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Die besondere Normalität

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DROPA Wettbewerb

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BESONDERE FAMILIEN HABEN

besondere Kinder

Mirjam Buchmann

ist diplomierte Sozialpädagogin und arbeitet als wissenschaft ‑ liche Assistentin am Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement an der FHNW Fachhochschule Nordwest ‑ schweiz für Soziale Arbeit. Sie ist eines von rund 260'000 Geschwisterkindern in der Schweiz – das sind Menschen, die mit einem von einer chronischen Krankheit oder Beeinträchtigung betroffenen Geschwister aufwachsen.

Wie ist es, mit einem Geschwister aufzuwachsen, das geistig beeinträchtigt ist? Einem Bruder, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht – und selber keine Stütze ist? Nicht, weil er nicht will, sondern weil er nicht kann. Mirjam Buchmann schaut zurück und zieht eine ehrliche Bilanz. Auch über das Jetzt.

Die 42-jährige Mirjam Buchmann hat einiges durchgemacht als Kind, auch wenn sie das selber nicht so sieht. Ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Mathias ist mit einer geistigen Beeinträchtigung geboren, ihr Vater starb, als sie zehn Jahre alt war. Für das pflichtbewusste Mädchen war die schwierige Familienkonstellation Normalität. Dass sie und ihre jüngere Schwester ihre Bedürf ‑ nisse oft hintanstellen mussten, weil Mathias die ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, wurde ihr erst rückblickend bewusst und hat sie nie gestört. Während sie als Kind gern für ihren Bruder da war, grenzt sie sich heute ab. Im Gespräch erzählt die Sozialpädagogin ungeschminkt über ihr Leben mit einem beeinträchtigten Geschwister.

War Ihren Eltern sofort klar, dass sich Ihr Bruder nicht normal entwickelte?

Meine Mutter wusste von Anfang an, dass mit Mathias etwas nicht stimmte. Mein Vater wollte es nicht wahrhaben. Er war sich sicher, dass sich «das» auswachse. Mit der Beeinträchtigung musste er sich dann auch nicht mehr auseinandersetzen, denn er starb, als mein Bruder fünf Jahre alt war. Die Beeinträchtigung wurde für mich erst im Kindergarten wirklich zum Thema. Mit sieben kam Mathias in ein Schulheim und war ab da nur noch an den Wochenenden und in den Ferien zu Hause.

Wie wirkt sich die Beeinträchtigung konkret aus?

Mathias kann nicht für sich selber sorgen. Dafür ist die geistige Beeinträchtigung zu stark. Aufgrund seiner autistischen Züge muss immer alles so sein, wie er es sich vorstellt. Ändert sich etwas, bereitet ihm das Mühe. Ist er verzweifelt, kann er mit starken Aussetzern reagieren. Auch sein Verständ nis von Geld ist speziell. Er spart zum Beispiel das Jahr über jeweils für die Herbstmesse in Basel, sein Highlight, und verpulvert dort gern auch mal 200 Franken. Die Wurst am Mittag will er dann aber partout nicht bezahlen, denn für Essen ist in seiner Welt die Familie zuständig. Im Zweifelsfall verzichtet er lieber aufs Mittagessen, weil er nicht abschätzen kann, wie viel weniger Geld er hat, wenn er die Wurst selber bezahlt.

Ist ihm bewusst, dass er anders ist als andere?

Ja. Es stört ihn, dass er aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht allein wohnen oder Pilot werden kann. Er wünscht sich so sehr, normal zu sein, und sagt allen, er sei nur leicht beeinträchtigt. Aber er wird nie alleine leben können. Als ihm das als Teenager bewusst wurde, hat er mit Wutanfällen reagiert. Heute hat er die nur noch selten. Aber wenn, dann sind sie so explosiv, dass die Leute Angst kriegen vor ihm. Er ist nicht bösartig, einfach sehr verzwei felt.

Wie lebt Mathias heute?

Er wohnt in einer Aussenwohngruppe einer Einrichtung für Erwachsene, wo er sich seinen Neigungen entsprechend beschäftigen kann. Typische Arbeiten für Beeinträchtigte wie Basteln oder Kleben liegen ihm überhaupt nicht. Er sieht auch nicht ein, weshalb er einen Platz sauberwischen soll. Nicht, weil er faul ist, sondern weil es ihm einfach nicht wichtig erscheint. Seit er erwachsen ist, arbeitet er im Wald und in der Holzwerkstatt und neu auch in der Wäscherei. Er liebt das Netzwerken und bringt trotz seiner Einschränkung Unglaubliches zustande. Wäre Mathias gesund, wäre er wohl ein Intellektuel ler. Das ist manchmal schwierig: Er wirkt sehr kompetent und drückt sich so gut aus, dass Men schen, die ihn nicht kennen, nicht auf Anhieb merken, dass er beeinträchtigt ist.

Sie waren das älteste von drei Kindern. Welche Rolle hatten Sie im Familiengefüge?

Solange mein Vater bei uns war, hatte ich keine spezielle Rolle inne. Als er starb, war ich zehn. Nach seinem Tod habe ich versucht, ihn zu ersetzen. Zu meinem Bruder hatte ich ein gutes Verhältnis, hatte

ihn sehr lieb. Ich fühlte mich ihm sehr verbunden und blieb auch während seiner schlimmsten Wutanfälle in seiner Nähe. Als Teenager habe ich den Bezug zu ihm aber komplett verloren. Ich war wohl zu stark mit meinem Leben beschäftigt. Meine Mutter hat mich und meine Schwester in unserer Eigenständigkeit unterstützt. Wir mussten nie auf Mathias aufpassen, sie hat ihn auch nie speziell beschützt, was ich als sehr angenehm empfunden habe. Niemand hat von mir erwartet, dass ich Verantwortung für meinen Bruder übernahm. Das ist für die gesunden Geschwister ein entscheidender Aspekt, den Eltern von beeinträchtigten Kindern unbedingt beachten sollten. Interessanterweise sieht mich mein Bruder bis heute als Autoritätsper son, meine Meinung ist ihm wichtig.

Laut Studien kann es auch sein, dass sich Geschwister eines beeinträchtigten Kindes von ihm distanzieren, weil sie den Alltag als anstrengend und belastend empfinden. Können Sie das nachvollziehen?

Sehr gut. Mit 20 habe ich angefangen, klare Grenzen zu ziehen. Ich habe nicht geholfen, eine Unterbringung für ihn zu suchen, habe mich bewusst abgegrenzt. Ich möchte mich auch nicht um meinen Bruder kümmern, wenn meine Mutter einmal nicht mehr da ist, ausser er steht ganz allein da, dann bin ich natürlich für ihn da. Ich hoffe, dieser Fall tritt nie ein.

Geschwister von Kindern mit einer Beeinträchtigung können zu sozial besonders kompetenten und selbstbewussten Menschen heranwachsen. Können Sie das bestätigen?

Besondere Familien haben besondere Kinder. Deswegen sind auch besondere Fähigkeiten und viel

Einsatz gefragt. Normalerweise gleichen sich Geschwister aus. Ist das eine frech, ist das andere lieb. In meinem Fall gleiche nur ich aus. Mein Bruder ver hält sich, wie ihm gerade danach ist. Ich nehme das meinem Bruder nicht übel, und dennoch habe ich gelernt, nur so viel auszugleichen, wie es für mich stimmt. Und es mein Gewissen zulässt.

Hatten Sie manchmal das Gefühl, zu kurz zu kommen?

Ich kannte es nicht anders. Ich habe es sehr geschätzt, dass nicht die ganze Aufmerksamkeit auf mir lag. Ich konnte mein Leben selber organisieren. Erst vor Kurzem, als ich viel Zeit mit meiner Mutter verbrachte, habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie es hätte sein können, wäre es möglich gewesen. Auch heute noch wird zuerst mein Bruder adres siert, wenn wir gemeinsam zur Tür hereinkommen, und Gespräche werden für ihn unterbrochen.

Sehen Sie für sich persönlich auch Vorteile darin, dass Sie mit einem Geschwister mit einer Beeinträchtigung aufgewachsen sind?

Diese Frage macht mich traurig. Ich weiss es nicht, aber ich hoffe, es gibt welche. Ich habe mir immer so sehr gewünscht, einen gesunden Bruder zu haben. Einer, der mich unterstützt, für mich da ist, und nicht immer ich für ihn.

Sie sind Sozialpädagogin. Hat die Beeinträchtigung Ihres Bruders Ihre Berufswahl beeinflusst?

Ich habe mich nicht wegen meinem Bruder für den Beruf entschieden. Seine Beeinträchtigung hat mich dahingehend beeinflusst, dass ich mit verhaltens auffälligen und nicht mit beeinträchtigten Menschen arbeiten wollte.

Wie haben Ihr Umfeld und Ihre Schulkameraden auf die Situation reagiert?

Negative Reaktionen hätte ich nicht toleriert, und es kamen keine. Meine Freunde sind gute Freunde. Dass mein Bruder schwierig ist, kann man nicht wegdiskutieren. Wenn jemand gar keinen Umgang mit ihm gefunden hat, wurde es etwas unangenehm. Ist aber selten passiert, und oft hielt dann auch die Freundschaft nicht lange.

Das Interview mit Mirjam Buchmann beleuchtet bewusst die Situation einer Person mit einem Geschwister mit Beeinträchtigung. Mathias Buchmann, 37, hat dafür sein Einverständnis gegeben. Auch er hat uns ein paar Fragen beantwortet:

Das gefällt mir: Mich interes ‑ sieren Verkehrsmittel: Flugi, Eisenbahn und Schiff, denn ich reise gern. Ich schreibe gern Briefe und gehe in einen Leseund Schreibkurs.

Was ist heute die grösste Herausforderung für Sie? Viele Beeinträchtigte stehen gern im Mittelpunkt, so auch Mathias. Das hat auch mich oft Das finde ich nicht gut: Wenn man dumme Bemerkungen macht und nicht nett ist. Wir müssen auch nett sein. Wie ist das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Bruder heute? Ich habe ihn gern, er ist ein sehr lieber Mensch, weder ungewollt ins Rampenlicht gedrängt. Dabei war es mir ein grosses Anliegen, unauffällig mit der Masse zu schwimmen. Mit Mathias war und ist das unmöglich. Bis heute kann ich oft nicht selbst über meine Privatsphäre bestimmen, denn Mathias erzählt gern Privates. Das betrifft dann auch mich als Teil seiner Familie – und weil er Mein Ziel für die nächsten zwei Jahre: Ich habe einen europäischen Kongress für Menschen mit Beeinträchti ‑ gung in der Schweiz eingefä‑ delt und Leute gesucht, die mir bei der Organisation dabei helfen. Er findet 2021 statt. Ich bin richtig stolz, dass ich das geschafft habe. falsch noch böse. Und er nervt mich gewaltig. Berührungs punkte begrenze ich auf ein Minimum, sodass ich mich ehrlich freuen kann, wenn ich ihn sehe. Was wünschen Sie sich für sich und Ihre Familie für die Zukunft? Dass wir gesund und glücklich so stolz auf mich ist. Das ist sind. Und dass ich später nicht schwierig für mich. die Verantwortung für meinen Bruder übernehmen muss, auch wenn ich weiss, dass ich für ihn da sein Haben Sie einen Rat, den Sie anderen Betroffewerde, wenn alle Stricke reissen.

nen mit beeinträchtigten Geschwistern gern

mit auf den Weg geben möchten? Location: Bad Bubendorf Hotel Dass sie auf sich selber hören und nicht das tun, Text: Monika Mingot, Fotos: Fabian Hugo was die Gesellschaft, die Eltern, die Geschwister erwarten. Man darf sich das Recht herausnehmen, nicht alles mitzumachen und sein Leben selbst zu bestimmen.

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