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Schubert-Woche

„Aus meinen großen Schmerzen mach’ ich die kleinen Lieder…“

Der Liedkomponist Franz Schubert

Anne do Paço

Diese Zeile aus Heinrich Heines Buch der Lieder könnte aus der Feder Franz Schuberts stammen und zugleich als Motto sein immenses Liedschaffen überschreiben – ein schier unendliches, kaum zu überblickendes Kompendium aus mehr als 600 vollendeten Kompositionen, das das gesamte Leben Schuberts umspannt. Das allererste Werk des 13-Jährigen, im Deutsch-Verzeichnis als Nr. 1a katalogisiert, ist ein Lied: ein umfangreiches Stück von mehr als 400 Takten, über dessen Titel und Text Schubert die Nachwelt allerdings im Unklaren ließ, fehlt doch beides in seinem Manuskript. Und auch die letzten, kurz vor seinem Tod im Alter von nur 31 Jahren entstandenen Kompositionen sind Lieder: Die Taubenpost, vom Wiener Verleger Leo Haslinger im Frühjahr 1829 als Abschluss der Schwanengesang betitelten Sammlung posthum publiziert, obgleich es thematisch dort nicht hingehört, und Der Hirt auf dem Felsen, für das Schubert der Gesangsstimme und dem Klavier noch eine Klarinette zur Seite stellte.

Zwischen diesen spannt sich in nur 18 Schaffensjahren ein Œuvre auf, das als Höhepunkt der Gattung des romantischen Klavierlieds nur unzureichend beschrieben ist in seiner immer wieder aufs Neue faszinierenden formalen, inhaltlichen und kompositorischen Vielfalt. Die Synthese hochartifizieller musikalischer Strukturen mit einer unmittelbar berührenden Schlichtheit und Eindringlichkeit erweckt in vielen Liedern Schuberts den Eindruck, als könne ein Text nur so und nicht anders vertont werden. Seine Musik schafft kein Gehäuse um ein Gedicht, sondern schmiegt sich diesem an und identifiziert sich völlig mit dem Dichter bzw. dem lyrischen Ich, um die Lyrik als Sprache zum Klingen zu bringen. Der Klavierpart erscheint als eigenständiger, gleichberechtigter Partner der Gesangsstimme, als eine Persönlichkeit, ein komplexes Individuum. Meist handeln Schuberts Lieder von existenziellen Fragen des Menschseins, stellen Wechselbäder der Gefühle dar zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Enttäuschung, ausgelassener Freude und tiefster Melancholie, Aufgehobensein und Verlorenheit, Mut und Angst, Schönheit und Schroffheit, Leben und Tod, Sehnsucht und Verlust und Einsamkeit. Es geht um das Fehlen des ideal Vollkommenen, um problematische Seelenzustände – und gleichzeitig um die Weiterbildung von Herz und Verstand, emotionale Intelligenz also. Immer wieder zeigen Schuberts Lieder aber auch, wie sehr Komponieren zu einem lustvollen, unkomplizierten, aus dem Augenblick geborenen Bestandteil seines Lebens gehörte, inspiriert durch das äußerst lebendige Umfeld eines kreativen Freundeskreises – oft einfach spontan auf eine Situation oder Begegnung reagierend.

Die von Thomas Hampson kuratierte Schubert-Woche im Pierre Boulez Saal zählt mit ihren Liederabenden, aber auch den Workshops für junge Interpreten zu einem der Höhepunkte des großdimensionierten Projektes, in dessen Rahmen seit der Eröffnung des Saals im März 2017 alle Lieder des Komponisten nach und nach zur Aufführung kommen – und dies nicht einfach aus Lust an enzyklopädischer Vollständigkeit, sondern als eine wahrhafte Entdeckungsreise in die vielfältigen Sphären des Schubert-Liedes.

Schubert wird gern als der eigentliche Erfinder des Kunstliedes bezeichnet. Das entspricht in dieser Form natürlich nicht den Tatsachen, denn auch schon früher setzten sich Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart oder – unmittelbar vor Schubert – Ludwig van Beethoven mit dieser Gattung auseinander. Doch im 18. Jahrhundert bestand das Lied zunächst aus einem generalbassbegleiteten Solopart, die Melodien waren vielfach schlicht, der musikalische Bau oft an die Strophenform der Lyrik angeglichen und die Botschaft eher einfach. Dem Klavier kam die Funktion zu, den Gesang zu stützen. Die Berliner Liederschule um Johann Friedrich Reichardt und Friedrich Zelter formulierte den Anspruch, die Musik müsse aus einem Gedicht jenen „Ton“, den der Dichter seinen Versen gegeben habe, quasi herausdestillieren und den Text auf eine schlichte, für jeden nachvollziehbare Weise singbar machen. Von seinem Freund Josef von Spaun wissen wir, dass Schubert sich zunächst vor allem für die dem Sturm und Drang zuzuordnenden Balladenvertonungen aus der Schwäbischen Lieder schule Johann Rudolf Zumsteegs interessierte: Als Spaun den 14-Jährigen im Wiener Stadtkonvikt über „mehreren Päckchen Zumsteeg scher Lieder“ antraf, soll dieser ihm gestanden habe, er könne „tagelang in diesen Liedern schwelgen“. Und in der Tat finden sich gerade in Schuberts ersten Schaffensjahren eine ganze Reihe von Balladen, die von Zumsteeg inspiriert sind und sich mit Aufführungsdauern von teilweise 25 Minuten zu großangelegten Szenerien formen – wie etwa Der Taucher, eine Vertonung, die Thomas Hampson und Wolfram Rieger ins Zentrum ihres Eröffnungskonzerts der Schubert-Woche stellen.

Tauchgänge in die Tiefen des Mythos

In dieser Schiller-Ballade stellt ein König seine Gefolgschaft auf die Probe: In die reißenden Abgründe jenes stürmischen Meeres, in dem die Ungeheuer Skylla und Charybdis hausen, wirft er einen kostbaren Becher. Ein Taucher soll gefunden werden, der es wagt, die Trophäe zurückzuholen. Ein junger Mann stürzt sich schließlich in die Fluten – und es gelingt ihm tatsächlich, den Becher zurückzubringen. Als er dem König voller Ehrfurcht von den Schrecknissen der Unterwasserwelt berichtet, schleudert dieser den Becher erneut in den Abgrund und stellt dem Jüngling für die Wiederholung seiner Heldentat die Ritterehre und die Hand der Königstochter in Aussicht. Derart gereizt, schlägt der Taucher seine eigene Warnung in den Wind – „der Mensch versuche die Götter nicht“ – taucht aufs Neue und kehrt nicht mehr zurück…

In Schillers Text vermischen sich Handlung, Bericht und Kommentar, äußerst dramatische Momente wechseln mit malerischen und emotionalen. Schubert setzte sich zwischen September 1813 und August 1814 gleich zweimal mit diesem Text auseinander, der ihm die Möglichkeit zur Entfaltung aller Spielarten musikalischer Ausdruckscharaktere bot – von rezitativischen über lyrisch-ariose Passagen bis hin zu leidenschaftlichen Ausbrüchen. Auf äußerst plastische Weise zeichnet die Klavierbegleitung den „Höllenraum“ des stürmischen Meeres in den tiefen Bereichen der Tastatur, während sie sich mit dem Taucher zum „Licht“ in hellere Regionen aufschwingt. Eine phrygisch eingefärbte, absinkende Molltonleiter bei den Worten „klafft hinunter ein gähnender Spalt“ als Bild für zerstörte Hoffnung, das Pendeln einer kleinen Sekunde bei „es harrt noch mit bangem, mit schrecklichem Weilen“, auch die sich in verminderte Akkorde „auflösenden“ Seufzerfiguren, die in einem Klavierzwischenspiel nach dem zweiten Sprung des Tauchers das angsterfüllte Warten schildern – Schubert definiert solche Motive bereits in diesem frühen Werk als musikalische Formeln, die sich durch sein gesamtes Schaffen hindurchziehen werden bis in die Lieder der Winterreise hinein. Zugleich wird Schillers Text für den jungen Komponisten aber auch zu einem Bild für einen Tauchgang in die Tiefen der alten Mythen, die er in seinen Liedern immer wieder aufspüren wird, um sie – gesehen durch die antikenbegeisterten Augen Schillers, Goethes, Mayrhofers und anderer Zeitgenossen – zu Metaphern und Projektionsflächen für die eigene Gegenwart umzudeuten.

Schuberts Dichter

Bekanntschaft mit derartiger Literatur hatte Schubert bereits von Kindesbeinen an gemacht, wurde in seinem Elternhaus doch nicht nur regelmäßig musiziert, sondern vor allem durch den Vater als Lehrer und Schulleiter auch großer Wert auf eine breite Bildung seiner Kinder gelegt. Die Liste der Dichter, die Schubert inspirierten, ist lang und reicht von Autoren der Antike wie Aischylos über den Renaissancedichter Petrarca, die Klassiker Schiller, Goethe, Claudius und Hölty hinein in die eigene Zeit. Bedeutende Namen der Romantik wie Novalis, Platen, Rückert oder Heine stehen neben unbekannten, längst vergessenen, Texte enger Freunde neben denen weniger vertrauter Dichter, die aber nicht selten als Seelenverwandte erscheinen – wie etwa Wilhelm Müller, dessen Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten Schubert die Inspiration zu seinen beiden großen Liederzyklen Die schöne Müllerin (1823) und Winterreise (1827) lieferten. Zu einer persönlichen Begegnung der beiden Künstler kam es nie, ebenso wenig wie zu einem Treffen mit Goethe, obgleich Schubert dem verehrten Dichter durch Josef von Spaun 1816 ein ganzes Bündel an Kompositionen – darunter Meisterwerke wie Gretchen am Spinnrade, Heidenröslein und die Ballade Erlkönig – mit einem untertänigsten Empfehlungsschreiben zusenden ließ. Dass der Dichterfürst das Paket (vermutlich ungeöffnet) direkt wieder nach Wien zurückschickte, entmutigte Schubert keineswegs. Vielmehr griff er immer wieder auf Texte Goethes zurück, oft mehrfach auf die gleichen Verse, um den musikalischen Umgang mit Sprache zu trainieren und über Melodieverläufe, rhythmische Modelle und Tonartenkonstellationen nachzudenken.

Von besonderer Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit Goethes Wilhelm Meister. Bereits 1815 hatte Schubert sich in Der Sänger – das Lied eröffnet programmatisch die Schubert-Woche – der Figur des Harfners aus Goethes Roman zugewandt. Die drei Gesänge des Harfners, die Julien Van Mellaerts und Julius Drake gegen Ende der Woche zur Aufführung bringen, lassen sich dagegen als Schuberts erster wirklicher Zyklus betrachten, fand der 19-jährige Komponist hier doch zu einer Ausdruckstiefe und Geschlossenheit, welche diese Lieder weit aus ihrer Zeit herausheben. Der Harfner und Mignon zählen zu den rätselhaftesten Figuren Goethes: Mignon, die sich bereits als Kind einer Gauklertruppe anschließt und ihr Heimatland Italien verlässt, weiß nicht, dass der Harfner ihr Vater und zugleich der Bruder ihrer Mutter ist. Der Harfner folgt ihr, lebt immer in Mignons Nähe, ohne aber seine Identität zu enthüllen. In Wer sich der Einsamkeit ergibt erzählt er zu präludierendem „Harfenschlag“ zunächst gleichsam neutral von seiner Einsamkeit. Doch dann, nach einer Generalpause, verraten überraschende Modulationen plötzlich, wie tief der Schmerz sitzt. Das Klavier verlässt seine unterstützende Rolle, die metrische Einheit mit der Gesangsstimme beginnt zu zerbrechen, schließlich übernimmt eine Lamentobass-Figur die Führung. Die Wendung von einer allgemeinen Erkenntnis zur individuellen Erfahrung wiederholt sich in Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Von ganz anderem Charakter ist dagegen An die Türen will ich schleichen, das uns den zum Bettler gewordenen Harfner aus weiter Distanz vor Augen führt. Gleichmäßige Viertel sind von einer Unerbittlichkeit, die der Reflexion keinen Raum mehr lässt. Der Harfner ist zu einem Fremden geworden.

„Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“

Mit einem Lied wie An die Türen will ich schleichen ist bereits 1816 eines der großen Lebensthemen Schuberts angesprochen, das nach der 1823 erhaltenen Diagnose, an der damals noch unheilbaren, also mit Sicherheit tödlichen Syphilis erkrankt zu sein, immer stärker in den Vordergrund

rückt: das Gefühl der Fremdheit, Einsamkeit und des Ausgesetzseins. „Die Sonne dünkt mich hier so kalt, / Die Blüte welk, das Leben alt, / Und was sie reden, leerer Schall, – / Ich bin ein Fremdling überall“, lautet eine Passage aus dem Lied Der Wanderer, mit dem Julien Van Mellaerts seinen Liederabend eröffnet und das mit der berühmten Erkenntnis endet: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!“

Seelenzustände von an der Welt leidenden Protagonisten voller Liebessehnsüchte, unerreichbar erscheinende Traumvisionen als Gegenbilder zu einer düster-kalten Realität, die Vorstellung vom Wanderer als vagabundierendem Fremdling, der niemals eine Heimat findet und dessen Ziel letztlich nur der Tod ist, und die mal freundliche, mal feindliche Natur als Projektionsfläche und Seelenlandschaft – auf derartige Themen fokussiert sich Schuberts Liedschaffen immer stärker. Neben Wilhelm Müller ist es vor allem sein Freund Johann Mayrhofer, den er 1816 kennenlernte und mit dem er zwischen 1818 und 1820 eine Wohnung teilte, der ihm zu einem Seelenverwandten wurde – oder zu mehr: „Sag an, wer lehrt dich Lieder, / So schmeichelnd und so zart? / Sie rufen einen Himmel / Aus trüber Gegenwart“, heißt es in dem Schubert gewidmeten Gedicht Geheimnis, das sich als eine verschlüsselte Liebeserklärung an den neun Jahre jüngeren Komponisten lesen lässt. Eine Zukunft hatte diese Beziehung nicht; Schubert kehrte dem Dichter, dessen Texte er nach Goethe am häufigsten vertonte, den Rücken, als Mayrhofer in seiner Eigenschaft als staatlicher Zensor immer mehr die Politik Metternichs zu unterstützen begann und sich selbst damit in einen inneren Zwiespalt brachte, aus dem ihm 1836 nur noch ein tödlicher Fenstersturz einen Ausweg bot.

„Mir wird alles zum Lied“

Mayrhofer hatte zeitweilig auch jenem Freundeskreis aus Dichtern, Komponisten, Musikern und Malern angehört, die sich regelmäßig zu den legendären Schubertiaden trafen – Salons und Feste, bei denen über die neuesten Kunstströmungen diskutiert und musiziert wurde, man gesellige Spiele miteinander spielte und zu denen vor allem Josef von Spaun und Franz Schober ständig neue Texte beisteuerten, die Schubert oft direkt aufgriff und in Musik setzte. „Mir wird alles zum Lied“, notierte er einmal in sein Tagebuch – und in der Tat scheint es sich für Schubert bei der Verwandlung von Sprache in Gesang um einen absolut organischen Prozess gehandelt zu haben, was sich unmittelbar auch auf den Hörer überträgt.

Dies aber unterscheidet Schuberts Liedschaffen von jenem des von ihm bewunderten, ihn immer wieder aber auch künstlerisch lähmenden Vorbilds Ludwig van Beethoven. Dieser hatte mit seinen sechs Liedern An die ferne Geliebte, die Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout zur Aufführung bringen, 1816 den ersten wirklichen Liederzyklus der Musikgeschichte komponiert – ein geheimnisumwittertes Werk, blieb doch bis heute unklar, ob Beethoven damit jene eigene „ferne Geliebte“ besang, die er bereits 1812 in seinem berühmten Brief „An die unsterbliche Geliebte“ adressiert hatte und deren Identität wir nicht kennen, oder ob der Zyklus als eine Art weltliches Requiem für seinen Widmungsträger, den Gönner und Freund Fürst Joseph von Lobkowitz gedacht war, der kurz zuvor seine geliebte Frau Maria Karoline von Schwarzenberg verloren hatte. Jenseits solcher biographischer Spekulationen lässt sich An die ferne Geliebte vor allem aber als ein allgemeingültiges Werk über Liebe und Trennung hören, woran eine eigentümlich objektive Distanz Beethovens zu seinem Sujet entscheidenden Anteil hat, eine Distanz, wie sie Schubert in seinen Liedern nicht kennt. Vielmehr dringt er in der Regel – letztlich immer auch von sich selbst erzählend – in die tiefsten Fragen des Menschseins und die Geheimnisse der Psyche vor auf eine Weise, die die von ihm gewählten Texte durch die Musik in unserem Inneren lebendig werden und uns so ganz direkt an seiner Welt teilhaben lässt, das Vertraute als Ausgangsbasis wählend, um auf oft unberechenbare Weise in existenzielle Extremzustände zu führen.

Dies gilt vor allem für die beiden Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise, aber auch für eine Komposition wie die Heine-Vertonung Der Doppelgänger aus dem Schwanengesang, die Mark Padmore in seinem Programm den Beethoven-Liedern gegenüberstellt. Hier begegnen wir einem Mann, der nachts vor dem ehemaligen Haus seiner Geliebten ausharrt, die längst mit einem anderen die Stadt verlassen hat. Sein Liebesschmerz ist derart groß, dass er in eine psychische Ausnahmesituation gerät, in der er aus seiner eigenen Realität sich selbst beobachtend heraustritt – als hätte er einen Doppelgänger. In nur wenigen Takten stimmt das Klavier mit seinen geradezu manisch sich wiederholenden, fahlen Akkorden nicht nur auf die unheimliche Szenerie in der Todestonart h-moll ein, sondern präsentiert gleichsam die Essenz des gesamten Liedes: einen bohrenden, permanent um sich kreisenden Gedanken, einen tiefen Schmerz, aus dem es kein Entrinnen gibt, auch wenn sich die Gesangsstimme zu einer ungezähmt-expressiven Klage aufschwingt. Hoffnung gibt es in dieser Welt keine mehr, das Motiv der Treulosigkeit, das sich in Schuberts Liedern so oft findet und dessen Vorgeschichten wir nie wirklich erfahren, nimmt geradezu apokalyptische Dimensionen an. Es bleibt nur noch die reine Verstörung – selbst für den Hörer von heute, denn auch nach Schubert wurde selten mit einer derartigen Schonungslosigkeit und Radikalität der musikalischen Mittel eine innere Gefühlswelt durchleuchtet.

„Und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe“, schrieb Schubert 1822 in seiner Novelle Mein Traum. Dass er aus einer derartigen inneren Zerrissenheit heraus immer wieder auch zu einem völlig unbeschwerten Singen und einer eigentümlichen Glückseligkeit fand, ist eine zentrale Facette seiner Kunst. Sie findet sich in Geschichten wie der vom „armen, blinden Knab’“, der voller Demut sich „so glücklich“ und „reich, mit dem, was Gott [ihm] gab“, beschenkt fühlt (Der blinde Knabe). Sie klingt aber auch an in jenen Liedern, welche die Vorfreude auf ein Wiedersehen und Beisammensein noch kennen, voller ungeduldiger Erwartung wie in Auf der Bruck (interpretiert von Werner Güra und Christoph Berner) oder mit einem mild-zärtlichen Lächeln wie in Wiedersehen. Und nicht zuletzt ist es Schuberts vielleicht berühmtestes Lied aus dem Schwanengesang, das Ständchen auf einen Text von Ludwig Rellstab, das mit seiner schwärmerisch-sehnsüchtigen Melodie über einer ständig zwischen Dur und Moll changierenden, gitarrenartigen Begleitung die Ambivalenz von Liebesglück und Liebesleid auf eine Weise einfängt, deren Zauber sich wohl niemand zu entziehen vermag.

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