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Italien und das Klavier
Italien und das Klavier
Musik von Scarlatti, Liszt, Berio und Busoni
Peter Uehling
Italien ist kein Klavierland. Sicherlich: illustre Namen wie Girolamo Frescobaldi, Domenico Scarlatti, Arturo Benedetti Michelangeli oder Maurizio Pollini sind jedem Musikfreund geläufig. Doch im Vergleich zur ungebrochenen Tradition des Singens oder der stolzen Geschichte des Violinrepertoires spielt das Klavier eine untergeordnete Rolle. Dabei wurde die Idee der Virtuosität tatsächlich in Italien geboren, wo die Oper in Zentren wie Venedig und Neapel früher als andernorts ein bürgerliches Publikum anzog und mit vokalen Höchstleistungen lockte. Etwas später entwickelte sich die instrumentale Artistik auf der Violine. In einer durch Lehrer-Schüler-Verhältnisse lückenlos zurückverfolgbaren, beeindruckenden Ahnengalerie – von Biagio Marini, Arcangelo Corelli und Giuseppe Torelli über Antonio Vivaldi und Pietro Locatelli bis hin zu Giuseppe Tartini, Giovanni Battista Viotti und natürlich Nicolò Paganini – spiegeln sich 200 Jahre italienische Violinmusik. Unter Vivaldis rund 500 Konzerten findet sich kein einziges für ein Tasteninstrument, und Domenico Scarlatti komponierte seine etwa 550 Sonaten für Cembalo erst nach seiner Übersiedlung auf die iberische Halbinsel im Jahr 1719 – zuvor, im Dienst der Medici in Florenz und des Vatikan, widmete er sich vor allem Opern und geistlicher Musik.
Dennoch war Scarlatti als Cembalist bekannt. Einer Legende zufolge lieferte er sich mit Georg Friedrich Händel einen musikalischen Wettstreit auf den Tasten, der gleichsam unentschieden ausging: Händel wurde auf der Orgel, Scarlatti auf dem Cembalo zum Sieger erklärt. Da die Tasten die Möglichkeit bieten, ohne Mitspieler im Alleingang ein Musikstück mit Melodie und Harmonie aufzuführen, war auch keine Partitur vonnöten: man konnte die Musik improvisieren – und damit als Komponist seine Betriebsgeheimnisse für sich behalten.
Als Scarlatti aber im Jahre 1719 zunächst als Hofkapellmeister des portugiesischen Königs Johann V. und Musiklehrer seiner Tochter Maria Barbara nach Lissabon übersiedelte, musste er seine Tastenmusik niederschreiben, denn sie diente seiner Schülerin als Unterrichtsmaterial. Scarlatti legt die Karten seiner Technik auf den Tisch: nicht nur das vor allem mit ihm assoziierte Übergreifen der Hände, sondern auch die weit ausgreifenden Akkordbrechungen, die kühnen Sprünge, das delikate Zusammenwirken von zwei oder mehr Stimmen. Für den Hörer noch wichtiger ist der Ausdruck der Musik, der seit den Tagen der Madrigalisten das wichtigste Experimentierfeld italienischer Komponisten darstellte: Scarlatti leistete für die Tastenmusik nicht weniger als Monteverdi für den Ensemblegesang, Marini für die Violine oder sein eigener Vater Alessandro für die Oper. Von der Fuge bis zur Volksmusik reichen die musikalischen Quellen und Formen, wie selbstverständlich bewegt sich Scarlatti in den exotischsten Tonarten und moduliert innerhalb der Stücke ohne Hemmungen in tonale Regionen, die zwar für die eng umgrenzte Harmonielehre der Zeit theoretisch kaum, klavierpraktisch auf der Tastatur aber sehr wohl greifbar waren.
Das Leben Scarlattis scheint zu beweisen, dass man es als Virtuose auf einem Tasteninstrument in Italien schwer hat. Ein halbes Jahrhundert später wird dieser Eindruck bestätigt durch Muzio Clementi, der ebenfalls nicht in seiner Heimat, sondern in England Karriere machte und von dort aus enormen Einfluss auf die Klaviermusik auch des Kontinents nahm; für Beethoven etwa war Clementi ein wichtiges Vorbild. Und doch ging die entscheidende Initialzündung für das große Jahrhundert des Klaviers von einem Italiener aus – dem Geiger Nicolò Paganini. Dessen Konzertauftritte markierten im Hinblick auf Virtuosität einen qualitativen Quantensprung, der weder den introvertierten Robert Schumann noch den flamboyanten Franz Liszt und noch nicht einmal den Protestanten Johannes Brahms – der Paganini gar nicht mehr erleben konnte – kalt ließ: Sie alle schrieben Etüden-Zyklen nach Paganini; derjenige von Liszt wurde für die Geschichte des Klavierspiels am wichtigsten. Liszt, der seinen Unterricht bei Carl Czerny als Enkelschüler Beethovens begann, wurde durch das Paganini-Erlebnis zum eigenständigen Künstler, der anders als Chopin seine Technik nicht aus den anatomischen Gegebenheiten der Hand entwickelte, sondern nach deren Überschreitung („transcendance“) strebte durch gleichsam technologischmechanische Abrichtung: „Außerdem übe ich vier bis fünf Stunden (Terzen, Sexten, Oktaven, Tremolos Repetitionen, Kadenzen etc. etc.)“. Um die Langeweile dieser Exerzitien zu überstehen, las er beim Üben Bücher. Diese Idee der Überschreitung legte Liszt im Titel seines berühmtesten Etüden-Zyklus offen: Études d’exécution transcendante. Diesen Titel trugen bei ihrer Entstehung 1838 auch seine Paganini Etüden: „Études d’exécution transcendante d’après Paganini“. 1851 nannte er die Sammlung dann Grandes Études de Paganini, und wie oft in dieser seiner Zeit als Weimarer Hofkapellmeister vereinfachte er früher komponierte Stücke, um sie so der Nachwelt zu hinterlassen und von persönlichen Exzentrizitäten zu reinigen: Die Widmung an Clara Schumann illustriert dieses Anliegen geradezu program matisch, vertrat sie doch einen spezifisch deutschen Virtuosentyp, der das Showgebaren Lisztscher Prägung als substanzlos verabscheute.
Nun war es weder Paganinis noch Liszts Absicht, in Sachen Kontrapunkt oder motivisch-thematischer Arbeit vor Bach oder Beethoven zu bestehen. Dennoch ist die instrumentale Virtuosität keineswegs kompositorisch belanglos, im Gegenteil: Sie etabliert den Klang als neuen Parameter musikalischer Gestaltung, analog zur Entdeckung der Klangfarbe im Orchester bei Carl Maria von Weber oder Hector Berlioz, der dann auch die erste Instrumentationslehre schrieb. Und so entdeckt Liszt bei der Übertragung von Paganinis Capricci auf das Klavier nicht nur vertrackte Gemeinheiten für Pianisten, sondern auch einen neuartig vibrierenden Klavierklang, ob er nun in der ersten Etüde durch Tremoli in der tiefen Mittellage erzeugt wird oder durch rasende Arpeggien und Repetitionen in der vierten Etüde oder durch komplexe Oktavsprung- und Triller-Muster in der berühmten „Campanella“-Etüde, die als einzige nicht auf ein Capriccio, sondern Material aus Paganinis Zweitem Violinkonzert aufgreift und vollkommen selbständig gestaltet. Die fünfte Etüde teilt den Klangraum des Klaviers durchgehend orchestral auf, was schon die von Paganini übernommenen Anweisungen „imitando il flauto“ oder „imitando il corno“ (Flöte bzw. Horn nachahmend) nahelegen, aber auch Klangideen wie eine melodische Mittelstimme zwischen Bass und akkordischer Begleitung im ersten Mollteil, die vor allem von den Daumen der beiden Hände gespielt wird. Die letzte Etüde projiziert Paganinis berühmtes und von vielen Komponisten aufgegriffenes a-moll-Capriccio förmlich ins Klavier: Liszt erfindet Harmonien und Kontrapunkte, die Paganini seinem Instrument beim besten Willen nicht mehr abtrotzen konnte. In der ersten Variation mit den hinabstürzenden Dreiklangsbrechungen bringt Liszt das Thema in der linken Hand an, in der sechsten kontrapunktiert er die originalen fallenden Terzketten der rechten Hand mit steigenden in der linken. Eine weitere Steigerung dieser Lisztschen Bearbeitung schuf übrigens Witold Lutosławski in seinen Paganini-Variationen für zwei Klaviere: Die meisten Bewegungsmuster übernimmt er von Liszt, dazu kommt aber eine erregend dissonante Harmonik mit Einflüssen von Bartók und Ravel, die Paganini aus der Romantik in die Moderne katapultiert. Liszts Paganini-Bearbeitung wird im Programm dieses Abends reizvoll gespiegelt in Busonis Bach-Adaption: Führt der eine Weg mit Paganini und Liszt von Italien nach Deutschland, so der andere umgekehrt von einem deutschen Komponisten zu einem in Italien geborenen Bearbeiter. Allerdings war Ferruccio Busoni dank seiner deutschen Mutter mit der Musik Bachs von Kindheit an tief vertraut. Und so gilt seine Bearbeitung von Bachs Violin-Chaconne in d-moll auch nicht der Entwicklung eines neuen Klangs, sondern der Entfesselung ihrer kompositorischen Potenzen. Die besondere Herausforderung, die Bachs Chaconne für die vier Geigenseiten bedeutet, hat Johannes Brahms in seiner Klavierfassung bewahrt, indem er sie nur für die linke Hand schrieb. Busoni dagegen will den engen und von Bach arg strapazierten Geigenklang transzendieren zu einem schrankenlos über das gesamte Klavier gebreiteten Quasi- Orchesterklang – „quasi Tromboni“ (wie Posaunen) heißt es denn auch in der ersten Dur-Variation –, zu dem auch die harmonische Interpretation bei Bach einstimmiger Linien gehört. Man kann die um 1890 entstandene, Lisztschen und Brahmsschen Klaviersatz mischende Bearbeitung als Monstrosität des Fin de Siècle abtun, die mit Bach nichts mehr zu tun hat. Aber im reichen Feld der Bach-Bearbeitungen, das sich ab dem 19. Jahrhundert auftut und in dem auch Franz Liszt von reiner Transkription bis zu eigenwilliger Neukomposition mitgewirkt hat, verfolgt Busoni einen Weg der Neufassung des schöpferischen Gedankens, der ihm an sich als vollkommen, in seiner satztechnische Ausarbeitung jedoch immer als zeitbedingt galt. Diese Auffassung führte schließlich konsequent zu seiner Fantasia contrappuntistica, in der er die Rätsel um Bachs unvollendete
Kunst der Fuge einer eigenen Lösung zuführt, die Bachs Stil Schritt für Schritt in eine eigene, höchst spekulative harmonische Sprache überführt. Zurück zu Liszt. Das Italienische an Paganini interessierte ihn nicht – Italien an sich jedoch sehr. „Ich wohne im schönsten Land der Welt – ich bin der glücklichste Mann auf Erden“, rief der 25-jährige Liszt aus, der sich nach einer anstrengenden Konzertsaison mit Marie d’Agoult am Comer See niederließ. Italien wurde für einige Jahre zur Heimat des in „wilder Ehe“ lebenden Paares – wenn man angesichts des unsteten Reiselebens des zur Hochform auflaufenden Klaviervirtuosen überhaupt von Heimat sprechen kann. Die Eindrücke seiner Reisejahre wurden zum Material seines musikalisch bedeutendsten Klavier-Zyklus, der programmatisch Années de Pèlerinage heißt, Pilgerjahre. Auch dieses Werk, in seiner Entstehungszeit ab 1835 zunächst „Album d’un voyageur“ betitelt, unterzog Liszt als Weimarer Hofkapellmeister vereinfachender Bearbeitung. Im ersten Band „Suisse“ ließ sich Liszt vor allem von der Natur anregen, im zweiten Band „Italie“ von der Kunst: Malerei, Skulptur und Literatur bilden die Quellen, und immer sind es die größten Namen: Raffael, Michelangelo, Dante und Petrarca.
In den Tre Sonetti del Petrarca bearbeitete Liszt eigene, frühere Vertonungen. Dabei ging er unterschiedlich frei mit dem Ausgangsmaterial um: Das 123. Sonett folgt der Liedvorlage sehr weitgehend, im 47. Sonett beschränkt sich Liszt ganz auf den Hauptgedanken, den er aus dem strengen 4/4-Takt des Liedes in einen wiegenden 6/4 umformt. Am weitesten gehen die Änderungen im 104. Sonett: Befreit vom Text kann sich Liszt ganz auf die klanglichen Steigerungen zunehmender Virtuosität konzentrieren. Auch wenn Liszt später ein Lied-Komponist von Rang wurde, wird man die Klavierbearbeitungen der Petrarca-Sonette den Liedern vorziehen. Der Ausdruck klingt wie befreit, die Melodik in eine viel beweglichere Form gebracht, das in den Liedern schematische Verhältnis von Melodie und Begleitung ergibt in den Klavierfassungen einen klanglich viel organischeren Zusammenhang. Indessen wird man Liszts Petrarca-Sonette nicht in einen Zusammenhang mit den „Liedern ohne Worte“ eines Mendelssohn stellen wollen: Liszt schreibt keine Charakterstücke, die in der Intimität des bürgerlichen Heims am besten zur Geltung kommen, sondern extrovertierte Musik für die Bühne, die alle Register des Ausdrucks zieht.
Mit der Generation des erwähnten Busoni, zu der auch Debussy, Ravel, Skrjabin und Rachmaninow gehören, erlebte das Klavier als Ideengenerator eine letzte Blüte. Schon der Schönberg-Schule fiel zum Klavier nicht viel ein, spätestens die Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg empfand das eben noch in tausend Valeurs schimmernde Instrument als farblos und klanglich starr – und schätzte diese Eigenschaft bestenfalls zur Demonstration einiger besonders strenger serieller Experimente wie Boulez’ Structures. Während bei den Streichern exotische Spieltechniken zum Normalfall wurden, Blasinstrumente ihren Klang mit Dämpfern, Mehrklängen, Flatterzunge und dergleichen mehr bereicherten, wurde dergleichen in der Klaviermusik nur zögernd gehandhabt. Auch Luciano Berio, Sohn eines Organisten, hatte kein engeres Verhältnis zum Klavier, zumal er sich als junger Soldat beim Hantieren mit dem Gewehr in die Hand geschossen hatte. Bevor Berio sich der europäischen Avantgarde anschloss, um nie ganz Teil von ihr zu werden, nahm er bei Luigi Dallapiccola in Boston Unterricht. Die Cinque Variazioni von 1952/53 sind in dieser Zeit entstanden. Dallapiccola war der erste italienische Komponist, der Schönbergs Zwölfton technik adaptierte, ohne eine spezifisch italienische Vokalität und Anmut abzulegen. Etwas davon ist auch in den Variationen seines Schülers zu bemerken: Der leise, „kaum wahrnehmbare“ Anfang aus zitternden großen Sekunden und Durterzen weicht allmählich schärferen Intervallen in zuckenden Rhythmen. Diese hektisch bizarre Bewegung prägt die folgende Variation, in der sich allmählich zusammenhängendere Bewegungszüge ergeben, die als Akkordbrechungen wiederum die nächste Variation tragen. Den virtuosen Höhepunkt setzt die vierte Variation mit rauschenden Skalen über die gesamte Klaviatur, die in der letzten Variation gleichsam stillgestellt ist in unregelmäßig durchpulsten, weiten Akkorden. Trotz effektvoller Momente sind die Cinque Variazioni nicht eigentlich pianistisch gedacht. Erst 1965, im vierten Stück seiner 1958 begonnenen Sequenza-Reihe, wird sich Berio in einer Weise mit dem Klavier befassen, die sich vom Manuellen des Klavierspiels anregen lässt, um die Poetik des Instruments neu zu denken.