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Emerson String Quartet

Vom Ursprung bis zur Uraufführung

Streichquartette von Haydn, Verdi und Wernick

Michael Kube

Zwischen Salon und öffentlichem Konzert

In der Blütezeit des Streichquartetts zu Beginn des 19. Jahrhunderts wandelten sich nicht nur seine Aufführungsorte, sondern auch die Ausführenden und das Publikum. Die Gattung – seit ihren An fängen für den privaten oder allenfalls halböffent lichen Rahmen bestimmt – gelangte nun durch professionelle Musiker und über längere Zeit bestehende Quartettformati onen in die Öffentlichkeit und wurde mit einem zusehends sanktionierten Kernrepertoire zu einem festen Bestandteil des Konzertwesens.

Bildeten zunächst ländliche Adelssitze und Stadtresidenzen den sozialgeschichtlichen Ort des Streichquartetts, so zogen nach der Jahrhundertwende Werke dieser Gattung à la mode in die gute Stube des musikliebenden Bürgertums ein. In einem bemerkenswerten Prozess entwickelte sich so eine Form der öffentlichen Konzertdarbietung von Kammermusik, die noch heute (und auch heute abend) lebendig ist. Als Ausgangspunkt dürfen die Morgenkonzerte gelten, die jeden Freitag im Wiener Palais des Fürsten Carl Lichnowsky veranstaltet wurden und zu denen auf Einladung auch Gäste zugelassen waren – wie etwa der gerade erst in Wien eingetroffene junge Ludwig van Beethoven. Die Aufführungen wurden durch ein Ensemble unter der Leitung des Geigers Ignaz Schuppanzigh bestritten, das in veränderter Besetzung 1808 beim Grafen Rasumowsky mit lebenslanger Pension eine feste Anstellung fand. Schon zuvor hatte Schuppanzigh in der Saison 1804/05 erstmals eine Reihe von öffentlichen Subskriptionskonzerten aufgelegt, die in ihrer Regelmäßigkeit eine absolute Novität darstellten (wenngleich zuvor bereits andernorts, wie beispielsweise in London, Streichquartette öffentlich aufgeführt worden waren).

Die teilweise dokumentierten Programme zahlreicher weiterer, von Schuppanzigh zwischen Sommer 1823 und Dezember 1829 durchgeführter öffentlicher Konzerte zeigen, dass schon zur damaligen Zeit vor allem jene Kompositionen zur Aufführung kamen, die entweder schon lange Repertoirestücke waren (Haydn und Mozart) oder durch wiederholtes Spiel als solche erst etabliert wurden (Beethoven). So brachte Schuppanzigh nicht nur alle Beethovenschen Quartette zur Uraufführung, sondern er soll mit seinem Ensemble auch deren Entstehung in der Werkstatt des Komponisten begleitet haben. Das mehr aus Kennern denn aus Liebhabern bestehende Publikum wiederum dürfte den Konzerten mit gleich doppelter Motivation begegnet sein: zum einen, um jene Werke in mustergültigen Interpretationen zu hören, mit denen man sich gerade noch selbst musizierend auseinander setzen konnte, zum anderen aber auch, um mit neueren Kompositionen bekannt zu werden, die die Grenzen der Gattung ästhetisch wie satztechnisch erweiterten – was wiederum erst das von Schuppanzigh und seinem Quartett erreichte Können ermöglichte. So ist es auch zu verstehen, dass nach nur wenigen Konzerten bereits im Herbst 1824 diese Unternehmung weithin als eine Institution angesehen wurde, in der der exklusive Anspruch der Gattung gepflegt sowie deren Weiterentwicklung vorangetrieben wurde: „Die hohe Vollendung, mit welcher nicht allein die Meisterwerke Haydns, Mozarts und Beethovens, sondern auch neuerer Componisten in diesem Genre hier zu hören sind, machen diese Quartetten zu einer wahren Kunst-Schule, welche Viele fleißig besuchen sollten, denen es Ernst ist, ihren Geschmack zu bilden und sich für so manche ästhetische Leistung einen Maßstab zu verschaffen“, so hieß es in der Wiener Theater-Zeitung.

Für Künstler und Liebhaber

Der Wandel hin zum öffentlichen Konzert lässt sich auch an den späten Streichquartetten von Joseph Haydn beobachten – bis hinein in die musikalische Ebene, durch bestimmte kompositorische Kunstgriffe und Verän derungen in der satztechnischen Disposition. Als Haydn am 19. Januar 1794 zu seiner zweiten Englandreise aufbrach, hatte er neben einigen neuen Symphonien auch die neu entstandene Sammlung der Streichquartette op. 71 und op. 74 im Gepäck, die später im Druck dem ungarischen Grafen Anton von Apponyi gewidmet werden sollten. In der Ankündigung der Ausgabe spiegeln sich die stilistischen Besonderheiten der Werke wider: Hier habe Haydn „Kunst, Tendeley und Geschmack mit der leichtesten Ausführung“ verbunden, so dass „sowohl der Künstler, als der blosse Liebhaber vollkommen befriedigt“ werde. Angespielt wird damit auf Erfahrungen, die Haydn bei öffentlichen Quartettaufführungen in den Londoner Hanover Square Rooms gemacht hatte und die nun Berücksichtigung fanden: So nehmen alle Werke dieser Gruppe in ihrer thematischen Erfindung und Struktur deutlich Bezug auf symphonische Verfahren, ohne diese allerdings zu übernehmen. Vielmehr werden die Großräumigkeit des Verlaufs und Kompaktheit der Faktur mit den ästhetischen Maßgaben und satztechnischen Möglichkeiten des intimen vierstimmigen Ensembles verbunden. Die wohl entscheidendsten Veränderungen betreffen aber die ersten Takte der jeweiligen Kopfsätze. Ohne das aus der Symphonie bekannte Modell einer sich entwickelnden langsamen Einleitung direkt auf das Streichquartett zu übertragen, eröffnet Haydn jedes Werk mit einer Art von klanglichem Vorhang, der in einem größeren Saal schlichtweg die Aufmerksamkeit des Publikums wecken soll. Doch selbst hier wiederholt sich Haydn nie, sondern gestaltet die Introduktionen immer wieder neu und originell. Dabei sind sie jeweils auf verblüffende Weise mit dem nachfolgenden Satz verbunden, so dass sie nicht bloß als beliebiger Vorspann, sondern als musikalisch unverzichtbar erscheinen.

Im Quartett D-Dur op. 71 Nr. 2 ist dies ein viertaktiges Adagio, das zwar kaum über die üblichen Gesten einer langsamen Einleitung hinausgeht, jedoch einen überaus originell gefächerten Eintritt der Instrumente mit dem Hauptthema des Allegro erlaubt. Ferner gestaltet Haydn den Verlauf in der Außenschicht stets so, dass er auch für ungeübte Hörer seiner Zeit interessant bleibt: Akzente, Unisono-Passagen und eine griffige Faktur lassen das kammer musikalische Quartett klanglich größer, wenn nicht gar orchestral erscheinen. Dazu steht das nachfolgende Adagio cantabile im Kontrast, eine von Haydns lyrischsten Meditationen. Dem rhythmisch vertrackten Menuett folgt ein Finale, das betont gemächlich anhebt, dann aber im ersten Couplet mit dem plötzlichen Wechsel nach d-moll seine vermeintliche Unschuld verliert und schließlich in eine virtuose Coda mündet.

Am linken Rand des Notenpapiers

Es gehört zu den verblüffenden Gegebenheiten der europäischen Musikgeschichte, dass das Streichquartett über alle Auf- und Abbrüche des frühen und weiteren 20. Jahrhunderts hinweg als Gattung nicht nur fortbesteht, sondern trotz unterschiedlicher ästhetischer, kompositionstechnischer und stilistischer Ausrichtungen weiterentwickelt wurde. Angesichts der vielfachen Vorbehalte gegenüber allem Traditi onellen trägt hier ausgerechnet die seit dem späten 18. Jahrhundert wirkende Nobilitierung der Be setzung wie auch die im abstrakten Klang des Ensembles liegende Kraft dazu bei, musikalische Ideen losgelöst vom Faktor instrumentaler Farbe zu betrachten, und damit die Gattung lebendig zu halten. Darüber hinaus ist für viele Komponisten eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Streichquartett charakteristisch, als Gruppe von mehreren Werken innerhalb ihres Œuvres, und nicht etwa bloß als einzeln stehende Partitur.

Auch das kompositorische Schaffen von Richard Wernick weist diese Sonderstellung des Streichquartetts aus. Insbesondere im Alterswerk zeigt sich eine intensive Auseinandersetzung, beginnend mit dem Streichquartett Nr. 4 (1990) und aktuell vorläufig endend mit dem Streichquartett Nr. 10 von 2017/18. Beide Partituren sind dem Emerson String Quartet gewidmet und stehen damit in einer Folge ähnlicher beziehungsreicher Zueignungen für das Jerusalem Quartet (Nr. 6, 1998) und das Juilliard Quartet (Nr. 7, 2007 und Nr. 9, 2015).

1934 in Boston geboren und mehrfach für sein Schaffen ausgezeichnet (1977 auch mit dem Pulitzer-Preis), denkt Wernick musikalisch in weiten Räumen. Ohne sich auch nur einem der vielen vergangenen Avantgardismen der letzten Jahrzehnte zu verschreiben, entwickelt er eine Tonsprache, die mit dem Material arbeitet und sich nicht dem Hören widersetzt. In diesem Sinne sind auch die gelegentlichen Allusionen zu verstehen, im Streichquartett Nr. 10 etwa der explizite Verweis auf den dritten Satz von Beethovens Streichquartett a-moll op. 132, überschrieben mit Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart. Zu seinem Quartett Nr. 10 schreibt Wernick: „Meine herzliche Verbindung zu den Musikern des Emerson Quartet reicht 30 Jahre zurück, als ich 1989 mein viertes Streichquartett für sie komponierte.

Vor einigen Jahren traf ich die Entscheidung, in Anbetracht meines Alters keine Aufträge mit einem festen Abgabetermin mehr anzunehmen und soweit möglich nur noch für Musiker zu schreiben, die ich persönlich kenne. Es ist mir lieber, Gesichter am linken Rand des Notenpapiers zu sehen statt Notenschlüssel. Im Falle des Emerson Quartet, bei dem die Zuordnung von erster und zweiter Violine nicht festgelegt ist, stellte dies ein besonderes Problem dar. Es war jedoch leicht zu lösen, indem ich praktisch zwei erste Violinstimmen schrieb. Am deutlichsten wird dieses Vorgehen bei der ‚Fuga Pomposa‘ im ersten Satz; hier wird das Thema von der zweiten Violine vorgestellt, die Antwort darauf gibt die erste Violine in größeren Notenwerten, mit abweichendem Tempo und in der Umkehrung.

Das Quartett besteht aus drei Sätzen, die ohne Pause gespielt werden. Der erste Satz ist ebenfalls dreiteilig, wobei die etwas berauscht wirkende Fuge den Mittelteil bildet. Den zweiten Satz habe ich meinem brillanten Neurochirurgen gewidmet, dank dessen Zauberkunst ich noch auf den Beinen bin; daher der Bezug auf Beethovens Heiligen Dankgesang. Das Lamentoso des dritten Satzes ist insofern eine Coda, als es den Bolero-Tanzrhythmus des ersten Satzes ausspielt. Musik zu komponieren ist harte Arbeit, sehr harte Arbeit, macht aber auch Spaß. Noch mehr Spaß macht es, für ein Ensemble von Musikern zu schreiben, dessen Beitrag zu unserer Musikkultur unermesslich ist.“

Eine musikalische Privatangelegenheit

Wie sehr das Streichquartett insbesondere im 19. Jahrhundert mit dem deutschsprachigen Raum in Verbindung gebracht wurde, zeigt Giuseppe Verdis Be merkung, es sei „eine Pflanze, der das italienische Klima nicht bekommt.“ Zu sehr bildete im Land der blühenden Zitronen die Oper mit all ihren Spielarten schon seit Generationen den Mittelpunkt schöpferischer Aktivitäten wie musikalischer Interessen. Bezeichnend ist, dass der in Ober italien geborene Luigi Boccherini, einer der Begründer des Streichquartetts, die längste Zeit im fernen Madrid wirkte und seine Werke in Paris drucken ließ. Umso wichtiger ist für das kammermusikalische Italien die späte, wenn auch nicht zu späte Gründung einer Società del Quartetto 1861 in Florenz durch den Musikkritiker Abramo Basevi. Viermal wurde in den darauffolgenden Jahren zur Etablierung und Stärkung der Gattung ein „Concorso per un Quartetto“ veranstaltet, der unter den etwa 90 Einsendungen insgesamt acht Preisträger hervorbrachte. Nur wenige Jahre später entstand auch in Mailand eine sehr aktive Gesellschaft, nach deren drittem Konzert der Librettist und Komponist Arrigo Boito programmatisch ausrief: „Üben wir uns in der Sinfonie und im Quartett, um der Oper gegenüber zutreten!“ Giuseppe Verdi indes blieb auf Abstand zu diesen Aktivitäten, wie aus einem Brief vom 3. Oktober 1863 an seinen Verleger Ricordi hervorgeht: „Was die Società del Quartetto betrifft, so bitte ich dich, mich dabei aus dem Spiel zu lassen. Du weißt, dass ich ein Esel in der Musik bin und überhaupt nichts von jener verstehe, die die Gelehrten als klassische taufen.“

Kaum bekannt ist bis heute allerdings, dass sich so manch etablierter Opernkomponist mehr insgeheim als öffentlich mit dem Streichquartett als anspruchsvoller instrumentaler Gattung auseinandersetzte: Gaetano Donizetti schrieb beispielsweise nicht weniger als 18 Werke für diese Besetzung; von den ausnahmslos frühen Quartettkompositionen Giacomo Puccinis ist allein der knapp gefasste, als melancholisches Charakterstück und „Lied ohne Worte“ angelegte Blumen-Satz Crisantemi in das Repertoire eingegangen. Für viele Komponisten bestand die Schwierigkeit offensichtlich weniger darin, eine Quartettkomposition der Tradition entsprechend zu schreiben, sondern vielmehr darin, den musikalischen Rahmenbedingungen und der Erwartungshaltung von Musikern und Kritikern zu entsprechen. Nur so ist es zu verstehen, dass sich selbst Verdi einer Drucklegung seines einzigen Quartetts zunächst vehement widersetzte; er betrachtete das Werk viel eher als reine Privatangelegenheit. Es entstand im Winter 1872/73, als in Neapel für mehrere Wochen die Proben zu einer Inszenierung von Aida unterbrochen werden mussten, nachdem die mit Verdi befreundete tschechische Sängerin Teresa Stolz, die die Titelrolle übernommen hatte, erkrankt war. Die Uraufführung des Quartetts fand bezeichnenderweise in einem eng umgrenzten Rahmen am 1. April 1873 im Foyer des Albergo delle crocelle statt; im Druck erschien es erst drei Jahre später in Paris.

Verdi folgt bei der viersätzigen Anlage des Werkes weitgehend der traditionellen Form mit einem ernsten, weiträumig angelegten Kopfsatz, einem lyrisch anhebenden Andante und einem Prestissimo als Binnensätze sowie einem raschen Finale. Doch so wie schon die Wahl der Tonart e-moll Dramatik verspricht, erscheint im Ausdruck der Komposition vieles aus der Bühnenerfahrung heraus intensiviert und in ein neues Licht gerückt. Dies betrifft auch die abschließende, tonal gelegentlich seltsam schwebende Fuge, bei der Verdi vermutlich weniger an Haydns op. 20 oder Beethovens op. 133 dachte als vielmehr eine eigene Herausforderung suchte; etwa so, wie er dies 1870 notieren sollte: „Kontrapunktische Freiheiten und Irrtümer können gestattet werden und sind bisweilen sogar schön – im Theater, niemals aber – im Conservatorium.“ Dass Verdi sich des eigentümlichen satztechnischen Changierens seines singulär stehenden Werkes vollauf bewusst war, belegt ein Bonmot, mit dem er die originelle Gestaltung der Partitur vor dem Gattungshorizont ebenso trefflich wie selbstbewusst kommentierte: „Ob das Quartett gut oder schlecht ist, weiß ich nicht … Aber dass es ein Quartett ist, das weiß ich!“

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