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Dreiecksbeziehungen
Dreiecksbeziehungen
Joe Lovano und die Textur des Trios
Kevin Le Gendre
Triokonstellationen sind in der improvisierten Musik eine der zentralsten Besetzungsformen. Ein Standardmodell gibt es dabei aber nicht: Klavier, Kontrabass und Schlagzeug sind nur eine unter vielen möglichen Instrumentenkombinationen. Der amerikanische Saxophonist Joe Lovano hat im Laufe seiner langen und erfolgreichen Karriere mit vielen verschiedenen Trioformationen experimentiert. Seine Zusammenarbeit mit Dave Holland und Elvin Jones in den späten 1990er Jahren kommt einem da zunächst in den Sinn; wenige Jahre später stellte er mit Partnern wie dem Harmonikaspieler Toots Thielman, dem Pianisten Kenny Werner, dem Trompeter Dave Douglas oder dem Kontrabassisten Mark Dresser verschiedene Trios in höchst unterschiedlichen Konfigurationen zusammen.
Die Ursprünge von Lovanos Faszination für musikalische Dreiecksbeziehungen liegen allerdings noch weiter zurück. In den frühen 1980er Jahren gehörte er einem der wichtigsten „kleinen“ Ensembles des Jahrzehnts an – der Band von Schlagzeuger Paul Motian, zu der außerdem Gitarrist Bill Frisell gehörte und die bis zu Motians Tod 2011 auf der ganzen Welt auftrat. Mit anderen Worten: Joe Lovano ist alles andere als unbeschlagen in dieser spezifischen Besetzung. „Trios ohne Bass sind im Laufe all dieser Jahre zu einem Teil meines Lebens und meiner Entwicklung geworden“, betont er.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Lovanos jüngstes Projekt, Trio Tapestry, ist eine beeindruckende Leistung, die mehrere wichtige Stränge seiner Vergangenheit zusammenführt. Zum einen markiert das Album Lovanos Debüt als Bandleader beim Label ECM, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit als Sideman u.a. von Paul Motian, John Abercrombie, Marc Johnsson und Steve Kuhn verbindet. Zum anderen ist es das Ergebnis neuer und alter musikalischer Freundschaften. Am Klavier ist Marilyn Crispell zu hören, eine hervorragende Improvisatorin und Komponistin; am Schlagzeug sitzt der außerhalb der USA wenig bekannte Carmen Cristaldi, über den Joe Lovano in den höchsten Tönen spricht: „Wir sind zusammen in Cleveland aufgewachsen, und einige meiner besten musikalischen Momente habe ich mit ihm erlebt. Es ist großartig, mit ihm im Studio zu arbeiten.“
Trio Tapestry ist das fesselnde Statement eines der tonangebenden Künstler in der improvisierten Musik der letzten drei Jahrzehnte. Für Lovano, der als einer der produktivsten Musiker des Blue Note Labels dort zwischen 1991 und 2016 beeindruckende 25 Alben veröffentlicht hat, war es stets das Ziel, sich mit einer großen Bandbreite musikalischer Formationen zu beschäftigen, mit Musikerinnen und Musikern aus sämtlichen Bereichen des Jazz und darüber hinaus. Er stand an der Spitze von Bigbands, Quartetten und Quintetten mit zwei Schlagzeugern und spielte mit Legenden wie Hank Jones und Gonzalo Rubalcaba im Duo. Im Bebop fühlt er sich genauso zuhause wie in der freien Improvisation, und seine starke Persönlichkeit kommt in jeder Konstellation immer im Sinne der Gruppe zum Ausdruck. Seine intensive Beschäftigung mit verschiedensten Blasinstrumenten – Tenorsaxophon, Altsaxophon in gerader Bauart oder Aulochrom, einem ungewöhnlichen Instrument aus zwei Sopransaxophonen – stellt ihn in eine Linie mit Eric Dolphy und Rhasaan Roland Kirk. Als herausragender Solist, dessen Improvisationen reich an Timbres und rhythmisch geschickten Phrasen sind, kann sich Lovano aber genauso auch zurücknehmen, wenn es notwendig ist.
Im Trio, an dessen Spitze er heute Abend steht, ist ihm sehr genau bewusst, was diese Zusammenarbeit von ihm sowohl als Begleiter als auch als Leader erfordert. „Schön daran ist, dass ich gewissermaßen auf dem Basshocker sitze“, erklärt Lovano. „Oder zumindest auf der Position zwischen Klavier und Schlagzeug, was mir und meinem Klang eine andere Färbung und auch einen anderen Stellenwert gibt. Ich begleite aus der Mitte der Musik heraus, und das ist wirklich schön. Durch meine Zusammenarbeit mit vielen großartigen Jazz-Bassisten habe ich Wege gefunden, in Besetzungen ohne Bass für mich und mein Instrument einen neuen klanglichen Raum in der Musik zu schaffen. Außerdem verwende ich Gongs. Ich halte beim Spielen auf Tenorsaxophon oder Taragato einen Schlägel in der rechten Hand und kann mich so selbst begleiten, das gibt der Musik eine weitere Dimension.“
Ein Basssolo, ohne begleitendes Fundament, habe ihn immer fasziniert, sagt Joe Lovano. „Dieses Gefühl entsteht auch in diesem Trio. Man sollte nicht zu sehr versuchen, den klanglichen Raum aufzufüllen, den normalerweise der Bass einnimmt. Stattdessen versuche ich, diesen Raum mit den anderen zu teilen. Der spezifische Klang und die musikalischen Ideen der Gruppe müssen immer an erster Stelle stehen. Mein Sound ist stark von der Vorstellung geprägt, dass jeder in der Band Schlagzeuger ist, genauso Pianist, und jeder muss mit der Impulskraft eines Bassisten spielen – alle decken also jederzeit alles ab. Dieser Ansatz war für meine Entwicklung entscheidend.“
Doch beim Phänomen Trio geht es um mehr als reinen Klang, erklärt er: „Man kann mit zwei anderen Menschen im Trio spielen und den musikalischen Raum noch auf andere, magische Weise miteinander teilen. Meine Entwicklung im Jazz war bestimmt von vielen Erfahrungen in Duos und Trios, denn wenn man so intim miteinander Musik macht, beginnt man miteinander zu atmen und die Dinge anders wahrzunehmen. Es gibt auch viele Momente der Stille, die ich immer sehr genieße, weil sie im Grunde die Sprungbretter in eine neue Phase eines Songs sind.“
Vielleicht schätzt Lovano die Gelassenheit und Ruhe des Trioformats deswegen so sehr, weil sie sich so stark von seinen musikalischen Ursprüngen abhebt. In Cleveland wuchs er in einer Familie von Musikern auf – sein Vater Tony „Big T“ Lovano war ebenfalls Saxophonist – und inter essierte sich als Teenager vor allem für R&B, Soul und Jazz. In seiner Jugend spielte er viel in Combos mit Orgel und trat nach seinem Abschluss am renommierten Berklee College of Music mit einigen der großen Meister dieses Genres auf – darunter „Brother“ Jack McDuff und Lonnie Smith, auf dessen Album Afro-desia aus dem Jahr 1975 er zu hören ist.
„Das war meine erste Aufnahmesession, als ich nach New York kam“, erinnert sich Lovano. „Es war fantastisch, diese Sachen zu spielen. Ich war zwar noch Teenager, aber das Umfeld war mir sehr vertraut und angenehm. Ich hörte damals Miles Davis, Coltrane und Rollins, aber auch Motown, Sly and the Family Stone und James Brown. Ich spielte in einer Reihe von Bands Funk und Soul, deshalb fühlte es sich großartig an, Lonnie Smiths Unterstützung zu haben, denn seine Musik verkörpert diese Atmosphäre sehr.“
Diese frühe Phase seiner Karriere hat bis heute einen besonderen Platz im Herzen Joe Lovanos, und seine Anfänge in Cleveland sind nach wie vor präsent. Das Stück Smiling Dog vom Album Trio Tapestry ist eine Hommage an den Smiling Dog Saloon in Cleveland, in dem er früher regelmäßig auftrat. Nach seinem Umzug nach New York, wo er bald begann, in der Jazzszene für Aufsehen zu sorgen, kam in Joe Lovanos Leben schnell Bewegung. In den folgenden Jahrzehnten stand er mit Legenden wie dem Thad Jones / Mel Lewis Orchestra, John Scofield und Dave Liebman auf der Bühne. Er spielte als Gastmusiker mit europäischen Künstlern wie dem französischen Bassisten Henri Texier und dem schottischen Saxophonisten Tommy Smith. Den Drang auf die Bühne zu gehen hat Joe Lovano auch nach fünf Jahrzehnten nicht verloren. Live vor Publikum zu spielen ist und bleibt eine seiner größten Freuden, menschlich wie musikalisch.
„Wenn man auf Tour geht, ist man auf Entdeckungsreise“, erklärt Lovano. „Man teilt mit anderen Menschen das Glück, gemeinsam in der Welt der Musik zu leben. Es ist etwas wirklich Inspirierendes, in einem Konzertsaal für die Leute zu spielen, die mit einem im Raum sind. Wenn man die Energie dieser gemeinsamen Erfahrung spürt, so wie ich sie bei Keith Jarrett und Dewey Redman oder im wundervollen Spiel von Dexter Gordon gespürt habe, dann ist das etwas ganz Besonderes. All das bewegt mich dazu zu versuchen, den Menschen, für die ich spiele, dasselbe zu ermöglichen. Es geht um Liebe, nicht nur darum, bloß Musik zu spielen und Karriere zu machen. Es ist ein spiritueller Ort – mit all den Schwingungen im Raum.“