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Der Schwermut Schmerzen und Sch\u00F6nheit

Der Schwermut Schmerzen und Schönheit

Musik von John Dowland, William Lawes und John Jenkins

Kerstin Schüssler-Bach

Anatomie der Melancholie

„Keine körperliche Qual kommt der Melancholie gleich, keine Folterqual, keine heißen Eisen. Alle Ängste und Kümmernisse verlieren sich in diesem Ozean des Elends, diesem Zusammenfluss allen Grams“. Beredte Worte eines Betroffenen: Robert Burton schrieb sich 1621 mit seiner Anatomie der Melancholie den eigenen Weltverdruss von der Seele. Das dickleibige Kompendium des depressiven Gelehrten und Geistlichen am Christ Church College zu Oxford war ein Bestseller des 17. Jahrhunderts und erlebte mehrere Auflagen. Burton war am Puls der Zeit, denn der Hang zur Schwermut war so verbreitet in der Oberschicht des insularen Königreichs, dass man die Melancholie gelegentlich auch als „englische Krankheit“ bezeichnete – bis in unsere Zeit hat sich aus den damaligen Diskursen das Wort „Spleen“ erhalten.

Vom antiken griechischen Arzt Hippokrates und seiner Lehre der Körpersäfte leitete sich die Idee her, dass der Überschuss an Galle, der sich ins Blut ergießt, für diesen Gemütszustand verantwortlich sei. Melancholie heißt denn auch wörtlich „Schwarzgalligkeit“. Robert Burton zählte noch zu den Verfechtern dieser These, die bald darauf von der Wissenschaft überholt wurde. Folgenreicher aber war, welche Quellen der mürrische Autor in seinem einsamen College-Stübchen zusammentrug. Denn sein zunächst anonym veröffentlichtes Werk versammelt einen riesigen Schatz von Zitaten über die Schmerzen und Schönheiten der Schwermut. Eine Sitten- und Medizingeschichte, aber auch ein satirischer Blick auf die Torheiten der Politiker, ja eine vehemente Anti-Kriegsschrift ist dieses universalgelehrte Buch. Burton liefert in seinem galligen Weltenpanorama genügend Gründe, am Zustand der Gegenwart zu verzweifeln, doch er teilt auch Antidepressiva aus – Geselligkeit statt dumpfen Brütens am Schreibtisch, vor allem aber die trostreiche Kraft der Musik. Gerade simple Melodien seien es, die heilende Wirkung ausüben: „Ein Glockenspiel, die Melodie, die ein Fuhrmann pfeift, ein Tanzlied, von einem Burschen vor Morgengrauen in der Straße gesungen: all das verwandelt, belebt, erheitert einen Patienten, der während der Nacht schlaflos gelegen hat.“

Durch die rekreative Wirkung der Musik schlug die Depression womöglich in Inspiration um, vielleicht gar in eine „manische Phase“, mit der modernen Psychologie gesprochen. Von dort ist es nicht mehr weit zur romantischen Genieästhetik – kein Wunder, dass gerade die englischen Romantiker wie John Keats und Lord Byron dieses Traktat Burtons begeistert aufgriffen. Burton lobte die „göttliche Musik“ als „unübertreffliches Heilmittel gegen Verzweiflung und Melancholie“, die „den Teufel selbst“ vertreibe. Zwar könne ein langsames Tempo, eine Molltonart oder der traurige Grundzug einer Melodie sogar einen melancholischen Schub befördern und fast „in den Wahnsinn treiben“, doch sei es letztlich eine „angenehme Melancholie“, die durch Musik ausgelöst würde. Man sieht, es braucht trotz Lars von Triers beeindruckendem Film keinen Wagnerschen Tristan, um sich der „Melancholia“ als bittersüßem Rauschzustand vor dem Weltende hinzugeben.

Burtons Worte fielen sicher auch am englischen Hof auf fruchtbaren Boden. Zwar war die „jungfräuliche Königin“ Elisabeth I. 1603 verstorben, doch hatte sie als Förderin des Theaters und der Musik für ihre Nachfolger James I. und Charles I. zumindest Grundlagen geschaffen. Trotz imperialistischer Außenpolitik und einem rigiden Spitzelsystem – für die Künste war Elisabeths Herrschaft in der Tat ein „Goldenes Zeitalter“. Um 1600 hatten sich Madrigale und Motetten, Consort music und Kirchenchöre, Lieder zu Lauten und Violen zu nie dagewesenem Reichtum entfaltet, protegiert von der Queen höchstselbst, die nicht nur gern tanzte, sondern auch komponierte und das Tasteninstrument Virginal spielte. Die Klänge der Tudor-Ära repräsentierten eine Blütezeit, an die Großbritannien jahrhundertelang vergeblich anzuknüpfen suchte. Als man sich um 1900 verstärkt um die Ausbildung eines englischen Nationalstils bemühte, spielte daher neben der Volksmusik vor allem die Kunst des elisabethanischen Zeitalters eine identitätsstiftende Rolle. Ralph Vaughan Williams und später Benjamin Britten studierten die Kompositionen jenes „Golden Age“ sehr genau.

Traum- und Trauerstücke

Britten war es auch, der die Musik von John Dowland mit eigenen Bearbeitungen ins 20. Jahrhundert überführte. Sein Partner, der Tenor Peter Pears, widmete sich Dowlands Lautenliedern, ebenso wie der Countertenor Alfred Deller und der Gitarrist Julian Bream. Heute ist Dowland längst im Repertoire der Early Music-Ensembles, aber auch bei Popgrößen wie Elvis Costello und Sting angekommen. Ob Dowland Burtons Anatomie der Melancholie gelesen hat? Er starb 1626, fünf Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe. Jedenfalls zählte sich Dowland zweifellos zu den tonangebenden Melancholikern: Semper Dowland semper dolens („Immer Dowland, immer leidend“) lautet der Titel einer seiner berühmtesten Kompositionen; er unterschrieb auch schon mal mit „Dolandi de Lachrimae“. Und Lachrimae („Tränen“) wählte er schließlich als Titel einer Sammlung von Tänzen.

Möglicherweise hatte Dowland im realen Leben tatsächlich wenig Grund zur Heiterkeit. Da er in England keine Stellung fand, führten ihn lange Auslandsaufenthalte nach Paris, an deutsche Fürstenhöfe, nach Italien und Dänemark, ständig getrennt von seiner Familie. Erst 1612 konnte er einen Posten als Lautenist bei James I. ergattern, schrieb danach aber nur noch wenige Kompositionen.

Zwischen Dowlands Lautenliedern und seiner Instrumentalmusik besteht ein enger Zusammenhang. So basiert der berühmte Song Flow My Tears auf einer Pavane – einem langsamen Schreittanz im geraden Takt –, den Dowland zunächst als Lautenstück (Lachrimae Pavane) konzipiert hatte und auch in der 1604 veröffentlichten Sammlung Lachrimae, or Seven Tears verwendete. Diese Seven Tears gab der Londoner Musikverleger John Windet nebst anderen Tänzen von Dowland heraus. Alle Stücke sind für Gambenconsort gesetzt – eine in der elisabethanischen Zeit sehr beliebte Formation, in der vier bis sechs Gamben unterschiedlicher Tonlage spielen. Der leicht herbstliche Klang dieser „Kniegeigen“ ist der heutigen Viola nicht unähnlich und hüllt im harmonischen Zusammenspiel in einen wohligen Mantel der Melancholie ein. Dowland, der zu dieser Zeit am Hof des dänischen Königs Christian IV. arbeitete, wählte für die Lachrimae-Sammlung fünf Gamben und sein eigenes Instrument, die Laute. Sieben Arten der Tränen stellt die Kollektion vor, von denen im heutigen Konzert drei erklingen: Lachrimae antiquae („Alte Tränen“), die auf Flow My Tears mit seiner charakteristischen, wie eine Träne herabfallenden melodischen Linie zurückgehen, Lachrimae antiquae novae („Alte Tränen erneuert“ – eine Variation der Lachrimae antiquae) und Lachrimae verae („Wahre Tränen“).

Der feierliche Charakter der Pavane diente ursprünglich „den Königen, Fürsten und Großen Herren dazu, sich an bestimmten feierlichen Festtagen zu zeigen, mit ihren großen Mänteln und Parade-Kleidern. Der Edelmann kann sie tanzen in Mantel und Degen. Und Ihr anderen in langen Roben, ehrbar einherschreitend mit gesetztem Ernst. Und die Demoisellen in bescheidener Haltung, die Augen niedergeschlagen, ab und zu die Anwesenden mit jungfräulicher Sittsamkeit anblickend“ (Thoinot Arbeau, 1589). Bei den Elisabethanern wandelte sich die Pavane jedoch immer mehr zum stilisierten Traum- und Trauerstück. Als Kontrast zu den schwermütigen Pavanen der Tränen sind in Dowlands Sammlung Tänze eingestreut, die verschiedenen Personen der Gesellschaft gewidmet sind, wie dem Maler John Souch oder Elisabeths Günstling Robert Devereux, dem Earl of Essex. Sie greifen beliebte elisabethanische Tanzformen auf: die Almand (Allemande) oder die Galiard (Galliarde, im munteren Dreiertakt), die gerne im Anschluss an eine Pavane getanzt wurde. Geholfen hat Dowland die musikalische Würdigung der hochmögenden Persönlichkeiten auf Dauer wenig: Die Tänze, auf denen seine Werke basierten, kamen am Hof von Elisabeths Nachfolgern aus der Mode.

Musikalische Edelsteine

Mehr Glück in royalen Angelegenheiten hatte William Lawes – zumindest am Anfang. Lawes wurde 1602, im letzten Regierungsjahr Elisabeths, geboren. Als Chorknabe von Salisbury erhielt er eine gute Ausbildung, die er bei John Cooper (Coprario), einem Meister der Gambe, fortsetzte. Bei diesem Lehrer studierte auch Charles, Prince of Wales, die Bassgambe. Lawes wurde in die Entourage des Prinzen aufgenommen, und als Charles 1625 die Nachfolge von James I. antrat, erhielt er eine Stellung bei Hofe als Mitglied der königlichen „Lutes and Voices“. Doch dieser Erfolg sollte schließlich sein Verhängnis bedeuten.

Politisch hatte Charles keine glückliche Hand, doch kulturell war er auf der Höhe der Zeit. Er lud die Maler van Dyck und Rubens an den Hof, ermutigte künstlerische Experimente und stürzte sich dafür in hohe Schulden. Charles führte das bis heute bestehende höfische Amt des Master of King’s (bzw. Queen’s) Music ein, das aber nicht Lawes, sondern Nicholas Lanier antrat. Auch Lawes war geschätzt am Hof: Er komponierte Masques, geistliche Anthems, Motetten und Trinklieder, aber vor allem Musik für Gambenconsort, die er möglicherweise zusammen mit seinem Monarchen aufführte.

Doch Charles löste mit seiner unzeitgemäßen Vorstellung vom Gottesgnadentum, der Missachtung des Parlaments und dem ungeschickten Taktieren zwischen den protestantischen Engländern und den katholischen Schotten und Iren einen Bürgerkrieg aus. Lawes wurde in die blutigen Auseinandersetzungen hineingezogen, erhielt einen Posten in der königlichen Leibwache und wurde schließlich 1645 bei der Belagerung der royalistischen Stadt Chester mit nur 43 Jahren erschossen. Und Charles musste erleben, wie seine Truppen von der Armee Oliver Cromwells vernichtet wurden. Vier Jahre später wurde der Monarch selbst enthauptet. In Cromwells puritanischer Diktatur war wenig Platz für Musik, und Lawes’ Werke gerieten in Vergessenheit. Erst in der restituierten Stuart-Monarchie unter Charles II. wurde die Tradition des Gambenconsorts wieder gepflegt, doch zu der Zeit stand bereits die nächste Komponistengeneration mit Henry Purcell am Start. Charles Burney, der große Musik gelehrte des 18. Jahrhunderts, ließ schließlich kein gutes Haar an Lawes: Er nannte seine Suiten-Sammlung Royal Consort gar „eine der trockensten, linkischsten und unbedeutendsten Kompositionen“, die er jemals in Händen gehabt habe. Dem gewandelten Geschmack der galanten Zeit mochten sie nicht mehr gefallen, aber heute beeindrucken Lawes’ Suiten mit ihrer chromatischen, bizarren, ja fast schockhaften Harmonik, mit der die bekannten Tanzformen zu musikalischen Edelsteinen geschliffen werden. Die zehn Royal Consort-Suiten entstanden vermutlich für private höfische Kammerkonzerte vor Ausbruch des Bürger kriegs. Ihr opulent ausgespannter Klangreichtum bezaubert ebenso wie ihre emotionale Intensität, vor allem in den ausgedehnten Eingangssätzen. Wilde rhythmische

Ausbrüche und Dissonanzen durchfahren hier die elegischen Melodien, während die Tanzsätze eine wohl bei seinem Lehrer Coprario erlernte italienische Eleganz hineinmischen. Lawes’ Sammlung von neun „Consort Setts“ orientiert sich ebenfalls am Prinzip der Tanzsuite, beruft sich aber bewusst auf die Tudor-Tradition mit „altmodischen“ Kompositionstechniken wie dem Cantus firmus. Die Pavane des dritten Setts erweist Dowlands Lachrimae in gebrochener Schönheit Reverenz. In der Avanciertheit und Grandiosität ihres kompositorischen und emotionalen Ausdrucks sind Lawes’ „Consort Setts“ mit Beethovens späten Streichquartetten verglichen worden.

Der Tod seines „teuren Dieners“ Lawes machte Charles stärker betroffen als der Verlust eines nahen Verwandten, wie ein Zeitgenosse überlieferte: „Er trauerte besonders um ihn, den er liebte, als er lebte, und den er gewöhnlich den Vater der Musik nannte“. Viele Komponisten, darunter Lawes’ Bruder Henry und John Jenkins, schrieben Traueroden auf den so früh verstorbenen „dear Will“.

An der Wende zum Barock

Auch John Jenkins spielte als Lautenist am Hof von Charles I. Bewundert wurde er für sein Spiel der „lyra viol“, einem „unmöglichen Instrument“, wie der Regent befand. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs floh Jenkins aufs Land und schlug sich als Master of Music bei verschiedenen Adligen durch. Unter Charles II., dem Sohn des enthaupteten Königs, kehrte er nach London zurück. Zwar war die Musik für Gambenconsort mittlerweile etwas aus der Mode gekommen, doch Jenkins genoss so hohes An sehen, dass seine Wiederanstellung nicht in Frage gestellt wurde.

Offenbar war Jenkins kein Melancholiker, sondern ein heiterer, freundlicher und sehr gläubiger Mensch. In seinem langen Leben – er starb im Alter von 86 Jahren – konnte er zahlreiche Werke veröffentlichen, die große Verbreitung fanden. Seine Musik steht am Wendepunkt von der Renaissance zum Barock, von der Tradition eines William Byrd zur zukunftsweisenden Richtung eines Henry Purcell. Weniger experimentierfreudig als William Lawes, entwickelte er doch vor allem mit seinen über 70 „Fantasias“ ein wichtiges Genre weiter, das Purcell zur letzten Blüte führte. Zwischen 1625 und 1660 entstanden, führen Jenkins’ Fantasien den polyphonen Stil der Madrigalisten fort und reichern die Stimmen mit größeren technischen Heraus forderungen und Verzierungen, sogenannten „Divisions“, an.

Um 1634 lernten sich Lawes und Jenkins wohl persönlich kennen, und Jenkins würdigte den jüngeren Kollegen bald als „most esteemed friend“. Jeder trug auf seine Weise zur Veredelung der englischen Consort music bei, die auch in Deutschland geschätzt wurde und bei Komponisten wie Melchior Franck oder Johann Hermann Schein ein Echo fand. Dem „Golden Age“ der Briten bereitete dann der neuartige konzertante Stil aus Italien ein Ende. Die Tradition des Gambenconsorts wurde von der Triosonate verdrängt. Und so wunderbar sanft und golden herbstlich, so vornehm und poetisch hat die „Anatomie der Melancholie“ in der privaten Herzenskammer wohl nie wieder geklungen.

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