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Breath & Hammer II
Was uns verbindet
David Krakauer und Kathleen Tagg über Breath & Hammer II
Mit diesen beiden Aufführungen in Berlin stellen wir eine erheblich erweiterte Fassung unseres Programms Breath & Hammer vor, die speziell für den Pierre Boulez Saal und seine einzigartige „In the Round“-Anordnung erarbeitet wurde. Im Mittelpunkt stand dabei unser Versuch, diesen Abend durch neu komponierte Zwischenspiele in drei dimensionalem Surround-Klang und mit neuen Videoprojektionen, die von Jesse Gilbert live gesteuert werden, zu einem Erlebnis zu machen, bei dem das Publikum ganz in die Klänge und Bilder eintauchen kann.
Ausgangspunkt war dabei das Grundmaterial aus unserem vorherigen Projekt Breath & Hammer. Es besteht aus unseren eigenen Arrangements von Stücken, die wir von Komponisten und Künstlern, die wir sehr verehren und die gleichzeitig auch Freunde und Partner sind, erhalten haben. Das Programm enthält Werke von so unterschiedlichen Musikern wie dem in New York lebenden Visionär John Zorn, dem syrischen Klarinettisten Kinan Azmeh und dem kubanischen Schlagzeuger Roberto Juan Rodríguez, zusammen mit Eigenkompositionen, die ihrerseits von ganz unterschiedlichen Einflüssen wie ineinandergreifenden Schlagzeugpatterns, romantischer symphonischer Musik, Minimal Music und Klezmer geprägt sind. Für uns verbinden sich diese vielen verschiedenen und scheinbar gegensätzlichen Einflüsse und lassen etwas völlig Neues entstehen.
Das Projekt hat sich seit 2015 stetig weiterentwickelt. Nachdem wir zuerst die Musik fertiggestellt hatten, entschlossen wir uns dazu, auch Video einzubeziehen. Ein großer Teil der Klavierklänge wird im Instrument selbst erzeugt, und auch auf der Klarinette kommen ungewöhnliche Spieltechniken zum Einsatz. Der ursprüngliche Gedanke zu den Videoprojektionen entsprang aus der Idee, das Publikum am Entstehen unserer Klangwelt direkt teilhaben zu lassen und in Echtzeit zu zeigen, wie diese Klänge eigentlich produziert werden. Das führte 2016 zu unserer ersten Begegnung mit Jesse Gilbert, den wir damit beauftragten, ein transportables Videosystem mit drei interaktiven Kameras für unsere Shows zu entwerfen. Dieser Aufbau kam bei allen bisherigen Aufführungen des Projekts zum Einsatz.
Als es dann darum ging, diese erweiterte Version für den Pierre Boulez Saal zu gestalten, mussten wir dabei natürlich die besonderen Gegebenheiten des Raums mit einbeziehen. Die größten Herausforderungen in einem 360-Grad- Konzertsaal betreffen die Sichtlinien und die Akustik. In einem Raum wie dem Pierre Boulez Saal, in dem man sich über die Frage des Klangs so intensiv Gedanken gemacht hat, gibt es keinen einzigen schlechten Platz – was einfach traumhaft ist. Aber die Herausforderung, eine ellipsenförmige Konzertsituation mit Projektionen zu kombinieren, ist nochmal etwas ganz Anderes! Gemeinsam mit dem Team des Pierre Boulez Saals haben wir über ein Jahr hinweg verschiedene Möglichkeiten diskutiert, und schließlich kam Jesse auf die Idee, um uns herum eine sechseckige Konstruktion zu bauen, die als Hintergrund für die Projektionen dient und von überall im Raum zu sehen ist.
„Die einzigartige Architektur des Pierre Boulez Saals hält für Videoprojektionen eine Menge Herausforderungen bereit“, erläutert Jesse sein Konzept, „vor allem hinsichtlich der Größe des Raums und der Bestuhlung im Oval und auf mehreren Ebenen. Zu diesen Aufführungen habe ich für die Projektionen eine sechseckige Konstruktion entworfen, die mit lichtdurchlässigem Stoff bespannt ist und eine durchgehende Fläche bildet, die die Musiker umgibt. Mit Hilfe von Live-Kameras und einer von mir entwickelten Videosoftware, der auf Audiosignale reagiert, möchte ich dem Publikum die Möglichkeit geben, in eine unmittelbare, enge Beziehung zu den Musikern und ihrem schöpferischen Prozess zu treten, während dieser Prozess stattfindet. Ich habe das Glück, für dieses Videodesign, das die Zuschauer und Zuhörer ganz unmittelbar ansprechen soll, auf die Erfahrungen aus zehn Jahren Zusammenarbeit mit Klangspezialisten in aller Welt zurückgreifen zu können. Dabei verstehe ich die Computer-Animation in Echtzeit als eine Art synästhetische Meditation über die Fähigkeit von Musik, uns zu bewegen und zu inspirieren.“ Bei diesen Aufführungen arbeiten wir zum ersten Mal in einer Live- Situation mit Jesse zusammen. Der Anspruch des Projekts und die Komplexität der visuellen Komponente sind dadurch erheblich gewachsen.
Die Palette an Klängen, die in Breath & Hammer zum Einsatz kommen, ist eine sehr persönliche und hat sich aus unserer langen Partnerschaft entwickelt. Wir bringen all das, was wir als Künstler sind und woran wir über viele Jahre gearbeitet haben, in das Projekt ein. Das beinhaltet zum einen den ausgeprägten Hintergrund als klassische Konzertmusiker, den wir beide haben. Dazu kommen Davids Erfahrung als innovativer Klezmer-Interpret, Komponist, Bandleader und experimenteller Künstler und Kathleens vielseitige Karriere als Musikerin und Komponistin in unterschiedlichsten Genres. Die Musik in diesem Programm hat einerseits eine ausgesprochen globale Perspektive, anderer seits ist sie für uns sehr persönlich, denn jeder der beteiligten Komponisten ist ein enger Freund oder künstlerischer Mitstreiter. Die Stücke selbst haben wir als Ausgangspunkt betrachtet, und unsere Arrangements und Bearbeitungen unterscheiden sich in jedem einzelnen Fall stark vom Original. Bei dieser Umgestaltung haben wir einen Weg gefunden, das musikalische Material so weiterzuentwickeln, dass es unsere persönliche Klangwelt widerspiegelt, ohne dass wir uns dabei sklavisch an die Vorgaben eines bestimmten Genres halten. Wir sind den Komponisten sehr dankbar dafür, dass sie uns ihre Werke anvertraut und uns ihren Segen dazu gegeben haben, das zu tun.
Für diese Aufführungen in Berlin haben wir außerdem eine Reihe von Zwischenspielen eingefügt, die über Lautsprecher zu hören sind und die verschiedenen Stücke des Programms miteinander verbinden. Diese Zwischenspiele, deren Klang dreidimensional durch den Saal „wandert“, spiegeln diese äußeren Einflüsse wider – Einflüsse von Traditionen, die nicht die unsrigen sind, die wir aber durch unsere Freunde und ihre Musik kennengelernt haben. Einige Zwischenspiele beginnen mit Elementen des vorhergehenden Stücks, die aber in ihrem neuen Kontext teilweise gar nicht wieder zuerkennen sind, und beziehen dann Elemente des nächsten Stücks ein, um so zu ihm hinzuführen.
Das Sounddesign besteht dabei aus zwei Schichten: für die eigentlichen Musiknummern kommt der Klang direkt von der Bühne in der Mitte. Die Zwischenspiele bewegen sich durch ein System von Surround-Lautsprechern, und ihre Bewegung ist dabei sowohl klanglicher Ausdruck von musikalischen Anspielungen zwischen den einzelnen Stücken als auch eine Geste oder Hommage an das, was uns alle verbindet – ganz egal, wie groß die Entfernung zwischen uns manchmal erscheint.
Anmerkungen zur Musik
November 22nd - Kinan Azmeh
Der aus Syrien stammende und in New York lebende Kinan Azmeh ist Klarinettist und Komponist und tritt auf der ganzen Welt mit seinen eigenen Ensembles, als Solist mit Orchester, mit Künstlern verschiedenster Stilrichtungen und als Mitglied von Yo-Yo Mas Silk Road Ensemble auf. (Auch im Pierre Boulez Saal war er seit der Eröffnung schon mehrfach zu Gast.) Dieses Stück entstand zu einem amerikanischen Thanksgiving-Fest, das auf den 22. November fiel. Es ist Ausdruck sowohl der Sehnsucht nach dem Heimatland des Komponisten als auch eines Gefühls des Optimismus, sich in einem neuem Land zuhause zu fühlen.
Interlude I - Kathleen Tagg
Alle in den Zwischenspielen zu hörenden Samples stammen direkt aus den Arrangements der musikalischen Nummern, die sie verbinden. Dieses erste Zwischenspiel beginnt mit den ruhig gestrichenen Klaviersaiten aus November 22nd, bevor nach und nach Fragmente des Arrangements von John Zorns Ebuhuel anklingen – es dient als Übergang und lässt gleichzeitig an die Ankunft eines mächtigen Engels denken.
Ebuhuel - John Zorn
John Zorn ist ein amerikanischer Saxophonist und Komponist und einer der wichtigsten Vertreter der New Yorker Downtown-Kunstszene. Unter dem Schlagwort „Radical Jewish Culture“ hat er sich mit Möglichkeiten jüdischer kultureller Identität im Kontext der Avantgarde beschäftigt. Ebuhuel und das folgende Stück des Programms, Parzial, stammen aus Zorns umfangreicher Sammlung von Stücken mit dem Titel The Book of Angels und waren ursprünglich Teil einer Gruppe von acht Kompositionen, die David Krakauer zusammen mit seiner Band Ancestral Groove aufgenommen hat. Später dienten Kathleen Tagg diese Versionen der beiden Stücke aus Grundlage für die Arrangements in Breath & Hammer. In diesem ersten entwirft Zorn ein musikalisches Portrait des Ebuhuel, eines der Engel der Allmacht.
Interlude II - Kathleen Tagg
Interlude II führt mit mehrschichtigen, kargen Samples des gestrichenen Klaviers in die himmlische Klangwelt von Zorns Engel Parzial ein.
Parzial - John Zorn
Diese Darstellung des Parzial, Hüter der Siebten Himmlischen Halle, stammt ebenfalls aus The Book of Angels.
Interlude III - Kathleen Tagg
Das musikalische Materials dieses Zwischenspiels, das als Verbindungsglied zwischen Zorns Parzial und Rodríguez’ Shron dient, ist größtenteils den übereinander gelagerten Pizzicato-Motiven entnommen, die von Kathleen Tagg auf den Saiten des Klaviers gezupft werden.
Shron - Roberto Juan Rodríguez
Dieses Stück ist dem Album El Danzon de Moises von Roberto Juan Rodríguez entnommen, an dem auch Krakauer mitwirkte. Grundidee für das Album war eine imaginäre kubanisch-jüdische Musik, die zurückgeht auf Rodríguez’ Erfahrungen als junger Mann in Miami, wo er sowohl auf jüdischen als auch kubanischen Festen spielte, und auf seine enge Verbindung zu John Zorns „Radical Jewish Culture“-Bewegung. Rodríguez nahm den traditionellen kubanischen danzón zum Ausgangspunkt, um sich eine Musik vorzustellen, wie sie in der kleinen, fragilen kubanisch-jüdischen Gemeinschaft unserer Tage existiert haben könnte.
Interlude IV - Traditionelle Umrhubhe-Melodie
Interlude IV ist eine direkte Transkription einer Umrhubhe- Melodie der Xhosa, in der Interpretation des bedeutenden Musikers Dizu Plaatjies. Sie erklingt hier in Kathleen Taggs Version für gestrichenes Klavier.
Berimbau - Kathleen Tagg
Ursprüngliche Inspiration für dieses Stück waren die Klänge der Obertonreihe, wie sie auf dem südafrikanischen Bogeninstrument Umrhubhe, einem Verwandten des größeren brasilianischen Berimbau, gespielt werden kann. Im weiteren Verlauf wird die Musik von einer starken Vorwärtsbewegung in einem Siebener-Rhythmus erfasst, die an das Tempo und die Energie der Stadt New York und an Bläserklänge à la Duke Ellington erinnert.
Interlude V - Kathleen Tagg & David Krakauer
In Interlude V stehen die eher spielerische Seite von Krakauers Klarinettentechnik und die rhythmische Verwendung von Atemgeräuschen im Mittelpunkt.
Rattlin’ Down the Road - David Krakauer
Die Idee zu diesem Stück entstand während der Zeit, die Krakauer und Tagg in Yellow Barn, einem Zentrum für Kammermusik auf dem Land in Vermont im Nordosten der USA verbrachten, während sie an Breath & Hammer arbeiteten. Die gesamte rhythmische Struktur ist auf schlagzeugartigen Klarinettenklängen aufgebaut, angeregt durch die klappernden Geräusche alter Lastwagen auf engen, staubigen Landstraßen.
Interlude VI - Kathleen Tagg
Dieses Zwischenspiel verwendet Fragmente von Rob Curtos brasilianischer Forrò-Melodie Demon Chopper, kombiniert mit Abschnitten aus Taggs Berimbau.
Demon Chopper - Rob Curto
Der in New York lebende Akkordeonist Rob Curto ist vor allem als einer der führenden Vertreter der brasilianischen Forrò-Musik bekannt. Für ihre Version dieses Stücks bezog sich Tagg auf die afrikanischen Wurzeln brasilianischer Musik und nahm einen ganzen west-afrikanischen Drum Circle zur Grundlage, wobei alle Trommel- und Schlagzeugklänge aus dem Klavier kommen. Die darüberliegende Melodie ist von jüdischer Klezmer-Musik inspiriert, was sich dadurch erklärt, dass Cutro eine Zeitlang in Krakauers Band spielte. Eine weitere Schicht besteht aus Krakauers rhythmisch grundierten Ostinatos. Das Ergebnis ist ein absolut einzigartiges, sehr persönliches Zusammenfließen von stilistischen Gedanken.
Interlude VII - Kathleen Tagg
Interlude VII führt ein in die Klangwelt von Krakauers und Taggs Adaption des folgenden Stücks von Emil Kroitor, das stark romantische Untertöne besitzt.
Moldavian Voyage - Emil Kroitor
Einer der großen Fahnenträger der Klezmer-Musik aus dem heute zu Moldawien gehörenden Teil Europas war der Klarinettist German Goldenshteyn, der 1994 nach New York kam und die traditionelle jüdische Musik seiner Heimatregion dorthin mitbrachte. Dem Vernehmen nach hatte er fast 1.000 Melodien im Kopf, und eine davon war dieses Stück des großen moldawischen Akkordeonspielers und Komponisten Emil Kroitor. Krakauer und Tagg interpretieren es neu als geographische und politische Reise epischen Umfangs.
Interlude VIII: Synagogue Wail - David Krakauer
Synagogue Wail, eine teilweise improvisierte Komposition Krakauers für Soloklarinette, ist eine Art Portrait seiner musikalischen Welt, zusammengedrängt auf fünf Minuten: den Grundgedanken einer Klezmer-Improvisation vermischt er mit Einflüssen aus Jazz, Funk und Minimal Music und ver - bindet die verschiedenen Elemente schließlich technisch virtuos zu einem großen Ganzen. Eine wilde Achterbahnfahrt!
The Geyser - David Krakauer & Kathleen Tagg
Den Abschluss des Programms bildet eine Originalkomposition, die auf Akkordstruktur und Form eines der bekanntesten Werke aus der osteuropäischen jüdischen Klezmer-Musik mit dem Titel Der Heyser Bulgar basiert. In dieser vollkommen verwandelten Version wird das berühmte Stück zum Gegenstand einer ganz neuen Hörerfahrung.