pirchner, Halef Krug und Heinz Cabas drei freie Komponisten und Produzenten ins Studio, die im ORF-Zentrum am Rennweg sowohl mit dem ORF Studio-Orchester eigene Stücke aufnahmen als auch Produk­ tionen mit anderen lokalen Bands wie Isaiah oder Abu el Mot ­abwickelten. Die Freiheit der Komposition mussten die jungen Musiker teils teuer er­ kaufen. Wurden Titel nämlich verlegt, mussten 50 Prozent der Songwriting Credits für etwaige Tantiemenzahlungen abgetreten ­werden. Junge Bands waren mehr geduldet als aktiv gefördert, auch wenn für einige die erste professionelle Studioaufnahme einen Schub in ihrer Karriere be­ deutete. Die Öffnung der Gesellschaft machte auch vor dem ORF nicht halt und sorgte in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre nach einem Genera­ tionen­wechsel bei den Redakteuren rund um Othmar Costa und Wolfgang Praxmarer für Impulse zur allgemeinen Akzeptanz mo­der­ner Musik in E und U – in Ernster und Unterhaltungsmusik. Einen weiteren Impuls für junge Bands setzte ab 1969 der ORF, indem er regelmäßig österreichweit Talentwettbewerbe veranstaltete. Bei ­bundesweiten Regionalausscheidungen mussten sich die Bands für das im Fern­sehen übertragene Finale samt Profi-Jury qualifizieren. In sechs Folgen mit dem Namen „Showchance“ schaffte es einzig die Tiroler Gruppe Ima­­gination, überregionale Aufmerksamkeit zu wecken. Sendungs­­ver­ antwortlich für den Wettbewerb war die Innsbrucker Moderatorin Evamaria Kaiser. Sie förderte populärmusikalisch Begabte und ermöglichte den ­jungen Künstlerinnen und Künstlern auch öffentliche Auftritte. In­ sofern erfüllte Kaiser eine Pionierfunktion bei der Modernisierung des ORF, seiner Programm­gestaltung sowie seiner Rezeption. In den weiteren


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Jahren gab es aber ­keinen Regionalbewerb in Tirol, meist mussten Bands nach Vorarlberg oder Salzburg reisen, um bei den Ausscheidungen auf­ zutreten, was viele von der Teilnahme abhielt. Der Weg für junge Menschen zu einer Musikerkarriere abseits der Volksmusik war in Tirol ein besonders steiniger. Um ein Instrument zu ­lernen, gab es neben den Blaskapellen und dem klassisch orientierten Konservatorium als einzige moderne Musikschule nur das in Pradl ­be­heimatete Musikhaus Halef Krug. Der gut gebuchte Musiklehrer, Kompo­nist und Produzent Krug verschaffte nicht nur zahlreichen Inns­ bruckerinnen und Innsbruckern eine musikalische Grundausbildung, seine Schule war auch Arbeitgeber für verschiedene Jazzmusiker wie den Saxophonisten Joschi Binder oder den Gitarristen Edu Weber, die d­adurch von der Musik leben konnten. Hatte man als junger Musiker oder Musikerin das Instrument halbwegs im Griff, ging es in die einzigen Musikgeschäfte der Stadt, ins Tiroler Musikhaus oder zum Instrumentenhändler Stietzel, um für viel Geld Equipment zu kaufen. Die beiden Geschäfte waren gut ausgestattet, ­hatten stets modernste Instrumente wie später auch Keyboards und Syn­ thesizer im Angebot, für Teenager allerdings zu unerschwinglichen Preisen. Der einzige Ort der Stadt, an dem es Instrumente zur kostenlosen und freien Benutzung und Proberäume gab, war das Jugendzentrum MK. Einer dieser zwei Räume im Keller des Kennedy-Hauses in der Sillgasse war von der Hausband The Rags besetzt, der andere stand jedoch allen offen und war auch mit Instrumenten ausgestattet. Nebenan im CIK, dem Club im Keller, mitsamt seiner kleinen Bühne wurden erste Auftrit­te vor Publikum ermöglicht. The Rags waren die Stars der MK, auch wenn sie ebenfalls ohne Plattenvertrag blieben. Aus ihnen ent­wickelte sich Anfang der 1970er-Jahre die Blues-Rock-Gruppe Spurius Forum. Bassist Volkmar Wirth erinnert sich, dass in der MK unter der Leitung von Sig­mund Kripp alle jungen Menschen willkommen waren, auch wenn sie wie er dem ­protestantischen Glauben angehörten. Als ­ein­zige, jedoch will­kommene Pflicht galt es, die im Innenhof der MK ­abgehaltenen Messen rhythmisch zu untermalen. Sogar „All You Need Is Love“ von den Beatles war dabei erlaubt, undenkbar im Rest von Tirol. Rockmessen mit Bandbegleitung waren in Deutschland schon früh in die Kirchen eingezogen. Als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils, das zwischen Oktober 1962 und Dezember 1965 die Grundfesten der immer noch stark konservativen Kirche aufweichte, wollten sich die ­Pfar­ren den jungen Menschen öffnen. Die Bewegung einer neuen Kirche, die offen auf junge Menschen zuging und Antworten auf aktuelle Fragen der Zeit anbot, hatte in Innsbruck in der MK ihr Zentrum. Auch an anderen Orten des christlichen Österreich rumorte es in der Kirche, wo ­gläubige Jungchristen und Jungchristinnen für ihre Vision einer offenen Kirche kämpften. So veröffentlichte Kaplan Manfred Schwarz, ein Wiener


Prediger und Musiker, in den frühen 1970er-Jahren die zwei kämpferischen Alben „Meine Waffe ist die Gitarre“ und „Lieder zum Nach­denken“, auf denen er offen Drogen, Krieg und Glaubensverlust the­ma­tisierte. In der Band rund um den kritischen Kaplan findet sich auch einer, der später ein Großer des Austropop werden sollte – Georg Danzer, der auf dieser LP zum Xian-Rock noch wilde Fuzz-Gitarrensoli beisteuerte. Xian kommt als Genrebegriff aus den USA und summiert Musik unter dem christ­lichen Kreuz, wobei das X das Kreuz Christi symbolisiert – Christian Rock also. Der Einfluss der katholischen Kirche auf die Plattenindustrie war in Österreich weit subtiler und geringer als bei den bundesdeutschen Nachbarn, wo eine Vielzahl an Labels, Musikverlagen und Notenbuch­händlern entstand. Musiker wie Peter Janssens oder der aus Nicaragua stammende Sandi­ nisten-Pfarrer und Poet Ernesto Cardenal verbreiteten ihre Ideen einer ­sozialistischeren Kirche in „Beat Oratorien“. In Österreich fanden Entwicklungen, wie bereits erwähnt, stets mit einigen Jahren Verspätung statt, dennoch fanden sie statt, so auch bei Kirchen und röhrenden Gitarren: In Oberösterreich mit der unglaublichen Pfarrheim-Psychedelic-Band The Hush, in Kärnten mit den Hippie-Christen von der Art Boys Collection mit ihrem Radio-Hit „Jesus Said“ und in der Steiermark mit der Band The Skin und den von Vertretern der Grazer

Plattencover „Meine Waffe ist die Gitarre“ von Kaplan Manfred Schwarz, veröffentlicht 1974 auf Gerhard Bronners Label Unikum


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Musikuniversität eingespielten „Grazer Messen im Jazzstil“ gibt es Ton­ träger-Belege einer aktiven, jungen christlichen Musikszene, die Ideale der amerikanischen Hippiebewegung im Glauben fand. Frieden und als En­t­ haltsamkeit getarnte Kapitalismuskritik, Sozialismus, Gleichbe­rech­ti­gung wie auch Nächstenliebe im übertragenen Sinn sind Anknüpfungs­ punkte und Parallelen. Es gab zwar keine Hippies Ende der 1960er-Jahre in Österreich, dafür aber moderne Christen und Christinnen – die Hippies kamen erst Jahre später. In Tirol endete das kurze Intermezzo 1973, als Bischof Rusch Sigmund Kripp absetzte und die offene Jugendarbeit der Jugendzentren MK und z6 beendete. Internationale Rückendeckung erhielt er für seinen konservativen Kurs direkt aus dem Vatikan. Auch ­andernorts wurden zur selben Zeit kritische Geister aus der Glaubens­ gemeinschaft suspendiert, entlassen oder ausgeschlossen. War es schon zu Zeiten des Bestehens der Proberäume im Kennedy­ Haus für viele junge Bands fast unmöglich, Proberäumlichkeiten zu finden, so wurde es nach 1973 noch schwieriger. Oft war der elterliche Keller das einzige Refugium, in dem kreative Energie in Musik umgesetzt werden konnte. Die bluesige, rockende, progressiv-kosmische Gitarrenmusik samt ihrer Aura von Freiheit schwappte in Form von Schallwellen über die Berge. Schallplatten internationaler Musik gab es nur beim am Sparkassen­ platz beheimateten Fachgeschäft Tarfusser, vereinzelt auch beim mehr auf Klassik spezialisierten Einselen. Diese beiden Läden waren Anlaufpunkte der Jugend, wo die oft zuvor auf Kassetten mitgeschnittenen Lieder als Schallplatte gekauft werden konnten oder man auch über kommende Konzerte informiert wurde. Alle paar Monate verwandelte sich der Stadtsaal in einen Ort von Gleichgesinnten, die – oft am Boden sitzend – dem auf der Bühne Gebo­te­ nen huldigten. Als einziger Multifunktionssaal der Stadt, der nach kurzer Erläuterung des Vorhabens mietbar war, traten junge private Veranstalter wie Rudi Weithas und Klaus Thomann an, um Innsbruck mit KrautrockKonzerten von Ash Ra Tempel und Amon Düül für einen Moment in ­un­­bekannte Sphären zu versetzen. Andere Konzerte wurden über kleine, in Ober­­österreich und Vorarlberg tätige Konzertagenturen organisiert. Lokale Bands durften ab und an als Support Act den Abend eröffnen und somit für ein paar Stunden die Bühne oder den Backstage-Raum mit Vorbildern teilen. Die Stars der lokalen Szene, die Prog-Jazz-BluesrockStudentenband Isaiah, spielten vor den großen Nazareth und den Eng­ ländern von Man, die Pioniere der Szene, Spurius Forum, zusammen mit den Schweizer Progressivlegenden Krokodil, die Schwazer Supergroup Trust rund um Werner Egger vor Chicken Shack. Die anderen Konzertorte der Stadt, das Olympiastadion oder das Kongreßhaus waren zwar prin­ zipiell auch zu mieten, jedoch nicht leistbar. Nur die großen Konzerte des Jahrzehnts, die legendären Auftritte der Rolling Stones, von Emerson, Lake and Palmer und Ike & Tina Turner fanden dort vor großem Publikum statt.


Plakat für ein Konzert des Spurius Forum. Die Bluesrock-Pioniere Innsbrucks hatten ihren Proberaum in der MK und gaben regel­ mäßige Konzerte im benachbarten Club im Keller, kurz CIK.

Um als Band überhaupt auftreten zu können, bedurfte es zu jener Zeit einer eigenen Anlage mitsamt eigenen Lautsprecherboxen, Mikro­ fonen, Verstärkern und einem Mischpult. Veranstaltungsräume waren in ganz Tirol nicht auf die Bedürfnisse junger Bands ausgerichtet, auch gab es zu der Zeit keine einzige Verleihfirma für Equipment. Man konnte sich zwar kurzzeitig Instrumente „zum Probieren“ in den Musikhäusern leihen,


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Flyer für das Konzert von Ash Ra Tempel und Klaus Schulze, veranstaltet am 9. Juni 1973 von Rudi Weithas

für eine ganze Konzertausstattung gab es jedoch keine Bezugsmöglichkeit. Die Anschaffung einer Anlage war so kostspielig wie unerlässlich. Isaiah beispielsweise kaufte über Kontakte zur Linzer Band Eela Craig gar die Probeanlage von Pink Floyd, auf der die großen Helden vor ihrer Tour geübt hatten. Was für eine Motivation für die jungen Musiker! Weltweit reüssierten Bands wie Genesis, Yes, Emerson, Lake and Palmer, Jethro Tull und nicht zuletzt Pink Floyd in vollen Konzerthallen, während man sich hierzulande gerade einmal mit dem Austropop als Schnittmenge zwischen Liedermachern und modernem Schlager angefreundet hatte. Das Vertrauen der in Wien ansässigen Labelmanager in heimische Bands war gering. Man ging wenige Experimente ein und inves­tierte kein Geld in die kaufkraftarme Jugend. In Deutschland formierte sich um Bands wie Kraftwerk, Can und Amon Düül der Krautrock, in Italien dominierte der Progressive Rock den Geschmack der Jugend ­abseits der lieblichen Popwelt und Diskotheken. Wenn in Österreich etwas möglich war, dann wie so oft durch persönliche Kontakte.


Tirols Musikverleger sahen im gerade aufkommenden volkstümlichen Schlager à la „Zipfl eini, Zipfl aussi“ mehr Potenzial als in jungen Lang­haarigen, die nicht einmal auf Deutsch sangen. Die heutigen Branchen­riesen Tyrolis in Zirl und Koch Records in Elbigenalp standen am Anfang ihrer Firmengeschichte. Beide Labels waren maßgeblich am Aufbau und der Entwicklung der deutschen Schlagerszene mit all ihren Licht- und Schattenseiten beteiligt und richtungweisend. Koch Records wurde über die Jahrzehnte ein weltweiter Player auf dem globalen Musikmarkt. Nicht nur wurde Elbigenalp ein Zentrum der europaweiten CD-Produktion auf höchstem Qualitätsniveau, sondern Franz Kochs Sohn Michael Koch ­gründete 1987 auch eine US-Tochterfirma des Labels, die in der Folge Künstler wie den Wu-Tang Clan, The Prodigy, Snoop Dogg oder 2Pac unter Vertrag nahm und 2002 schließlich vom Major-Label Universal um viele Millionen aufgekauft wurde. Für Bands abseits des Humpta-Humpta blieb da anfangs wenig Platz und Verständnis. Trotz dieser widrigen Umstände und der Nichtexistenz einer Platten­ industrie abseits der Volksmusik schafften es vier Bands der 1970er-Jahre, ihre Spuren auf Tonträgern zu hinterlassen. Future Dream aus Fieberbrunn finanzierten sich 1974 selbst die Pressung einer Kleinauflage, indem sie sich bei Franz Koch einmieteten. Abu el Mot rund um den heutigen Lite­­ raten und Schriftsteller Heinz D. Heisl hatten Glück: Zwei rhythm-andbluesrocklastige Singles wurden von Tyrolis als später und kurzfristiger ­

Tragtasche des Schallplattengeschäfts Tarfusser am Sparkassenplatz, heute Musikladen

Plakat für ein Konzert der Band Isaiah am 10. Dezember 1974 im ­Stadtsaal Innsbruck


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Versuch, in den Pop einzusteigen, veröffentlicht. Bald nach Veröffentlichung der zweiten Single 1978 löste sich die Gruppe auf, Heisl und Bandkollege Mike Moll zog es nach München, wo sie die New-Wave-Band Intimspray gründeten, die international die erfolgreichste NDW-Band Österreichs werden sollte. Die einzigen Bands, die stur ihre Vision pro­gres­ siver Musik abseits der Songs von zwei bis drei Minuten verfolgten und auch Platten veröffentlichen konnten, waren die Landecker Band Klock­ werk Orange und die Innsbrucker Studentengruppe Isaiah. Beide Kapellen nahmen 1974 fast zeitgleich ihre Debütalben auf, die heute als rare Exemplare einer in ganz Österreich unterrepräsentierten Zeit gelten – der Prog-Rock-Jahre. Isaiah setzte sich aus Studenten zusammen, Sänger Gerd Raabe und Schlagzeuger Walter Reschauer kamen aus Oberösterreich, Keyboarder Hubertus K. Nolte aus Dortmund und Saxophonist Mike Bornhorst gar aus den USA. Bassist Hans Gasser und Guitarrero Edu Weber stammten aus

Abu El Mots Debütsingle „America / Rattlesnake’s“ auf Tyrolis Pop, veröffentlicht 1976 linke Seite: Auszug aus Hermann Delagos Diplomarbeit (1980), dem „Tiroler Popmusik-Report der 70er Jahre“


CBS Bestsellers, 1975

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Innsbruck. Die Band probte in einem Keller der Technischen Universität und besaß eine eigene Anlage, die wie erwähnt zuvor im Besitz von Pink Floyd gewesen war. Durch persönliche Kontakte in Oberösterreich ­gelang es der Band, sowohl einen Plattendeal mit CBS auszuhandeln als auch bei den Österreichtouren von Nazareth und Man als Support-Band auf­ zutreten. Sogar in Peter Rapps Fernseh-Popshow „Spotlight“ wurden sie eingeladen. Durch die von Leadsänger Raabe gespielte Querflöte ­er­innerte ihr Sound an die frühen Jethro Tull. Wäre das Album drei bis fünf Jahre früher auf den Markt gekommen, hätte es perfekt den inter­nationalen Zeitgeist getroffen. So passierte, was in Österreich oft passierte. Als die Band ihr zweites Album eingespielt hatte, das sich um einiges verschrobener als ihr Debüt gestaltete, verweigerte das Wiener Label die Ver­öf­fent­ lichung. Zu wenig Pop sei das und nicht verkaufbar, mehr so wie Wolfgang Ambros sollte es klingen. Da die Gruppe durch einen Ver­trag auf Jahre ­gebunden war, die Band aber Änderungen an ihren Songs kategorisch ablehnte, war es unmöglich, als Isaiah weiter Musik zu ver­öffentlichen. Die Band löste sich auf, die Musiker verließen nach Studien­ende die Stadt oder kehrten der Musik den Rücken. Auch außerhalb der Stadt röhrten die Gitarren. In Freundeskreisen rund um Bands bildete sich eine kleine Szene, die treu ihre Band zu Konzerten begleitete. Gruppen mit klangvollen Namen wie Plasma, Lucas Hund, Krakatao, Arban, Gash, Fennymore, Future Dream, Trust oder Target (später No Bros) sorgten in Imst, Inzing, Telfs, Zirl, Schwaz, Fieberbrunn, Wörgl oder Kufstein dafür, dass sich auch im länd­lichen Bereich die junge


Generation ihren Platz in der Öffentlichkeit ­erkämpfte und durch Eigeninitiative die kulturelle Unterversorgung ver­ringert werden konnte. „Wir wollen Musik machen, die einen möglichst großen Kreis anspricht und trotzdem kein Kommerz ist, nicht primitiven Rock, aber auch nicht Klassik. Abwechslungsreich sollte es vor allem sein.“ Hermann Delago 1975 im Kurier-Interview

Delago, der in seiner Schulband Satisfaction of Night noch an der Seite des heutigen Tiroler Landeshauptmanns Günther Platter den ­el­ter­lichen Stadel in Zams mit Deep-Purple-Riffs gerockt hatte, bekam im ­Ober­land eine Postwurfsendung des gerade frisch eröffneten Ton­studios Koch in Elbigenalp in die Hände. Dort konnte man bei Gründer und Studio­techniker Franz Koch aufnehmen, was auch immer man wollte, Haupt­sache man bezahlte die Studiomiete in der Höhe von 17.000,– ­Schil­ling (entspricht 2019 rund 4.500,– Euro), was damals viel Geld war. Mit ­seinen Bandkollegen kratzten die vier in der Gegend von Landeck ­lebenden Teenager nach den Sommerjobs all ihr Erspartes zusammen und leiste­ten sich eine mehr oder weniger professionelle Aufnahme. Franz Koch war ­damals selbst noch neu im Gewerbe und vor allem auf die

Klockwerk Orange, Landecker Band rund um Hermann Delago (re.), 1974


Satisfaction of Night im elterlichen Stadel in Zams, 1970, Vorgängerband von Klockwerk Orange mit dem späteren Landeshauptmann Günther Platter am Schlagzeug und Hermann Delago (re.) an der Gitarre 64 65

Isaiah und die englische Rockgruppe Nazareth backstage im Innsbrucker Stadtsaal am 19. September 1974


­ uf­nahme von Volksmusik vorbereitet, was dem im Winter 1974 ein­ A gespielten Album „Abrakadabra“ einen authentischen Outsider-Touch ­verlieh. Das Schlag­zeug ist in den epischen 15-minütigen Songs samt ­sym­phonischen Mello­tron- und Keyboard-Soli kaum zu hören. Niemand wusste, wie man es bes­ser hätte aufnehmen können, und das beim Band­ namen Klock­werk Orange, der sich mehr auf das Schlagen (= Klocken) auf etwas Oranges ­be­zog als auf den gleichnamigen Film. Nachdem sich erste Kon­takte zum Label Bellaphon zerschlugen, fuhr der vom Genius des Werks überzeugte Bandleader Delago persönlich mit den Aufnahmen in der Tasche im Zug nach Wien und wurde ohne Termin beim Österreich­ ableger des weltberühmten Columbia Broadcasting System, kurz CBS, ­vorstellig. Er schaffte es, die Zuständigen zu überzeugen, die Produktion zu über­nehmen. Nachdem die Aufnahmen immerhin schon auf eigene Kosten angefertigt waren, war das finanzielle Risiko für CBS überschaubar. Die ­tausend Stück Auflage wurden geteilt, die Hälfte bekam die Band für die geleistete Vorarbeit und ihre finanzielle Beteiligung. Die LP ist heute ein weltweit gesuchtes Samm­ler­stück und von internationalem Interesse. Bis zu 1.500,– Euro werden bezahlt, wenn die seltene Pressung alpin-­psychedelischer Musik zum Verkauf steht. Globale Blogeinträge ­finden sich auf Japanisch, Spanisch, Italienisch, Thailändisch und natürlich auch auf ­einigen englischsprachigen Webseiten. Wenn die Band in den 1970er-Jahren auftrat, war dies um einiges ­weniger international, aber dennoch nicht unspektakulär. Sie projizierte mit Dias Bilder und Muster an die Wände, setze ein sich drehendes, buntes Glasprisma für Lichteffekte ein und verfeinerte die psychedelische Wahr­ nehmung der Musik durch unter der Bühne verbrennenden Unkraut­ver­ nichter, der den gleichen Effekt erzeugte wie Trockeneisnebel bei großen Bands: künstlicher Bühnennebel, der nicht aufsteigt, jedoch die Bühne in eine mystische Rauchwolke kleidet und obendrein noch alle Anwesen­den leicht vergiftet. Konzerte von Klockwerk Orange fanden ausschließ­lich in Tirol statt, nie schaffte man den Sprung über die Landesgrenze. Meist passierten die Konzerte im Austausch mit anderen Bands an anderen Orten Tirols. So spielte man zusammen mit den Schwazer Trust oder Isaiah, die eingeschworene Fan-Clique begleitete sie dabei. Neben den Bands sorgten unbeirrbare Idealisten wie der autonome Kufsteiner Wühlmaus-Club oder die Schwazer Jazzenklave Ere­­mitage für ein regelmäßiges kulturelles Angebot, das sich sonst oft nur im Priva­ten abspielte. Beide Initiativen waren bei Weitem innovativer und radikaler als das in Innsbruck gebotene Kulturprogramm und dienten als Katalysatoren auf verschiedenen Ebenen. Die Wühlmäuse sorgten ab 1974 für ein ­regelmäßiges Konzert- und Workshop-Programm und rüt­telten in öffent­ lichen Lesungen und Debatten sowie per Flugzettel an Grund­festen des bisherigen Lebens in Kufstein. Nachdem bis 1977 die ­öffentliche Stimmung gegen die jungen Aufwiegler zugenommen hatte, wurde ihnen per


Gemeinderatsbeschluss die Benutzung aller öffentlichen Räume unter­sagt. Die Gruppe kämpfte aber im „Gasthaus-Exil“ für einen selbst­­ verwalteten Raum weiter, der ab 1979 Wirklichkeit wurde. Bis 1985 waren die Wühlmäuse aktiv. „In diesem Verein verkehren auch Ausländer. Das kann nicht im Interesse der Eltern sein, deren Kinder dort ihre Abende verbringen.“ Unterschriftenaktion gegen den Schwazer Jazzclub Eremitage

In Schwaz gab es bereits einen Jazzclub. Anfangs hatte die besorgte Schwazer Bevölkerung noch das vermutete Böse des Jazzkellers mit Unter­schriftenaktion und Kampagnen zu verhindern versucht, war damit aber gescheitert. Die Eremitage bot ab 1974 rund um den Fotografen, Journalisten und ­späteren „Haus der Völker“-Museumsgründer Gert Chesi, den Veranstalter von Konzerttouren, Produzenten und Musikmanager Thomas Stöwsand und die Lokalbetreiber Joe Härting und Leo Schendl ein für Österreich einzigartiges Konzertprogramm. Dafür verantwortlich waren die Kontakte des nach Schwaz gezogenen deutschen Jazzmusikers und Journalisten Stöwsand, der eng mit der Münchner Jazzszene rund um die stilprägenden Künstler von ECM (Edition of Contemporary Music) und JAPO Records ver­bun­den war. Viele der Europa-Touren starteten in Schwaz oder wurden ­zumindest für einen Abend in die Eremitage geleitet. 66 67

Plattencover „Black Magic Nr. 1“, Beispiele ­afrikanischer Musik, aufgenommen von Gert Chesi, 1972


Schwazer September, veranstaltet von der Eremitage am 6. September 1975 mit Isaiah, Klockwerk Orange, Wolfgang Ambros, Gash, Taboo und Inroad

Über 900 geladene Gäste zählte man zum 25-Jahr-Jubiläum, darunter ­illustre Namen wie Chick Corea, Jan Garbarek, Ornette Coleman, Gilberto Gil, McCoy Tyner, Charlie Haden, Ralph Towner, John Abercrombie, John McLaughlin, Bill Frisell oder John Scofield. Neben intimen Konzerten für knapp hundert Besucher spielten manche im Anschluss unter günstigen ­finanziellen ­Be­dingungen in Innsbruck. Auch größere Schwerpunkte, die heute wohl als Festival beworben würden, wie die Reihe „Schwazer September“ zogen ein Publikum an und sorgten langsam für eine wachsende Akzeptanz des ehemaligen Erdäpfelkellers, dann Jazzclub. Gert Chesi hatte sich in den 1970er-Jahren bereits weitestgehend aus dem Organisationsteam zurückgezogen. Durch einige pro­vokante Aktionen blieb für Jahrzehnte der Ruf eines Enfants terribles und Bürgerschrecks an Chesi hängen. Bereits Ende der 1960er-Jahre war


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Chesi durch seine Fotoserie über das letzte Lebensjahr von Friedensnobel­ preisträger Albert Schweitzer in Gabun zu einem international gefragten Fotoreporter mit Fokus Afrika geworden. Parallel dazu begann er in der Tradition der anthropologischen Fieldrecorder wie Alan Lomax auf ­seinen Reisen mit Magnettonband Gesänge und traditionelle Musik auf­ zunehmen. Zwei „Black Magic“-LPs veröffentlichte Chesi, der Sammler ­afrikanischer Klänge und Kunst 1972 und 1974 bei seinen Heimatbesuchen in Schwaz. Während seiner ausgedehnten Reisen, bei denen er große Teile seiner ab 1995 im Weltmuseum Haus der Völker (heute Museum der Völker) gezeigten Sammlung ritueller Artefakte zusammentrug, gab sich in seinem Heimatort die internationale Jazzszene die Klinke in die Hand und war begeistert von der sich durch Chesis Reisefotografien öffnen­den unbekannten Welt. Größen wie Abdullah Ibrahim, Mal Waldron oder das Art Ensemble of Chicago verwendeten Fotos von Chesi für ihre Platten­cover: die weite Welt, vermittelt in der Enge der Tiroler Berge und auf Tonträgern wieder in die weite Welt getragen. In Innsbruck gab es wenig Vergleichbares. Nächtliches Ausgehen war kein Zuckerschlecken, denn es passierte ab und an, dass man mit längeren Haaren in der Innenstadt verprügelt wurde, wie sich Isaiah-Sänger Raabe erinnert. Die Auswahl an Lokalen war überschaubar, Orte mit Livemusik waren nach den Beat-Jahren verschwunden, Disk Jockeys aus Johnny Hills DJ-Schule bespaßten fortan das Publikum. Wenn man nicht in die teuren Nachtclubs Scotch oder Clima gehen wollte, gab es Anfang der 1970er-Jahre als gesellschaftlichen Höhepunkt die Fahrt zum Würstelstand in Hall, der bis zwei Uhr Früh geöffnet war. Bis 1973 existier­ ­te neben der MK der Uptown Jazz Saloon in der Schneeburggasse 31 in Hötting, wo sich ­wöchentlich um Pirchners Jazzfusion-Band Blutgruppe

Uptown Jazz Saloon in der Schneeburggasse 31, Innsbruck


Autogrammkarte des Münchner Labels ECM für das JazzZwio Werner Pirchner und Harry Pepl, 1983

Null die Fans der unorthodoxen Jazzmusik sammelten. Der Jazzsaloon ­fungierte dabei als musikalisches Versuchslabor, als Probe- und Freiraum, der von den Musi­zie­ren­den auch an Schließtagen genutzt werden konnte. Unterstützt wurde der im Keller des Gasthauses Goldener Bär gelegene Club dabei von Kultur- und Schulstadtrat Arthur Haidl, der den Musikern sogar eine wöchentlich bar ausgezahlte Förderung und damit ein kleines Ein­kommen zukommen ließ. Haidl war es auch, der dem engagierten Tontechniker Hanno Ströher ermöglichte, den Stadtsaal bei Leerstand als Aufnahmeraum zu nutzen. Der in Wien geborene Autodidakt konnte dort mit natürlichem Stereo­hall experimentieren, noch bevor es einen Effekt dafür auf dem Markt gab. Ströher eröffnete um 1970 sein eigenes Tonstudio in der Uferstraße, das erste moderne Privatstudio der Stadt. Dort konnte der Freundeskreis des Uptown Jazzsaloon rund um Pirchner, Bert Breit, Heinz Cabas, Peter Mayrhofer, Christine und Florian Pedarnig, Dieter Merth oder Joschi Binder mit einem experimentierfreudigen Techniker arbeiten. Ströher erwarb sich schnell einen ausgezeichneten Ruf und war bald einer der profilier­te­s­ ten Studiobetreiber des Landes. Über Jahre entstand Material, das Pirchner 1973 mit seinem im Eigenverlag veröffentlichten Debüt „Ein ­halbes Dop­ pel­­­album“ auf die Welt losließ – eine dadaistische Jazz­provo­ka­tion für die Bürger- und Bäuerlichkeit, die Pirchner neben viel Ehr’ auch viel Feind’ ­bescherte. Der „Zappa von Tirol“ strapazierte die Gehör­gänge mit seinem


Plattencover, Live-Konzert des JazzZwio Werner Pirchner und Harry Pepl beim Jazzfestival in Montreux, veröffentlicht 1981 auf WEA

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Spagat zwischen E- und U-Musik, gemischt mit Ele­menten und Fragmenten der traditionellen Volksmusik, gespielt auf locker improvi­sierende zeit­ genössische Jazzart. Zusammen mit Kameramann Christian Berger produzierte er im Auf­ trag des ORF den Film „Der Untergang des Alpenlandes – Part One“, einen Skandalfilm erster Güte. Als satirischer Kurzfilm rüttelt der 1974 präsentierte moderne Heimatfilm an vielem, was dem Tiroler zu jener Zeit heilig war. Pirchner erhält in der an Monty Python erinnernden Collage von Gott den Auftrag „das heilige Landl“, den alpinen Garten Eden sauber zu halten. An der Aufgabe scheitert er im Film hochkant und wird nach der Besudelei der Heimat von Gott zum Selbstmord durch Sprung in einen kalten Bergsee gedrängt. Um einem ähnlichen Urteil im echten Leben zu entgehen, entwuchs Pirchner der Innsbrucker Szene und internationa­ lisierte seinen Arbeitsschwerpunkt. Regelmäßige Jamsessions mit den in Europa tourenden Jazzern waren für Werner Pirchner willkommene Abende, um sein Vibraphonspiel zusammen mit einigen der besten Musiker des Genres präsentieren und weiterentwickeln zu können. Durch den Austausch mit der süd­ deutschen Szene machte sich Pirchner schnell einen Namen und veröffentlichte ab 1980 einige LPs in wechselnden Konstellationen, vor allem im JazzZwio mit Harry Pepl sowie mit Adelhard Roidinger, Leszek Zadlo und Jack DeJohn­­ette. Verschiedene Labels wie Mood Records, EGO und letztlich ECM verlegten Pirchners Musikprojekte für den deutschen und


­ uropäischen Jazzmarkt und sorgten für eine internationale Karriere mit e Auf­tritten bis zum renommierten Jazzfestival in Montreux 1981. Fast immer mit dabei war Hanno Ströher, der Leib-Tontechniker Pirchners, der genau verstand, worauf es bei einer modernen Jazzaufnahme ankam. Auch in Wien öffneten sich mit seinem in weiterer Folge langjährigen Partner, dem Wiener Gitarristen Harry Pepl, viele neue Kontakte, die in den 1980er-­Jahren das Schaffen Pirchners begleiten sollten. Der Schritt über die Grenze nach Deutschland war auch für andere österreichische Jazzer wie Fritz Pauer der einzig mögliche. In Österreich war der Zenit des Erreichbaren absehbar, gleich wie im Rock gab es keine eigenen Labels und kein Vertrauen der Manager der arrivierten Großlabels in Jazz. Wenn Jazziges veröffentlicht wurde, war dies meist antiquierter Dixieland – Musik, die an vergangene Zeiten erinnerte, nirgends aneckte und eine saturierte Altersschicht an Käuferinnen und Käufern ­ansprach. Innsbruck war 1973 die „toteste aller toten Hosen“, wie sich Henner Kröper erinnert. Der Uptown Jazzsaloon schloss seine Pforten und Bischof Rusch beendete den Freiraum des Jugendbiotops MK. Nachdem beide Kulturorte wegfielen, gab es nur mehr rein studentische Trinklokale, von denen die Tangente noch mit der anspruchsvollsten Hinter­grund­musik ­hervorragte. Von einem Ort wie der Eremitage konnte man nur träumen.

Plakat für das Konzert des Wiener Art Orchester am 23. Oktober 1978 in der Messehalle Innsbruck im Rahmen der von Henner Kröper veranstalteten Serie „Jazz-Live“

Plakat für das Konzert von Archie Shepp am 24. Februar 1977 im Raiffeisensaal Adamgasse im Rahmen der von Henner Kröper veranstal­ teten Serie „Jazz-Live“


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In dieser Tristesse eröffnete Kröper 1974 zusammen mit ­anderen Studen­­ ten in der Altstadt, im Haus des heutigen Prometheus, einen Jazzclub, der anfangs gar nicht als Musiklokal gedacht war. Vielmehr war geplant, einen Ort des Rückzugs zu haben, an den man gehen und sich zu Beginn nur Kröpers Plattensammlung anhören konnte. Im Urbs Antiqua trafen sich Gleichgesinnte, jedoch zog der Freiraum auch bald die Drogenszene der Stadt an, was für das Lokal nach kurzer Zeit fast das Aus bedeutete. Durch die Änderung des Konzepts wurde das als Drogenzentrum Tirols ­verschriene Gewölbe in der Hofgasse 2 ein Mitglieder-Club, wodurch unerwünschte Gäste des Hauses verwiesen werden konnten. Der Verein zur Pflege von Musik, Laientheater und Malerei, umgangssprachlich Jazzkeller genannt, war gegründet. Gern gesehen war die lokale Jazzriege rund um Werner Pirchner, Oscar Klein, Günther Pollack und Peter Mayrhofer, die den Keller bald für Sessions in Beschlag nahmen. Angetrieben von der Suche nach der Intensität eines Live-Jazz-Erlebnisses und der Einladung ­internationaler Jazzer über Konzertveranstalter Stöwsand war es Kröper, der mit seiner Veranstaltungsreihe „Live-Jazz“ dafür sorgte, dass einige der innovativsten und stilprägendsten Musiker auch in Innsbruck Halt machten. Archie Shepp, Yusef Lateef, Ornette Coleman, Woody Shaw, Art Blakey, Gil Evans, Albert Mangelsdorff, Hannibal Marvin Peterson oder Art Farmer gastierten im Innsbrucker Raiffeisensaal, dem Stadtsaal oder in seltenen Fällen, wie bei den jährlich veranstalteten Jazztagen, sogar im Kongreßhaus. Die Veranstaltungen wurden über persönliche Kontakte, mit finan­ ziellem Risiko und viel Idealismus ermöglicht und sie waren immens ­wichtig, um in Innsbruck ein Publikum aufzubauen und zu erziehen. Aus den Fans von heute werden die Kulturtreibenden von morgen, so auch Ende der 1970er-Jahre, als sich eine neue Generation erhob, um die neuen internationalen Strömungen des Punk, New Wave, Art Rock oder Fusion Jazz auch in Innsbruck ansässig zu machen. Neue Orte brauchte die Stadt für ihre Jugend. Das KOMM, das AKT, das Treibhaus, das Utopia, das Haus am Haven waren jene Zentren, die in den 1980er-Jahren den Zeitgeist in die Stadt brachten und öffentlichen Diskurs anstießen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die 1970er-Jahre ein Jahr­ zehnt unermüdlicher Idealisten und Idealistinnen waren, in dem sich langsam Infrastruktur aufbaute und sich über oft persönliche Kontakte und Vernetzungen auch Möglichkeiten für lokale Musiker und Bands auftaten, ohne dass sie wegziehen mussten. Vor Ort waren es oft private Einzel­ initiativen, die das kulturelle Angebot bestimmten und damit den Horizont einer sich ohnehin im langsamen Umbruch befindlichen Ge­sellschaft er­ weiterten. Die 1970er legten den Grundstein für die folgende Entwicklung einer freien Szene in den 1980ern, einer Szene, die stets ­professioneller, selbstbewusster und diverser wurde, bis zum heutigen Tag.


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Die anlässlich der Ausstellung

widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol erschienene Publikation kann auf unserer Web-Site unter www.aut.cc bestellt werden. Sonderpreis: 19,70 Euro zuzüglich Versandspesen (6,- Österreich, 12,- Europa) Danke für Ihre Unterstützung!


bildnachweis Archiv AEP S. 40 | Wilhelm Albrecht S. 353, S. 354, S. 356 – 357, S. 359 – 362 | aus: ar­ chi­tektur aktuell 37 / 1973 S. 224 | aus: Architektur und Fremdenverkehr, 1974 S. 276 | Architektur­zentrum Wien, Sammlung S. 87, S. 91, S. 177 (Foto Margherita Spiluttini), S. 178, S. 197, S. 199 (Foto Christof Lackner), S. 213 – 215, S. 323 | Atelier Classic S. 330 | Archiv aut S. 125 – 126, S. 130, S. 148, S. 216, S. 218 | aus: bauforum S. 138 (81 / 1980), S. 312 (23 / 1971), S. 324 (14 / 1969) | aus: Baugeschehen in Tirol 1964 –  1976, 1977 S. 187, S. 210, S. 225, S. 274 – 275, S. 331 | aus: BMZ – Offizielles Organ der Baumusterzentrale S. 279 (3 / 1968), S. 314 (1 / 1967), S. 318 (1 / 1968) | BrennerArchiv Innsbruck – Vorlass Mitterer S. 118 | aus: Broschüre für die „Luxus Ter­rassen­ hausanlage Höhenstraße“ der BOE, o. J. S. 168 | Canadian Centre for Archi­tec­ture (Gift of May Cutler) S. 171 | Archiv COR S. 316 – 317 | aus: das Fenster S. 146 (5 / 1969), S. 150 (11 / 1972) | Digatone S. 63 – 64, S. 67 | Sammlung Albrecht Dor­nau­er S. 55, S. 288 | Andreas Egger S. 200 – 201 | Thomas Eisl S. 93 | aus: Endbe­richt – XII. Olympi­ sche Winterspiele Innsbruck 1976, 1976 S. 288 | aus: Festschrift zur offiziellen Über­ gabe und kirchlichen Weihe, Sprengelhauptschule St. Johann in Tirol, 1980 S. 225 | FI Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck S. 119, S. 197 – 198, S. 229 – 231, S. 233, S. 238, S. 241, S. 244 – 245, S. 248 – 249, S. 282 | FRAC Orle­ans S. 157 – 158 | frischauf-bild S. 160 – 161, S. 164 – 165, S. 169, S. 277 | Archiv Galerie Krinzinger S. 104 – 105, S. 108 | Siegbert Haas S. 179 | Karl Heinz S. 206, S. 207 | aus: Norbert Heltschl. Bauten und Projekte, 2002 S. 197 | Nachlass Ernst Hies­mayr S. 132 | Sepp Hofer S. 69 | aus: Horizont. Kulturpolitische Blätter der Tiroler Tageszeitung S. 140 (18 / 1974), S. 143 (4 / 1972), S. 145 (9 / 1973), S. 149 (10 / 1973), S. 152 (29 / 1976), S. 154 (13 / 1974) | Hertha Hurnaus S. 162 | Sammlung Waltraud Indrist S. 284, S. 290 | Sammlung Peter Jordan S. 259 – 260, S. 269 – 270, S. 364 | aus: Kasiwai. Ein Bildband des Kennedy-Hauses in Innsbruck, 1970 S. 31 | Franz Kiener S. 220 – 222 | Wolfgang Kritzinger S. 263 | Christof Lackner S. 226 | Bernhard Leitner S. 76 – 80 | Christian Mariacher S. 14 – 22 | Albert Mayr S. 82, S. 84 –  85 | Wolfgang Mitterer S. 97 | Thomas Moser S. 268, S. 271 | Helmut Ohnmacht S. 345, S. 370 | Stefan Oláh S. 208 | Archiv ORF Landesstudio Tirol S. 343 | Ortner & Ortner S. 129 | Archiv Max Peintner S. 281 | Charly Pfeifle S. 304 – 309 | Wolfgang Pöschl S. 262 | Peter P. Pontiller S. 191, S. 193 –  194 | aus: Pooletin, 3 / 4, 1977 S. 107 | aus: Pressemappe des Bauzentrums Innsbruck, 1971 S. 322 | aus: Prospekt „i-bau 1973“ S. 334 | Carl Pruscha S. 148 | Nachlass Egon Rainer S. 328 – 329 | Kurt Rumplmayr S. 261 – 262 | Sammlung Wolfgang Salcher S. 219, S. 226 | Elisabeth Schimana S. 89 | Hanno Schlögl S. 184, S. 186 | Sammlung Hubertus Schuhmacher S. 57 | aus: Schul­bau in Österreich, 1996 S. 224 | Sammlung Meinrad Schumacher S. 30 | Sammlung Elisabeth Senn S. 255 – 257 | aus: Sozialer Wohnbau in Tirol. Historischer Überblick und Gegenwart, 1987 S. 136, S. 196 | Stadt­ archiv Innsbruck S. 24, S. 68, S. 71, S. 285, S. 325 | aus: Stadtentwicklung Innsbruck. Tendenzen und Perspektiven, 1978 S. 127 | Subkulturarchiv Innsbruck S. 33, S. 34, S. 37, S. 47 – 49, S. 58 – 62, S. 66, S. 70 | Archiv Taxispalais Kunsthalle Tirol S. 100, S. 102 | tirol kliniken S. 283 | Tiroler Landesmuseen / Zeug­haus S. 330 | Tiroler Landes­museum Ferdinandeum S. 109, S. 112, S. 300 (Grafi­sche Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / C / 59), S. 302 (Grafische Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / P / 118) | aus: Tiroler Nachrichten, 159 / 1968 S. 320 | aus: Tiroler Tageszeitung, 108 / 1973 S. 336 | aus: Tirols Gewerbliche Wirt­schaft, 20 / 1970 S. 327 | aus: TRANSPARENT. Ma­nuskripte für Architektur, Theorie, Kritik, Polemik, Umraum, 8 / 9, 1970 S. 294, S. 299 | Trash Rock Archives S. 52 | Archiv TU Graz, Sammlung Dreibholz S. 190 | Dieter Tuscher S. 131 | UniCredit Bank Austria AG, Historisches Wertpapierarchiv S. 246 | Universitäts­archiv Innsbruck S. 234 | Uni­ver­si­ tätsarchiv Innsbruck – Nachlass A. Pitt­racher S. 251 | aus: Der Volksbote, 19 / 1973 S. 332 | Günter Richard Wett S. 339 – 340, S. 341, S. 344, S. 346 – 351, S. 366 –  369, S. 371 – 491 | Wien Museum, Karl Schwanzer Archiv (Foto Sigrid Neubert) S. 128 | aus: Wohnanlage Mariahilfpark Innsbruck (WE), 1970 S. 166, S. 167 | aus: Wohnen Morgen Burgenland, 1971 S. 180 – 185, S. 188 | Nachlass Arthur Zelger S. 286 | Siegfried Zenz S. 121, S. 122 Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber von Textrechten ausfindig ­gemacht werden. Für entsprechende Hinweise sind die Herausgeber dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, werden diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche abgegolten.


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