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Boulez Ensemble XVI

Das wütende Handwerk

Pierre Boulez und Le Marteau sans maître

Johannes Knapp

An den Ufern der Seine zwischen Pont Marie und Louvre sowie am Quai de la Tournelle und längs des Quai Voltaire betreiben bibliophile Lebenskünstler, im Pariser Volksmund „Bouquinistes“ genannt, eine imposante Freilichtbuchhandlung. Romane, philosophische Schriften, Biographien, Gedichtbände, Postkarten, historische Stiche und Kunstkataloge (und mittlerweile auch Kühlschrankmagneten, chinesische Eiffeltürmchen und sonstige Souvenirs) liegen bei fast jeder Witterung in hunderten tannengrüner Klappkästen auf.

Seiner Erinnerung zufolge ist es im Frühjahr 1946 gewesen, als Pierre Boulez, kaum 21 Jahre alt, im Vorbeigehen an einem dieser Stände einen Namen aufblitzen sah, der ihm zuvor in einer Literaturzeitschrift begegnet war: René Char. Es handelte sich um seinen Gedichtband Seuls demeurent (in deutscher Ausgabe Es bleiben aber), erschienen wenige Monate vor Kriegsende in der berühmten Collection blanche bei Gallimard. Die Lektüre von Chars Dichtung war für Boulez, der dem Pariser Konservatorium jüngst den Rücken gekehrt hatte und fortan als musikalischer Leiter der Theatertruppe Renaud-Barrault wirkte, eine Offenbarung seiner eigenen Identität. Fasziniert von der Neuartigkeit der konzentrierten und doch überaus freien dichterischen Sprache, machte er sich umgehend an die kompositorische Arbeit. Sie trug bald schon erste Früchte: Le Visage nuptial (1946/47), eine Kantate für Sopran, Alt, zwei Ondes Martenot, Klavier und Schlagwerk. Im Zentrum dieses Jugendwerks steht das titelgebende, zwischen freiem Vers und Alexandriner changierende Liebesgedicht aus Seuls demeurent (in der Übersetzung Das bräutliche Antlitz betitelt). Die Musik unterstreicht hier die Erzählung, ist parallel zum Text erfunden, schmiegt sich ihm an, folgt seinen Windungen.

Nach dem Miteinander ein Nebeneinander: In Le Soleil des eaux (1947/48, deutsch Die Sonne der Wasser), einem Radiohörspiel, finden verstreute musikalische Ideen, die Boulez bereits entwickelt hatte, durch Chars Text ihren Zusammenhalt. Alain Trutat, ein enger Freund von Paul Éluard und später Gründungsfigur des Radiosenders France Culture, hatte den damals noch unbekannten Boulez gebeten, die Musik für Chars theatralisches Hörspiel beizusteuern. Dieses handelt von aufständischen Fischern, die gegen den Bau einer Papierfabrik an den Ufern ihres Flusses aufbegehren. Als Le Soleil des eaux im April 1948 im französischen Rundfunk ausgestrahlt wurde, waren sich Boulez und der 18 Jahre ältere Char mittlerweile persönlich begegnet und hatten Freundschaft geschlossen.

Von „substantiellen Verbündeten“ sollte Boulez noch über vier Jahrzehnte später, im Jahre 1990, in der Tages zeitung Le Monde sprechen. Im selben Artikel fragt er: Wieso dieser Dichter, jenes Gedicht, ausgerechnet in diesem Moment der Entwicklung des Komponisten? Zur Beantwortung zitiert er Blaise Pascal, der in seinen Gedanken Gott sagen lässt: „Du würdest mich nicht suchen, wenn Du mich nicht schon gefunden hättest.“ Das dürfen wir in etwa so verstehen: Im tiefsten Innern der heranreifenden Musikerpersönlichkeit setzte Chars dichterisches Wort etwas frei, das im Verborgenen bereits in ihr angelegt war. Es beflügelte Boulez’ Schaffenskraft, verhalf ihm zur Bewusstwerdung seiner selbst und begleitete ihn auf dem Weg ins unbekannte Morgen.

Anfang Oktober 1952 wandte sich Boulez aus Montreal, wo er sich mit der Theatertruppe Renaud-Barrault gerade auf Gastspielreise befand, in einem langen Brief an seinen belgischen Komponistenkollegen Henri Pousseur. Freimütig lässt er darin seine erste Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen im Sommer 1951 Revue passieren, berichtet von seinen frühen Begegnungen mit elektronischer Musik in Bonn und Köln, und zieht messerscharfe Bilanz seiner eigenen Arbeit, insbesondere bezüglich Polyphonie X für 18 Soloinstrumente. Weder römische Ziffer noch Buchstabe, ist das X im Werktitel Symbol eines radikal konzeptuellen Musikdenkens, Zeichen gegenseitigen Durchkreuzens aller strukturellen Parameter einschließlich der Klangfarbe. Die kompositorische Absicht dahinter: Jegliche Spuren des Überkommenen tilgen, reinen Tisch machen mit dem Erbe, oder – frei nach Roland Barthes – am Nullpunkt der Musik beginnen. „Wir wollten ein neues Evangelium bringen“, so Boulez im Rückblick auf die Nachkriegszeit wenige Jahre vor seinem Tod in einem Interview. Dieses Bestreben gipfelte 1951 in seinen Structures Ia für zwei Klaviere. Von streng zwölftönig organisiertem Tonmaterial ausgehend, das sein einstiger Lehrer Olivier Messiaen in seiner Klavieretüde Mode de valeurs et d’intensités aufgestellt hatte (komponiert im Juni 1949 in Darmstadt), führt er es auf alle möglichen Arten durch: Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung, Dauern zwischen einem Zweiunddreißigstel und einem punktierten Viertel, dynamische Werte vom vierfachen Piano bis zum vierfachen Forte, zehn Anschlagsarten, Schichtung der Reihen bis zur doppelten Dreistimmigkeit und so weiter und so fort – wie mechanische Objekte, die sich in alle Richtungen bewegen lassen. Die serielle Rigorosität ging Boulez jedoch bald selbst auf den Wecker.

„Ich habe mich an ein ‚Werklein‘ auf Gedichte von René Char gemacht“, verkündet Boulez im selben Brief. Einen Satz dieses „Werkleins“ hatte er vor der Überfahrt nach Nordamerika bereits zu Papier gebracht: L’Artisanat furieux (in der Übersetzung von Helmut Scheffel: Das wütende Handwerk) für Altstimme und Altflöte. Chars Gedicht, Vision einer Reise in imaginäre Welten, ist hier auf eine direkte, einfache und überaus elegante Art vertont. Zu den Sonoritäten des Vierzeilers ersann Boulez filigrane melismatische Linien. Bisweilen wird ein einzelner Vokal auf einer ganzen Zwölftonreihe gesungen. Was für ein Gegenentwurf zu den asketischen Structures mit ihren gewaltigen Tonsprüngen! Als ob Boulez auf seinen provokanten Nachruf Schönberg ist tot vom Juli 1951 ein musikalisches „Es lebe (der junge) Schönberg!“ folgen lassen wollte, handelt es sich bei dem ausgezierten Gesang und der kontrapunktischen Flötenbegleitung um eine beabsichtigte Anspielung auf die siebte Nummer (Der kranke Mond) des Pierrot lunaire.

Für ein zweites Stück wählte Boulez mit Bourreaux de solitude ein äußerst kurzes Gedicht aus. Nun suchte er nach einem gänzlich anderen Verhältnis zwischen Wort und Ton. Die Stimme ist diesmal in den Ensembleklang eingelassen, nur für die Artikulation des Textes tritt sie während kurzer Sequenzen aus ihm hervor. Im Gegensatz zu L’Artisanat furieux ist der Gesang nicht melismatisch, sondern überwiegend syllabisch (jeder Textsilbe ist prinzipiell eine Note zugehörig). Ein weiterer Fund aus Boulez’ intensiver Char-Lektüre ist Bel édifice et les pressentiments. Wieder kommt dem Gedicht eine andere Bedeutung zu: Es taucht an Kehrtwenden des musikalischen Geschehens auf und markiert dergestalt die Abschnitte. Bisweilen entsteht der Eindruck einer Rivalität zwischen Stimme und Ensemble. In den übrigen Stücken hätte Boulez weiterhin so verfahren können: zu jedem Gedicht eine Musik, so wie in Schönbergs Pierrot lunaire mit seinen dreimal sieben Stücken und seinen 21 Gedichten. Doch das roch ihm wohl zu sehr nach romantischem Liederzyklus – Boulez hatte mehr im Sinn. Am Rand eines Notenblattes mit einer verworfenen Reinschrift des Anfangs von Structures Ib skizzierte er sein ambitioniertes Vorhaben: ein neunteiliges zyklisches Werk, zusammengesetzt wiederum aus drei ineinander verschränkten Zyklen. So rahmte Boulez die Textvertonung L’Artisanat furieux (III) mit einem instrumentalen Prélude (I) und einem Nachspiel (VII) ein. Zu Bourreaux de solitude (VI) komponierte er drei ebenfalls instrumentale Kommentare (II, IV, VIII) – Resonanzen des Textes in der Musik, die ihrerseits das Gedicht reflektiert. Wie ein plastisches Fries durchziehen die Partien des Schlagzeugs die vier verschwisterten, alle geradzahligen Positionen einnehmenden Stücke. Wieder war Boulez mit der Truppe Renaud-Barrault im Sommer 1954 auf Tournee, diesmal in Südamerika. Auf der Rückreise hatte er eine „reiche Ernte ‚exotischer‘ Instrumente“ (Boulez in einem Brief an Stockhausen) im Gepäck. Kurzerhand unterzog er die Schlagzeugpartien einer grundlegenden Revision. Exotisch mutet auch das Xylophon an, der große Bruder des westafrikanischen Balaphons. Die Gitarre hingegen evoziert stellenweise japanische Kaiserhofmusik. Was für eine Bereicherung der europäischen Klangsprache durch außereuropäische Hörwelten! Der dritte Zyklus schließlich besteht aus nur zwei Teilen, dem Kernstück (V) und seinem „Double“ (IX). Boulez dekonstruiert und verzahnt die drei Zyklen ingeniös ineinander. (Ihre Anordnung erschließt sich beim Blick auf die Werkreihenfolge; vgl. S. 3). Niemals folgt auf ein vokales Kernstück ein instrumentales Nachspiel, nie erklingen Kommentare in direkter Nachbarschaft zum entsprechenden Gedicht.

Im Finalsatz – Doppelgängerversion von Bel édifice et les pressentiments und zugleich Mikrokosmos des gesamten Werks – lässt Boulez die Musik der beiden anderen Zyklen nochmals anklingen. Die Bühne gehört nun allen Beteiligten. Wie sie zueinander in Beziehung stehen, tritt deutlich zutage: Die Stimme und die Flöte, beide in Altlage, verbindet der menschliche Atem, Flöte und Bratsche treffen sich im monodischen Spiel. Werden die Saiten der Bratsche gezupft, nähert sie sich der Gitarre, die ihrerseits eine Brücke zum Vibraphon schlägt und so weiter. Chars Gedicht ist nun zwischen Singen und Sprechen angesiedelt (eine weitere Anspielung auf Pierrot lunaire). Kaum sind die letzten Worte erklungen, zieht sich die Stimme geschlossenen Mundes in den Ensembleklang zurück. Die Flöte hingegen, die in L’Artisanat furieux die Stimme begleitete, tritt nun in den Vordergrund und schlüpft in die Rolle der vokalen Protagonistin. Hier erinnert Boulez’ Art des Umgangs mit Chars Text an das Schicksal der römischen Stadt Pompeji: Sämtliches Leben ist dort durch den Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 nach Christus ausgelöscht worden, doch der tödliche Ascheregen, vor allem aber die Lavaströme, haben das einstige Leben eindrucksvoll konserviert. Man denke etwa an die Spuren eines Pferdes, die erst diesen Sommer von Archäologen entdeckt worden sind, oder an menschliche Abdrücke, anhand derer der schicksalshafte letzte Tag einer Patrizierfamilie nacherzählt werden konnte. Lassen wir Boulez selbst zu Wort kommen: „Wenn ich ein Gedicht wähle, um es zu etwas anderem zu machen als zum Ausgangspunkt einer Ornamentierung, die ihre Arabesken darum webt, wenn ich also das Gedicht wähle, um es zu einer befruchtenden Quelle für meine Musik zu machen und so ein Amalgam zu schaffen, in welchem das Gedicht zugleich ‚im Mittelpunkt und außerhalb‘ der Musik steht, dann kann ich mich nicht nur auf die affektiven Beziehungen beschränken, die diese beiden Wesenheiten miteinander unterhalten; dann drängt sich mir ein Gewebe von Verbindungen auf, das unter anderem zwar die affektiven Beziehungen mit einschließt, aber auch alle Mechanismen des Gedichts umfasst, von der reinen Klangsubstanz bis zu seiner geistigen Ordnung.“

Wer das rätselhafte Werk – mit Furore wurde es nach 49 Proben im Juni 1955 (Blütezeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks…) in Baden-Baden uraufgeführt – „verstehen“ möchte, dem drängt sich auch die Frage nach dem Inhalt der Gedichte auf. Sie ist alles andere als leicht zu beantworten. Schon der Titel von Chars Gedichtsammlung, den Boulez nebst den drei darin enthaltenen Gedichten für „seinen“ Marteau übernahm, ist für etliche Lesarten offen: Mit „Der Hammer ohne Meister“ lässt er sich wörtlich übersetzen. Der Romanist Horst Wernicke hingegen entschied sich für „Der herrenlose Hammer“. Ist der Titel also surrealistische Metapher für die Verweigerung von vernunftgeleiteter Kontrolle? Verbirgt sich dahinter die altertümliche mythische Figur des Schmieds? Klingt hier die anarchistische Devise „Ni Dieu ni maître!“ („Kein Gott, kein Herr!“) an? Erweist der Dichter dem späten Nietzsche seine Reverenz („Wie man mit dem Hammer philosophiert“)? Womöglich trifft all das und noch viel mehr zu. Der leidenschaftliche Char- Übersetzer Peter Handke bemerkte einmal, man verstünde Chars Texte nicht unbedingt, aber man sehe etwas anderes, wenn man sie liest. In dieser Hinsicht gleiche Char den Vorsokratikern. In einem Interview vor wenigen Wochen bemerkte François-Xavier Roth, dessen Hinweise sich im vorliegenden Text niedergeschlagen haben, zur Frage nach dem Inhalt: „Die Dichtung weist, ähnlich wie die Musik, weit über das Illustrative hinaus. Das Wort wird Klang, auch Sinn, der aber hermetisch eingeschlossen ist im Wort wie ein Insekt in einem leuchtenden Bernstein.“ Boulez’ Tonschöpfung schmälert den poetischen Bedeutungsreichtum nicht, ist keine klingende Deutung. Seine Musik und Chars Gedichte stehen sich in „fruchtbarer Kameradschaft“ (Char) nahe, die strukturelle Affinitäten ans Licht bringt. Eine vergleichbare Beziehung unterhält Chars Dichtung mit der Kaltnadelradierung, die Picasso 1945 für das Titelblatt der revidierten Ausgabe von Chars Marteau anfertigte: zwei Werke, die Autonomie für sich beanspruchen und doch einander bereichern. Die Ballettchoreografie zu Boulez’ Marteau, die Maurice Béjart 1973 mit sechs Tänzern, einer Ballerina und Boulez am Dirigentenpult an der Mailänder Scala realisierte, ist ein weiteres Beispiel eines freiheitlichen Miteinanders der Künste auf Augenhöhe.

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