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Yefim Bronfman
Im Mittelpunkt der Welt
Klaviermusik von Bartók, Ustwolskaja, Schumann und Schubert
Wolfgang Stähr
Unter freiem Himmel: Béla Bartók
Béla Bartók lehrte seine Klavierschüler an der Budapester Musikakademie, Bach zu spielen, aber nicht zuletzt lehrte er sie das Fürchten: mit seiner Strenge, seinem unerbittlichen Perfektionismus und den Ritualen der Missbilligung, die den schlecht vorbereiteten oder minder begabten Studenten trafen (etwa durch beleidigtes Schweigen oder kommentar- und grußloses Verlassen des Unterrichtsraumes). „So wurde zu unserem größten Schrecken Bartók unser Lehrer. Ich kann nicht erklären, was für ein Gefühl es war, als wir am Montagnachmittag in die Klasse gingen – und dann kam er herein. Er hatte unvergesslich große Augen, die einen eindringlich ansahen“, erinnerte sich der Dirigent Georg Solti, der mit 14 Jahren Bartóks Klavierlektionen erlebt hatte. „Natürlich beteten wir ihn zusammen mit der ganzen jüngeren Generation an; wir wussten, dass eines der lebenden Genies des 20. Jahrhunderts sich in unserem Klassenzimmer befand. Wir wussten das recht gut; aber außer uns war das damals kaum jemandem bewusst – weder in Ungarn noch im Ausland.“
Bei aller akademischen Disziplin – Bartók komponierte am liebsten im Sommer, im Freien, im Garten, bei frischer Luft unter freiem Himmel: eine „Pleinair“-Musik mit unendlich verfeinertem Sensorium für die Stimmen, Laute, Töne und Geräusche der Natur, der Blätter, der Insekten, der Vögel, der Frösche. Und mit einer naturwüchsigen Verbundenheit zur „Bauernmusik“, die Bartók in Ungarn, Südosteuropa und Nordafrika hörte, aufzeichnete, erforschte, einer Liebe zur elementaren Musizierpraxis und Klanggewalt der Trommeln, Pfeifen, Drehleiern und Dudelsäcke. Wie roh und wild, barbarisch, ja schockierend „kulturlos“ mussten den zeitgenössischen Hörern seine Klavierstücke in den kultivierten Ohren tönen. Namentlich das groteske Scherzo oder das perkussiv überdrehte Allegro molto aus der 1916, mitten im Krieg, entstandenen und später mehrfach revidierten Suite für Klavier kamen einem Anschlag auf liebgewonnene Hörgewohnheiten gleich. Es war die Zeit, als viele Künstler der städtischen Zivilisation den Rücken kehrten, ans Meer flohen, auf Inseln lebten, in die Südsee reisten, Kolonien auf dem Lande gründeten, das einfache, elementare, unverfälschte Leben suchten. Bartóks Klavierstücke freilich, so brachial und zügellos sie auch klingen mögen, gründen paradoxerweise auf einer akribischen, geradezu wissenschaftlichen, bis ins mikroskopische Detail durchdachten Ordnung der Töne, der Skalen, der Reihen, der Rhythmen. Ihre Radikalität hat nichts mit Tobsucht oder irgendwelchen Bürgerschreckallüren zu tun. Bartóks Kunst führt ins Freie, ins Offene, aber sie dringt auch ins Innerste der Musik vor: in die Natur der Klänge. Und lehrt uns am Ende vor allem – das Staunen.
„Ich lebe mein einsames Leben“: Galina Ustwolskaja
Der Respekt gebietet es, über Galina Ustwolskaja zu schweigen. Sie selbst hat es nicht anders gewollt. „Es ist besser, nichts über meine Musik zu schreiben“, hielt sie unmissverständlich fest. Nur besser als was? „Als immer wieder das Gleiche“ zu behaupten: Ihre Musik sei kammermusikalisch und religiös, so etwas wollte sie weder hören noch lesen, auf gar keinen Fall. In den schmalen Katalog ihres offiziellen Œuvres, das sie 1990 mit einer Fünften Symphonie namens Amen besiegelte, nahm Ustwolskaja ausdrücklich nur ihr „wahres, geistiges, nicht religiöses Werk“ auf. Und legte, wie die meisten Meister des 20. Jahrhunderts, größten Wert auf den Anspruch, dass ihre Stücke „gedanklich und inhaltlich neu“ seien: „Das nicht Kammermusikalische meiner Musik ist das Neue, ist die Frucht meines qualvollen Lebens in der schöpferischen Arbeit! Und es geht nicht um die Anzahl der Ausführenden, sondern um den Kern der Musik selbst.“ Über die akademische Frage, welcher „Gattung“ ihre Kompositionen zugehörten, mochten sich die Musikwissenschaftler die Köpfe zerbrechen, sie beschied alle Mutmaßungen mit knappster Zurechtweisung: Ihre Symphonien seien keine symphonische Musik, aber ungeachtet des spartanisch besetzten Ensembles (die besagte Fünfte: für Violine, Oboe, Trompete, Tuba, Holzwürfel und Sprecher) auch keine Kammermusik: „Der innere Gehalt meiner Musik schließt den Begriff ‚Kammermusik‘ aus.“ Und ihre Werke seien keineswegs religiös im liturgischen Sinne („Das ist ein großer Irrtum.“), wohl aber von „religiösem Geist“ erfüllt und sollten deshalb vorzugsweise in der Kirche musiziert werden: „Im Konzertsaal, in weltlicher Umgebung, ist der Klang der Musik völlig anders.“
Galina Ustwolskaja, Tochter eines Rechtsanwalts und einer Lehrerin, kam 1919, vor 100 Jahren, in Sankt Petersburg zur Welt, das damals Petrograd hieß, bevor es in Leningrad umgetauft und schließlich wieder in Sankt Petersburg rückbenannt wurde. Und all die Jahre lebte Ustwolskaja in dieser Stadt, kaum beachtet, fast unbekannt: „In der Kindheit verstand man mich absolut nicht – übrigens wie auch heute; ich wuchs allein auf. Ich war ganz allein. Die Eltern lebten ihr eigenes Leben. Seitdem sind meine Nerven zerrüttet.“ Ustwolskaja träumte davon, wie Diogenes in einem Fass zu hausen, sie liebte die Stille, die Ruhe, die Natur: „Nur keine Leute. Ich würde gern unter einer Birke sitzen. Mehr brauche ich nicht. Einsamkeit ist das Beste.“ Als sie 1998 zum Festival Wien modern anreiste, erklärte sie sich halboder wohl nicht einmal viertelherzig zu einem Interview bereit. Der Schweizer Musikkritiker Peter Hagmann erinnert sich an diesen Versuch einer Begegnung: „Da saß sie nun mit einem Mal in der glitzernden Hotellobby: eine kleine, fast unscheinbare Frau, bleich und vor Aufregung zitternd. Kamera und Licht verursachten ihr das größte Unbehagen; immer wieder bat sie gestenreich, die Geräte zu entfernen. Stockend verlas sie dann vor laufender Kamera zwei Sätze, die sie in großer Schrift auf einem Blatt Papier notiert hatte. Zur Beantwortung der Fragen, die zuvor schriftlich hatten eingereicht werden müssen und die zu nächtelangen Diskussionen geführt haben sollen, kam es nicht.“
Studiert hatte Galina Ustwolskaja bei Schostakowitsch, der von ihr mit Bewunderung sprach („Nicht Du stehst unter meinem Einfluss, sondern ich unter Deinem.“), wohin gegen sie nur mit Groll und Verbitterung an ihn dachte („Die Persönlichkeit von Dmitri Dmitrijewitsch hat meine besten Gefühle belastet und getötet.“). Ihren Lebensunterhalt verdiente Ustwolskaja als Lehrerin an einer Leningrader Musikschule, während ihre Werke kaum aufgeführt und erst nach Jahrzehnten gedruckt wurden. Freilich war sie auch ihrerseits auf die Rarität ihrer Musik bedacht, selbst nach dem Abklingen der sozialistischen Bevormundung und Kulturfeindlichkeit. Die Anfrage eines Verlegers im Jahr 1990 beschied sie mit einer Absage und einem Bekenntnis: „Ich würde gern etwas für Ihren Verlag schreiben, aber das hängt nicht von mir, sondern von Gott ab. Wenn Gott mir die Möglichkeit gibt, etwas zu komponieren, werde ich es unbedingt machen. Ich komponiere nicht so, wie andere Komponisten. Ich beginne erst dann zu komponieren, wenn ich einen besonderen Zustand der Gnade erreiche.“
Ustwolskaja schuf ihre Musik für, aber ohne Instrumente, nicht einmal am Klavier, nur am Schreibtisch. „Alles wird mit solcher Sorgfalt durchdacht, dass es nur noch aufgeschrieben zu werden braucht. Ich bin immer in meine Gedanken vertieft. Auch die Nächte verbringe ich mit inten sivem Nachdenken und schaffe es darum nicht, mich zu erholen. Die Gedanken zernagen mich.“ Ob es ein Zustand der Gnade war, in dem sie 1957 ihre Vierte Klaviersonate komponierte? Die Musik selbst jedenfalls tönt erschreckend gnadenlos mit ihren „nagenden Gedanken“, ihren kahlen Tonfolgen, harschen Kontrapunkten, klaffenden Registern, zwanghaften Wiederholungen, klirrenden und krachenden Clustern. Wollte man den Begriff der „Kammermusik“ mit traditionellen Vorstellungen von Dialog, Gespräch oder Konversation besetzen, wäre an dieser schroffen Sonate tatsächlich nichts „Kammermusikalisches“ zu finden – rigoros folgt sie ihren eigenen hermetischen Gesetzen, bis an den Rand der kommunikativen Verweigerung. In „weltlicher Umgebung“ klingt sie anders, das lässt sich kaum bestreiten, fremdartig, abweisend, ohne jedes Zugeständnis an Wohlklang und Gemeinschaft. Die vier kurzen, namenlosen, hart kontrastierenden Sätze aber müssten auch im geschützten Raum der Kirche einen „religiösen Geist“ erwecken, der von Strenge, Unnahbarkeit, von Anklage und Abgrund zu uns spräche. Oder schwiege. „Ich habe eine ganz eigene Welt und verstehe alles von meinem eigenen Standpunkt aus“, bekannte Ustwolskaja. „Ich höre, sehe und handle anders als alle Menschen. Ich lebe mein einsames Leben.“ Die Vierte Klaviersonate wurde erst 1973 uraufgeführt, in Leningrad, doch darauf kam es gar nicht an. Sie habe niemals durch eine Interpretation etwas Neues an ihren Werken entdeckt, sagte Galina Ustwolskaja: „So etwas kann es bei mir nicht geben.“
Das Herz des Dichters: Robert Schumann
Faschingsschwank aus Wien – diesen Titel wählte Robert Schumann für ein fünfsätziges Werk, das er als „große romantische Sonate“ plante, später als „romantisches Schaustück“ charakterisierte, um es zuletzt unter dem zitierten Namen als eine Folge von „Fantasiebildern für das Pianoforte“ zu veröffentlichen. In Wien, im März 1839, hatte er die Partitur in Angriff genommen, doch erst im Januar 1840, mittlerweile wieder daheim in Leipzig, zu einem Abschluss gebracht. Das karnevalistische Prinzip der verkehrten Welt regiert mit Tollität und Narretei auch in dieser Musik: Schumann stellte die Sonate kurzerhand vom Kopf auf die Füße, indem er den „Hauptsatz“ an das Ende setzte, das Finalrondo aber an den Beginn (und darin auch noch die in Wien strengstens verbotene Marseillaise intoniert, und zwar unüberhörbar). Im Zentrum der fünf Fantasiebilder steht ein Scherzino. Oder, besser gesagt, es steht nicht: es tanzt und hüpft und springt umher wie ein Kobold, der den Hörer zum Besten hält und aus allen Richtungen grüßt, eben hier, gerade noch dort. Die tagträumerische Romanze hingegen, die unter ständigen Ritardandi den Kopf hängen lässt, und das schwärmerische es-moll-Intermezzo (das der Komponist zeitweilig seinen Nachtstücken op. 23 zuordnen wollte) scheinen so gar nicht recht zu dem Vorstellungskreis von Fasching und Schwank zu passen. Doch schrieb Schumann zur selben Zeit auch eine Humoreske für Klavier, die er paradoxerweise als sein melancholischstes Werk bezeichnete, und verriet, er sei beim Komponieren ständig vom Lachen ins Weinen geraten. „Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist“, hatte Heinrich Heine einige Jahre zuvor erklärt, „so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sei ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat.“ Und man weiß nicht, soll man lachen, soll man weinen, wenn die Welt wie eine einzige Posse erscheint? Das ist die Frage – auch in Schumanns romantischem Schau- und Herzstück.
Mit anderer Sprache: Franz Schubert
Die überbordende Produktivität, die Franz Schubert 1828, in seinen letzten Lebensmonaten, an den Tag legte, als er auch seine letzten Klaviersonaten komponierte, sie hat Anlass zu seriösen wie andererseits den wildesten Spekulationen gegeben. War es ein Wettlauf mit der tödlichen Krankheit, um deren physische Bedrohung Schubert seit Jahren wusste? Hatte er den Tod Beethovens, des übermächtigen Giganten, als Befreiung von einem quälenden Leistungsdruck empfunden? Fühlte er sein künstlerisches Selbstbewusstsein gestärkt, nachdem er das ehrgeizige Projekt der „großen Symphonie“ gemeistert hatte und ihm mit der Winterreise ein Zyklus gelungen war, dessen Lieder ihm „mehr als alle“ gefielen? Aus den Erinnerungen seines Freundes Josef von Spaun erfahren wir, dass Schubert sich seit der Arbeit an der Winterreise in einen tranceartigen Schaffensrausch gesteigert hatte: „Wer ihn nur einmal an einem Vormittag mit Komponieren beschäftigt gesehen hat, glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Somnambule ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen.“ Schubert befand sich, daran lässt Spauns Schilderung keinen Zweifel, in einem kreativen Ausnahmezustand, und die Arbeitsexzesse, die er sich zumutete, waren verhängnisvoll geeignet, seine ohnehin zerrüttete Gesundheit endgültig zu ruinieren.
Und Beethoven ließ ihn nicht mehr los. Als wollte er dessen c-moll-Variationen WoO 80 noch einmal komponieren, so beginnt Schubert die erste seiner drei letzten Klaviersonaten D 958 – ebenfalls in der symbolisch vorbelasteten „Schicksalstonart“ c-moll. Die auffallende Ähnlichkeit des Sonatenanfangs mit Beethovens Variationenthema ist zweifellos kein Zufall, doch nach wenigen Takten schon bricht die Illusion des heroischen Stils in sich zusammen, und nichts bleibt übrig von der Beethovenschen Wucht, Bestimmtheit und Zielstrebigkeit – im Gegenteil, es herrscht ein Gefühl von Ausweglosigkeit vor, ein Fluchtimpuls, Angst und die qualvolle Verwirrung eines Albtraums. Wer spricht von Siegen?