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Trio con Brio Copenhagen
Von dunklen Schatten und dem Trost der Musik
Trios von Beethoven, Smetana und Sørensen
Antje Reineke
„Phantasmagorie: ein Zauber, Truggebilde, Wahngebilde“, definiert der Duden. Tatsächlich führt Bent Sørensens Klaviertrio Phantasmagoria in eine faszinierende, phantastische und oft verstörende Klangwelt der Andeutungen und verschwommenen Konturen, der überwiegend leisen Töne, beredten Pausen und reichen Farben. Oft finden sich Bezeichnungen wie „lontano“, „misterioso“, „dolce“ oder „al niente“ – entfernt, geheimnisvoll, sanft, bis ins Nichts. Geradezu unheimlich wirkt gleich der Beginn: „Aggressivo con disperazione“ (aggressiv mit Verzweiflung) lautet die Vortragsanweisung für die unbegleitete, stark gedämpfte Geige, die zunächst auf Glissandi zwischen den Tönen h und gis fixiert ist: ein einsames Rufen, in sich voller Echos. Dann tritt „quasi lontano“ das Cello hinzu: leiser, ebenfalls in Glissandi folgt es der Violine wie ein Schatten. Schließlich geht die Bewegung beider Instrumente aufwärts. Eine Melodie deutet sich an und verschwindet wieder, klar konturiert im Cello, doch zugleich in den Geigenglissandi verborgen. Erst nach etwa eineinhalb Minuten gesellt sich das Klavier als weiterer Schatten hinzu.
Als ein „Schattenspiel in der Dunkelheit“, beschreibt Sørensen sein Werk. „Alle fünf Sätze sind von Schatten jeglicher Art erfüllt. Schatten von Fragmenten und Spuren von Sätzen erscheinen in anderen Sätzen. Musik, Stimmen, Instrumente erscheinen in einem Schattenspiel hintereinander.“ Der erste Satz endet, erklärt Sørensen, mit dem dunklen Schatten einer Arie aus seiner Oper Under himlen („Unter dem Himmel“). Ausgangspunkt der Komposition war ein kurzes Stück für Cello und Klavier, das er zum jetzigen Schlusssatz umgestaltete. Von dort aus, so beschreibt es Sørensen, arbeitete er rückwärts vom vierten bis zum ersten Satz.
Das Streicherglissando, der gleitende Übergang von einem Klang zum nächsten, spielt in dieser unbestimmten Welt eine zentrale Rolle: Glissandi zwischen einzelnen Tönen und Doppelgriffen, in Kombination mit Flageolett und Vibrato. Über weite Teile des zweiten Satzes hinweg bewegen sich die beiden Streicher auf diese Weise langsam aufwärts, vom selben Ton ausgehend, doch leicht gegeneinander verschoben: ein weiterer Schatteneffekt. Endlich finden sie eine Oktave höher in einem lang ausgehaltenen Ton wieder zusammen, der, so leise wie möglich gespielt, buchstäblich über dem Nichts schwebt. Das Klavier, das aufgrund seiner festgelegten Tonhöhen zu einem solchen nahtlosen Gleiten nicht imstande ist, nimmt an dieser Bewegung bezeichnenderweise nicht teil.
Als raffiniertes Verwirrspiel präsentierte sich auch das an vierter Stelle stehende Misterioso e meccanico. Es beruht auf Ton- und Akkordrepetitionen, die sich allmählich verlangsamen. Indem die Instrumente diesen Prozess jeweils unabhängig voneinander beginnen, verliert der Hörer leicht die Orientierung. Am Ende entsteht daraus unvermittelt eine kurze Kantilene.
Dem zentralen dritten Satz von Phantasmagoria wohnt ein Moment fragiler, geradezu romantisch anmutender Schönheit inne. Von hier an tritt in allen Sätzen für kurze Augenblicke als dritter Klangcharakter die menschliche Stimme in Erscheinung. Und auch im Schlusssatz schimmert immer wieder eine vergangene konsonante harmonische Sprache durch. Die Instrumentengruppen bleiben hier strikt getrennt: Die Streicher beginnen, das Klavier beendet den Satz.
„Seine musikalische Sprache ist zweifellos modern, sowohl ästhetisch als auch technisch“, charakterisiert der Komponistenkollege Karl Aage Rasmussen Sørensens Werk. „Dennoch scheint die Musik von Erinnerungen, aus Erfahrung gewonnener Weisheit und alten Träumen erfüllt, von der Unvermeidbarkeit der Vergänglichkeit und des Abschieds. Es ist eine flimmernde, glitzernde Welt, in der die Dinge bei der geringsten Berührung zu verschwinden scheinen.“
Geboren in Borup westlich von Kopenhagen,, zählt Sørensen zu den prominentesten dänischen Komponisten seiner Generation. Schon während seines Studiums bei Ib Nørholm und Per Nørgård – ihrerseits zwei der bedeutendsten Vertreter der vorigen Generation – machte er sich in der Öffentlichkeit einen Namen. Als Schlüsselwerke in seiner Entwicklung gelten die ersten drei seiner vier Streichquartette, die ein so renommiertes Ensemble wie das Arditti Quartet bereits in den 80er Jahren im Repertoire hatte. Den internationalen Durchbruch brachte 1993 das Violinkonzert Sterbende Gärten. Sørensen lehrte u.a. als Professor am Königlich Dänischen Konservatorium in Kopenhagen und hat heute eine Gastprofessur an der Londoner Royal Academy of Music inne. Phantasmagoria, ein Auftragswerk der dänischen Franz-Schubert-Gesellschaft, wurde im August 2007 vom Trio con Brio Copenhagen im Rahmen der Schubertiade in Roskilde uraufgeführt.
Bedřich Smetana schrieb sein Klaviertrio g-moll im Herbst 1855 in Erinnerung an seine älteste Tochter Bedřiška, die kurz zuvor im Alter von viereinhalb Jahren an Scharlach gestorben war. In seinem Tagebuch notierte der Komponist: „Nichts kann Fritzi ersetzen, der Engel, den der Tod uns genommen hat.“ Direktere Hinweise hat er nicht hinterlassen – insofern sind Interpretationsversuche, die einzelne Themen des Werkes als musikalische Portraits des Kindes deuten wollen, mit Skepsis zu betrachten. Doch auch ohne konkrete Programmatik lässt sich die persönliche Dimension des Werks erahnen. Drei Stellen seien dazu als – einiger maßen willkürliche – Beispiele herausgegriffen. Bereits die eröffnenden Solo- Takte der Violine erscheinen ungewöhnlich: pausendurchsetzt, größtenteils in tiefer Lage und mit überwiegend absteigenden Linien. Geprägt auf der einen Seite durch fallende Halbtonschritte, die klassischen Seufzermotive, und auf der anderen durch sehr weite Intervalle, wirkt dieses Thema in der Tat wie eine einsame, trostlose Klage. Bei der anschließenden Wieder holung mit allen drei Instrumenten liegt das Cello zunächst gar über der Geige. Später im Satz findet sich eine träumerische Solopassage des Klaviers, die stilistisch an Chopin erinnert. Ihre zarten Fiorituren steigen bis in die oberste Oktave des Instruments auf und verlieren sich in Pausen. Unmittelbar darauf kehrt die Violine mit dem dramatischen, klagenden Hauptthema zurück und leitet die Wiederholung des Anfangsteils ein. Gegen Ende des zweiten Satzes schließlich schiebt sich in die Wiederkehr des leichtfüßigen Beginns plötzlich in allen Instrumenten und mit langen Notenwerten ein sogenannter Passus duriusculus – ein chromatischer Gang im Umfang einer Quarte oder hier einer Quinte, der als traditionelle Figur der musikalischen Rhetorik mit Leiden, Trauer, Schmerz und Tod assoziiert ist.
Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang auch, dass Smetana der Praxis folgt, ein in einer Molltonart stehendes Werk (oder einen Satz) in Dur zu beenden, wie man es etwa in Beethovens c-moll-Trio oder in zweien von Mendelssohns Trios findet. Von Kommentatoren wird dieser Kunstgriff oft als „lebens bejahend“ oder als Hinweis auf eine „Versöhnung mit dem Schicksal“ beschrieben. Hier erscheint der Sachverhalt jedoch komplizierter, denn das emotionale Spiel von Licht und Schatten hält bis zuletzt an. Der Finalsatz gliedert sich in ein dramatisches Perpetuum mobile, das auf eine frühe Klaviersonate Smetanas zurückgeht und zudem ein tschechisches Volkslied ver arbeitet, sowie einen lang sameren lyrischen Teil. Dieser mündet bei seinem zweiten Auftreten in einen Trauermarsch, eine Transformation des Anfangsthemas, rhythmisch an den lyrischen Abschnitt angelehnt. Erst danach folgt der brillante Dur-Schlussteil, der das lyrische Thema nun in das Presto des Satzbeginns überträgt und zuletzt im Klavier auch noch einmal zu dem volksliedhaften g-moll-Thema zurückkehrt.
Formal ist Smetanas Trio ein Beispiel für die zeitgenössische Tendenz zu einer engen Integration mehrsätziger Werke: über die Satzgrenzen hinweg, und insbesondere zwischen den Satzanfängen, bestehen thematische Verwandtschaften. Zudem trägt der Mittelsatz Züge sowohl eines Scherzos als auch eines langsamen Satzes und enthält überdies bereits einen trauermarschartigen Abschnitt. Eine dritte Strategie zyklischer Integration, der direkte Übergang von einem Satz zum nächsten, findet sich bei Smetana nicht – wohl aber in Beethovens „Erzherzog-Trio“, dessen vierter Satz unmittelbar an den dritten anschließt.
Zu Beethovens Zeit stellte das Klaviertrio eine junge Gattung dar. Hervorgegangen war es einerseits aus der barocken Triosonate, in der das Cembalo als Teil des Generalbasses eine untergeordnete Funktion hatte. Andererseits waren ab Mitte des 18. Jahrhunderts „begleitete Klaviersonaten“ in Mode gekommen, in denen das Tasteninstrument durch engan seine Stimme angelehnte Melodieinstrumente ergänzt wurde. Während sich die Geige relativ schnell vom Klavier emanzipierte, löste sich das Cello nur langsam von seiner angestammten Rolle als Verstärkung des Basses. Die Autonomie und Gleichgewichtigkeit der Instrumente, die dem kammermusikalischen Ideal vom „vertrauten Gespräch“ entspricht, zeigte sich zuerst in Mozarts Klaviertrios und wurde von Beethoven vertieft. Dieses schon damals verbreitete Bild vereinigt in sich Vorstellungen von Integration und Interaktion, Gleichheit und einem hohen kompositorischen Anspruch. Konkret geht es um das Wechselspiel selbständiger Stimmen, die alle sowohl Themen wie Begleitung übernehmen können und dabei wie in einem Dialog aufeinander reagieren, sich gegenseitig ablösen und weiterführen, im Zusammenspiel ergänzen oder kontrastieren und zu wechselnden Gruppen zusammenschließen. Beethovens prägende Rolle in diesem Prozess wurde durch die zeitgenössischen Entwicklungen in Instrumentenbau und Spieltechnik begünstigt, wie der Geiger Mark Kaplan erläutert. Tasten- wie Streichinstrumente gewannen an Kraft und Tonumfang und boten eine größere Zahl an Artikulationsmöglichkeiten.
Dass im B-Dur-Trio op. 97 trotz allem das Klavier im Vordergrund steht – stärker als in Beethovens vorausgegangenen Trios – widerspricht dem nicht. Als Primus inter pares tritt es immer wieder mit brillanten, konzertanten Passagen hervor und führt die meisten Themen ein, an deren Weiterentwicklung und Verarbeitung seine Partner regen Anteil haben. Ein wichtiger Grund für diese Bevorzugung des Klaviers ist fraglos die Widmung des Werks an Erzherzog Rudolph von Österreich. Der jüngste Bruder von Kaiser Franz I. war vermutlich 1804 im Alter von 16 Jahren Beethovens Klavier- und fünf Jahre später auch sein Kompositionsschüler geworden. Zwischen beiden entwickelte sich ein langjähriges freundschaftliches Verhältnis. (Dies hinderte Beethoven, der das Unterrichten nach 1805 weitgehend mied, allerdings nicht, sich bei Gelegenheit über die lästige Pflicht und über seinen Schüler zu beklagen.) Rudolph wurde Beethovens einflussreichster Förderer und setzte 1809 gemeinsam mit den Fürsten Kinsky und Lobkowitz eine jähr liche Rente für den Komponisten aus, um ihn in Wien zu halten.
Nach den Werken zu urteilen, die Beethoven ihm widmete, muss der Erz herzog ein ausgezeichneter Pianist gewesen sein. Zu ihnen zählen das Vierte und Fünfte Klavierkonzert, die Sonate op. 81a („Les Adieux“) und die „Hammerklavier- Sonate“ op. 106, die Violinsonate G-Dur op. 96, die „Große Fuge“ für Streichquartett und ihre Bearbeitung für Klavier vierhändig sowie der Klavierauszug der Oper Fidelio. Anlässlich der Inthronisation Rudolphs als Erzbischof von Olmütz 1820 entstand zudem die Missa solemnis (die Beethoven allerdings nicht rechtzeitig fertigstellen konnte).
Das „Erzherzog-Trio“ erlebte seine erste Aufführung am 11. April 1814 im Rahmen einer Wohltätigkeitsakademie in Wien durch Beethoven, den Geiger Ignaz Schuppanzigh und den Cellisten Joseph Linke. Es sollte einer der letzten, wenn nicht der letzte öffentliche Auftritte des zunehmend durch seine Schwerhörigkeit behinderten Komponisten am Klavier sein.
Mit einer Spieldauer von mehr als 40 Minuten nimmt das Werk eine Sonderstellung in Beethovens Trio-Schaffen ein. Kaplan weist darauf hin, dass es als einziges streckenweise einen orchestral anmutenden Klang anstrebt. Hierbei bedient sich Beethoven des tiefsten Cello-Registers, des großen Tonumfangs des Klaviers und der Klangfülle von Akkorden aller drei Instrumente. Passagen, in denen die Textur deutlich ausgedünnt wird, erinnern laut Kaplan an Bläsersoli in den Symphonien. Dennoch zeichnet sich das Trio durch Kantabilität aus und gerade nicht durch die dramatischen und dynamischen Gegensätze, die häufig mit Beethoven assoziiert werden. Das gilt insbesondere für den Kopfsatz, der einem gesanglichen Hauptthema – vorgestellt zunächst vom Klavier allein, dann von der Geige mit einer neuen Gegenstimme des Cellos aufgenommen – ein knappes tänzerisches Seitenthema gegenüberstellt, so dass kein scharfer Gegensatz entsteht. Das Andante cantabile steht hier folgerichtig an dritter Position: ein Variationensatz, der als „Utopie einer schöneren, friedvolleren Welt“ beschrieben worden ist.
Die Sätze zwei und vier stellen dem eine spielerische Ebene gegenüber. (Es war im Übrigen Beethoven, der die Trio- Gattung in den drei Werken seines Opus 1 erstmals auf vier Sätze erweitert hatte, wie es für das Streichquartett und die Symphonie üblich war.) Das Scherzo wird ausnahmsweise von den beiden Streichern eröffnet, die sich, in für Beethoven typischer Weise, das Thema teilen und anschließend die Rollen tauschen. Dunkler und dramatischer gibt sich der Trioteil in b-moll, eine eigenwillige Kombination aus chromatischem Fugato und lebhaften tänzerischen Passagen. Als Ganzes aber bildet das „Erzherzog- Trio“ – das der Musiktheoretiker
Adolf Bernhard Marx als den „große[n] Liebling aller Trio spielende[n] Musiker“ bezeichnete – einen heiteren, entspannten Gegenpol zur tragisch-verstörenden ersten Hälfte des heutigen Programms.