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Ensemble intercontemporain & Matthias Pintscher
Gegenräume und ZukunftsentwürfeZu den Werken von Blondeau, Lindberg und Vivier
Kerstin Schüssler-Bach
Von den Möglichkeiten zwischen zwei Endpunkten Sasha J. Blondeau: Contre-espace
Es kommt einer Idealsituation gleich, wenn junge Komponistinnen und Komponisten bereits während ihres Studiums die Möglichkeit haben, mit den ausgefeiltesten technischen Möglichkeiten und den versiertesten Interpreten zu arbeiten. Die Studierenden des Pariser IRCAM, des Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, genießen dieses Privileg. Dieser maßgeblich von Pierre Boulez mitbegründeten Institution entstammt auch Sasha J. Blondeau. Geboren als Julia Blondeau in Briançon, studierte er (bzw. sie) Klavier, Saxophon und Komposition und trat 2007 in die Kompositionsklassen von Denis Lorrain und François Roux am Conservatoire in Lyon ein. Erste Aufmerksamkeit erzielte er mit seiner Master-Abschlussarbeit Soubres, ausgezeichnet 2012 mit dem Preis der Fondation Francis et Mica Salabert. Am IRCAM vertiefte Blondeau seine Studien elektronischer Musik. Als Mitglied des dortigen „MuTant“-Teams widmete er sich technischen und ästhetischen Fragen der Computermusik und der Weiterentwicklung der Programmiersprache Antescofo.
Der Studienabschluss 2017 brachte Blondeau nicht nur das Doktorat, sondern auch ein Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain: Namenlosen – im Titel steckt eine Anspielung auf ein Walter-Benjamin-Zitat. In diesem Stück für Solisten, Ensemble und Elektronik, uraufgeführt in der Philharmonie de Paris, sah Blondeau „zwei wichtige Aspekte meiner Arbeit zusammengefasst: Kompositionsräume und multiple Zeitschichten: Form- und Material beziehung“. In seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Ensemble intercontemporain zog Blondeau alle Register: „Ich wollte diese Gelegenheit nutzen, um so viele Dinge wie möglich auszuprobieren und viele Risiken einzugehen, um von diesem unglaublichen menschlich-musikalischen Potenzial zu profitieren.“
Das Risiko wurde belohnt. Schon scheint Sasha J. Blondeau angekommen zu sein in den einschlägigen Stätten der Neuen Musik: Er ist aktuell Stipendiat der zur Académie de France gehörenden Villa Medici in Rom, wurde 2018 mit dem Prix Claude Arrieu der Société des Auteurs, Compositeurs et Éditeurs de Musique (Sacem) ausgezeichnet und erhielt auch in Deutschland bereits Aufträge der Donaueschinger Musiktage und der Wittener Tage für neue Kammermusik.
Blondeaus Hauptinteresse galt bislang der Interaktion zwischen instrumentalem und elektroakustischem Schreiben im gleichen Feld der Expressivität. Er strebt danach, „an Begriffen von Distanz, Nachbarschaft, Kontinuität/Diskontinuität innerhalb musikalischer Einheiten unterschiedlicher Größenordnung zu arbeiten, die eine Reihe von kompositorischen Territorien bilden“. Sein heute uraufgeführtes Stück Contre-espace („Gegenraum“), ebenfalls ein Auftragswerk des Ensemble intercontemporain und gewidmet seinem Leiter Matthias Pintscher, verzichtet auf die elektronische Komponente. Die Gegenräume werden hier nicht durch die Variabilität der Klangerzeugung geöffnet, sondern durch die Abstufung dreier Gruppen aus dem Ensemble heraus: „Ich wollte“, schreibt Blondeau im Vorwort zur Partitur, „die Besonderheiten des Pierre Boulez Saals nutzen, um neue Räume zu bezwingen und zu sehen, wie ein Instrumentalensemble und Musiker in der Peripherie koexistieren würden, wie die verschiedenen Kombinationen eine melodische Masse in eine Konstellation von mehr oder weniger unbestimmten Klängen transformieren können.“
Klavier, Schlagzeug, Streicher und Teile der Holzbläser sind daher auf der Bühne positioniert, die beiden Hörner, Fagott und Posaune in der oberen Reihe des Parketts. Vom Rang herab erklingen die Trompeten- und Oboenpaare. Diese maßgeschneiderte Raumklangkonzeption unterstützt eine dicht gewobene musikalische Textur, die aus dem farbigen Reservoir moderner Spieltechniken schöpft: für die Bläser etwa Überblasen und multiphonics, für die Streicher verschiedenster Bogendruck oder Tremolo am Steg. Die im Raum aufgestellten Musiker bedienen außerdem jeweils eine Zimbel. Schattenklänge und flüchtige, ornamentale Linien amalgamieren zu einem flüsternden, nervösen Kontinuum rätselhafter Klänge und verhallen in einem fast unhörbaren Nachzittern.
Der Titel Contre-espace ist aber auch eine Reverenz an Michel Foucault. „In gewisser Weise Gegenräume“, so zitiert Blondeau den französischen Philosophen im Vorwort, seien „Orte, die allen anderen [Bereichen] gegenüber stehen, die dazu in irgendeiner Weise bestimmt sind, sie auszulöschen, zu neutralisieren oder zu reinigen.“ Und diese Orte, so Foucault in einem zweiten Zitat, nenne er „im Gegensatz zu Utopien, Heterotopien.“ Ihre Rolle sei es, „einen Raum der Illusion zu schaffen“ oder aber einen Gegenraum, der sich vollkommener, wohlgeordneter als der reale Raum darbiete. Der Begriff der Foucaultschen Heterotopie benennt, vereinfacht gesagt, abgegrenzte Räume, die innerhalb einer Kultur nach ihren eigenen Regeln funktionieren, wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Bordelle.
Mit Foucault bezeichnet Sasha J. Blondeau seinen 2019 erfolgten, „absolut befreienden“ Geschlechtswechsel als „Gender-Heterotopie“ („hétérotopie de genre“). Diese Ortsbestimmung reflektiere er nun in seiner Musik: „Nicht in einem Versuch der wörtlichen Umsetzung, sondern weil das Leben in diesem Intervall – diesem unendlichen Ort zwischen zwei existierenden Punkten, die aber nur die Enden eines riesigen Feldes von Möglichkeiten sind – mich veranlasst, bestimmte Grenzen zu überdenken und die vielen wohldefinierten Kategorien als Spektren im Werden zu betrachten.“ Er stehe nun, so der junge Komponist, am Beginn einer Reise, „auf der man es manchmal wagen muss, blind voranzukommen.“
Von Licht durchbohrt Magnus Lindberg: Shadow of the Future
Zum Ensemble intercontemporain pflegt Magnus Lindberg seit vielen Jahren eine enge Beziehung. 1983 arbeitete er zum ersten Mal mit der Pariser Formation zusammen, etliche Werke und Konzerte folgten seitdem. Es hat die Verbindung zu einem der international führenden Neue-Musik-Ensembles nicht getrübt, dass sich der finnische, weltweit gefragte Komponist längst nicht mehr zur „Hardliner-Avantgarde“ zählt. Geboren 1958, suchte er früh die Abnabelung von der Sibelius-Tradition. Wie seine ebenso erfolgreiche Alters- und Landesgenossin Kaija Saariaho studierte er in Paris. Bei Gérard Grisey und Vinko Globokar erhielt er denkbar verschiedene Impulse. In den 80er Jahren schrieb Lindberg nervöse, fast gewalttätig kraftvolle Musik mit massiven, schockhaften Ausbrüchen, die sich ganz auf die Parameter Harmonik und Rhythmik konzentrierten – getreu seiner Maxime „Nur die Extreme sind interessant“.
In den Neunzigern erweiterte Lindberg seine Ausdruckspalette um die Melodie, und in seinen jüngeren Werken verarbeitet er auch zitathafte Anspielungen auf frühere Musikepochen – sogar Verweise auf Sibelius sind zu entdecken. Seit seinen kompositorischen Anfängen ist Lindberg erklärter Liebhaber eines möglichst großen Instrumentalapparates, den er virtuos und farbig einzusetzen weiß – was ihm mit Aufführungen durch namhafte Orchester gedankt wird. In Shadow of the Future stellte er sich der Aufgabe, für nur 27 Instrumente zu schreiben und dabei ein Maximum an Klangfülle und -variabilität zu erzielen. Von massiven Fanfarenblöcken bis zu filigranen Streicherverästelungen vermeint man beim bloßen Hören einen viel größeren Klangkörper vor sich zu haben. Jede Gruppe, ja jeden Spieler behandelt Lindberg dabei höchst individuell: „Ich wollte alle angebotenen Instrumentalkonfigurationen von der solistischen Linie bis zum Tutti erforschen – mit besonderer Aufmerksamkeit für ein Oboen-Duo, das in der Mitte des Stückes eine entscheidende Rolle spielt.“
Shadow of the Future bezieht sich im Titel auf das gleichnamige Gedicht (Framtidens skugga) der 1892 geborenen finnlandschwedischen Schriftstellerin Edith Södergran. Mit Södergrans Dichtungen beschäftigte sich Lindberg jüngst intensiv und wählte sie als Textgrundlage für sein Werk Triumph to Exist, das 2018 anlässlich der Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs uraufgeführt wurde. Södergran verbrachte den größten Teil ihres kurzen Lebens in einem Dorf in Karelien an der finnisch-russischen Grenze. Mit nur 31 Jahren starb sie an Lungentuberkulose. Innig vertraut mit dem deutschen Expressionismus, übertrug sie dessen Radikalität und Furor in die schwedische Sprache. Der Schatten der Zukunft ist auch der Titel ihres 1920 erschienenen vierten Gedichtbands. „Die Zukunft wirft ihren seligen Schatten auf mich; er ist nichts als fließende Sonne: von Licht durchbohrt werde ich sterben“ heißt es in Södergrans leuchtend-ekstatischen Versen, deren Vitalität hier nichts vom moribunden Körper der Autorin oder den Verwerfungen der Zeit spiegelt.
Södergrans Sprache und Haltung fesselten Lindberg noch während der Arbeit am anschließenden Kompositionsauftrag für das Ensemble intercontemporain. „Wenn ich an die Welt so denke, wie sie heute ist, und an all die Schatten, die unsere Zukunft verdunkeln, dann scheint mir dieser Optimismus wesentlich zu sein, um sie zu bewahren“, so der Komponist. Ihm ging es nicht um eine plakative Illustration dieser Gedanken oder inhaltliche Nachzeichnung des Gedichts. Stärker interessierte ihn das Spannungsfeld zwischen den Worten „Zukunft“ und „Schatten“: „Es ist fast ein Oxymoron oder zumindest von Natur aus eine anachronistische Vision, denn die Zukunft ist immateriell und damit physisch unfähig, einen Schatten zu werfen.“ Lindberg verweist in diesem Kontext auf Bernd Alois Zimmermanns Zeitphilosophie, die unterschiedliche zeitliche Dimensionen räumlich betrachtet. Aus dem „Schatten der Zukunft“ ragt das System der Pentatonik in die Gegenwart hinein. Die Verwendung einer Skala mit nur fünf (statt wie in der europäischen Kunstmusik sieben) Tönen ist seit Jahrtausenden in vielen Kulturkreisen verbreitet. Zu Zeiten Debussys und Strawinskys – Komponisten, die in Lindbergs vierteiligem Stück wiederholt anklingen – noch als gleichermaßen exotische wie archaische Blutzufuhr verwendet, scheint sich die Pentatonik nicht mehr in die extreme Ausdifferenzierung aktueller Musiksprachen zu fügen. Lindberg schätzt sie jedoch als „harmonisches Universum, das sehr komplex und von großer Ausdruckskraft ist“ und ihn daher auf seiner Suche nach einem konsonanteren harmonischen Feld begleitet – „einem Territorium, das den Klang in seiner spektralen Natur ausnutzt“.
In seinen kraftvoll aufsteigenden Blöcken und den verspielteren ornamentalen Linien beglaubigt Shadow of the Future diese Erkundung eines neuen Terrains zwischen den Zeiten und Zuständen: hier in perkussiver, rhythmisch betonter Härte, dort in arabeskenhafter Leichtigkeit, schließlich ausklingend in einem schwerelosen Schweben über den Dingen.
Das Göttliche im Kindlichen Claude Vivier: Hiérophanie
Seit einigen Jahren rückt das Werk Claude Viviers, das kaum von seinem Leben zu trennen ist, immer stärker von der Position eines „Geheimtipps“ in die Epizentren des Konzertlebens vor. So wurde in der letzten Saison an der Berliner Staatsoper Unter den Linden sein Musiktheater Kopernikus neu inszeniert. Die Musik des frankokanadischen Komponisten zeichnet sich durch eigenwillige Intensität und Transzendenz aus. Zwischenmenschliche Verständigung geschieht durch eine imaginäre Sprache – Laute, die Bedeutung suggerieren, aber doch ganz der Phantasie Viviers entsprungen sind. Die irgendwie exotisch klingenden Silben bedeuten auf der semantischen Ebene nichts, und dennoch tönt in ihnen ein ritualhafter, fast schamanischer Zauber nach. Vivier hatte ursprünglich vor, Geistlicher zu werden, doch seine Lehrer auf dem Priesterseminar hielten ihn wegen seiner Sensibilität und Reizbarkeit für nicht geeignet. Schon zuvor hatte er die Liebe zur Musik in einer Art Erweckungserlebnis für sich entdeckt. So studierte er also Komposition in Montréal; weitere Impulse empfing er von Karlheinz Stockhausen in Köln.
Viviers inniger Wunsch nach allumfassender Kommunikation erstreckte sich wie selbstverständlich auch auf wechselnde Beziehungen zu Männern und Frauen. Als er mit 34 Jahren in seiner Pariser Wohnung von seinem letzten Liebhaber getötet wurde, lag nebenan die Partitur eines unvollendeten Werks mit dem deutschen Titel Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele. Es mag Zufall gewesen sein, doch Liebe und Tod, Passion und Opfer waren in Viviers Denken ineinander verschränkt. Zugleich war seine Liebessuche auch Gottsuche, denn obgleich nicht mehr im dogmatischen Sinn katholisch, blieb für ihn doch der Glaube als Inspirationsquelle präsent. Er sah die Kunst als „heilige Handlung“, als „Freisetzung von Kräften“: „Ein Musiker sollte nicht Musik gestalten, sondern Momente der Offenbarung.“
Diesen Anspruch erfüllt auch Hiérophanie, ein Frühwerk, das 1970 nach dem ersten Besuch bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt konzipiert und in den folgenden Monaten ausgearbeitet wurde. Hymnen und Kinderlieder, Anrufungen und Ausbrüche fließen ineinander in einer Partitur, die über weite Strecken Raum für Improvisation und aleatorische Elemente lässt. Den elf Musikern ist dabei eine theatrale Rolle zugedacht: Sie teilen sich in drei Gruppen, reagieren aufeinander und erobern sich mit Gesten und Lauten in spielerischer Performanz den Saal. Die erste Gruppe (Holzbläser, erste Trompete, Posaunen) verkörpert die „liebende Menschlichkeit“. Als allegorische Figur des „Egoismus“ fungiert eine Gruppe aus zweiter und dritter Trompete sowie Horn. Das Schlagwerk, dominiert von Glocken und Gongs, steht für die „Transzendenz“. Aus der gestischen und musikalischen Interaktion dieser drei Gruppen entsteht ein kreativer, teils selbstbestimmter Dialog, dem trotz aller Entfesselung doch eine spirituelle Gefasstheit eignet – spätestens, wenn sich auch die Sopranistin einschaltet. Nach einem animalischen Schrei intoniert sie eine der Delphischen Hymnen, die zu den wenigen musikalischen Zeugnissen aus dem antiken Griechenland gehören, und wechselt schließlich zur marianischen Antiphon des „Salve Regina“.
Vivier verknüpft die Zeiten und Religionen zu einem mobileartigen Kontinuum, den „Schatten der Zukunft“ aus eigener Perspektive beleuchtend. Für die Gegenwart allerdings erschien das Werk wohl noch zu unzeitgemäß: Erst 2010, also 40 Jahre nach seiner Entstehung und 27 Jahre nach Viviers Tod, wurde Hiérophanie durch das Ensemble Musikfabrik beim WDR in Köln uraufgeführt.
Ganz am Schluss der Komposition liest der Hornist Passagen aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland – ein Schlüsselwerk für Vivier, der als Kleinkind adoptiert wurde und sich mit der Frage nach seiner Identität lebenslang herumschlug. Das Anarchisch-Infantile in Alice schlägt sich im lustvoll-unbekümmerten Summen und Singen der Musiker und ihrem spontanen Tausch der Instrumente nieder. Der Titel Hiérophanie (griech. hieros = heilig, phainein = enthüllen) verweist auf das „Aufscheinen des Heiligen im Profanen“, wie es der Religionswissenschaftler und Philosoph Mircea Eliade 1949 in Die Religionen und das Heilige definiert hat – Lektüre, die Vivier in sich aufsog. Und so wird die Alice-Rezitation nicht nur von szenischen und musikalischen Gesten begleitet, sondern auch durch die schlichte liturgische Melodie des „Salve Regina“, das Göttliche im Kindlichen zelebrierend.