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Europa Galante

„… dass sie gleichsam zu Tränen gerührt wurden“

Musik im „modernen Stil“ von Monteverdi, Frescobaldi und Zeitgenossen

Michael Horst

Venedig, die magische Lagunenstadt, war um 1600 nicht nur eine florierende Handelsmetropole, sondern auch ein wichtiges Musikzentrum, das mit anderen italienischen Städten wie Florenz, Mantua, Rom und Neapel um die Spitzenposition wetteiferte. Im Mittelpunkt stand die prächtige Basilika von San Marco, in deren gewaltigem Kirchenraum Chor- und Bläsermusik ebenso zur Aufführung kam wie mächtige Orgelwerke. Das heutige Konzert darf als Hommage an diese „Serenissima“ gesehen werden, die mit Claudio Monteverdi den berühmtesten Musiker seiner Zeit als Kapellmeister nach San Marco geholt hatte – ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1643 ausübte.

Viele andere Musiker wirkten in Monteverdis Schatten, so auch Dario Castello, über dessen Lebensumstände – wie bei vielen Künstlern dieser Zeit – nur wenig bekannt ist. Fest steht, dass er einer venezianischen Musikerfamilie entstammte. Spärliche weitere Informationen geben nur die Titelblätter seiner beiden Sammlungen der Sonate concertate, die 1621 und 1629 in Venedig erschienen. Darin wird Castello als „Capo di Compagnia de Musichi d’Instrumenti da fiato in Venetia“, als Leiter einer Bläsergruppe in Venedig bezeichnet. Band II präzisiert, dass Castello als Musiker in San Marco, also als Untergebener Monteverdis, beschäftigt gewesen sein muss. Ob er die Neuauflagen seiner erfolgreichen Sonatenbände von 1644 und 1658 noch erlebt hat, lässt sich heute ebenfalls nicht mehr klären; nach jüngsten Erkenntnissen soll er bereits 1631 ein Opfer der Pestepidemie geworden sein.

Der ausführliche Titel des zweiten Bandes, Sonate concertate in stil moderno per sonar nel organo overo clavicembalo con diversi instrumenti a 1. 2. 3. & 4. voci, verweist auf den radikalen Paradigmenwechsel, der um 1600 die Musikwelt erschütterte. Mit der Abkehr von der kunstvollen Polyphonie der Renaissance hielt der „stile moderno“ Einzug, bei dem das horizontale Denken in melodischen Linien durch vertikale Schichtungen in Harmonien abgelöst wird. Ein Generalbass, von Orgel oder Cembalo ausgeführt, stützt die akkordischen Klänge; bei den Oberstimmen gibt der „Canto“, also die Melodiestimme, den Ton an.

So auch in Castellos Sonata Nr. XV, die vor allem von dem Wechsel aus kurzen Adagio- und Allegro-Abschnitten lebt, aber auch von den kunstvollen Verzierungen in der ersten Violine. In ihrer Struktur origineller ist die Sonata XVI, bei der Castello die Instrumentengruppen zumeist paarweise anordnet und damit charmante Echoeffekte erzielt. Auch die wie ein Trommelfeuer repetierten Noten im Adagio-Teil dürften ihre Wirkung im weiten Rund von San Marco nicht verfehlt haben. In harmonischer Hinsicht beschränkt sich der Komponist auf wenige Grundmuster; viel entscheidender sind die Klangwirkungen und die virtuosen Anforderungen an die Instrumentalisten.

Nur wenige Jahre zuvor, 1624, hat im Palazzo der alteingesessenen Patrizierfamilie Mocenigo ein Werk seine Erstaufführung erlebt, das zu den ausgefallensten Kompositionen seiner Zeit zu rechnen ist: Claudio Monteverdis Combattimento di Tancredi e Clorinda. Später wird es in die Sammlung der Madrigali guerrieri et amorosi, das Achte Madrigalbuch, aufgenommen, in dem der Combattimento nicht nur durch seine ungewöhnliche Länge hervorsticht. Schon früher hatte Monteverdi einzelne Verse aus Torquato Tassos vielgeliebtem Kreuzfahrer-Epos La Gerusalemme liberata („Das befreite Jerusalem“) von 1581 in Töne gesetzt. Jetzt nimmt er sich die gesamte Szene vor, in welcher Tancredi, der Kreuzritter, der sich unsterblich in Clorinda verliebt hatte, unwissend mit der als Mann verkleideten Sarazenin kämpft und sie tödlich verwundet. Sterbend verzeiht sie ihm, bekennt sich zum Christentum und preist im Angesicht des Todes das himmlische Paradies.

So dramatisch die Vorgänge dieser kriegerischen Szene auch sind: Monteverdi macht kein Drama daraus. Er lässt die Handlung von einem „Testo“, dem personifizierten Text, erzählen und streut nur an wenigen Stellen direkte Rede der beiden Protagonisten ein. Umso mehr Aufmerksamkeit widmet der Komponist dagegen dem Orchesterpart, der Stimmungen wie Handlung seismografisch widerspiegelt. Dazu hat sich Monteverdi in seinem Vorwort zur gedruckten Ausgabe des Madrigalbuches von 1638 ausführlich Gedanken gemacht: „Mir ist klar geworden, dass unsere Leidenschaften oder Gemütsbewegungen drei zentralen Begriffen zuzuordnen sind: Zorn, Mäßigung und Demut oder Flehen („Ira, Temperanza & Humiltà o supplicatione“), wie es die Musik mit den drei Bezeichnungen ,concitato‘, ,temperato‘ und ,molle‘ deutlich macht.“ Allerdings habe er bei den früheren Komponisten keine Beispiele für den „stile concitato“ – also den direkten Ausdruck von Wut und Kampf durch die Musik – gefunden. Nun aber sei ihm, ausgehend vom Grundpuls einer ganzen Note, die musikalische Lösung eingefallen, indem er diese ganze Note in 16 schnelle Sechzehntel unterteilt habe. Monteverdi scheint von dieser Idee höchst angetan gewesen zu sein, hat er doch reichlich davon Gebrauch gemacht.

Allerdings ist der „stile concitato“ nicht die einzige Inno vation. Ob Pferdegetrappel oder Kampfesgetümmel der beiden Kontrahenten, ob langsame Schritte („passi tardi“) oder körperliche Ermattung: immer wieder sind es die instrumentalen Einfälle, die das Geschehen überaus plastisch illustrieren. Geradezu extrem reizt der Komponist die Emotionen aus; überwiegen naturgemäß die erregten Momente, so zeichnet die Musik in einem langen Zwischenspiel zur Einstimmung auf die Verse über die Nacht auch völlig andere, elegische Töne. Dass dieser Aufführungsstil für alle Beteiligten neu ist, lässt Monteverdi im kürzeren Vorwort zum Combattimento erkennen, in dem er klare Vorgaben für die Interpreten macht. Die Instrumentalisten werden „mit ihrem Spiel der Darstellung der Leidenschaften der Rede dienen müssen. Die Stimme des Erzählers muss klar sein, fest, mit guter Aussprache und von den Instrumenten ziemlich entfernt, damit man seine Rede besser versteht. Er darf weder Verzierungen noch Triller anwenden, die Strophe ausgenommen, die mit ,notte‘ beginnt. Was den Rest angeht, so wird er seine Sprechweise den Leidenschaften der Rede anpassen.“

Über die Wirkung seiner Komposition ist sich Monteverdi sicher, erinnert er sich doch, dass bei der Aufführung von 1624 die Anwesenden „vom Affekt des Mitleidens so bewegt wurden, dass sie gleichsam zu Tränen gerührt wurden.“ Ob man nun an der betont christlichen Wendung des Schlusses Gefallen findet oder nicht: musikalisch ist Monteverdi diese Sequenz ganz besonders berührend gelungen. Zu Clorindas Worten „S’apre il ciel, io vado in pace“ („Es öffnet sich der Himmel, ich gehe in Frieden“) weist eine langsam aufsteigende melodische Linie den Weg ins Paradies.

Eine indirekte Verbindung besteht zwischen Monteverdi und Carlo Farina, der auf dem Titelblatt zum Zweiten Buch seiner Kompositionen, in dem sich auch das Capriccio stravagante findet, als „Carlo Farina von Mantua Churf. Durchl. Zu Sachsen bestalten Violonisten“ bezeichnet wird. Auch bei ihm liegt das Geburtsdatum im Dunkeln, doch es ist ganz offensichtlich, dass der junge Geiger im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts im norditalienischen Mantua die Kunst des dortigen Kapellmeisters Monteverdi kennengelernt haben muss. Später kam Farina durch Vermittlung von Heinrich Schütz an den Dresdner Hof, wo er innerhalb kürzester Zeit fünf Sammlungen von Kompositionen veröffentlichte. Es sind die einzigen erhaltenen Dokumente seines Schaffens, obwohl Farina später noch in Köln, Parma und zuletzt in Wien tätig gewesen ist.

Das Zweite Buch von 1627 breitet schon in seinem Titel den gesamten Inhalt aus: Ander Theil neuer Padvanen, Gagliarden, Covranten, Französischen Arien, benebenst einem kurtzweilligen Quotlibet von allerhand seltzamen Inventionen… Jenes „kurtzweillige“ Quodlibet fällt dabei in der Tat völlig aus dem Rahmen der übrigen Tanzsätze: In einer pausenlosen Abfolge kurzer Sätze wechseln nicht nur beständig Tempo und Rhythmus, sondern auch die musikalischen Ideen. Eingestreut zwischen die mehrfach wiederholte Canzona findet man zuerst die Imitation einer „Lira“ (Leier), dann eines „Pifferino“ (Schalmei), schließlich einer „Trombetta“ (kleine Trompete), später folgen das „Fifferino della soldatesca e tamburo“ (Soldatenpfeifchen plus Trommel) und zu guter letzt noch „La Chitarra Spagniola“ (Spanische Gitarre) mit gezupften Saiten.

Doch damit nicht genug der Effekte: Zwischendurch miauen die Katzen ganz herzerweichend und es bellt der Hund. Außerdem wird – mit den Mitteln der Streicher! – das Tremulant-Register einer Orgel vorgeführt, wobei die versuchte Improvisation in herben Dissonanzen endet. Und noch eine Spielart bringt Farina in seinem Capriccio unter, die er so beschreibt: „Hier schlegt man mit dem Holtze des Bogens“. Diese später als „col legno“ in die Musikliteratur eingeführte Technik soll hier, so die Überzeugung mancher Musikwissenschaftler, zum ersten Mal in eine Komposition Eingang gefunden haben.

Vom frühen 17. Jahrhundert folgt ein Sprung in das England der 1690er Jahre. Henry Purcell, der „Orpheus Britannicus“, war die unangefochtene Komponistenpersönlichkeit seiner Zeit, dessen Stellung auch nicht durch die Wechsel auf dem Königsthron beeinträchtigt wurde. So schrieb Purcell gleichermaßen Anthems und Oden für den 1685 inthronisierten James II. wie auch für dessen Tochter Mary, die den allzu pro-katholischen Vater mit Hilfe ihres Ehemannes Wilhelm von Oranien 1688 nach Frankreich vertrieben hatte. Doch schon Ende 1694 starb Queen Mary II., erst 32-jährig, an den Pocken, und es war Purcells Aufgabe, für die Begräbnisfeierlichkeiten in Westminster Abbey zwei Anthems, „Blessed is the man that feareth the Lord“ und „Thou knowest, Lord, the secrets of our hearts“, zu vertonen.

In den folgenden Monaten entstanden mehr als 30 musikalische Werke in Erinnerung an die überaus beliebte Monarchin; Purcell selbst steuerte gleich zwei weitere Vertonungen bei, diesmal auf lateinische Verse. Das Duett „O dive custos“ sowie die Soloszene „Incassum, Lesbia“ wurden gemeinsam mit John Blows englischer Version „No, no, Lesbia“ im Mai 1695 unter dem Titel Three Elegies upon the Much Lamented Loss of Our Late Most Gracious Queen Mary veröffentlicht. Wohl niemand dürfte geahnt haben, dass schon wenige Monate später, im November desselben Jahres, auch der Tod des Komponisten zu beklagen sein würde.

„Incassum, Lesbia“, auch unter seinem Untertitel The Queen’s Epicedium bekannt geworden, teilt sich in drei Abschnitte, wobei die quasi-rezitativischen Außenteile die Arie im Zentrum einrahmen. Purcell nutzt die Vorgaben des Textes für eine intensive lautmalerische Ausdeutung: Irritierende Dissonanzen begleiten die Worte „Lyra mea, mens est inmodulata“ (Meine Leier, mein Geist sind unbewegt), und die Beteuerung, dass der ganze Erdkreis „voller Trauer“ (dolorum pleno) sei, wird durch mehrfache Wiederholung der beiden Worte unterstrichen. Dies gilt genauso für das „unaufhörliche Weinen“ (admodum fletur) wie das „in Trauer versunken“ sein (moerore perditi). Zielte der Text zu Anfang noch ganz auf die beliebten bukolischen Metaphern von Hirten und Nymphen, von Galathea und Tyrsos ab, so spricht der letzte Teil direkt den Verlust der geliebten Königin an, um die ganz Arkadien – oder besser: Britannien – trauert. Und Purcell ist es, der dieser Trauer mit seinem ungewöhnlich expressiven Stil voller Seufzer und Klagen Ausdruck verleiht.

Ein Bezug zu Venedig besteht wiederum im Schaffen Girolamo Frescobaldis, wurde dort doch die Sammlung Fiori musicali 1635 als sein Opus 12 gedruckt. Der vollständige Titel Fiori musicali di diverse compositioni, toccate, kyrie, canzoni, capricci, e recercari, in partitura a quattro verweist auf die vielfältige Mischung an „musikalischen Blüten“, die der Großmeister auf der Orgel und dem Cembalo hier zu einem Strauß zusammengebunden hat. Fast alle der 43 Kompositionen, zumal die Toccaten, Canzonen und Ricercari, sind drei Orgelmessen zugewiesen und stehen damit in einem liturgischen Zusammenhang. Ihr Ruhm verbreitete sich schnell in ganz Europa; nicht nur Purcell, sondern auch Bach, Zelenka und der Kontrapunkt-Theoretiker Johann Joseph Fux würdigten noch 100 Jahre später ausführlich Frescobaldis Werk.

Die Toccata, innerhalb der Sammlung die Nr. 31, erklang im Rahmen der „Apostelmesse“ während der Wandlung – ein feierlich vorwärtsschreitendes Stück voller chromatischer Wendungen. Den volkstümlichen Kontrast bilden die beiden einzigen weltlichen Stücke der Sammlung: zum einen die „Bergamasca“, ein Tanz aus dem norditalienischen Bergamo, der hier in sieben Abschnitten in kunstvollem Kontrapunkt, verschiedenen Taktarten und Registern, hin und her gewendet wird. Zum anderen das „Capriccio sopra la Girolmeta“, ebenfalls eine fantasievolle Folge von Variationen über das zu Anfang vorgestellt Thema – als Nr. 47 krönender Abschluss der Blütenlese.

Mit dem Solo-Madrigal Tempro la cetra kehren wir noch einmal zu Claudio Monteverdi zurück. 1619 veröffentlichte der 52-Jährige sein Siebtes Madrigalbuch, in dessen Rahmen dieses Werk den Anfang bildet und auch das Programm symbolisiert. Denn mit „Concerto“ überschrieb der Kom­ po nist das Madrigalbuch – als Ausdruck jener direkten Verbindung von Vokal- mit Instrumentalmusik, mit der ein neues Kapitel der Musikgeschichte aufgeschlagen wurde. Beide Facetten fügen sich in diesem Madrigal nahtlos zusammen: eine fünfstimmige Sinfonia bildet Einleitung und mehrfach wiederkehrendes Ritornell zwischen den gesungenen Strophen, die den Gott Amor und dessen süße Harmonien preisen, vor denen der Zorn des Kriegsgottes Mars verrauschen muss. Statt des bisher üblichen Vokalquintetts steht nunmehr ein einzelner Sänger im Mittelpunkt – und wenn er am Ende verstummt ist, lässt Monteverdi die liebestrunkene Stimmung wie auf einer Theaterbühne durch ein tänzerisches Nachspiel ausklingen.

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