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Auf dem Weg in ein vielfältiges, vereintes Europa

Daniel Barenboim

Fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist unsere gemeinsame europäische Identität massiv bedroht, und gefährliche nationalistische und populistische Bewegungen befinden sich überall in Europa und weltweit im Aufschwung. Diesen Bedrohungen entgegen zu treten und den Gedanken eines gemeinsamen, offenen und friedlichen Europas zu stärken, ist für uns womöglich die größte Herausforderung aller Zeiten, und wir müssen uns ihr stellen – mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Eine Schlüsselrolle dabei spielt die Rückkehr zu einer Kultur des Faktischen. Der momentane Zeitgeist gewährt dem Unwahren zu viel Raum. Wer am lautesten schreit, wird gehört, gleichgültig ob das Gesagte wahr ist oder nicht. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen, in der Politik wie in der Kultur.

Der Aufschwung des Nationalismus ist größtenteils das Ergebnis der Unzufriedenheit vieler Menschen mit der Globalisierung – einer teilweise gerechtfertigten Unzufriedenheit. Globalisierung hat eine homogenisierende Wirkung auf die Kultur: Sie droht, eine unserer größten Stärken, unsere wunderbare kulturelle Vielfalt, zu zerstören. Auf diese Bedrohung ist Nationalismus jedoch nicht die richtige Antwort. Tatsächlich ist Nationalismus das Gegenteil von echtem Patriotismus, denn Patriotismus erlaubt, andere einzubeziehen, während Nationalismus sie ausdrücklich ausgrenzt und unterordnet. Wer sich seiner eigenen Werte und Kultur sicher ist, kann sich zuversichtlich mit anderen auseinandersetzen und auch ihre Kultur schätzen. Das ist das Ziel des Universalismus, und darauf müssen wir gemeinsam hinarbeiten.

In Europa hat man sich zu lange ausschließlich auf die wirtschaftliche Union konzentriert – die Vorstellung eines gemeinsamen kulturellen Raumes jedoch haben wir praktisch aufgegeben. Das hatten sich François Mitterrand und Helmut Kohl nicht vorgestellt, als sie Hand in Hand am Grab der französischen und deutschen Soldaten ihre europäischen Pläne schmiedeten, die der Erwartung

Ausdruck verliehen, dass Franzosen und Deutsche sich mittels ihrer Kultur begegnen und kennenlernen sollten – durch Beethoven und Thomas Mann, durch Ravel und Baudelaire.

Als Musiker habe ich mein Leben damit verbracht, andere Kulturen und ihre Vertreter durch die Kunst und die Musik kennenzulernen. Natürlich ist das ein enormes Privileg, aber es ist auch etwas, wozu wir alle Bürgerinnen und Bürger Europas ermutigen sollten. Zu den positiven Aspekten der Globalisierung zählt, dass es heute völlig selbstverständlich ist, als Israeli-Argentinier in Berlin zu leben und am Montag in Japan italienisch zu essen, am Dienstag in München japanisch und am Mittwoch in London deutsch. Wir haben es tatsächlich schon weit gebracht. Diese Vielfalt erlaubt uns, lebendige und einzigartige Kulturen als solche zu schätzen, ebenso wie die in ihnen lebenden Menschen, die sich austauschen und einander positiv beeinflussen können.

Ein einiges, offenes, friedliches, kulturell vielfältiges und doch vereintes Europa ist mehr als nur ein schöner Gedanke – es ist der einzige Weg vorwärts. Diejenigen, die die Schrecken zweier Weltkriege erlebt haben, wissen dies nur allzu gut. Wir können nicht unsere Grenzen schließen, Mauern bauen und die anderen ausschließen: Wenn wir das tun, haben wir als Menschen versagt. Deshalb reicht es nicht aus, über den Brexit oder den Aufschwung nationalistischer Regierungen in verschiedenen europäischen Ländern zu klagen. Wir müssen zum Ideal einer gemeinsamen Kulturunion zurückkehren, in der unserer individuellen und gemeinsamen Geschichte die gleiche Wertschätzung zuteil wird und in der wir zusammen auf eine gemeinsame europäische Zukunft hinarbeiten.

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