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Ges\u00E4nge, Satiren, Szenen

Gesänge, Satiren, Szenen

Lieder von Brahms, Mussorgsky, Schostakowitsch und Bartók

Michael Horst

Die slowakische Mezzosopranistin Magdalena Kožená liebt die Herausforderungen – in stilistischer wie in sprachlicher Hinsicht. Zuerst bekannt geworden als Interpretin von Barockmusik, veröffentlichte sie als eines ihrer ersten Alben eine Sammlung von Liedern, die fünf Zyklen von fünf verschiedenen Komponisten (in nicht weniger als fünf Sprachen) versammelte: Maurice Ravel und Benjamin Britten, Ottorino Respighi und Erwin Schulhoff, dazu die Satiren von Dmitri Schostakowisch, die im heutigen Konzert zu erleben sind. Diesmal stehen diesen grellen Miniaturen der idyllischen Kinderstube von Modest Mussorgsky und Béla Bartóks Dorfszenen nach einer Gruppe von Volksliedern aus der Heimat der Sängerin gegenüber. Der erste Teil des Programms wiederum ist ganz Johannes Brahms gewidmet, einem der herausragenden Vertreter des deutschen Kunstlieds.

Brahms und das Lied: das war eine lebenslange Herzensbeziehung. Sie beginnt 1853 mit den Sechs Gesängen, dem Opus 3 des 20-Jährigen, und endet 43 Jahre später mit den Vier ernsten Gesängen, die der Komponist ein Jahr vor seinem Tod niederschrieb. In ihnen spiegelt sich viel von der Persönlichkeit Brahms’ wider; was er privat nicht aussprechen wollte und in der Instrumentalmusik nicht aussprechen konnte, findet seinen Widerhall in vielen der Gedichttexte. „Liebe, Vergänglichkeit und Erinnerung sind die wichtigen, vermeintlich beengend einseitigen Themen der Lieder von Brahms“, schreibt der Brahms-Forscher Matthias Schmidt. „In der Musik hierzu aber begegnet eine geschmeidige Fülle, ja ein verschwenderischer Reichtum von Klang­ erfindungen, mit denen diese Worte variiert, verflüssigt, verwandelt werden.“

Eines der berühmtesten Liebeslieder des Komponisten ist die Vertonung eines Textes von Felix Schumann, Meine Liebe ist grün, ein enthusiastisches Liebesgeständnis ohne Wenn und Aber, das seinen unwiderstehlichen Schwung aus der synkopischen Klavierbegleitung bezieht, über der sich in zwei Strophen hymnisch die Singstimme erhebt. Brahms hat drei Lieder seines 1854 geborenen Patenkindes Felix vertont, dem jüngsten Sohn von Robert und Clara Schumann, dessen große künstlerische Begabung durch eine Tuberkulose- Erkrankung und einen tragisch frühen Tod im Alter von 24 Jahren nie zur vollen Entfaltung kam.

Entscheidend für eine Vertonung ist bei Brahms nicht unbedingt die sprachliche Qualität des Gedichtes. Nicht selten wählte der Komponist Lyriker aus der zweiten (oder sogar dritten) Reihe, wenn er in den Versen insgesamt oder einem einzelnen lyrischen Bild einen Impuls für Musik verspürte. Goethe, Eichendorff und Heine, ganz zu schweigen von Größen anderer Nationalitäten wie Shakespeare, finden sich in seinem Liedkatalog vergleichsweise selten. Oft waren es kleine Lyrikbändchen, die dem unablässigen Leser Brahms in die Hände fielen und den Anstoß für mehrere Vertonungen gaben – wie etwa bei einer Gedichtsammlung des Tübinger Juristen und Autors Christian Reinhold Köstlin, dessen Gedicht Nachtigall mit lautmalerischen Vogelrufen die Liedgruppe op. 97 von 1885 eröffnet. Molltöne verbinden sich mit dissonanten Akkorden – der Gesang der Nachtigall kündet, einmal mehr bei Brahms, nur „von andern, himmelschönen, nun längst für mich verklungenen Tönen“. Sehr viel länger begleiteten den Komponisten die Gedichte Carl von Lemckes, im Hauptberuf Professor für Ästhetik und Kunstgeschichte, der sich jedoch auch intensiv mit deutscher Dichtung beschäftigte. In Verzagen gibt Brahms dem „Treiben der Wogen“, in denen sich das „ungestüme Herz“ gespiegelt sieht, mit einer unablässig drängenden Klavierbegleitung plastischen musikalischen Ausdruck.

In die für Brahms’ Liedproduktion überaus fruchtbaren Jahre um 1885 fallen die beiden Lieder aus op. 95: Bei dir sind meine Gedanken, zu denen der Generalintendant der Wiener Hoftheater und Hobby-Literat Friedrich Halm die Worte schrieb, eilt „schnell und heimlich“ (so die Vortragsanweisung) in drei knappen Strophen als zarte Liebesbotschaft vorüber. Auch den Münchner Dichterfürsten Paul Heyse hat Brahms in seinen Vertonungen berücksichtigt: Der Verfasser geschliffener Novellen und Gedichte, dessen Nachdichtungen aus dem Italienischen vor allem durch Hugo Wolfs Italienisches Liederbuch große Bekanntheit erreichten, galt seinerzeit als veritabler Nachfolger Goethes und wurde 1910 gar mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Das Mädchenlied, ebenfalls aus dem Italienischen übertragen, schildert im „behaglichen“ Dreivierteltakt die Nöte einer jungen Frau, die sich das Leben nach dem Tod im Paradies ohne ihren Liebsten vorstellen soll. Mit Von ewiger Liebe aus op. 43 schließt sich der Kreis zu Meine Liebe ist grün. Mag die Nachdichtung aus dem Sorbischen – in damaliger Nomenklatur aus dem Wendischen – auch bisweilen etwas holprig erscheinen, so besticht die Szene zwischen dem Burschen und seiner Geliebten durch ein zielstrebig aufgebautes Crescendo, das aus dem Moll des Anfangs heraus in einem leidenschaftlichen Treueschwur in H-Dur kulminiert.

Formal ist sich Johannes Brahms in der Fülle seiner Lieder erstaunlich treu geblieben; das hohe Ideal des Strophenliedes, angelehnt an volksliedhafte Melodien, prägt sein gesamtes Schaffen. In den Anfängen lässt sich der „Volkston“ noch stärker wiedererkennen, so in der Eichendorff-Vertonung Anklänge von 1853. Die Liebessehnsucht des jungen Mädchens gibt der ebenso junge Komponist mit einer von unruhigen Synkopen geprägten Klavierbegleitung wieder. Bewusst rustikal ist auch die Vertonung von Der Schmied des Schwaben Ludwig Uhland geraten. Die mehrfach wiederholte große Sext des Beginns scheint die Armbewegung des Schmieds zu symbolisieren; dazu fallen die Akkorde wie Schläge auf den Amboss.

Zu Brahms’ wenigen Heine-Vertonungen zählt Meerfahrt von 1884. Die Ironie des Gedichtes – das verliebte Pärchen rudert „trostlos auf weitem Meer“ herum, während von der schönen Geisterinsel liebliche Töne herüberschallen – fängt Brahms mit jenem schaukelnden Sechsachteltakt der Barkarole ein, welche vor allem durch die Venezianischen Gondellieder Felix Mendelssohns im deutschen Bürgertum große Popularität erlangt hatte. Ein erotisch-neckisches Sujet bietet auch Vergebliches Ständchen, ein quasi-szenischer Dialog zwischen zwei Liebenden, der sich im Hin und Her immer mehr erhitzt, am Ende jedoch, moralisch unanfechtbar, mit der Niederlage des Jünglings unter dem Fenster und dem Sieg der Unschuld endet. Einen jenen überaus typischen Erinnerungstexte, die das Vergangene be­ schwören und verklären, schrieb Klaus Groth mit O wüßt’ ich doch den Weg zurück, den lieben Weg zum Kinderland. Diese rückwärts gewandte Seite hat Brahms immer wieder fasziniert in den Gedichten seines norddeutschen Landsmanns und guten Freundes Groth; weitgespannt-melancholisch ist die Melodie, stark chromatisch durchsetzt der Klavierpart.

Eine Konstante im Liedschaffen von Brahms sind die Vertonungen von Texten aus Georg Friedrich Daumers Polydora. Ein weltpoetisches Liederbuch, zu denen neben Sololiedern auch die Liebeslieder-Walzer zählen. 1871 stellte der Komponist seinen Zyklus op. 57 allein aus Gedichten des fränkischen Lyrikers zusammen. Dafür, dass der studierte Religionsphilosoph sich beruflich vor allem mit Fragen des Judaismus und des Islam oder den „Geheimnissen des christlichen Altertums“ beschäftigte, sind seine Gedichtübertragungen von überraschend großer Sinnlichkeit, die in bürgerlichen Kreisen allgemein wie auch in Brahms’ Freundeskreis viel Kopfschütteln auslöste. Doch der Komponist stand zu dieser ungewohnten „Freizügigkeit“: In Unbewegte, laue Luft gibt er den Versen „Aber im Gemüte schwillt heißere Begierde mir, / Aber in den Adern quillt / Leben und verlangt nach Leben“ eine bis zum „himmlischen Genüge“ vorwärts drängende Leidenschaft, deren inhaltliche Deutlichkeit allerdings durch den im Pianissimo verklingenden Schluss deutlich abgemildert wird.

Mussorgskys Einblicke in die Kinderwelt

Kaum jünger als Brahms, wuchs Modest Mussorgsky in einem völlig anderen Kulturkreis auf. Darüber hinaus gilt der Komponist als der große Nonkonformist der russischen Musik im 19. Jahrhundert, dessen Opern wie Boris Godunow erst nach Überwindung großer Widerstände zur Aufführung kamen. Gleiches gilt auch für seine Lieder, in denen Mussorgsky nur wenig auf die Tradition von Landsleuten wie Michail Glinka oder Pjotr Tschaikowsky aufbaute. Stattdessen galt ihm ein Schubert-Lied wie Der Doppelgänger, das in seiner Deklamation minutiös auf die Heine-Verse reagiert, als viel eindrücklicheres Vorbild.

Diese bewusste Fixierung auf die Sprache ist auch im Liederzyklus Detskaya, „Kinderstube“, der zwischen 1868 und 1872 entstanden ist, auf Schritt und Tritt zu spüren. Dabei nimmt Mussorgsky, anders als etwa Robert Schumann in seinen Kinderszenen, keine reflektierende, sondern eine durch und durch empathische Haltung zur Welt der Kinder ein: „In der ‚Kinderstube‘ bin ich wohl kein Tor, da ich für Kinder Verständnis habe und in ihnen Menschen mit einer eigenartigen kleinen Welt und keine unterhaltsamen Puppen erblicke.“ Lebendige Vorbilder für ihre Freuden und Ängste hatte der unverheiratete Mussorgsky genug; die Kinder seines Bruders Filaret standen ebenso Pate wie diejenigen seines Freundes Dmitri Stassow oder der Sohn des Komponistenkollegen César Cui.

Deklamatorisch, lautmalerisch, geradezu szenisch: das sind die Eigenschaften der Musiksprache, die uns hier begegnet. Dreh- und Angelpunkt ist die Njanja, die Amme, der die großen und kleinen Dramen erzählt werden. Mit der Njanja reflektiert die schaurig-schönen Geschichten vom schrecklichen Gnom oder dem hinkenden Zaren, untermalt von auffällig vielen Taktwechseln. In der Ecke ist ein psychologisch fein ausgefeilter Dialog zwischen der aufgebrachten Njanja und dem trotzig-schuldbewussten Mischenka, der nicht für die Unordnung im Kinderzimmer verantwortlich sein will. Das dritte Lied, Der Käfer, schildert die unheimliche Begegnung mit dem bösen, schwarzen Insekt; das Grundmotiv aus hin und her pendelnden Sekundschritten wird nur im Mittelteil durch dramatische Klaviertremoli unterbrochen. Im liedhaften Stil ist Mit der Puppe gehalten, während Abendgebet in immer atemloserer Aufzählung alle Verwandten und Freunde auflistet, die das Kind in sein Gebet einschließt. Die plastische Begleitung im virtuosen Ritt auf dem Steckenpferd trägt den Reiter weit ins Reich seiner Fantasien. Den Abschluss bildet Kater Matrose, eine Art Mini-Drama mit fortlaufend wechselnden Tempi, in dem der Mutter beschrieben wird, wie der Kater versucht hat, den armen Vogel im Käfig zu packen.

Parodistische Klänge über Kater, Kaktus und Kritiker

Ein völlig anderer Charakter eignet den fünf Satiren von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahr 1960. Sie sind der Sopranistin Galina Wischnewskaja gewidmet, die sie auch, mit ihrem Ehemann Mstislaw Rostropowitsch am Klavier, am 22. Februar 1961 in Moskau uraufgeführt hat. „Mir sind auch heitere Stimmungen nicht fremd“ – so die lakonische Aussage des Komponisten zu diesem Werk, das im Umfeld der sehr viel düstereren Streichquartette Nr. 7 und 8 ent­ stand. Verfasser der Texte war Sascha Tschorny – bürgerlich Alexander Glikberg –, der in seinen Gedichten die spießigkleinbürgerliche Attitüde nach der Revolution von 1905 aufs Korn nahm. Genau das reizte Schostakowitsch, konnte er damit doch an satirische Werke wie seine Oper Die Nase anknüpfen, die nach langer Indexierung in den Jahren der kulturpolitischen Eiszeit nun, nach Stalins Tod, endlich wieder aufgeführt werden durften. Der Untertitel der Satiren, „Bilder aus der Vergangenheit“, dürfte auch im Hinblick auf eine drohende Zensur ergänzt worden sein.

Satire, Parodie und Sarkasmus prägen Vorlage und Vertonung gleichermaßen. Seine unerschöpflichen musikalischen Ausdrucksmittel setzt Schostakowitsch dosiert, aber treffend genau ein. Die Warnung an den Kritiker, die beschriebene Dame im Korsett sei nicht mit dem beschreibenden bärtigen Dichter gleichzusetzen, wird in rezitativisch-lakonischem Ton, fast wie bei Mussorgsky, beschrieben. Die Anfangstöne mit dem mehrfach wiederholten F im Klavier finden sich auch in der zweiten Satire Frühlingserwachen. Die aufkommenden Frühlingsgefühle, die sich nicht nur bei Kater und Kaktus zeigen, treiben den empfindsamen Städter aufs Land; die vom Klavier befeuerten Ausbrüche münden immer wieder in banalste Akkorde.

Unverhüllt gesellschaftskritisch gibt sich das Lied Die Nachfolger: Von der Gegenwart ist nicht viel mehr als Hoffnung zu erwarten („Ich leb heute, und erbärmlich ist mein Stand“), vielleicht wird ja in Zukunft alles besser … Diesen frommen Glauben hüllt Schostakowitsch in einen atemlos vorwärts drängenden Dreivierteltakt. Ein (langsamer) Walzer bildet auch die musikalische Folie für die groteske Beschreibung von jenem Missverständnis, wenn sich der in Liebe erglühende Jüngling auf die Dichterin stürzt, weil er ihre Verse für bare Münze nimmt. Im letzten Lied prallen zwei Welten aufeinander: intelligenzlerischer Untermieter und werktätige Wäscherin. „O welch wahrhaft festlicher Moment! Du: das Volk und ich intelligent!“ Der musikalische Gassenhauer zur proletarischen Vereinigung lässt keinen Zweifel an Schostakowitschs Meinung dazu aufkommen. Lieber serviert er als musikalisches Sahnehäubchen, in Anspielung auf den Titel Kreutzersonate, zu Beginn noch ein längeres Zitat aus Beethovens „Kreutzer-Sonate“.

Szenen aus der Slowakei

In die Slowakei führt schließlich die letzte Liedgruppe, auch wenn der Komponist, Béla Bartók, Ungar war. Doch im Zuge seiner umfangreichen Feldforschungen, bei denen er mit einem Edison-Phonograph ausgerüstet ab 1906 das Volksmusikerbe Südosteuropas in größtmöglichem Umfang aufzuzeichnen versuchte, fanden rumänische, bulgarische oder ukrainische Melodien ebenso ihren Platz wie türkische, ruthenische und eben jene slowakischen Volkslieder, die 1927 als fünfteiliger Zyklus unter dem Titel Dorfszenen publiziert wurden.

Im Juni 1926 schreibt Bartók an Emil Hertzka, den Direktor der Wiener Universal Edition, bei der er seit 1918 unter Vertrag stand: „Lieber Herr Direktor! Endlich bin ich in der Lage Ihnen einige neue Kompositionen einzuschicken. Und zwar werde ich Ende Juni slowakische Volkslieder mit Klavier bzw. Kammerorchesterbegleitung ein senden, Anfang August Klavierstücke.“ Die Volkslieder arrangiert Bartók in einer Fassung für Singstimme und Klavier, drei der Nummern außerdem – bestimmt für die amerikanische „League of Composers“ – in einer Version für vier Frauenstimmen und 16 Instrumente. Insofern beeilt sich Bartók auch die Frage der Übersetzungen anzusprechen: „Die slowakische Originalversion kann nicht weggelassen werden, die ungarische ist für Ungarn wichtig, die englische hinzufügen ist ebenfalls wichtig, somit soll also der Text in vier Sprachen [dazu kommt noch Deutsch] erscheinen.“

Hatte sich Bartók in seinen frühen Arrangements ungarischer Volkslieder noch weitestgehend an das Original gehalten, geht er nun einen deutlichen Schritt weiter. Vor allem in harmonischer Hinsicht wird die Begleitung selbstständig ausgebaut, außerdem nimmt sich der Komponist die Freiheit, bisweilen zwei Melodien zu einem neuen Lied zusammenzufügen. In Bei der Heuernte wird der deklamatorische Gesang durch strikt rhythmische Akkorde verstärkt; dezente Quartklänge untermalen das Lied Bei der Braut, welche die Federn für das Kissen sammelt, auf dem des Liebsten Haupt ruhen soll. Eigenständige Kunstfertigkeit prägt das dritte Lied Hochzeit, das in drei Strophen, mit gewichtigen Klavierzwischenspielen, den Tanz auf einer Dorfhochzeit portraitiert und mit „hojaho juchhe“-Rufen naturalistische Akzente setzt. Ganz und gar in die träumerische Atmosphäre des Klavierparts eingebettet ist im Wiegenlied der Gesang der Mutter, während als munterer Kehraus der Burschentanz noch einmal alle Register rhythmischer Abwechslung zieht, die auch für Bartóks Instrumentalmusik ein unverzichtbares Kennzeichen sind.

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