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Andreas Staier
Andreas Staier
Einführungstext von Michael Kube
Ein klassisches Dreigestirn
Klavierwerke von Haydn, Mozart und Beethoven
Jede künstlerische Epoche – ob in der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik – wird von wenigen Meistern und herausragenden Werken geprägt. Stehen für die (literarische) Weimarer Klassik die Namen von Goethe und Schiller, so nennt man für die Wiener Klassik Haydn, Mozart und Beethoven – eine Trias, die sich in ihren Werken vielfach aufeinander bezieht, aber auch in unterschiedlichen Gattungen verschieden starke Impulse setzte. Haydn war es, der die Klaviersonate, das Streichquartett und schließlich auch die Symphonie entscheidend weiterentwickelte. Bei Mozart bilden vor allem die drei Da-Ponte-Opern und das deutsche Singspiel, die Klavierkonzerte und die auf Haydn reagierenden Streichquartette die Marksteine, bei Beethoven sind es abermals die großen instrumentalen Gattungen von Klaviersonate, Streichquartett und Symphonie, die prägend auf die Nachwelt wirkten.
Hinzu kommen die persönlichen Beziehungen der Komponisten untereinander: So ist dokumentiert, dass Haydn und Mozart im privaten Zirkel gelegentlich gemeinsam Streichquartette spielten, und als Beethoven, noch als jugendlicher Musicus, erstmals in Wien zu Gast war, soll Mozart über dessen Spiel und Improvisationstalent geäußert haben: „Auf den gebt acht, der wird einmal in der Welt von sich reden machen.“ Haydn und Beethoven wiederum stehen wenige Jahre später in einem nicht einfachen, doch für beide Seiten durchaus fruchtbaren Lehrer-Schüler-Verhältnis. Darüber hinaus erscheinen einzelne Partituren geradezu als schöpferische Auseinandersetzung mit dem Werk des jeweils anderen, so dass man von einem viele Aspekte umfassenden Geflecht äußerer wie innerer Beziehungen sprechen kann, das an der Wende zum 19. Jahrhundert in dieser Form und auf diesem künstlerischen Niveau singulär blieb.
Dabei dürften sich die Komponisten der „Wiener Klassik“ – gemeinhin verstanden als die Zeit zwischen Mozarts Ankunft in der Hauptstadt 1781 und Beethovens Tod im Jahr 1827 – kaum als solche gesehen haben, wohnt doch diesem Begriff ein Geschichtsbewusstsein inne, das zu dieser Zeit noch lange nicht verbreitet war. Umso erstaunlicher, was ausgerechnet im entfernten Bonn der in Fragen der Kunst offenbar sehr hellsichtige Graf von Waldstein dem jungen Beethoven bei dessen endgültigem Abschied 1792 ins Tagebuch notierte: „Lieber Beethoven! Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart’s Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglings. Bei dem unerschöpflichen Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens Händen.“
Ganz allgemein galt die österreichische Metropole (neben Paris und London) als eines der prägenden musikalischen Zentren der Zeit. Mozart bezeichnete Wien nach seiner Entlassung aus fürsterzbischöflichen Salzburger Diensten im Sommer 1781 als „Klavierland“ – hier hatte sich eine eigenständige bautechnische und klangliche Entwicklung des frühen Hammerflügels vollzogen, aber auch das Musikverlagswesen entfaltete sich in den folgenden Jahrzehnten entsprechend der von den Komponisten kaum zu bewältigenden Nachfrage seitens des Publikums. In diesem größeren Zusammenhang sind auch die drei damals bedeutendsten Formen der Klaviermusik zu sehen: die der freien Fantasie, die der Variation über ein zumeist bekanntes Thema und die der mehrsätzigen Sonate.
Improvisieren und Fantasieren
Heute kaum mehr vorstellbar, gehörte noch im frühen 19. Jahrhundert für jeden profilierten Musiker die freie Improvisation, das Fantasieren auf dem Klavier zum selbstverständlichen Handwerkszeug. Improvisation war nicht allein auf die durch eine Fermate angezeigte Solokadenz innerhalb eines Konzerts mit Orchesterbegleitung beschränkt, sondern beim Musizieren im privaten Kreis ebenso üblich wie bei öffentlichen Darbietungen in den so genannten Akademien. Der Unterscheid zur komponierten Fantasie ist dabei nur ein geringer, wenn auch entscheidender: Während Notentext, Tempo, Ausdruck und Artikulation wie bei jedem anderen Werk festgelegt oder durch die gängige Aufführungs-
praxis bestimmt sind, besteht eine grundsätzliche Ungebundenheit gegenüber den üblichen Takt-, Form- und Satzmodellen. Für Carl Philipp Emanuel Bach hat diese Art der Fantasie (ob improvisiert oder notiert) „nicht in auswendig gelernten Passagien oder gestohlnen Gedanken“ zu bestehen, sondern muss „aus einer guten musikalischen Seele herkommen.“ Sie zeichnet sich „durch das Sprechende, das hurtig Ueberraschende von einem Affeckte zum andern“ aus. Außerdem würde der Takt „offt bloß der Schreib-Art wegen vorgezeichnet, ohne daß man hieran gebunden ist.“ Das so in seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen von 1753 beschriebene Prinzip findet sich auch später noch bei Beethoven – für den (so hat es noch Carl Czerny berichtet) im Klavierunterricht Bachs Traktat eine unabdingbare Grundlage war.
Wie ein Spiegel all dieser an das freie Spiel gerichteten Anforderungen mutet die von Wolfgang Amadeus Mozart am 20. Mai 1785 niedergeschriebene Fantasie c-moll KV 475 an. Sie stellt nicht nur technisch bemerkenswerte Anforderungen, sondern mehr noch in der Art der Gestaltung: Mit jedem Tempowechsel des insgesamt fünfteiligen Werks geht auch eine radikale Veränderung der Faktur und des musikalischen Ausdrucks einher. Schrittweise entfaltet sich das einleitende Adagio, gefolgt von einem Abschnitt in D-Dur. Dramatisch gestimmt ist das kontrastierende Allegro, in dem Mozart über a-moll, g-moll und F-Dur endlich nach f-moll sequenziert. Auch der nächste, mit Andantino (B-Dur) überschriebene und kantabel angelegte Abschnitt bleibt Episode; rasch geht er in ein weiteres Allegro in g-moll über. Zyklisch kehrt am Ende der Gedanke des Anfangs zurück.
Variieren und Verändern
Insbesondere in den Jahrzehnten um 1800 erfreute sich die Variation beim Publikum anhaltender Beliebtheit. Als Folge von zumeist sechs oder zwölf Variationen über beliebte Gassenhauer und Opernmelodien bietet das Genre den Reiz, ein wohlbekanntes „Objekt“ aus verschiedenen klingenden Perspektiven zu betrachten und dies durch Verwendung von wiederkehrenden Figuren auch mit einer Fingerübung zu verbinden. Wie groß einst der Markt für solche Kompositionen war, zeigt das Œuvre des in Wien ansässigen Josef Gelinek, von dem mehr als 120 Variationsfolgen im Angebot waren – eine Massenproduktion, die
Carl Maria von Weber 1810 in einem spitzzüngigen Aphorismus kommentierte: „Kein Thema auf der Welt verschonte dein Genie, / Das simpelste allein – dich selbst – varierst du nie.“
Im Werk Joseph Haydns stehen seine Klavierkompositionen noch immer im Schatten von Streichquartett und Symphonie. Das gilt nicht nur für die etwa 40 Sonaten, sondern auch für einige andere Werke, darunter die 1793 entstandenen Variationen f-moll Hob. XVII:6. Von Haydn selbst zunächst als „Sonata“ bezeichnet, trägt das Stück in einer zeitgenössischen Abschrift den Titel „un piccolo divertimento“. Mit Blick auf die ungewöhnliche formale Disposition haben indes alles drei Bezeichnungen ihre Berechtigung: Formal handelt es sich um so genannte Doppelvariationen, bei denen nach Art eines Rondos zwei kontrastierende Abschnitte (in f-moll und F-Dur) im Wechsel variiert werden. Entsprechend der weiträumigen Anlage mutet allerdings auch Haydns Benennung als Sonate konsequent an, während das Divertimento den scheinbar freien Wechsel der ausdrucksstarken Charaktere in den Vordergrund stellt. Keiner der Bezeichnungen gelingt es jedoch, die für das Werk entscheidende Erweiterung des Verlaufs abzubilden: Denn der stilistisch in die Zukunft vorausgreifende, ausgedehnte letzte freie A-Teil setzt sich durch seine geradezu ungeschützt subjektiv wirkende Expressivität vom Vorhergehenden ab.
Bedenkt man, dass Ludwig von Beethoven nach seiner Ankunft in Wien 1792 vornehmlich als Pianist reüssierte und erst allmählich auch als Komponist wahrgenommen wurde, so verwundert es nicht, dass er sich in seinen eigenen Werken zunächst ganz auf das Klavier bezog – mit Sonaten, Kammermusikwerken, aber auch Variationen. Insgesamt finden sich in seinem Œuvre nicht weniger als 20 Variationszyklen, von der ersten Schülerarbeit, den Dressler-Variationen (1782), über zahlreiche Gelegenheitswerke bis hin zu den epochalen Diabelli-Variationen, entstanden zwischen 1819 und 1823. Als Beethoven in den Jahren 1802/03 begann, sich kompositorisch neu und selb selbstständig auszurichten, spielten deshalb nicht allein Sonate und Symphonie, sondern auch Variationen eine wichtige Rolle. Auffällig ist in dieser Hinsicht nicht nur die Vergabe von Opuszahlen (op. 34 und 35). Im Oktober 1802 bemerkte Beethoven in einem Brief an den Verlag Breitkopf & Härtel: „ich höre es sonst nur von anders sagen, wenn ich neue Ideen habe, indem ich es selbst niemals weiß, aber diesmal – muß ich sie
selbst versichern, daß die Manier in beiden Werken ganz neu von mir ist.“ Neu und ungewöhnlich sind beide Werke nicht zuletzt aufgrund der Wahl eines e igenen, originalen Themas. In Opus 34 ist dies ein dreiteilig angelegter Gedanke in F-Dur und 2/4-Takt, der im folgenden nicht bloß figurativ abgewandelt wird, sondern durch die konsequente Veränderung von Tonart, Taktart und Tempo seinen Charakter chamäleongleich wechselt: von D-Dur (2/4) nach B-Dur (6/8, Allegro), G-Dur (4/4, Allegretto), Es-Dur (3/4, Tempo di Menuetto), c-moll (2/4, Marcia. Allegretto) und schließlich wieder nach F-Dur (6/8, Allegretto), mit einer umfangreichen, eigenständigen Coda.
Form und Gedankenwelt: Die Sonate
Nicht erst im Rückblick kann man von einer regelrechten Sonaten-Mode sprechen, die zur Zeit der Wiener Klassik herrschte. Bereits Heinrich Christoph Koch konstatierte in seinem Musikalischen Lexikon aus dem Jahre 1802: „Unter allen Tonstücken für bloße Instrumentalmusik ist die Sonate von den Tonsetzern am fleißigsten bearbeitet worden.“ Belegt ist dies zur Jahrhundertwende durch die zahlreichen Werke von Haydn, Mozart, Clementi und Pleyel, später auch von Koželuh und Beethoven, aber auch durch solche vieler Komponisten, deren Namen heute vergessen sind. Denn überhaupt eine Sonate im Druck zu veröffentlichen bedeutete auch ein Stück Reputation. In diesem Sinne notierte der Musikkritiker Friedrich Rochlitz 1799 schon mit retrospektiven Unterton, dass „jeder Musiker, welcher in den Orden der für das Publikum arbeitenden Komponisten auf genommen werden wollte, gewöhnlich mit Klavierkompositionen, namentlich mit Solo sonaten, in die Laufbahn trat.“ Dies gilt sogar für Beethoven und die ersten seiner Klavier sonaten, das Joseph Haydn gewidmete Opus 2. Doch wie jede Mode gelangte auch die der Sonate an ihr Ende: Um 1810 geriet die Gattung in eine Krise; die etablierte Form schien ausgereizt zu sein, und man wandte sich nun kleineren oder freieren Formen zu. Dass dies Phänomen nicht allein auf Wien beschränkt blieb, zeigt ein 1818 in Paris erschienener Artikel – der allerdings auch das Genre der Fantasie neu bewertet: „Seit man keine Sonaten mehr zu schreiben versteht, hat man sie durch die Fantasie und durch die Variationen ersetzt. Wird man mit solchen Bagatellen, die den Geschmack verderben, in die Nachwelt gelangen?“
Obgleich sich Joseph Haydn ganz zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn zunächst „in unterrichtung der Jugend ganzer 8 Jahr kumerhaft herumschleppen“ musste und sich wohl nur nach harter Arbeit zu später Stunde autodidaktisch zum Komponisten fortbilden konnte, so dürfte er schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts für den eigenen pädagogischen Gebrauch Sonaten und Stücke für Klavier (zu jener Zeit noch Cembalo oder Clavichord) geschrieben haben. Erhalten hat sich davon nichts, erst aus den 1760er Jahren sind einige Divertimenti handschriftlich überliefert; zwischen 1774 und 1784 erschienen mehrere Sonaten-Sammlungen mit jeweils drei oder sechs Werken im Druck. Der zeitliche Abstand zu den fünf einzeln stehenden letzten Sonaten (entstanden zwischen 1789 und 1795) ist vor allem durch die Verlagerung seiner Aktivität auf das Streichquartett, das Klaviertrio und die Symphonie zu erklären. Auch wenn Haydn nie solistisch als virtuoser Pianist auftrat (dies verbat schon seine Stellung als Hofkapellmeister), hatte er in den späten Jahren doch eine klare Vorstellung von den klanglichen Varianten des sich gerade erst entwickelnden Hammerklaviers. So bevorzugte er (anders als etwa Mozart) nicht die Instrumente von Anton Walter, sondern die von Wenzel Schanz, die seiner Meinung nach „eine ganz besondere leichtigkeit und ein angenehmes Tractament“ haben. Mehr noch entwickelte er die musikalische Sprache seiner Sonate Es-Dur Hob. XVI:49 ganz aus diesem Instrument heraus, wie er der Widmungsträgerin Marianne von Genzinger in einem Brief vom 27. Juni 1790 erläuterte: „nur schade, daß Euer gnaden kein Forte piano von Schatz besitzen, in dem sich alles besser ausdrücken läst […] ich weis, daß ich diese Sonaten hätte auf die arth Ihres Claviers einrichten sollen, allein es war mir nicht möglich, weil ich es ganz aus aller gewohnheit habe.“ Dieser aufführungspraktische Hinweis ist umso bedeutender, als sich die Sonate doch durch eine höchst differenzierte Faktur auszeichnet; das Adagio e cantabile hat nach Haydns Worten zudem „viel Empfindung“.
Die nach der Jahrhundertwende veränderte Situation der zusehends in Aufbau und Thematik formalisierten Sonate kam Beethovens Suche nach neuen Wegen und Ausdrucksmöglichkeiten geradezu entgegen. Vergleichbar den Variationen op. 34 setzte er auch bei den 1801/02 entstandenen Klaviersonaten op. 31 auf andere Verfahren bei der Gestaltung des Verlaufs, ohne sich dabei jedoch radikal vom Tradierten
abzuwenden. Dies zeigt rein äußerlich das (letztmalige) Zusammenfassen von drei individuell ganz unterschiedlich ausgerichteten Werken unter einer Opusnummer, ebenso die Anlage in drei bzw. vier Sätzen. Die ersten beiden Sonaten erschienen im April 1803 im Verlag des Zürcher Musikästhetiker Hans Georg Nägeli als erste Hefte des neu aufgelegten Répertoire des Clavecinistes im Druck und dürften zugleich auch Nägeli selbst zu einer öffentlichen Ausschreibung für „Klaviersolos in grossem Styl, von grossem Umfang, in mannichfaltigen Abweichungen von der gewöhnlichen Sonaten-Form“ bewogen haben. „Ausführlichkeit, Reichhaltigkeit, Vollstimmigkeit soll diese Produkte auszeichnen. Contrapunktische Sätze müssen mit künstlichen Klavierspieler-Touren verwebt seyn.“ Tatsächlich ist es das d-moll-Werk op. 31 Nr. 2, das in genau dieser Weise den Begriff der Sonate erweiterte und das Hammerklavier jener Zeit vor allem im ersten Satz in faszinierender Weise an seine klanglichen Grenzen führte: vom eröffnenden Arpeggio über das neuartige instrumentale Rezitativ (zumal durch das Haltepedal räumlich entgrenzt) bis hin zu kantigen, fast perkussiv gedachten Akzenten. Die Umrisse von Exposition, Durchführung und Reprise sind zwar noch klar erkennbar, der Verlauf aber gleicht mit seinen zahlreichen Tempowechseln eher dem einer Fantasie. Das dicht gearbeitete Adagio bildet dazu einen Kontrast, der durch das in einem Fluss fort strömende Finale wieder aufgehoben wird. Auf die nahe liegende Frage, wie dieses ungewöhnliche Werk zu greifen sei, entgegnete Beethoven seinem späteren Biographen Anton Schindler: „Lesen Sie nur Shakespeares Sturm.“ Eine lakonische Antwort, die alles offen lässt.