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Boulez Ensemble XX

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Boulez Ensemble XX

Boulez Ensemble XX

Beethoven – Bartók – Boulez

Zum Programm des Boulez Ensembles

Michael Kube

Lässt sich eine neue Saison besser eröffnen als mit Werken dreier Komponisten, deren Namen mit einem gewichtigen „B“ beginnen? Zugleich mit Partituren, die nicht oft zu hören sind, die aber auf jeweils ganz eigene und einzigartige Weise einen bis dahin unerhörten Klangkosmos erkunden und erschließen? Grundlage dafür bilden nicht neue Kompositionstechniken, die die Faktur, den musikalischen Satz formen oder organisieren, sondern vor allem die Wahl der Instrumente in einem spezifischen Ensemble. Geht man in der Musikgeschichte zurück, so findet man einen solchen Zugriff oft an exzeptioneller Stelle: etwa in den „Rosenkranz-Sonaten“ von Heinrich Ignaz Franz Biber, in denen die Violine in Skordatur (mit umgestimmten, in einem Fall sogar überkreuzten Saiten) gänzlich andere Farbnuancen hervorbringt, in den Brandenburgischen Konzerten von Johann Sebastian Bach, deren sechs Werke eine jeweils individuelle Besetzung aufweisen, oder bei Ferruccio Busoni, der seinem 1904 entstandenen monumentalen Klavierkonzert noch einen unsichtbar aufzustellenden Männerchor hinzufügt.

Beethoven, Bartók und Boulez haben in ihrem Œuvre gleich mehrfach Neuland entdeckt und betreten – nicht allein mit jenen Werken, auf die üblicherweise das Rampenlicht fällt, sondern auch in Kompositionen, denen man seltener begegnet. So hat Beethoven die Gattung der Symphonie um einen Chor erweitert und das Streichquartett mit seinen späten Werken zu einer neuen Form der Abstraktion geführt – seine Bearbeitungen internationaler Volkslieder für Singstimmen und Klaviertrio indes sind ebenso unbekannt wie seine frühe Hornsonate. Bartók wiederum hat mit seinen auf Idiomen und Rhythmen der Volksmusik basierenden Werken wie den Rumänischen Volkstänzen aus dem Jahr 1915 einen unverkennbaren Personalstil entwickelt, doch gerade sein Spätwerk, darunter die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von 1937 und die 1944 komponierte Sonate für Violine solo, offenbart eine bemerkenswerte Abgeklärtheit. Im Schaffen von Boulez schließlich finden sich radikale Kompositionen, die serielle Prinzipen (Le marteau sans maître, 1952–55) ebenso wiederspiegeln wie aleatorische Elemente enthalten (Éclat für 15 Instrumente, 1965), aber auch immer wieder neue, erweiterte Fassungen und veränderte Instrumentationen, so dass sich die Werke bei aller inneren Stringenz der Partituren auch durch eine gewisse Offenheit auszeichnen.

Beethoven: Sonate für Horn und Klavier

Als Ludwig van Beethoven Ende 1792 nach fünf Jahren ein zweites Mal in Wien ankam, öffneten sich für den jungen Musiker aufgrund von Empfehlungen rasch die Türen zu den adeligen Palais und Salons. Dort gelang es ihm in kurzer Zeit, sich mit seinen pianistischen Fertigkeiten zu etablieren. Kompositorisch sollte er hingegen, so der von Graf Waldstein formulierte Eintrag ins Stammbuch, „Mozart’s Geist aus Haydens Händen“ erhalten – ein Vorhaben, von dem Beethoven selbst aber bald stilistisch abstand nahm, um einen markanten eigenen Weg einzuschlagen. Schöpferisch drückt sich dies in jenen Jahren durch eine ganze Reihe von Kompositionen für Klavier aus – mithin für jenes Instrument, auf dem Beethoven selbst reüssierte und mit dem er sich eine gesicherte ökonomische Basis verschaffen konnte. Erst zur Jahrhundertwende hin entstanden mit den Streichquartetten op. 18 und der Ersten Symphonie Werke für große Besetzungen bzw. in ästhetisch nobilitierten Gattungen.

Die F-Dur-Sonate für Horn und Klavier stellt in diesem Kontext gewissermaßen eine Ausnahme dar, handelt es sich doch der Entstehung nach um ein Gelegenheitswerk (das dennoch im Druck mit der Opuszahl 17 versehen wurde) und von der Besetzung her um eine Komposition für ein schwierig zu beherrschendes, in der Kammermusik keineswegs verbreitetes Blasinstrument. (In der französischen Erstausgabe ist das Werk denn auch als Sonate „pour le fortepiano avec un cor ou violoncelle“ bezeichnet.) Der Tonvorrat des Naturhorns war bis zur späteren Einführung der Ventile noch auf die Naturtonreihe beschränkt, was weder eine durchgehende diatonische noch eine chromatische Linie ermöglichte. Erst mit der Erfindung der so genannten Stopftechnik sollte sich dies ändern – ein Verfahren, bei der die Hand im Trichter Einfluss auf die Tonhöhen nimmt. Die damit einher gehende Veränderung des Klanges (nämlich von strahlend offen zu eng gestopft) konnte nur von wenigen Musikern ausgeglichen werden. Zu diesen zählte an erster Stelle der 1746 in Böhmen geborene Johann Wenzel Stich (italianisierend nannte er sich Giovanni Punto), der Beethoven zur Mitwirkung bei der Musikalischen Akademie am 18. April 1800 im Hofburgtheater eingeladen hatte. Das dafür vorgesehene Stück wurde erst im letzten Moment fertig (so in der wohl anekdotisch gesteigerten Erinnerung von Ferdinand Ries): „Die Composition der meisten Werke, die Beethoven zu einer bestimmten Zeit fertig haben sollte, verschob er fast immer bis zum letzten Augenblick. […] Den Tag vor der Aufführung begann Beethoven die Arbeit und beim Concerte war sie fertig.“

Ob aus diesem Grund der mittlere langsame Satz nur einen vergleichsweise geringen Umfang aufweist und die Funktion einer Einleitung zum abschließenden Rondo hat? Dass Beethoven mit den neuen klanglichen Möglichkeiten des Horns bewusst spielte und die Komposition Stich/Punto auf den Leib schrieb, zeigt sich schon zu Beginn des ersten Satzes: Hier eröffnet das Horn mit einem Signal auf der Naturtonreihe, doch die Übernahme des engschrittigen gesanglichen Hauptthemas ist auf einem ventillosen Instrument ohne Anwendung der Stopftechnik nicht denkbar. Für den heutigen Musiker, der auf dem technisch ausgefeilten und klanglich ausgeglichenen Ventilhorn spielt, erwächst daraus die Herausforderung, etwas von dieser fernen, charakteristischen Klanglichkeit lebendig zu halten.

Bartók: Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug

Nachdem sich Béla Bartók fast drei Jahrzehnte lang vor allem der Komposition von Klavier- und Kammermusik gewidmet hatte, entstand ab Mitte der 1930er Jahre in vergleichsweise rascher Folge eine Reihe von symphonischen, konzertanten oder auch kammermusikalisch-konzertanten Partituren: die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, das Divertimento für Streicher und schließlich das Konzert für Orchester, das Zweite Violinkonzert, das Dritte Klavierkonzert und das Violakonzert, die für Benny Goodman komponierten Kontraste für Violine, Klarinette und Klavier sowie das Streichquartett Nr. 6. An der Entstehung dieser durchweg bedeutenden Werke hatte der Schweizer Dirigent und Mäzen Paul Sacher (1906–1999) maßgeblichen Anteil, regte er doch mit seinem Auftrag zur Musik für Saiteninstrumente über - haupt erst Bartóks Hinwendung zu groß besetzten und groß dimensionierten Partituren an.

Die Basler Uraufführung dieses Werkes riss das Publikum zu wahren Beifallsstürmen hin, machte Bartók an jenem Abend vom verschrienen Neuerer zu einem Klassiker der zeitgenössischen Moderne und veranlasste Sacher wenig später, zum bevorstehenden zehnjährigen Jubiläum der Ortsgruppe der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik bei ihm ein weiteres Werk in Auftrag zu geben, das in seiner Besetzung für Klavier und Schlagzeug zur damaligen Zeit in jeder Hinsicht beispiellos war. Bartók selbst erläuterte die Hintergründe in einer Werkeinführung, die Anfang 1938 in der Basler National-Zeitung erschien: „Ich hatte schon vor Jahren die Absicht, ein Werk für Klavier und Schlagzeug zu schreiben. Allmählich verstärkte sich indessen in mir die Überzeugung, dass ein Klavier gegen den oft recht scharfen Klang der Schlaginstrumente keine befriedigende Balance ergibt. Infolgedessen änderte sich der Plan insofern, als zwei Klaviere statt einem dem Schlagzeug gegenüberstehen. […] Die beiden Schlagzeugstimmen nehmen eine den beiden Klavierstimmen durchaus ebenbürtige Stellung ein. Die Rolle des Schlagzeugklangs ist verschiedenartig: in vielen Fällen ist er nur eine Farbnuance zum Klavierklang, in anderen verstärkt er wichtige Akzente; gelegentlich bringt das Schlagzeug kontrapunktische Motive gegen die Klavierstimmen, und häufig spielen namentlich die Pauken und das Xylophon sogar Themen als Hauptstimme.“

Tatsächlich kommt es zu so ungewöhnlichen Klangkonstellationen, dass Bartók für die Uraufführung am 16. Januar 1938, bei der er gemeinsam mit seiner Frau Ditta Pásztory die beiden Klavierpartien übernommen hatte, ausdrücklich um „hellklingende, nicht dumpf intonierte Klaviere“ bat. Sie stehen damit in klanglicher Opposition zu Pauken, großer Trommel und dem Tamtam und ergänzen Becken, Triangel und die kleinen Trommeln (mit und ohne Schnarrsaiten). Formal mutet die dreisätzige Komposition hingegen recht traditionell an: Nach einer Einleitung (Assai lento) wird der Kopfsatz (Allegro molto) von zwei Themen, einer Durchführung und einer veränderten Reprise bestimmt. Der mittlere Satz folgt einer schlichten Dreiteiligkeit, das Finale weist einen starken, rhythmisch geprägten Rondocharakter auf. Dass Bartók trotz der Instrumentation nicht auf wuchtige äußere Effekte setzte, zeigt insbesondere der sich im Nichts verlierende Schluss des Finales.

Boulez: sur Incises

Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Pierre Boulez mit seinem kompositorischen Schaffen Akzente gesetzt. War er zum einen einer der prägenden Verfechter des Serialismus, bei dem alle musikalischen Parameter eines Werkes vorgegebenen Strukturen folgen, blieb er doch ästhetisch immer einer klanglichen Poetik verpflichtet, die ihre Wurzeln im französischen Impressionismus hat. Darüber hinaus gab sich Boulez nur selten mit seinen Partituren zufrieden: Während er manche frühe Stücke später zurückzog, nahm er andere Werke immer wieder zur Hand und unterzog sie einem fortlaufenden Revisionsprozess, der vielfach auch an den sich reihenden Daten im Titel ablesbar ist. Insofern durchzieht sein Œuvre ein Paradox zwischen präzisester Determination und erweitertem Ausdrucksspektrum.

Mit sur Incises, komponiert zwischen 1996 und 1998, dann 2006 revidiert, hat Boulez nicht nur seine letzte und zugleich eine seiner umfangreichsten Partituren geschaffen, sondern auch Musik über eigene Musik geschrieben als eine Art von Selbstinterpretation. Bereits der Titel weist darauf hin, dass Grundidee und Material auf das 1994 für den Umberto Micheli Klavierwettbewerb entstandene Incises („Einschnitte“) zurückgehen – ein Werk mit einer Spieldauer von nur wenigen Minuten. Schon früh hatte Boulez eine Erweiterung und instrumentale Aufstockung dieser sehr agilen Komposition in Erwägung gezogen, wie er 1998 in einem Interview anlässlich einer Retrospektive in der Frankfurter Alten Oper bekannte: „Ich hatte zunächst im Sinn, aus diesem Stück ein längeres für [Maurizio] Pollini und eine Gruppe von Instrumentalisten, eine Art Klavierkonzert zu machen, das allerdings nichts mit der herkömmlichen Konzertform zu tun haben sollte. Die konzertante Literatur als solche sagt mir einfach nichts mehr.“ Am Anfang stand dabei (darin Bartók vergleichbar) die Frage der Instrumentation – allerdings nicht allein in klanglicher Hinsicht, sondern auch mit einem nach Originalität Ausschau haltenden Blick auf das Repertoire des 20. Jahrhunderts: „Ich bin zunächst davon ausgegangen, daß es schon genügend interessante Literatur für zwei Klaviere und Ensembles, besonders in der Moderne, gibt – denken Sie etwa an Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug –, und ich dachte, wenn ich zwei Klaviere benutze, wird man sofort an diese Welt erinnert. Ich habe auch über die Möglichkeit mit vier Klavieren nachgedacht, denn das ist eine sehr reizvolle Konstellation mit sehr guter Balance, aber da gibt es auch schon das Vorbild Strawinsky, und ich wollte nicht durch diese sehr charakteristische Instrumentation sozusagen Strawinsky zitieren.“

Darüber hinaus hat sich Boulez nochmals intensiv mit der musikalischen Substanz auseinandergesetzt. So wurde die ursprüngliche langsame Einleitung zeitlich stark ausgedehnt und gespreizt, die brillante Kadenz durch die unterschiedlichsten Formen von Spiegelung erweitert, zugleich aber auch atmender gestaltet. Zusätzlich sorgt die Aufstellung des Ensembles in drei gemischten Gruppen für eine klare Verortung des musikalischen Verlaufs, wobei am Ende die Zahl der neun Musiker nur zufällig mit der Widmung des Stückes zum 90. Geburtstag von Paul Sacher zusammenfällt. Dennoch liegt dem Werk (wie auch anderen Kompositionen) in der subkutanen Reihenstruktur der so genannte Sacher-Hexachord zugrunde: eS-A-C-H-E-Re (=D) – ein soggetto cavato, also ein aus Wörtern und Buchstaben gewonnenes Thema, wie man es seit der Renaissance in der Musik findet, von Bach bis hin zu den Initialen von Dmitri Schostakowitsch.

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