Rat & Hilfe
Kinderleichte Bewegung Erziehung Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang. Anspruchsvolle Projekte helfen, dass sie ihn nicht verlieren
„Die Unterstützung der Eltern ist wichtig“ Dietmar Wolz, Apotheker aus Kempten, beim Wandern mit den Schulkindern
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Schuljahr lang schickt der Kemptener Apotheker Dietmar Wolz seine Mitarbeiter jetzt in die teilnehmenden Klassen. Pro Woche stehen dann eine Unterrichtsstunde zum Thema Bewegung und eine zu gesunder Ernährung auf dem Stundenplan. Weil die Theorie im Klassenzimmer allein aber noch niemanden in Aktion versetzt, gibt es am Nachmittag zwei Stunden Bewegung pro Woche obendrauf, freiwillig. Höhepunkt für die Schüler ist das Klettern an der Kletterwand. „Die Mischung aus Theorie und Praxis kommt ausgezeichnet an“, freut
Fotos: W&B/Bernhard Huber. Illustrationen: W&B/Dr. Ulrike Möhle
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och vor ein paar Monaten hätten die Mädchen und Jungen der Klasse 5a die 400 Höhenmeter als Strafe empfunden. An einem Morgen Ende Juli haben die elf- und zwölfjährigen Schüler der Mittelschule auf dem Lindenberg in Kempten ein gemeinsames Ziel: hinauf zur Alpe Oberberg in den Allgäuer Bergen – nicht als Strafe, sondern zur Belohnung für das erfolgreiche Bewegungs-Projekt während des vergangenen halben Jahrs. Stolz funkelt in den Augen eines Mädchens, als es auf den Schrittzähler blickt, der an seinem Hosenbund klemmt. Immer wieder war Klassenleiter Hans Kramer an seinen Schülern verzweifelt: „Früher konnte ich bei Schulausflügen auch mal längere Wanderungen machen. Heute ist das kaum noch möglich.“ Zu rasch würden die Schüler aus der Puste geraten. Mit der 5a ist das jetzt anders. Dem Lehrer kam das Schulprojekt „Ernährung und Bewegung“ gerade recht. Ein halbes
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Gute Freunde Zusammen macht’s doppelt Spaß. Sich in der Gruppe zu messen spornt Kinder an. Sich gegenseitig zu helfen macht sie kooperativ und fördert ihr Selbstvertrauen.
Ich beweg’ mich!
sich Apotheker Wolz, der Wert darauf legt, Mutter und Vater einzubeziehen. „Wir veranstalten auch Informationsabende für die Eltern. Ihre Unterstützung ist sehr wichtig.“ Vor vier Jahren begann Wolz mit dem Projekt. Zunächst finanzierte er es selbst, inzwischen beteiligen sich auch eine Krankenkasse und die Stadt Kempten an den Kosten. Die Lokalpolitiker scheinen die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: Kinderärzte schlagen Alarm, Sportlehrer die Hände über dem Kopf zusammen, weil der Nachwuchs den Körper immer weniger fordert und ihm die eigentlich natürliche Lust an Bewegung verloren geht.
Frühe Prägungen Die Folgen der Entwicklung sind nicht zu übersehen: Teenager erkranken an Diabetes Typ 2, viele Kinder tragen zu viele Pfunde mit sich herum. Rückenschmerzen strecken nicht mehr erst 50-Jährige, sondern schon 15-Jährige nieder. Langfristig verhindere fehlende Bewegung zudem, dass sich eine Grundlage für anhaltende Leistungsfähigkeit und Lebensqualität bilden könne, sagt Professor Klaus Bös, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Karlsruhe. Damit Erwachsene Bewegung als etwas Positives und Angenehmes empfinden, müssen sie dies am besten schon als Kinder gelernt haben. „Bis zum zehnten Lebensjahr findet eine Art Prägung statt“, sagt Bös. „Wenn Bewegung bis dahin als wichtiges und positives Verhalten E Sie wissen, wie gut Bewegung tut: Vermitteln Sie es Kindern und Enkeln!
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Heimat entdecken: Begegnung mit einer Kuh auf der Alpe
Frische Luft Raus mit euch, Kinder! Unter freiem Himmel können sich Kinder und Jugendliche austoben. Das stärkt ihr Immunsystem und macht sie neugierig auf Entdeckungen in der Natur. Damit Eltern keine Angst um sie haben müssen, brauchen Kinder aber eine Infrastruktur mit genug Grünflächen und Sicherheit im Straßenverkehr.
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Fotos: W&B/Bernhard Huber. Illustrationen: W&B/Dr. Ulrike Möhle
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erlebt wird, bleibt sie über die nächsten Lebensjahrzehnte auch erhalten.“ Doch genau da hakt es. „Zum einen fallen die Eltern oft als Bewegungsvorbilder weg. Zum anderen gewinnen Fernsehen, Internet und Computerspiele immer mehr an Bedeutung“, sagt Bös. Damit beschäftigt sich auch Professor Klaus Roth, Leiter des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Heidelberg. Bereits vor mehr als 30 Jahren verglich er das Spiel- und Bewegungsverhalten brasilianischer und deutscher Kinder. Damals wie heute bemängelt er, dass hierzulande die Straßenspielkultur nach und nach verschwindet. „In Deutschland spielen Kinder immer weniger im Freien, im Hof, auf der Wiese oder auf der Straße“, sagt Roth. „Dabei sind genau das die Orte, an denen sie ihren Bewegungsdrang ausleben können und wichtige Bewegungsgrundlagen erlernen.“ Dabei reagieren viele Eltern darauf frühzeitig: „Noch nie zuvor waren so viele Vier- bis Fünfjährige in Sportvereinen organisiert“, stellt Roth fest. Doch die Quote trügt, denn sie hat nicht lange
Bestand. „Relativ rasch treten die Kinder wieder aus, und bereits bei den Neun- bis Zehnjährigen ist der Effekt verpufft.“ Vermutlich vermiesen die motorischen Defizite so manchem Kind den Spaß an der Bewegung in der Gruppe. „In vielen Vereinen wird schon sehr früh eine Spezialisierung verlangt“, sagt Roth. Doch Kinder wollen sich oft nicht sofort für eine bestimmte Sportart entscheiden und hören dann lieber ganz mit dem Sport auf. Das dokumentiert auch die bundesweite „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ (KiGGS), die das Robert-Koch-Institut durchführt: Von den befragten 14- bis 17-Jährigen gaben nur 15 Prozent an, sich mindestens eine Stunde pro Tag zu bewegen. Nicht einmal jeder siebte Jugendliche erreichte also das für diese Altersgruppe empfohlene Mindestmaß an Aktivität. Ernüchterndes ergab die KiGGS-Studie auch zu den Einrichtungen, die eigentlich etwas gegen den Bewegungsmangel tun könnten: Statt der empfohlenen drei Bewegungsstunden pro Woche sind es in der Grundschule nur zweieinhalb, im Kindergarten eineinhalb.
In der Grundschule ansetzen Eine verpasste Chance, wie Sportwissenschaftler Bös an einer Bad Homburger Grundschule zeigte. Im Rahmen eines Modellprojekts hatten die Schüler dort jeden Tag eine speziell konzipierte Sportstunde. „Nicht nur die Fitness der Kinder verbesserte sich“, berichtet Bös. Die Unfallhäufigkeit sank, die Schüler verhielten sich weniger aggressiv gegeneinander und gingen mit mehr Freude zur Schule. „Darüber hinaus stiegen Selbstwertgefühl, Konzentration und Lernbereitschaft.“ Auch Dr. Katharina Eckert vom Institut für Gesundheitssport und Public Health der Universität Leipzig möchte im Grundschulalter ansetzen. Sie hat ein australisches Konzept in Deutschland
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Gute Vorbilder
Ich beweg’ mich!
Eltern und Lehrer prägen das Verhalten entscheidend. Je aktiver sie selbst sind, desto mehr Spaß haben auch Kinder an Bewegung. Das zeigen viele Studien.
umgesetzt. Ihr Projekt „Der Laufende gungsplus zu gelangen, müssen entspreSchulbus“ startete sie zunächst an einer chende Strukturen geschaffen werden, Heidelberger Grundschule. „Die Kinder zum Beispiel in Sportvereinen. Wirklich treffen sich morgens an bestimmten Or- etwas in Bewegung gesetzt hat Sportten und gehen dann, begleitet von einem wissenschaftler Klaus Roth. Er hat mit Erwachsenen, gemeinsam in die Schule“, der „Ballschule“ 1998 ein eigenes Beweerklärt Eckert. Täglich machen die Klei- gungskonzept ins Leben gerufen. Keine nen so 800 bis 2000 zusätzliche Schritte. einzelne Sportart wird dabei bevorzugt, „Diese einfache Idee kommt hervorra- und die Übungsleiter greifen so wenig gend an: bei den Kindern, denen es viel wie möglich in das Spielgeschehen ein. Spaß macht, bei den Eltern und auch „Die Ballschule soll Lust auf Bewegung bei den Lehrern. Denn die Schüler sind machen und Kindern einen Rahmen biein den ersten Schulstunden deutlich auf- ten, in dem sie ohne Leistungsdruck ihre nahmebereiter.“ Koordination und ihre Ballfertigkeiten Um von einzelnen Aktionen zu einem verbessern“, sagt Roth. Im ersten Jahr dauerhaften, selbstverständlichen Bewe- machten nur ein paar Klassen des Stadtviertels mit. Heute, 14 Jahre später, sind mehr als 10 000 Ballschul-Kinder im ganzen Bundesgebiet aktiv.
Die Begeisterung ist geweckt
Lecker und fit Du bist, was du isst. Mit zu vielen Kilos fällt jeder Schritt schwer. Vitamine und Mineralstoffe tun dagegen gut.
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Zwar lässt das Lebensumfeld von Kindern heute immer weniger Raum für Bewegung. Gleichzeitig beobachtet Roth aber, dass die Nachfrage nach zeitgemäßen Angeboten eigentlich riesig wäre. Wenn die Kinder Spaß am Sport haben, würden sie sich auch bewegen, meint er. Das bestätigt Klassenleiter Kramer von der Mittelschule Kempten. Er blättert die Bewertungsbögen durch, die seine Schüler zum Abschluss ihres Schulprojekts ausgefüllt haben. Eine Frage lautete: „Treibst du jetzt mehr Sport als zuvor?“ Viele Schüler haben ihr Kreuz bei „viel mehr“ gemacht. Dr. Ralph Müller-Gesser
Neu: online mitreden
Community für mehr Bewegung Tauschen Sie sich online mit anderen aus: Nicht nur Kindern mangelt es an Bewegung, auch viele Erwachsene sind im Alltag nicht aktiv genug. Und Sie? Möchten Sie wieder in Schwung kommen? In unserer Online-Community „Ich beweg’ mich“ können Sie sich mit Gleichgesinnten austauschen. Wie bringe ich mehr Bewegung in meinen Alltag? Wie motiviere ich meine Familie zum Mitmachen? Verabreden Sie sich mit anderen Mitgliedern zum Walken, Joggen oder Radfahren! Berichten Sie über Ihre Erfahrungen und Etappensiege! Der Rückhalt in der Gruppe wird Sie anspornen. Klicken Sie rein, und diskutieren Sie mit: ich-beweg-mich. apotheken-umschau.de
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