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Streichquartett der Staatskapelle Berlin & Elisabeth Leonskaja
„… so glücklich in den Gegensätzen“
Kammermusik für Klavier und Streicher von Johannes Brahms
Michael Kube
Eine kurze Gattungsgeschichte
In der Kammermusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kommt dem Klavierquartett wie auch dem Klavierquintett eine – wenn man so will – prominente Außenseiterrolle zu. Aufführungspraktisch keineswegs abseitig normalerweise mit einem Streichtrio bzw. -quartett und dem allgegenwärtigen Tasteninstrument besetzt, bestätigen die wenigen Standardwerke des Repertoires heute gewissermaßen das Besondere dieser beiden Gattungen. Dass sie keine größere Präsenz erlangten, der Werkkorpus überschaubar blieb, liegt jedoch nicht allein in der Besetzung begründet, sondern auch in der daraus resultierenden klanglichen wie satztechnischen Konstellation – Aspekte, die nicht erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts auftraten, sondern sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert abzeichneten.
Dies zeigt auch ein Vergleich mit dem Klaviertrio: Die Kombination von Klavier, Violine und Violoncello ist kontinuierlich erwachsen aus verschiedenen Besetzungsvarianten, bei denen zunächst oftmals die Violine, vor allem aber das Cello ad libitum hinzutreten oder auch weggelassen werden konnte. Diese Variabilität in der Instrumentation sorgte zwar für eine weite Verbreitung unter den Liebhabern (und wurde so noch von Joseph Haydn kompositorisch bedient), führte aber erst relativ spät zu einer wirklichen Definition der unverrückbaren Besetzung, wie geradezu programmatisch bei Beethoven und seinem Opus 1, den drei Klaviertrios von 1794/95. Hingegen war eine vergleichbare Varianz sowohl beim Klavierquartett als auch beim Klavierquintett allein schon aufgrund der Größe des Ensembles und der Komplexität des Tonsatzes nicht möglich. Auch widersprach dies in gewisser Weise dem im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Kammermusik noch weit verbreiteten Usus, Werke den aufführungspraktischen Gegebenheiten anzupassen.
Belegt ist dies durch ein letztlich gescheitertes Vorhaben des Musikverlegers Franz Anton Hoffmeister: Er hatte 1785 bei Wolfgang Amadeus Mozart drei Klavierquartette in Auftrag gegeben, von denen sich aber bereits das avancierte erste in g-moll KV 478 so schlecht verkaufte, dass er das zweite (Es-Dur, KV 493) nicht mehr drucken wollte; ein drittes Werk hat Mozart erst gar nicht mehr komponiert. An diese herausragenden Kompositionen anknüpfend entstand in den folgenden Jahrzehnten allerdings ein bemerkenswertes Repertoire mit Partituren von Emanuel Aloys Förster, Louis Ferdinand von Preußen, Ferdinand Ries, Friedrich Hoffmeister, Johann Nepomuk Hummel, Friedrich Kuhlau und dem jungen Felix Mendelssohn. Anders als das ästhetisch längst nobilitierte Streichquartett, das schon früh auch in öffentlichen Soireen einem großen Kreis von Kennern und Liebhabern zugänglich wurde, verblieb das Klavierquartett zunächst in der privaten Sphäre des bürgerlichen Salons und den damit verbundenen Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist die Reaktion des Verlages C.F. Peters zu verstehen, der im Jahre 1822 ein von Beethoven angebotenes Streichquartett mit Hinweis auf den damit verbundenen musikalischen Anspruch dankend ablehnte, sich jedoch im gleichen Atemzug um ein Klavierquartett bemühte und bat, dieses „ja nicht gar zu schwer zu machen, damit sich gute Dilettanten desselben erfreuen könnten.“ Beethoven zeigte freilich an solch einer Komposition kein Interesse.
Einen ähnlichen Weg ging das Klavierquintett, ausgehend von Mozarts 1784 entstandenem Werk in Es-Dur KV 452, von dem er gegenüber seinem Vater bekannte: „Ich selbst halte es für das beste was ich noch in meinem Leben geschrieben habe.“ Zwar ist es mit vier Blasinstrumenten – Oboe, Klarinette, Horn und Fagott – in jeder Weise anspruchsvoll und ungewöhnlich besetzt, sorgte dadurch aber für eine weitere schöpferische Auseinandersetzung, so etwa in Beethovens Opus 16, und wurde auch bald für Streicher bearbeitet. Im Œuvre von Franz Danzi findet sich nur wenig später konsequenterweise ein Klavierquintett in zwei gültigen parallelen Fassungen: mit Streichern (op. 40) und mit Bläsern (op. 41).
Die vergleichsweise große Besetzung, die klanglich ausgreifende Disposition und der kompositorische Anspruch mögen letztlich der Grund dafür gewesen sein, dass es während des weiteren 19. Jahrhunderts sowohl beim Klavierquartett wie auch beim Klavierquintett für gewöhnlich bei Einzelwerken blieb. Die unterschiedlichen satztechnischen Anforderungen spiegeln sich auch im Schaffen von Robert Schumann wider, der in der zweiten Jahreshälfte 1842 wie in einem Schaffensrausch unmittelbar nach den Streichquartetten op. 41 sein Klavierquintett, das Klavierquartett und ein Klaviertrio niederschrieb (das allerdings erst 1850 unter dem Titel Fantasiestücke als op. 88 im Druck erschien). Die sich eigenartig von Werk zu Werk reduzierende Besetzung verweist offenbar auf Schumanns ganz bewusste, systematische Auseinandersetzung. Sie findet sich ähnlich bei Johannes Brahms, der umgekehrt die Besetzung ausgehend vom Klaviertrio (op. 8) über das Klavierquartett (op. 25 und 26) zum Klavierquintett (op. 34) erweitert. In all diesen Werken, wie auch im größten Teil der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Klavierkammermusik, ist darüber hinaus als Folge des sich stark weiterentwickelnden Instrumentenbaus eine eher klangmächtige und damit auch symphonisch anmutende Ausrichtung des Klavierparts zu beobachten. Diese stilistische Neuorientierung wurde dann zu Beginn der 1920er Jahre vor allem im deutschsprachigen Raum schlagartig und im Gegenzug von linearer Polyphonie und einem weitgehenden Verzicht auf das Klavier in der Kammermusik abgelöst.
Zu den Werken
Die Entstehung aller drei Klavierquartette von Brahms reicht nach Angaben seines Freundes, des Geigers Joseph Joachim, bis ins Jahr 1855 zurück – mithin in jene Zeit, in der der gerade 22-jährige Komponist nach einer gemeinsamen Tournee mit Clara Schumann und Joachim seine eigene Konzerttätigkeit als Pianist und Dirigent begann. Die für Brahms so charakteristische Selbstkritik führte dazu, dass die Entwürfe zunächst liegen blieben und erst nach teilweise mehrfacher Überarbeitung an die Öffentlichkeit gelangten. Den einzelnen Werken ist dieser beschwerliche Weg freilich kaum anzumerken. Der weit ausladende Kopfsatz des Klavierquartetts g-moll op. 25 etwa lebt geradezu von der gegenseitigen Durchdringung aller Instrumente, bei der auch die motivische Entwicklung spielerisch hervortritt – eine Eigenart, die Arnold Schönberg dazu veranlasst haben mag, das gesamte Werk 1937 stilsicher für großes Orchester zu instrumentieren. Seine zugespitzt formulierten Gründe lesen sich wie der Teil einer Rezeptionsgeschichte: „1. Ich liebe das Stück. 2. Es wird selten gespielt. 3. Es wird immer sehr schlecht gespielt, weil der Pianist desto lauter spielt, je besser er ist, und man nichts von den Streichern hört. Ich wollte einmal alles hören, und das habe ich erreicht.“ Doch auch die beiden Mittelsätze, das pochende Intermezzo wie das hymnisch anhebende Andante („so innig und glücklich in den Gegensätzen“, schreibt Joachim) zeigen Brahms’ vollendete Handschrift im natürlichen Changieren zwischen versunkener Melancholie und rhythmischer Agitation. Beim Finale handelt es sich um ein Rondo alla Zingarese, ein im Tonfall spezifischer Ausdruckscharakter, von dem Brahms Zeit seines Lebens fasziniert war, und der sich auch in anderen seiner Werke findet – von den berühmten Ungarischen Tänzen bis hin zu den Zigeunerliedern für vier Singstimmen und Klavier. Nicht ganz zufällig scheint Brahms für sein Wiener Debüt am 16. November 1862 gerade dieses Klavierquartett gewählt zu haben.
Das Jahr 1855 war eine zutiefst bewegte Zeit, in der Brahms nach Robert Schumanns tragischem Suizidversuch im Februar 1854 der schwangeren Clara und ihren dann sieben minderjährigen Kindern freundschaftlich zur Seite stand. Erst zwei Jahre zuvor war er von Schumann selbst durch den Essay Neue Bahnen einer großen Öffentlichkeit als der lang ersehnte, hoffnungsvolle Komponist einer neuen Generation bekannt gemacht worden: „Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde.“ Rasch wurden Pläne für die Drucklegung erster Kompositionen realisiert, so dass 1854 das Klaviertrio h-moll op. 8 erschien, das Brahms allerdings mehr als 35 Jahre später für die Neuauflage vollständig überarbeitete. Schon bald muss er sich an der für ihn zu zeitigen Herausgabe dieser ersten Werke gestört haben – kaum anders lässt sich nachvollziehen, weshalb neben anderen Kompositionen auch das Klavierquartett A-Dur op. 26 zunächst „liegend“ reifte und dann im Rahmen der Wiener Uraufführung am 29. November 1862 noch einmal gründlich revidiert wurde. Der Neu fassung entstammt etwa der wundervoll entrückte Beginn des langsamen Satzes, der im weiteren Verlauf mit seinen dunklen Arpeggien eine erstaunliche Nähe zum Lied Die Stadt aus Schuberts Schwanengesang aufweist. Dem Scherzo ist kaum anzumerken, dass es sich dabei tatsächlich um einen klingenden Scherz handelt, der Motive aus Bachs Klavierpartita Nr. 4, Schuberts B-Dur- Klaviertrio und Schumanns Streichquartett op. 41 Nr. 3 verarbeitet. Es mögen genau diese Momente gewesen sein, durch die das Werk im engsten Brahms-Umkreis einen deutlichen Vorzug vor dem beim Publikum beliebteren ersten erhielt. So notierte Clara Schumann in einem Brief vom 10. Juli 1863: „Ich muss Dir doch recht geben, dass es schöner ist als das G moll, bedeutender auch musikalisch, der erste Satz ist viel abgerundeter.“
Eine unter gattungsästhetischen Aspekten geradezu verblüffende Entstehungsgeschichte verbindet sich mit dem Klavierquintett op. 34, das Brahms zunächst als Streichquintett mit zwei Violinen, Bratsche und zwei Celli konzipiert hatte. Seine Zweifel an dieser Werkgestalt wurden freilich auch vom Freundeskreis geteilt: Die von Joseph Joachim am 5. Januar 1863 in Hannover abgehaltene Durchspielprobe (bei der Brahms nicht anwesend war) hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Clara Schumann berichtet darüber in einem Brief an den Komponisten Theodor Kirchner: „Es wird oft so orchestral, dass die paar Instrumente bei weitem nicht ausreichen, und das gerade z. B. gleich bei dem Hauptmotiv des ersten Satzes. Hingegen sind auch wieder wunder schöne Klänge darin und die Durchführung in allen Sätzen meisterhaft, entzückend namentlich im ersten Satze. Schroffe Stellen sind aber auch darin, die Einen unangenehm be rühren, doch solche gibt er selten oder nie auf, was mich oft genug betrübt hat.“ Nach weiteren Proben entschloss sich Brahms im Mai, „es anders zu machen“ und arbeitete das Werk zur Sonate für zwei Klaviere op. 34b um. Obgleich dem Komponisten diese Fassung „fast durchgehend ausnehmend“ gefiel, hatte Clara „gleich beim ersten Male Spielen das Gefühl eines arrangierten Werkes.“ Schließ lich wurde das Stück, vermutlich auf Anregung von Hermann Levi, nochmals umgearbeitet – nun zum Klavierquintett, in dem die dichten, nahezu orchestralen Momente ebenso aufgehen wie die eher kammermusikalisch-durchsichtig gestalteten Passagen. In dieser Gestalt überzeugte das Werk dann auch, wie Levi am 9. November 1864 zu berichten weiß: Es sei „ein Musterstück von Klangschönheit geworden, aus einem, nur wenigen Musikern zugänglichen Klavier-Duo, – ein Labsal für jeden Dilettanten, der Musik im Leibe hat, ein Meisterwerk von Kammermusik, wie wir seit dem Jahre 28 [seit Schuberts Streichquintett] kein zweites aufzuweisen haben. […] Ich wollte, Du hättest unsere Gesichter sehen können bei der ersten Probe. Clara schmunzelte und wackelte auf ihrem Klavierstuhle noch mehr als gewöhnlich hin und her; ich ging nach der Probe […] in den Erbprinzen und betrank mich in Champagner.“
Es ist wohl der ursprünglichen Gestalt des Werkes zu verdanken, dass sowohl die Themen der einzelnen Sätze wie auch deren Durchführungsstrecken derart klar in ihrer Faktur erscheinen. Und so markant Brahms bereits zu Beginn des Kopfsatzes verschiedene klangliche Ebenen dramatisch herausarbeitet, so eigentümlich bleibt deren nahezu orchestrale Wirkung. Ganz im Gegensatz dazu steht die rundum kammermusikalische Anlage des Andante. Der Gestus des folgenden Scherzo-Satzes erinnert auch im Klavierquintett sicherlich nicht zufällig an Schuberts Streichquintett (von dort scheint auch die Schlusswendung mit dem fallenden Halbtonschritt des–c entlehnt). Höchst originell ist das Finale konzipiert: an Beethovens „Große Fuge“ gemahnende harmonische Eintrübungen stehen direkt neben der kontrapunktischen Anlage des Hauptthemas, das rhythmisch wie melodisch den Hauch eines „à la hongroise“ atmet.
Obgleich als letztes der drei Quartette mit erheblicher zeitlicher Distanz vollendet und im Druck erschienen, scheint das Klavierquartett c-moll op. 60 das älteste in diesem Triptychon zu sein. In diesem Fall ist man zudem nicht auf Erinnerungen angewiesen, sondern findet verschiedene Spuren in Briefen und Tagebucheinträgen von Clara Schumann. So heißt es am 18. Oktober 1856, nachdem offenbar mindestens der Kopfsatz vorlag: „Zu seinem Cis-Moll-Quartett hat er ein wunderschönes Adagio componiert – tiefsinnig.“ Während Brahms das Adagio später durch ein Andante ersetzte, hielt er am Kopfsatz trotz Transposition nach c-moll fest – obwohl Clara ihn noch 1875 zu einer grundlegenden Revision oder gar Neukomposition ermuntern wollte: „Die drei letzten Sätze sind mir tief ins Gemüt gedrungen, aber […] ich finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend, es fehlt mir darin der frische Zug, obgleich er in der ersten Melodie liegt. […] Sollte es Dir, der Du doch oft Sätze lange mit Dir herumträgst, nicht gelingen, daran zu ändern? Oder einen neuen Satz zu machen? Wie leicht findest Du die selbe Stimmung wieder, das hast Du ja manchmal schon bewiesen und wie herrlich.“ Dass Brahms auch noch im Abstand von 20 Jahren diesen Satz bewahren, allenfalls musikalisch glätten, jedoch nicht vollständig verdrängen wollte, legt den Verdacht nahe, dass er für ihn eine persönliche Bedeutung gehabt haben mag. Denn so wenig er den musikalischen Sturm und Drang der frühen Jahre verleugnen konnte, so sehr ging Brahms in einem Brief an den befreundeten Verleger Fritz Simrock mit Selbstironie und einer Anspielung auf Goethes Werther in die Offensive: „Außerdem dürfen Sie auf dem Titelblatt ein Bild anbringen. Nämlich einen Kopf – mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hosen und Stulpenstiefeln können Sie auch anwenden.“ Nicht oft äußerte sich Brahms so persönlich, nicht oft scheint in der Musik das Innere seines Charakters so glühend hervor.