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Erfindung & Perspektive
Erfindung und Perspektive - John McLaughlin und seine Musik
Kevin Le Gendre
Musiker sind schon immer auf Reisen gegangen. Dennoch sollte man die Herausforderungen, die die Übersiedlung in ein anderes Land mit seiner spezifischen Kultur und Lebensweise insbesondere vor Beginn des Internet- Zeitalters mit sich brachte, nicht unterschätzen. Der Gitarrist John McLaughlin war einer der wenigen Briten, die in den späten 60er-Jahren Zugang zur hart umkämpften New Yorker Jazzszene fanden, wo er Mitglied von The Tony Williams Lifetime wurde, einem Trio mit Schlagzeuger Williams als Leader, zu dem außerdem noch der Organist Larry Young gehörte. McLaughlin spielte auf ihrem Debüt Emergency! und auch auf Miles Davis’ In a Silent Way und Bitches Brew. Diese Alben verhalfen dem zum Durchbruch, was von Kritikern und Fachleuten mit dem Etikett Jazz-Rock oder Fusion versehen wurde. Viele Musiker hatten ein zwiespältiges Verhältnis zu diesen Begriffen, sie registrierten aber durchaus, dass diese Künstler sich entschlossen von den alten Mustern abwandten und es wagten, „neue Richtungen in der Musik“ einzuschlagen, wie Davis es ausdrückte.
McLaughlins Beitrag zu diesem Kapitel der Geschichte zeitgenössischer Musik kann kaum überschätzt werden. Er besaß die nötige Mischung aus Feuer und Feingefühl, um für Künstler mit dem technischen Format und den experimentellen Neigungen eines Williams oder Davis ein idealer Partner zu sein. McLaughlin selbst erinnerte sich viele Jahre später im Rückblick auf diese entscheidende Zeit daran, dass Davis ihm gesagt hatte, „so Gitarre zu spielen, als wüsstest du nicht, wie man Gitarre spielt“ – eine ganz und gar nicht abwegige oder paradoxe Aufgabe, die einer der größten musikalischen Erneuerer des 20. Jahrhunderts ihm stellte. Letztlich bat Davis McLaughlin damit nur, Klischees und abgedroschene Phrasen zu vermeiden. Viele Musiker wären vor derartig hohen kreativen Anforderungen zurückgeschreckt, aber der damals 27-jährige Gitarrist stellte sich beherzt dieser Herausforderung. Es hätte viele andere Musiker mit den nötigen Referenzen für dieses Engagement gegeben – Davis hatte zuvor mit dem großartigen George Benson an Miles in the Sky gearbeitet –, doch die Wahl fiel auf McLaughlin, weil er so spielen konnte, wie Davis es sich vorstellte, insbesondere da er wusste, wie man sich gekonnt unterschiedlicher Quellen bedient.
McLaughlin hatte nicht nur ein Gefühl für Jazz, das es ihm ermöglichte, in hohem Tempo lange, spiralförmige Linien zu spinnen und mit dem Scharfsinn eines Musikers, der mit dem Vokabular des amerikanischen Jazz und des spanischen Flamenco vertraut ist, durch die Akkorde zu jagen. Sein Klang und seine Klangfarben hatten auch etwas Rauhes, etwas Dichtes, Wuchtiges und Lautes, das sich seinem tiefen Eintauchen in den Electric Blues verdankte und seine Verwandtschaft zu revolutionären Musikern wie Jimi Hendrix unterstrich. McLaughlin war in der Lage, mit der Gitarre ein Gefühlsspektrum abzudecken, das von Leidenschaft und Kraft bis zu Anmut und Heiterkeit reichte und Widerhall bei den afroamerikanischen Musikern fand, die ihn in ihr Herz geschlossen hatten. Sein Spiel auf In a Silent Way war unaufdringlich und lebendig und zeigte die Reife und das Verständnis, das Davis sehr schätzte.
Man kann also sagen, dass John McLaughlin in musikalisch hochkarätiger Gesellschaft erwachsen geworden ist. Dies war ein folgerichtiger Schritt, nachdem er einige Jahre zuvor eine andere wichtige Entscheidung getroffen hatte, nämlich seinen Heimatort Doncaster in Yorkshire, wo er 1942 geboren wurde, zu verlassen, um nach London zu ziehen und Teil der dynamischen Blues-, R&B- und Jazz-Szene zu werden, die ihn mit Künstlern wie Georgie Fame and the Blue Flames, der Graham Bond Organization und Alexis Korner in Kontakt brachte.
McLaughlin interessierte sich immer für die unterschiedlichsten Stilrichtungen, und die Vielzahl der frühen Alben, die er unter seinem eigenen Namen herausbrachte, zeigt einen offenen, neugierigen, wachsamen Geist, der weit über stilistische Grenzen hinausblickte. Auf Extrapolation entwickelte er zusammen mit dem Saxophonisten und Klarinettisten John Surman, dem Schlagzeuger Tony Oxley und dem Kontrabassisten Brian Odges den Post-Bop hin zu freieren Arrangements, während Devotion und My Goal’s Beyond brillante, expressive Werke im elektronischen beziehungsweise akustischen Bereich waren, die ebenso für das Aufkommen des Psychedelic Rock wie für McLaughlins Interesse an nichtwestlicher Philosophie und Spiritualität standen. Er wurde Schüler des berühmten Gurus Sri Chinmoy und begann zu meditieren, was im direkten Zusammenhang mit seiner Leidenschaft für klassische indische Musik stand.
Der Gitarrist baute auf diesen Grundlagen auf, indem er mit Bands arbeitete, die sowohl bei Jazz- wie auch bei Progressive-Rock-Fans immer mehr Anhänger fanden. Das Mahavishnu Orchestra war ein Ensemble, mit dem sich McLaughlin vor allem als zukunftsorientierter und virtuoser Solist profilierte. Zu der fünfköpfigen Besetzung gehörten der Schlagzeuger Billy Cobham, der Bassgitarrist Rick Laird, der Violinist Jerry Goodman (später ersetzt durch Jean- Luc Ponty) und der Keyboarder Jan Hammer; die Band überzeugte durch ihre vielfältigen Klangfarben sowie durch die geschickte Kombination von asiatischen Taktarten, ihr Gefühl für Blues-Rock und vor allem durch die starke Persönlichkeit jedes einzelnen Musikers. McLaughlin war mit seiner lockeren weißen Tunika und einer doppelhalsigen Gitarre, die es ihm ermöglichte, mit sechs oder zwölf Saiten zu spielen, eine charismatische Erscheinung auf großen Bühnen wie der New Yorker Philharmonic Hall (kurz nach dem ersten Auftritt der Gruppe in Avery Fisher Hall umbenannt und heute als David Geffen Hall bekannt), die ideal geeignet waren für die von der Band in großer Lautstärke entfesselten Klangfluten.
Mitte der 70er-Jahre hatte McLaughlin eine weitere Gruppe gegründet, Shakti, die ein noch expliziterer Ausdruck seiner Begeisterung für indische Kultur und Musik war. Sie trat „unplugged“ auf: McLaughlin spielte neben den Percussionisten Zakir Hussain, Ramnad Raghavan und T. H. Vinayakram auf einem Podest sitzend Akustikgitarre. Mit Tabla, Mridangam und Ghatam erzeugten diese drei Virtuosen ein raffiniertes rhythmisches Patchwork, in das McLaughlin Linien einwebte, die sich bruchlos zwischen weit ausschwingender Melodie und stampfendem Rhythmus bewegten. Alben wie Natural Elements und A Handful of Beauty sind denkwürdige Zeugnisse der Fähigkeit des Gitarristen, Kulturen zu verbinden und gleichzeitig die eigene Ausdruckskraft zur Geltung zu bringen.
Wie viele seiner Inspirationsquellen, insbesondere Miles Davis, suchte McLaughlin weiterhin nach neuen Herausforderungen und gründete Bands, die ihn mit einer Reihe von Musikern unterschiedlichster Prägung in Kontakt brachten, darunter Chick Corea, L. Shankar, David Sanborn und Paco de Lucía, um nur einige von ihnen zu nennen. Doch er besaß auch den nötigen Instinkt, um junge Künstler wie den ausgezeichneten liberianisch-deutschen Bassgitarristen Kai Eckhardt zu engagieren; zusammen mit dem indischen Percussionisten Trilok Gurtu bildeten sie eines der bedeutendsten Trios der 80er-Jahre. Ihr Album Live at the Royal Festival Hall von 1990 ist die großartige Bilanz einer Band, die erst auf der Bühne richtig lebendig wurde. Ich hatte das Glück, sie im selben Jahr in Frankreich zu erleben, und war beeindruckt von der entspannten Stimmung unter den Musikern und ihrer enormen Klangvielfalt. Während Gurtu Instrumenten und Gegenständen wie Waterphone, Muschelschalen und Schlagzeug neue Klänge entlockte, benutzte McLaughlin einen Gitarrensynthesizer und Pedale, die es ihm ermöglichten, Klang in allen Regenbogenfarben zu erzeugen und der Musik eine große orchestrale Fülle zu verleihen. Doch inmitten dieser modernsten Technik lieferte McLaughlin auch immer noch fesselnde Statements auf der akustischen Gitarre. Wenn er die erste Akkordfolge der zeitlosen Miles Davis/Bill Evans-Hymne Blue in Green spielte, hörte man einen Musiker, der gleichzeitig in der Geschichte des Jazz verankert war und die Segel setzte, um zu aufregenden neuen Ufern aufzubrechen.
Eine genauere Betrachtung seiner Diskographie zeigt, dass die gängige Einstufung von McLaughlin als Fusion- Superheld nie ganz zutreffend war. Deshalb sollte man seinen Auftritt in Bertrand Taverniers gefeiertem Film Round Midnight von 1986, einer tiefempfundenen Reminiszenz an die französische Liebesbeziehung zum amerikanischen Jazz, nicht übersehen. Obwohl McLaughlins formelle Kleidung aus dunklem Anzug und Krawatte im Widerspruch zu dem lässigeren Image stand, das er im Laufe der Jahre erworben hatte, hört man, dass er bei seiner Version von Body and Soul in seinem Element ist. Sie erinnert nachdrücklich daran, dass Standards und das Great American Songbook auch zu seinem Kernvokabular gehören.
Doch McLaughlin hat es sich nach wie vor zum Ziel gesetzt, Musik zu schaffen, die vollkommen unverwechselbar ist, und Bands mit Musikern zu leiten, die einerseits miteinander kompatibel sind und sich andererseits gegenseitig herausfordern. Ganz in der Tradition von Mahavishnu, Shakti, One Truth und The Heart of Things steht seine aktuelle Gruppe The 4th Dimension, mit der er seit 2007 auf Tour geht (und die bereits im März 2017 während der Eröffnungswoche im Pierre Boulez Saal zu erleben war). Wie McLaughlins andere Ensembles hat auch dieses mit dem britischen Keyboarder und Schlagzeuger Gary Husband, dem kamerunischen Bassgitarristen Etienne Mbappé und dem indischen Percussionisten Ranjit Barot eine internationale Besetzung. Die Künstlerpersönlichkeiten und technischen Fähigkeiten dieser Musiker, die alle stark von McLaughlins Innovationen beeinflusst wurden, sorgen dafür, dass die entstehenden Klangabenteuer genauso aufregend bleiben wie bisher.