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Freundliche und schaurige Gesänge
Zu Franz Schuberts Klaviersonaten
Jürgen Ostmann
„Der Teufel soll dieses Zeug spielen“ – mit diesen Worten brach Franz Schubert einmal den Vortrag seiner technisch schwierigen „Wanderer-Fantasie“ ab. Im Unterschied etwa zu Mozart oder Beethoven war er kein großer Klaviervirtuose. Aber doch ein guter Pianist, dessen besondere Stärke offenbar im kantablen Spiel lag, worauf er auch besonders stolz war. In einem Brief an seine Eltern gab er das Zeugnis eines Zuhörers wider, der ihm bescheinigte, „dass die Tasten unter meinen Händen zu singenden Stimmen würden, welches, wenn es wahr ist, mich sehr freut, weil ich das vermaledeite Hacken, welches auch ausgezeichneten Klavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann, indem es weder das Ohr noch das Gemüt ergötzt.“ Schuberts Hauptinstrument war zweifellos das Klavier – wenn er überhaupt je öffentlich auftrat, dann als Begleiter am Flügel. Umso erstaunlicher ist es, dass aus seiner Frühzeit als Komponist nur wenige Klaviersonaten erhalten sind. Einige Versuche der Jahre 1815 und 1816 blieben Fragment, was damit zusammenhängen mag, dass Schubert sie als Studienwerke betrachtete. Sobald er sein jeweiliges „Lernziel“ erreicht hatte, wäre jede weitere geschriebene Note Zeitverschwendung gewesen. Dann allerdings, mit Beginn des Jahres 1817, entstand in rascher Folge eine ganze Reihe von Sonaten, die Schubert teils auch fertig stellte. Fast scheint es, als habe er in diesem Jahr im Bereich der Klaviermusik nachholen wollen, was er von 1810 bis 1813 im Streichquartett und zwischen 1813 und 1816 in der Sinfonik erreicht hatte: die Aneignung der Tradition Mozarts und Beethovens und zugleich die Ausprägung einer eigenen Tonsprache.
Insgesamt arbeitete Schubert in seinem kurzen Leben an mindestens 23 Klaviersonaten. Doch nur elf oder zwölf davon schloss er auch ab, und ganze drei wurden zu Lebzeiten veröffentlicht. Dass sich die Zahl der vollendeten und unvollendeten Werke nicht mit größerer Bestimmtheit
benennen lässt, hat verschiedene Gründe. In manchen Fällen kann nur darüber spekuliert werden, ob Schubert den fertiggestellten Sätzen einer Sonate ursprünglich noch einen weiteren folgen lassen wollte. Dann wieder ist strittig, ob ein vor der Reprise abgebrochener Satz vielleicht doch als vollständig gelten kann – das Fehlende ließe sich ja rekonstruieren. Und schließlich bleibt zu klären, inwieweit einige separat überlieferte Sätze eventuell doch der gleichen Sonate zuzuordnen sind. Oder umgekehrt: ob gemeinsam überlieferte Sätze womöglich verschiedenen Werken angehören sollten.
Trotz all dieser Unwägbarkeiten gilt die im Deutsch-Verzeichnis unter der Nummer 537 geführte Sonate in a-moll als die erste, die man als vollendet ansehen kann. Es existieren zwar nur drei Sätze (das Menuett fehlt), doch die Tonarten ergeben eine Einheit, und das erhaltene Manuskript lässt keinen Raum für einen zusätzlichen Satz. Es ist bemerkenswert, dass Schubert sich in seinem letzten Lebensjahr noch einmal an dieses frühe Werk erinnerte: Im Rondo-Finale seiner A-Dur-Sonate D 959 griff er ein Thema aus dem Andante von D 537 auf. Wie unterschiedlich er es in beiden Fällen verarbeitete, welche enorme kompositorische Entwicklung er innerhalb von elf Jahren durchlief – das lässt sich im Pierre Boulez Saal unmittelbar erfahren: Daniel Barenboim trägt die Werke am gleichen Abend vor, dem ersten seiner vierteiligen Reihe.
Zu den vollendeten Sonaten des Jahres 1817 zählen auch D 568 und D 575. Die Datierung des Es-Dur-Werks D 568 ist allerdings nicht sicher: Zwar schrieb Schubert zwar im Juni 1817 eine erste Fassung, doch war diese nur dreisätzig und stand in Des-Dur (D 567). Zu vermuten ist, dass er das Stück unmittelbar darauf ins leichter spielbare Es-Dur übertrug und mit dem Menuett einen weiteren Satz hinzufügte. Einige Schubert-Forscher argumentieren, dass diese Änderungen erst viel später vorgenommen worden seien, nämlich 1826. Tatsächlich ist die Situation noch komplizierter, denn sowohl von D 567/568 als auch von der H-Dur-Sonate D 575 existieren noch weitere Fassungen und Entwürfe, die die Musikwissenschaft beschäftigen, dem Musikliebhaber jedoch vor allem eines sagen: Selbst Schubert fiel nicht als Meister vom Himmel. Er experimentierte und arbeitete, kämpfte um die Entwicklung der formalen Lösungen, die seiner Eigenart am besten entsprachen. Selbst Schubert fiel nicht als Meister vom Himmel
Auch im Fall der A-Dur-Sonate D 664 lässt sich der Entstehungszeitpunkt nicht mit Sicherheit bestimmen. Es könnte 1819 gewesen sein, möglicherweise aber auch erst 1825. Für das frühere Datum spricht der Stil des Werks: Es ist knapp gefasst und hält sich enger als spätere Kompositionen an traditionelle Formmodelle. Das eröffnende Allegro moderato ist ein Sonatenhauptsatz mit zwei gegensätzlichen Themen, der Mittelsatz erinnert an ein Lied mit drei Strophen, und das Finale ist wieder nach dem Muster des Sonatensatzes geformt. Trotz dieser eher konventionellen Anlage zählte D 664 schon immer zu den populärsten Sonaten Schuberts. Der Grund dafür mag in der wunderbaren Liedhaftigkeit des Stücks liegen, die im Übrigen auch Schuberts eigenem „singenden“ Vortragsstil entgegenkam.
„So frei und eigen...“
Die Sonate a-moll D 784, die erste der Reifezeit zuzuordnende, entstand im Februar 1823 nach einer „SonatenPause“ von dreieinhalb Jahren. Im Konzertleben ist sie relativ wenig präsent, was ihrer besonders düsteren Stimmung geschuldet sein mag oder auch ihrem Ruf, „unpianistisch“ konzipiert zu sein. Dazu lässt sich anmerken, dass Schubert kurz vor Beginn der Arbeit an dieser Sonate an sich erste Anzeichen der Syphilis-Erkrankung bemerkte, die seine letzten Jahre überschatten sollte. Ob man das mit dem emotionalen Gehalt des Werks in Verbindung bringen möchte oder nicht – der erste Satz beginnt mit einer Melodie von fahlem, trostlosem Charakter, die in eine abfallende Seufzerfigur mündet, und ihr schwer lastender Gestus durchdringt bald den gesamten Satz. Die „unpianistische“ Machart muss man nicht unbedingt negativ sehen: Schubert verzichtete hier offenbar bewusst auf typische KlavierSpielfiguren, dachte eher in Orchesterfarben. Basstriller und Tremoli erinnern an Paukenwirbel, kantable Linien an Streichermelodien, satte Akkorde an Bläsersätze. Die 1825 komponierte a-moll-Sonate D 845 erschien Anfang 1826 als „Première Grande Sonate pour le PianoForte“ im Druck. Die Bezeichnung als „erste“ Sonate stammt offenbar von Schubert selbst und macht deutlich, dass er erst jetzt überzeugt war, vollgültige und eigenständige Werke dieser Art schaffen zu können. Der Rang der Sonate kommt auch in einer zeitgenössischen Rezension der
16 Allgemeinen Musikalischen Zeitung treffend zum Ausdruck. Dort heißt es, die Komposition bewege sich „in den abgesteckten Grenzen so frei und eigen, so keck und mitunter auch so sonderbar“, dass sie „nicht mit Unrecht Fantasie heißen könnte. In dieser letzten Hinsicht kann [sie] wohl nur mit den größten und freiesten Sonaten Beethovens verglichen werden.“ Wie kaum eines der vorangegangenen Werke ist D 845 zyklisch konzipiert. So zeigen zum Beispiel die beiden Rahmensätze eine auffallende Verwandtschaft der Themen: Beide Hauptthemen sind aus zwei gegensätzlichen Elementen – melodischen Linien und rhythmisch pointierten Akkorden – zusammengesetzt. Die drei in der Grundtonart a-moll stehenden Sätze (das Andante wendet sich nach C-Dur) beginnen zudem mit einem Thema, das auf dem Quintintervall a–e aufgebaut ist. Bei aller Vielfalt im Einzelnen gewinnt man so den Eindruck der Einheit des Ganzen. Nach D 845 war die D-Dur-Komposition D850, geschrieben 1825 und nach ihrem Entstehungsort als „Gasteiner“ bekannt, die zweite Sonate, die Schubert veröffentlichen konnte. Gerade diese beiden Werke verglich Robert Schumann später in einer Rezension miteinander. „Der erste Teil so still, so träumerisch; bis zu Tränen könnte es rühren“ – so sein Kommentar zum Kopfsatz von D 845. Und zum eröffnenden Allegro vivace aus D 850: „Wie anderes Leben sprudelt in der mutigen [Sonate] aus D-Dur – Schlag auf Schlag packend und fortreißend! [...] Und darauf ein Adagio, ganz Schubert angehörend, drangvoll, überschwänglich, dass er kaum ein Ende finden kann.“ Auf dieses Adagio (bei Schubert tatsächlich „Con moto“ bezeichnet) folgt ein Scherzo, dessen Witz vor allem im Spiel mit den Taktarten liegt. Schumann erwähnt es nicht, macht dafür aber zum Schluss-Rondo einige kritische Anmerkungen: „Der letzte Satz passt schwerlich in das Ganze und ist possierlich genug.“ Er ließe sich entweder als Satire auf den „Schlafmützenstil“ älterer Komponisten wie Ignaz Pleyel oder Johann Baptist Vanhal ansehen. Oder man könne „in den kontrastierenden starken Stellen Grimassen [finden], mit denen man die Kinder zu erschrecken pflegt.“ Tatsächlich eignet sich eine der Rondo-Episoden – rollendes Sechzehntel-Unisono, fortissimo, Basslage – ganz hervorragend zum Kinder-Erschrecken: Schumann selbst setzte zu diesem Zweck im „Knecht Ruprecht” aus dem Album für die Jugend eine ganz ähnliche Figur ein.
Im Druck erschien 1827 auch das im Vorjahr entstandene G-Dur-Werk D 894 – allerdings nicht als Sonate, sondern unter dem irreführenden Titel „Phantasie, Andante, Menuetto und Allegretto“. Der Grund für diese Umbenennung liegt auf der Hand: bessere Verkäuflichkeit. Sonaten waren weniger für den Konzertsaal als vielmehr für Salons und Privatgesellschaften bestimmt. Doch auch hier kamen sie allmählich aus der Mode. Um 1800 erschienen jedes Jahr noch etwa 65 Klaviersonaten auf dem Notenmarkt – gegen 1850 waren es nur noch drei. Verdrängt wurde die anspruchsvolle zyklische Form zunächst durch brillante Variationen, Paraphrasen und Opernpotpourris, dann zunehmend durch kleine Klavierstücke wie „Souvenirs“, „Adieux“, „Barcaroles“, „Nocturnos“ – und wie die modischen Titel alle lauteten. Auch Schuberts Verleger Haslinger wollte seinem Publikum offenbar vormachen, es handele sich um vier kleine Charakterstücke, obwohl doch die Folge von Sonatensatz, langsamem Satz, Menuett und Rondo geradezu klassisch für die Gattung Sonate ist. „Fantastisch“ wirken immerhin einige ungewöhnliche Züge des ersten Satzes: So schreitet er harmonisch nur sehr langsam voran – man hat ihn eine „Apotheose des G-Dur-Dreiklangs“ genannt. Auch die Bezeichnung „Molto moderato e cantabile” deutet auf einen der lyrischsten ersten Sätze in Schuberts gesamtem Werk. Ein wenig Dramatik erleben wir erst in der Durchführung: Hier wird zweimal auf dem Höhepunkt einer Steigerung das dreifache Forte erreicht, das sonst in keiner anderen Schubert-Komposition für Soloklavier vorkommt.
„Als könne er wieder von neuem beginnen...“
Auch in seinem letzten Lebensjahr widersetzte sich Schubert dem allgemeinen Trend zu leichterer Kost. Die drei Sonaten, die parallel im September 1828 entstanden, zählen zu den Höhepunkten der gesamten Klavierliteratur. Musikwissenschaftler haben gelegentlich darüber spekuliert, ob Beethovens Tod im März 1827 einen Einfluss auf Schuberts Schreibweise, auf die Eigenart seiner späten Werke hatte. Er verehrte den älteren Komponisten aus der Ferne, sein Vorbild forderte ihn zu eigenen Lösungen heraus, es belastete und lähmte ihn bisweilen aber auch. Insbesondere die erste der drei späten Sonaten, D 958 in c-moll, ist oft als Hommage an Beethoven gedeutet worden. Man hat Ähnlichkeiten mit verschiedenen seiner Klavierwerke in der gleichen
18 Tonart entdeckt – etwa mit der Sonate op. 13 (der „Pathétique“), vor allem jedoch mit den Variationen WoO 80 aus dem Jahr 1806, deren dramatisch punktiertes Thema Schubert zu Beginn des ersten Allegros fast wörtlich zitiert. Der folgende langsame Satz trägt die für Schubert ungewöhnliche Tempobezeichnung Adagio. An ihrer Stelle bevorzugte er normalerweise das fließendere Andante-Tempo. Im Ausdruck erinnert der Satz an das von Todessehnsucht durchdrungene Lied „Das Wirtshaus“ aus der Winterreise. Überraschend düster für einen Tanzsatz erscheint danach das Menuett mit seinen abrupten Lautstärkewechseln und den geheimnisvollen eintaktigen Pausen im zweiten Abschnitt des Hauptteils. Ein Perpetuum-mobile-Satz im 6/8-Takt schließt die Sonate ab. Ob man seine drängende, sich überstürzende Bewegung nun mit einem rasenden Ritt oder einer Tarantella in Verbindung bringt – etwas Schauriges hat dieses Finale in jedem Fall.
Schubert plante, seine drei letzten Sonaten – wären sie zu seinen Lebzeiten veröffentlicht worden – Johann Nepomuk Hummel zu widmen, einem der bedeutendsten Pianisten der Zeit. Diese Absicht, die er einem Verleger mitteilte, mag bei der Konzeption der Werke eine Rolle gespielt haben, sind sie doch stellenweise durchaus virtuos gehalten, obgleich Schubert selbst kein brillanter Pianist war. Das Finale der c-moll-Sonate bietet ein Beispiel dafür, ebenso der Kopfsatz des A-Dur-Werks D 959 mit seinen immer wieder eingeschobenen Triolenpassagen. Dem feierlichen, akkordischen Hauptthema ist in diesem Satz ein liedhaftes Seitenthema entgegengestellt, das über wechselnden Begleitfigurationen breit ausgesponnen wird. In der Coda zitiert Schubert noch einmal den akkordischen Beginn – nun aber piano und durch Mollwendungen getrübt, wie eine nostalgische Erinnerung. Der zweite Satz, ein dreiteiliges Andantino, ist motivisch mit dem Mittelteil des ersten verbunden. Er wurde gelegentlich als „Nachtstück“ bezeichnet und mit Chopins Nocturne cis-moll op. 27 verglichen. Spielfreudig und heiter gibt sich dann das Scherzo, dessen Trio-Mittelteil jedoch auf die Setzweise der Reprise des Andantinos zurückgreift. Das abschließende Rondo beginnt mit dem bereits erwähnten Zitat aus der Klaviersonate D 537, doch eine Reihe von Motiven und Begleitfiguren ist auch dem Kopfsatz der vorliegenden Sonate entnommen. Insgesamt legte Schubert also größten Wert auf den zyklischen Zusammenhang seiner Komposition.
Enthalten schon die Sonaten in c-moll und A-Dur des öfteren typische Liedmelodien, so ist das erst recht in der B-Dur-Sonate D 960 der Fall. Der Kopfsatz ist nicht das übliche Allegro, sondern „molto moderato“ vorzutragen, und sein Hauptthema wirkt statt energisch oder dramatisch ausgesprochen lyrisch, kantabel – wie man es eher von einem zweiten Thema erwarten würde. Allerdings stören schon früh seltsame Dissonanzen und ein beunruhigender Bass-Triller die Idylle. Auch im weiteren Verlauf taucht diese düstere Figur immer wieder auf – als kristallisierten sich in ihr unheimliche Gegenkräfte zu den behaglichen Liedmelodien. Liedhaft ist auch das Hauptthema des Andante sostenuto gestaltet. In diesem Lieblingssatz vieler SchubertVerehrer schafft die unentwegte Wiederholung ein und desselben Begleitrhythmus eine Atmosphäre trancehafter Versenkung. Der Mittelteil bringt zwar einige dramatische Momente, kann jedoch die zeitentrückte Wehmut des Beginns nicht dauerhaft verdrängen. Im dritten Satz, dem Scherzo, tritt der Tanzcharakter fast schon stärker hervor als in dieser Gattung üblich. Weniger im Rhythmischen liegen hier die Überraschungsmomente als vielmehr – wie so oft bei Schubert – im Harmonischen. Als einziger Satz der Sonate enthält das Rondo-Finale ausgeprägte Stimmungskontraste. Sie sind schon in der abwechselnd lebhaften und dann wieder stockenden Bewegung des Hauptthemas angelegt und setzen sich in den mal zarten, mal energischen Episoden fort. Doch trotz mancher Irritation ist der letzte Satz in Schuberts Sonatenschaffen über weite Strecken ein durchaus munteres, musikantisches Stück – was manche Kommentatoren dem Komponisten fast ein wenig übel genommen haben. „Wohlgemut und leicht und freundlich schließt er dann auch“, schreibt Schumann, „als könne er Tages darauf wieder von neuem beginnen.“
Jürgen Ostmann studierte Musikwissenschaft und Orchestermusik (Violoncello). Er lebt als freier Musikjournalist und Dramaturg in Köln und arbeitet für verschiedene Konzerthäuser, Rundfunkanstalten, Orchester, Plattenfirmen und Musikfestivals.