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Elisabeth Leonskaja

Neue Bahnen

Klaviermusik von Schubert, Schönberg und Webern

Anne do Paço

Die Klavierwerke Franz Schuberts begleiten Elisabeth Leonskaja schon ihre ganze Karriere hindurch – Musik aus Wien, wo die aus Georgien stammende Pianistin seit 1978 lebt, die auf höchst individuelle Weise das klassische Erbe in die Romantik weiterdenkt. Schubert liebte die weiträumige Architektur und unendlich sich ausschwingende Melodien. Arnold Schönberg und sein Schüler Anton Webern hin - gegen unternahmen genau das Gegenteil, als sie die „innere Notwendigkeit“ verspürten, mit allen tradierten Parametern des Komponierens erst einmal zu brechen, um Wege für eine Neue Musik freizuschlagen: An die Stelle großer zyk lischer Formen setzten sie hochkonzentrierte Miniaturen.

Zweifel an der Sonate Schuberts Sonate a-moll D 537 entstand 1817, in seinem sogenanntem „Sonatenjahr“, in dem sich der gerade erst 20-Jährige intensiv der klassischen Gattung widmete, wie sie von Haydn, Mozart, aber auch Clementi ausformuliert worden war und von Beethoven in direkter räumlicher Nachbarschaft neu akzentuiert und weiterentwickelt wurde. Dass ein junger, ambitionierter Komponist an all dem sich messen wollte und musste, ist selbstverständlich – dass ihm ein solches Erbe immer wieder auch zur Hürde wurde ebenso. Vieles, was Schubert in dieser Zeit komponierte, blieb Fragment. Nicht so die a-moll-Sonate. Auf den ersten Blick erscheinen die Proportionen des nur dreisätzigen Werkes fast „mozartisch“, doch hört man genau hinein, wird schnell klar, wie sehr dies eine Musik voller Brüche ist, eine Musik, die zeigt: Schubert interessierte sich weniger für die aus dem Konflikt ihre Energien ziehende motivischthematische Arbeit als für das vagabundierende Aneinanderreihen von Themen, die sich oft nicht runden, sondern ver - rennen, einen Ausweg nur noch im jähen Verstummen finden. Im ersten Satz sind die vielen enharmonischen Rückungen und Generalpausen nicht zu überhören, ebenso wenig wie die neuen Gedanken, die in der Durchführung anstelle einer klassischen Verarbeitung der in der Exposition vor - gestellten Themen auftauchen. Der zweite Satz kommt zunächst wie ein munterer Marsch daher, führt dann aber hinein in ein schwelgerisches „Lied ohne Worte“. Das Finale ist in einer lockeren Reihungsform gehalten, die dem lyrischen Seitengedanken sehr viel mehr Entfaltungsraum schenkt als dem nervös aufbrausenden Hauptthema.

„Nicht bauen, sondern ausdrücken“

„Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick lässt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.“ Mit diesen Worten erläuterte Arnold Schönberg die Sechs Bagatellen op. 9 Anton Weberns – und umschrieb damit zugleich äußerst anschaulich jene Art zu komponieren, die ihn selbst seit 1909 interessierte: die Verdichtung eines musikalischen Geschehens auf nur wenige Sekunden. Verstehen lässt sich eine solche Konzeption als Gegenreaktion auf die monumentale Symphonik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und das Musiktheater Richard Wagners – als Ausweg aus einer Art zu komponieren also, von der Schönberg zunächst durchaus fasziniert war, wie sein üppiges Klanggemälde Pelleas und Melisande oder die riesig besetzten Gurrelieder zeigen. Zugleich greift diese Erklärung jedoch zu kurz, ging es doch um noch viel mehr: „Ich strebe an: Vollständige Befreiung von allen Formen, von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik, also: weg von der ‚motivischen Arbeit‘. Weg von der Harmonie als Zement oder Baustein der Architektur“, schrieb Schönberg Mitte August 1909 an Ferruccio Busoni. Und weiter: „Weg vom Pathos! Weg von den 24-pfündigen Dauermusiken, von den konstruierten Türmen, Felsen und sonstigem gigantischen Kram. Meine Musik muss kurz sein. Knapp! in zwei Noten: nicht bauen, sondern ‚ausdrücken‘!! Und das Resultat, das ich erhoffe: keine stilisierten und sterilisierten Dauergefühle. Die gibts im Menschen nicht: dem Menschen ist es unmöglich, nur ein Gefühl gleichzeitig zu haben. Man hat tausende auf einmal. […] Und diese Buntheit, diese Vielgestaltigkeit, diese Unlogik, die unsere Empfindungen zeigen, […] möchte ich in meiner Musik haben.“

Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke op. 19 gehören zu den eindringlichen Ergebnissen dieser Überlegungen: entmaterialisierte, die Nuancen und das Eigenleben einzelner Klänge mit einer nach innen gerichteten Expressivität und frei von tonalen und motivisch-thematischen Beziehungen erforschende Stenogramme – Musik, zwischen neun und 17 Takte lang und dynamisch auf einer Skala vom Piano bis zum vierfachen Pianissimo angesiedelt, die in der Konzentration auf die absolute Essenz kaum fassbare Klangwelten eröffnet.

Komponiert hatte Schönberg fünf der Stücke an nur einem Tag, dem 19. Februar 1911, „wie in einem schöpferischen Rausch“. Nur die Nr. 6 folgte später, am 17. Juni, als Gedenken an den vier Wochen zuvor verstorbenen Gustav Mahler, der mit seinen Symphonien zum einen genau jene Musik verkörperte, gegen die sich Schönberg nun stellte, zum anderen in den expressiven Aufsprengungen, Brüchen und Verwerfungen seiner späten Werke dem Begründer der Zweiten Wiener Schule durchaus auch als „Zeitgenosse der Zukunft“ galt.

Geht man davon aus, dass Schönbergs späterer Ausspruch, er habe nicht aus Mutwillen die Tonalität aufgegeben, sondern „mit Furcht und Zittern“, ohne Koketterie getan wurde, lässt sich erahnen, wie radikal die ersten Schritte hinein in ein derartiges Komponieren gewesen sein müssen, auch wenn sie im Einklang standen mit vergleichbaren Entwicklungen in anderen Künsten wie den Revolutionen in der Malerei durch den Expressionismus: Dass Pablo Picasso zur nahezu gleichen Zeit die Verbindlichkeit von Perspektive aufgab wie Schönberg den Grundton, ist vermutlich kein Zufall.

„Der Teufel soll dieses Zeug spielen!“

Als Fantasie bezeichnet man seit dem 16. Jahrhundert Instrumentalwerke, die eine große Gestaltungsfreiheit aufweisen: „Fantasie. So nennet man das durch Töne aus - gedrückte und gleichsam hingeworfene Spiel der sich ganz überlassenen Einbildungs- und Erfindungskraft […], bei welchem sich der Spieler weder an Form noch Haupttonart, weder an Beibehaltung eines sich gleichen Zeitmaßes, noch an Festhaltung eines bestimmten Charakters bindet“, lautet die Definition Heinrich Christoph Kochs in seinem Musikalischen Lexikon aus dem Jahre 1802. Auch Schubert fühlte sich von derartigen Freiheiten schon als Jugendlicher angezogen, wie die frühe Klavierfantasie D 2e des 14-Jährigen, aber auch die Vertonung der Schiller-Ballade Leichenfantasie aus dem gleichen Jahr zeigen (darin finden sich innerhalb von 453 Takten zehn Tonarten- und 15 Tempowechsel). Seine späteren Werke – die Große Fantasie D 760 aus dem Jahre 1822, die ihren Titel „Wanderer-Fantasie“ Franz Liszt verdankt, aber auch die Fantasie für Violine und Klavier D 934 sowie die Fantasie für Klavier zu vier Händen D 940 aus Schuberts Todesjahr 1828 – zeigen dagegen eine andere Herangehensweise: Sie sind harmonisch geschlossen und setzen sich aus mehreren Sätzen zusammen, die einzeln oder im Verbund deutlich stärker an eine Sonate erinnern als an eine von allen Formzwängen befreite Komposition. In der „Wanderer-Fantasie“ sind zudem alle Themen aus nur einem Motiv abgeleitet, das Schubert seinem Lied Der Wanderer von 1816 entnahm. Sein daktylischer Rhythmus lang-kurzkurz stiftet Einheit, so unterschiedlich die Ausdruckscharaktere der einzelnen Sätze auch sind.

Immer wieder ragen in Schuberts Instrumentalwerke Themen aus seinen Liedern hinein und erfüllen dabei nicht nur die Funktion eines abstrakten Bausteins, sondern kreieren als klingende Chiffren Bezüge. Entsprechend lässt sich auch in der C-Dur-Fantasie das für Schubert so zentrale Thema der Wanderschaft finden, eine Wanderschaft, die nicht fröhlich in die Welt hinausführt, sondern durchsetzt ist von aufgewühlten Psychogrammen: „Die Sonne dünkt mich matt und kalt, / Die Blüte welk, das Leben alt, / Und was sie reden leerer Schall, / Ich bin ein Fremdling überall“, lautet der Text der zitierten Passage aus dem Lied, die auch das Thema des Adagios und der nachfolgenden Variationen ist. Doch jenseits solcher Einsamkeitszustände, die Schubert mit teils harschen Harmonien evoziert, handelt es sich bei der „Wanderer-Fantasie“ vor allem um ein extrovertiertes, mit geradezu orchestraler Klangfülle auftrumpfendes Werk und damit auch um ein Schaustück für jene exzellenten

Klaviervirtuosen, wie sie damals vom Publikum so geliebt wurden. „Der Teufel soll dieses Zeug spielen!“, soll Schubert über die technischen Ansprüche seiner Partitur gesagt haben, die bis heute die Interpreten herausfordert. Konstruktion und Ausdruck Die „vollständige Befreiung von allen Formen“ konfrontierte die Komponisten der Zweiten Wiener Schule mit einem Problem: dem Verlust der musikalisch-architektonischen Konstruktionsmittel. Um auch größere Formen komponieren zu können, suchten sie zunächst Halt in der Vertonung von Texten, wie Schönberg 1909 mit seinem Monodram Erwartung und Webern 1913/14 in einer Serie von Liedern, während Berg 1915 mit der Arbeit an seiner Oper Wozzeck begann. Doch erst „nach der Formulierung des ‚Gesetzes‘ der Zwölftonmethode“ – so Webern 1932 in einem Vortrag – „wurde es möglich, wieder längere [Instrumental-] Stücke zu komponieren“. Ein schönes Beispiel für seine Art des Komponierens mit zwölf Tönen, das er schließlich zu einer seriellen Organisation nicht nur der Tonhöhen, sondern auch anderer Parameter wie Rhythmus, Dauer, Klang oder Dynamik weiterdachte, sind Weberns 1935/36 entstandene Variationen für Klavier op. 27 – auch wenn diese ebenfalls nur wenige Minuten dauern.

Als Basis dienen verschiedene Reihentechniken: Der erste Satz ist ein Krebskanon, der zweite ein Umkehrungskanon, der dritte bildet als Variationssatz die Synthese. Zentral waren für Webern jedoch – jenseits der Konstruktion – die Ausdrucksdimensionen, wie der Pianist Peter Stadlen nach der intensiven Vorbereitungszeit der Uraufführung im September 1937 berichtet: Webern „bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines neuen gesprochenen Satzes zu kennzeichnen“. Auf dieses raffinierte Motivspiel im ersten Satz folgt ein „sehr schnell“ vorzutragender, scherzohafter Teil, der von impulsiven Rhythmen geprägt wird. Doch auch hier verlangt Webern – in Kombination mit einer virtuosen Sprungtechnik –, fast jeden Ton individuell zu gestalten. An dritter Stelle steht dann eine geradezu sublime Zusammenschau des Vorausgegangenen.

Eine „Große“ Sonate

Wie die „Wanderer-Fantasie“ wird auch die a-moll- Sonate D 845 von einem Zitat geprägt, das Schubert einem eigenen Lied entnahm. „Von allen verlassen, / Dem Tod nur verwandt, / Verweil’ ich am Rande, / Das Kreuz in der Hand, / Und starre mit sehnendem Blick / Hinab ins tiefe, ins tiefe Grab!“, lautet die Textstelle in Totengräbers Heimweh, zu der in der Klavierbegleitung jenes Motiv erklingt, mit dem das erste Thema der Sonate mit seinem charakteristischen Pralltriller verwandt ist. Über den von Todessehnsucht geprägten Kontext der Liedvertonung hinaus dürfte die be - sondere Beschaffenheit dieses Materials Schubert interessiert haben, kreierte er aus ihm doch ein äußerst wandelbares und vielseitiges Thema – bestehend aus einer scheuen Frage in seltsam entleert wirkenden Unisono-Oktaven und einer akkordischen Antwort in entgegengesetzter Bewegungsrichtung –, aus dem sich auch der Seitengedanke ableiten und so ein gesamter Sonatensatz inklusive polyphoner Imitationstechniken in der Durchführung bauen ließ. „Der erste Teil so still, so träumerisch, bis zu Tränen könnte es rühren“, schrieb Robert Schumann 1835 in der Neuen Zeitschrift für Musik dazu, „dabei so leicht und so einfach aus zwei Stücken gebaut, dass man den Zauberer bewundern muss, der sie so seltsam in- und gegeneinander zu stellen weiß.“ Pochende Achtelrepetitionen bringen eine nervöse Unruhe in den im Tempo Moderato eher ruhig wirkenden Satz, der mit einer Reprise schließt, die das Gegenteil einer Zusammenfassung ist: Immer wieder neu setzt die Musik an – und tritt, keinen Schluss findend, auf der Stelle.

Dem Andante poco mosso liegt ein tänzerisches Liedthema zugrunde, in dessen scheinbarer Idylle sich jedoch eine eigentümliche Wehmut eingenistet hat – melancholische Schatten, die sich in den folgenden fünf Variationen zu Wiener „Heurigen-Leichtigkeit“ lichten, aber auch – die Tonrepetitionen aus dem Kopfsatz aufgreifend – mit bohrender Intensität in die Ausweglosigkeit führen. Harmlos ist dies ganz und gar nicht, immer wieder lauert vielmehr hinter der Schönheit ein tiefer Schmerz. Der dritte Satz ist ein gespenstisch irrlichterndes Scherzo voller metrischer

Irritationen durch unterschiedliche Betonungen der Taktschwerpunkte und abrupter Harmoniewechsel und mit einem wiegenliedartigen Trio als Kontrast. Das Rondo- Finale versucht sich mit seinen huschenden Achteln und kraftvollen Akkordballungen zu einer fast trotzigen Leidenschaft aufzuschwingen, doch auch über diesem Satz liegt ein dunkler Fatalismus.

Schubert komponierte seine a-moll-Sonate im Frühjahr 1825. Ein Jahr später brachte der Wiener Verleger Anton Pennauer sie im Druck heraus, von Schubert selbstbewusst als „Prèmiere Grande Sonate“ betitelt und mit einer Widmung an Erzherzog Rudolph von Österreich versehen – keinem Geringeren also als dem großen Förderer, Verehrer und Schüler Beethovens.

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