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Danish String Quartet
An den Horizonten des Nordens
Zum Programm des Danish String Quartet
Anne do Paço
Seit bald 20 Jahren gelingt es den vier Musikern des Danish String Quartet immer wieder aufs Neue, nicht nur auf erfrischende Art Horizonte zu erweitern, sondern das Publikum zum genauen Hinhören einzuladen. Zeitgenös sische Musik hat dabei einen ebenso festen Platz in den Konzertprogrammen des Ensembles wie die Hauptwerke des Repertoires, die jedoch – in ungewöhnlichem Kontext präsentiert wie auch im heutigen Konzert – durchaus neu und anders gehört werden können.
Kurzgeschichten für Streichquartett
Am Anfang steht eine Musik der starken Kontraste: In einen undurchdringlichen Klangdschungel zieht uns der Beginn der Zehn Präludien für Streichquartett des Dänen Hans Abrahamsen hinein – doch schon nach wenigen Takten bricht die hochexpressive Energie zusammen, wirkt die Musik, auf einzelne Liegetöne und Repetitionen beschränkt, wie eingefroren, erinnert an das verlorene Rufen eines verirrten Jungvogels. Heftige Ausbrüche im dreifachen Forte beantworten Passagen, die bis an die Grenze zur Stille zurückgenommen sind. Experimentelle Schroffheiten prallen immer wieder auf eine Simplizität, welche die essentiellen Ursprünge des Musizierens – dem Entstehen und Vergehen der Klänge nachzuspüren – aufleuchten lässt. Die Energie motorisch vorangetriebener Rhythmen wird durch krasse Akkordballungen ausgebremst. Ein homophoner Satz könnte von großer Schlichtheit sein, wäre die Harmonik nicht derart angeschärft. Eine im Unisono aller vier Streicher aus einfachen Tonleiterreihungen sich entwickelnde Melodie verströmt sakrale Archaik und ist von großer Geschlossenheit im Zusammenspiel. Dann wieder erforschen Violinen und Viola über einem „Ticken“ des Cellos in fiebriger Fahlheit einzelne Akkordwirkungen. Schließlich klingt ein Volkslied voller komplizierter tänzerischer Rhythmen an. „In all ihrer Knappheit enthalten diese zehn ‚Kurzgeschichten‘ für Streichquartett fast alles, was man von musikalischem Ausdruck in der relativ kurzen Spanne von 20 Minuten verlangen kann“, kommentierte Abrahamsen selbst seine Präludien. „Gewalt ausgedrückt als Freude, Einfachheit als Notwendigkeit, Kontraste als Form. Die eruptive Seite der Musik ist nicht scharf getrennt von der einfachen, harmonisch-melodiösen. Jede der ‚Kurzgeschichten‘ weist voraus auf die kommende und zugleich zurück auf die vorausgegangene und erzeugt so eine komponierte Gesamtstruktur.“
Mit der Uraufführung der Zehn Präludien durch das Kopenhagener Kontra Quartet im Jahr 1973 stand Hans Abrahamsen quasi über Nacht im Rampenlicht der dänischen Avantgarde. Gerade einmal 21 Jahre alt war der an den Königlichen Musikakademien in Kopenhagen und Århus zum Hornisten und Komponisten ausgebildete Künstler, der u.a. Pelle Gudmundsen-Holmgreen, Per Nørgård und später György Ligeti zu seinen Lehrern zählte, zu diesem Zeitpunkt – und hatte ein Schlüsselwerk jener musikalischen Richtung vorgelegt, die sich selbst mit „Neuer Einfachheit“ zu beschreiben versuchte. Von Nørgårds bekenntnishaftem, welthaltigem Stil setzte er sich jedoch bereits früh ab auf der Suche nach einem objektiveren Blick auf sein musikalisches Material. Zugleich begann er, auch komplexere Strukturen zu integrieren, ohne die für seine frühen Werke so charakteristische Präzision und Klarheit und die Fähigkeit, Magie durch Transparenz zu schaffen, aufzugeben. Sein Material behandelte er stets auf eine äußerst behutsame Weise – wie etwas sehr Kostbares. Doch vielleicht war es gerade ein derart erhöhtes Bewusstsein für kompositorische Fragen, das Abrahamsen zwischen 1990 und 1998 in eine tiefe Krise stürzte, während der er nur ein einziges Lied zu Papier brachte. Er selbst bezeichnete diese Phase im Rückblick als seinen „Winterschlaf“: „Man könnte sagen, dass ich nicht den Mut hatte zu sprechen, man könnte aber auch sagen, dass ich den Mut hatte zu schweigen.“ Aus dem distanzierten Blick auf sein Œuvre und dem palimpsestartigen Übermalen, Verschieben, Zitieren und Verwandeln des Eigenen gewann er schließlich neue Energien, und längst ist er als Komponist zurückgekehrt mit einer Handschrift, zu der Michael Stallknecht bemerkte: „[Abrahamsen] schmilzt die komplexen Strukturen ein in einen unverkennbaren Personalstil, bedeckt sie quasi mit einer Schneeschicht, unter der sie unmerklich fortvibrieren wie die Moleküle in einem Eiskristall, […] Winterlandschaften, denen immer etwas Unwirkliches eignet.“
Von überraschend-irritierender Unwirklichkeit ist auch das letzte der Zehn Präludien, ein Pasticcio, das mit einem Schmunzeln zurückweist ins Zeitalter des Barock, in dem das Präludium eine so wichtige musikalische Form war. Abrahamsen verglich diesen Kunstgriff mit der „Moral von der Geschicht“ am Ende der Fabeln des dänisch-norwegischen Barockdichters Ludvig Holberg, wo „die Dinge aufgeklärt und offene Fragen beantwortet werden“. Und: „Wie im Märchen könnte man sagen: ‚… so, das war eine wahre Geschichte‘.“
Experimentierfeld Streichquartett
Joseph Haydn wird gerne als der „Erfinder“ des Streichquartetts bezeichnet. Das stimmt nicht ganz, denn musikalische Formen und Gattungen werden in der Regel weder erfunden noch entdeckt, sondern entstehen nach und nach, denken die Vergangenheit weiter und greifen auf, was gerade „in der Luft liegt“. Gerade diesbezüglich war Haydn ein Genie: In der Abgeschiedenheit des Hofes der Esterházys – im Dreieck zwischen Eisenstadt, der ungarischen Tiefebene und Wien – fand er viele Jahre ein Zuhause, zählte zu den wichtigsten Musikschaffenden seiner Zeit und wusste das von den Fürsten Geforderte doch immer mit seinem eigenen Kunstanspruch und einer musikalischen Fantasie zu verbinden, die ihresgleichen sucht. An der Gattung des Streichquartetts versuchte er sich schon als junger Mann. Ein letztes Quartett hinterließ der greise Komponist als Fragment. Dazwischen entfaltet sich ein unvergleichliches kompositorisches Experimentierfeld: ein in seiner Vielfalt, gedanklichen Dichte und Freiheit kaum überschaubares Kompendium aus 83 vollendeten Werken, die alle erdenklichen Fragen der Satzstruktur, Klanggestik, Melodik und Harmonik behandeln, aber auch großartiges Zeugnis der Spielfreude und Spielkultur sind, die sich zwischen zwei Violinen, einer Viola und einem Violoncello immer wieder neu entfalten lässt.
Als Haydn im Sommer 1772 seine sechs Quartette op. 20 abschloss, war er 40 Jahre alt und präsentierte – noch unter dem altmodischen Titel „Divertimenti a quattro“ – eine Sammlung, die in ihrer Zeit einzigartig ist. Die vier Streichinstrumente erscheinen als gleichberechtigte Partner. Dem Cello allerdings schenkte Haydn besondere Aufmerksamkeit. Ausgestattet mit ungewöhnlich eigenständigen, virtuosen Passagen erfüllt dessen Part sehr viel mehr als nur die Funktion der stützenden Bassstimme und ist zugleich eine Verbeugung vor dem Widmungsträger der Quartette: dem österreichisch-ungarischen Beamten und Cellisten Nikolaus Zmeskall von Domanovecz. Inschriften am Beginn und Schluss der Partituren zeigen aber auch einen demütigen, Gott zugewandten Komponisten: Alle Quartette überschrieb Haydn mit den Worten „In Nomine Domini“ und beendete sie mit verschiedenen Schlussformeln wie „Laus Deo et Beatissimae Virginis Mariae“, „Gloria in excelsis Deo“ oder beim Quartett Nr. 2 C-Dur „Laus omnip. Deo“, dem er noch das Wortspiel „Sic fugit amicus amicum“ zusetzte („Lob sei Gott dem Allmächtigen. So flieht der Freund den Freund“).
Der ursprünglichen Bezeichnung „Divertimento“ entsprechend hebt das C-Dur-Quartett zunächst eher arglos an. Doch der schlichte Tonfall trügt. Ein dunkel gefärbter Mittelteil führt zu einem Wechsel der Atmosphäre und einer komplexeren Satzstruktur mit motivisch-thematischer Verarbeitung des einzigen Themas wie in der Durchführung eines Sonatensatzes. Geradezu dramatisch ist dagegen der Charakter des c-moll-Adagios, das im Unisono der vier Instrumente beginnt, bevor das Cello dann über pochenden Klängen der übrigen Streicher ein melancholisches Thema entfaltet. Man meint ein Recitativo accompagnato aus einer großen Oper zu hören, mischt sich doch immer wieder Rezitativisches zwischen die mal tastend vorangehenden, dann wieder energisch sich behauptenden Wendungen, als sei Haydn spontan-improvisierend auf der Suche nach seinem Material. Und wie in einer Gesangsszene folgt dann tatsächlich ein Arioso mit dem über einem weichen Klangteppich aus Liegetönen und Akkordbrechungen dahinströmenden lyrischen Thema in der ersten Violine, die sich schließlich zu einer Kadenz aufschwingt, bevor im weiteren Verlauf die Idylle dann aber immer wieder durch schroffe akkordische Einwürfe gestört wird. Das Menuett ist von kapriziös-tänzerischem Charakter und erhält durch die bordunartig angestrichene leere G-Saite den Charakter einer Musette. Doch auch hier mischen sich in die Heiterkeit bald schon wieder Verschattungen. Das Finale ist eine kunstvolle
Quadrupelfuge, in der Haydn gleich vier verschiedene Themen gegeneinander antreten lässt – dies aber ganz ohne altmeisterliches Fugenpathos, sondern vielmehr mit geradezu atemberaubender Modernität und Raffinesse durch reizvolle chromatische Färbungen. Der gesamte Satz ist zunächst „sotto voce“ zu spielen, also „mit zurückgenommener Stimme“, erst in den letzten Takten reißt Haydn die Dynamik auf und lässt die vier Instrumentalisten alle vier Themen in einer jubelnden Stretta zusammenführen.
Von der Schönheit und Tiefe alter Volkslieder
Der Gedanke, Volksweisen für unterschiedliche Besetzungen zu bearbeiten, kam nicht erst mit den Nationalbewegungen des späten 19. Jahrhunderts und dem Interesse an Volksmusik im 20. Jahrhundert auf. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigten sich zahlreiche Komponisten mit dieser Thematik, darunter auch Ludwig van Beethoven und allen voran Haydn, der für verschiedene schottische und britische Auftraggeber zwischen 1792 und 1804 mehr als 400 schottische, walisische und irische Volkslieder bearbeitete.
Ein dänisches Lied, das von einer wunderschönen Rose erzählt, die inmitten einer Welt aus Dornen und Disteln erblüht, war es dagegen, das die Musiker des Danish String Quartet so sehr faszinierte, dass sie sich entschlossen, nach ihrer 2014 produzierten Folk-CD Wood Works noch tiefer in den Kosmos der skandinavischen Volksmusik einzudringen. Das Ergebnis veröffentlichten sie 2017 mit dem Album Last Leaf. Der dänische Theologe und Dichter Hans Adolf Brorson hatte 1732 das Lied Den yndigste Rose er funden („Nun ist die schönste der Rosen gefunden“) publiziert – eine Hymne auf die Schönheit der Natur inmitten einer wüsten Umgebung und zugleich ein Weihnachtslied, das von der Geburt des Jesuskindes erzählt. Auffallend ist der dunkle Charakter der Komposition, der gleichwohl kein Zufall ist, schließt er doch – basierend auf einem Martin Luther zugeschriebenen Begräbnischoral – die Vergänglichkeit alles Schönen wie den in der Geburt Christi bereits angelegten Kreuzestod des Heilands mit ein. „Wir glauben, dass Brorson etwas sehr Wichtiges berührt hat“, erläutern die vier Musiker im Vorwort zu Last Leaf: „Dass nämlich starkes musikalisches Material verschiedene Möglichkeiten eröffnen kann und dass es sinnvoll ist, zu erforschen, was geschieht, wenn die ‚Funktion‘ einer Melodie verändert wird. Kann ein Begräbnischoral genutzt werden, um Weihnachten zu feiern? Kann ein rustikaler Volkstanz Gefühle von Melancholie und Kontemplation heraufbeschwören? Soll ein traditionelles nordisches Schifferlied von den Männern an den Rudern oder von den besorgten Frauen zu Hause gesungen werden? Und: Was geschieht, wenn sich ein klassisches Streichquartett erneut auf eine Reise durch die Welt der nordischen Volksmusik begibt?“
Die Recherchen, die die vier Musiker betrieben, reichen mit dem ältesten bekannten weltlichen Lied Skandinaviens, dem um 1300 im Codex Runicus veröffentlichen Drømte mig en drøm („Ich hatte einen Traum“), bis ins Mittelalter zurück. Wichtige Quellen waren die Volksliedsammlungen des von der Insel Fünen stammenden Rasmus Storm aus den 1760er Jahren sowie der Gebrüder Bast, die zwischen 1763 und 1782 die bis heute größte Sammlung dänischer Volksmelodien anlegten. Intensiv beschäftigten sich die Musiker des Danish String Quartet aber auch mit den Traditionen der Fiedler, die für die Tänze des Volkes die Begleitung lieferten, später aber auch als Volksmusik-Virtuosen übers Land zogen und Konzerte gaben. Und nicht zuletzt entstanden für dieses Projekt auch neue Kompositionen, durch die der Geist der Volksmelodien weht – gehört, wie auch in den übrigen Bearbeitungen, mit den Ohren von vier außergewöhnlichen Musikern von heute. Mit ihrem Auftritt im Pierre Boulez Saal laden sie uns ein auf eine Reise in die faszinierende Welt dieser alten, im kollektiven Bewusstsein der Skandinavier verankerten Tänze, Balladen, Seemannsund Kirchenlieder, denen so gar nichts Altmodisches anhaftet. Im Gegenteil: „In diesen alten Melodien spüren wir Schönheit und Tiefe“, bekennen die vier Künstler. „Wir können gar nicht anders, als sie zu singen durch das Medium unseres Streichquartetts.“