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Arabic Music Days im Boulez Saal
Umm Kulthum und ihre Erbinnen
Die Arabic Music Days im Pierre Boulez Saal
Cornelia Wegerhoff
Ihr Gesang ist omnipräsent in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens: in den Taxis, in den Teehäusern und millionenfach angeklickt auf YouTube. Auch in den arabischen Radiosendern gehören ihre Lieder noch immer zu den meistgespielten. Die Gesichter der Menschen verändern sich, wenn sie dem markanten dunklen Timbre lauschen. Sie beginnen zu lächeln, wirken entrückt, preisen gar den Allmächtigen; in Algier und in Amman, in Bagdad und Beirut, in Kharthum und Kairo. Umm Kulthum – das ist eine der lebendigsten Stimmen der arabischsprachigen Welt. Auch 44 Jahre nach ihrem Tod.
Die Arabic Music Days – zum dritten Mal findet das Festival im Pierre Boulez Saal statt – verstehen sich in diesem Jahr als Hommage an die legendäre ägyptische Sängerin, an ihr Leben und (Nach-) Wirken. „Umm Kulthum hat in der arabischen Musikwelt für Jahrzehnte Maßstäbe gesetzt“, erklärt Naseer Shamma, der auch diesmal wieder als Kurator für das Programm verantwortlich ist. „Ihre Stimmgewalt, ihre emotionale Kraft, ihr künstlerisches Werk, unterstützt von den bekanntesten arabischen Komponisten und Dichtern ihrer Zeit, sind einzigartig. ‚Das Herz begehrt alles Schöne‘“, zitiert er einen berühmten Liedtitel Umm Kulthums, der längst zu einer festen Redewendung geworden ist. Das Herz der arabischen Welt, sagt Shamma, begehrt diese unvergleichliche Stimme.
Tief und volltönend schallte sie ab 1934 jeden Donnerstagabend über den Äther. In jenem Jahr hatte Umm Kulthum Ägyptens ersten Rundfunksender Radio Cairo eingeweiht, und seitdem trat sie dort wöchentlich ans Mikrophon, nahezu durchgehend bis 1973. Im gesamten Nahen Osten waren die Straßen dann oft wie leergefegt, verzichteten Könige und Präsidenten auf öffentliche Ansprachen und Auftritte – sie wussten genau, sie hätten kein Gehör gefunden, wenn Umm Kulthum sang.
Sie sang fast immer von der Liebe. Enta omri, „Du bist mein Leben“, heißt eines ihrer berühmtesten Lieder voller Zärtlichkeit und Sehnsucht. Doch auch der Schmerz des möglichen Verlustes des Geliebten klang immer mit. Minutenlang konnte die Sängerin allein den ersten Buchstaben eines Wortes in verschiedensten Tönen variieren, die Silben modulieren, ihnen so eine tiefere Bedeutung geben. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere nahm sich Umm Kulthum für ein einziges Lied bis zu zwei Stunden Zeit, immer wieder unterbrochen vom Raunen, vom Juchzen und Jubeln des Publikums. Mit einem Spitzentuch in der Hand, ihrem Markenzeichen (das Ende der 90er Jahre bei einer Auktion zusammen mit einer ihren dunklen Brillen für etwa fünf Millionen Dollar versteigert wurde), gab sie den Musikern Zeichen. Und gleichzeitig „dirigierte“ sie ihr Publikum, ließ es durch seinen Zwischenapplaus regelrecht mitwirken. Als Umm Kulthum am 3. Februar 1975 starb, versammelten sich mehr als vier Millionen Ägypter ihr zu Ehren auf den Straßen.
Musikalisches Vorbild für Generationen
Bei den Arabic Music Days sind Umm Kulthums moderne Erbinnen zu Gast im Pierre Boulez Saal. Die drei Musikerinnen fühlen sich allesamt durch die Ikone vom Nil inspiriert. „Das erste Lied, das ich auf meiner Oud gelernt habe, war von Umm Kulthum“, erinnert sich die syrische Musikerin Waed Bouhassoun, Sängerin und Virtuosin auf der arabischen Laute. Auch Farida Mohamed Ali aus dem Irak begeistert sich seit ihrer Kindheit für Umm Kulthum und ist inzwischen selbst zu einer „Umm“ geworden, zur hochgeachteten „Mutter“ des traditionellen Maqam-Gesangs. Und die Ägypterin Mai Farouk bringt die Lieder ihrer großen Vorgängerin neu auf die Bühne, auch bei ihrem Konzert in Berlin. „Sie ist die derzeit beste Umm Kulthum-Interpretin“, sagt Kurator Naseer Shamma. Die legendäre Sängerin zu hören und zu sehen, sei „wie eine Schule“, erklärt Mai Farouk – nicht nur die Sangeskunst könne man von ihr lernen, sondern auch die Kunst des Auftritts, Umm Kulthums Respekt für das Publikum und für sich selbst, ihre Würde. In die Wiege gelegt wurde der Künstlerin das alles nicht. Als Fatima Ibrahim El-Sayyid El-Beltagi kam sie in einfachen Verhältnissen zur Welt, in einem Dorf im Nildelta, wahrscheinlich am 4. Mai 1904, mutmaßen ihre Biographen. Auf dem Land wurden Geburten zu jener Zeit oft nicht gemeldet, vor allem bei Mädchen. Bekannt ist, dass der Vater Imam, Vorbeter, in der örtlichen Moschee war. Doch um die Familie zu ernähren, musste er Geld dazu verdienen und zog deshalb mit Sohn und Neffen über die Dörfer, um auf Hochzeiten zu singen und den Koran zu rezitieren. Bereits mit fünf Jahren soll Fatima, die schon zuhause Umm Kulthum gerufen wurde, die Suren auswendig nachgesungen haben. Der Vater erkannte bald ihr Talent und nahm sie mit, wenn er mit seinem kleinen Ensemble unterwegs war. Gekleidet wurde die Tochter allerdings als Junge – der öffentliche Auftritt eines Mädchens verstieß zu dieser Zeit gegen den Anstand.
„Ein Mädchen vom Lande“
Ihrem Drängen, gleich ihren männlichen Altersgenossen die Koranschule besuchen zu dürfen, gab der Vater jedoch nach. Auch die Mutter stärkte ihr den Rücken, erzählte Umm Kulthum einmal selbst. Als ihr Vater den Unterricht aus finanziellen Gründen beenden wollte, setzte die Mutter sich durch. Das konzentrierte Auswendiglernen, die präzise Aussprache der Korantexte, die Kunst der gesanglichen Improvisation, bei der sich mit jeder Wiederholung die emotionale Intensität steigert – dies alles schuf die Grundlage für Umm Kulthums künstlerische Karriere. Sie selbst betonte später gern ihre einfache Herkunft und damit ihre Nähe zum Volk. Sie sei ein „bent al-balad“, ein „Mädchen vom Lande“, sagte sie in Interviews.
Schon im Teenager-Alter zog die außergewöhnliche Stimme die Aufmerksamkeit bekannter Künstler auf sich, unter ihnen Scheich Mohamed Abu Al-Ela, damals der angesehenste religiöse Sänger in Ägypten. Er wurde zu einem von Umm Kulthums Mentoren. Von ihnen lernte sie das klassische arabische Liedrepertoire, wurde ermutigt, nicht mehr nur auf dem Land, sondern vor ausgewähltem
Publikum auch in Ägyptens Hauptstadt aufzutreten.
Nach langen familiären Diskussionen zog Umm Kulthum schließlich 1923 mit Vater und Bruder nach Kairo. Dort nahm sie Gesangsunterricht, lernte Oud spielen, erneuerte ihr Repertoire und passte sich dem eleganten Stil der Damen aus den gehobenen Schichten an. Erste Tonaufnahmen entstanden, Schallplattenverträge wurden geschlossen. Mit Mitte 20 war die Ägypterin in ihrer Heimat bereits ein gefeierter Star.
Auf der Bühne entwickelte sie dabei ihren ganz eigenen elegantfemininen Stil und distanzierte sich damit optisch vom ägyptischen Unterhaltungsmilieu, das damals einen anrüchigen Ruf hatte. Obgleich sie viele Liebeslieder sang, blieb sie damit die Frau, die den Koran rezitieren konnte, wurde respektiert und geehrt.
„Planet des Ostens“
Um das Phänomen Umm Kulthum in Worte zu fassen, suchen die westlichen Medien von jeher nach Vergleichen. Geht es um Berühmtheit und Einfluss der Ägypterin, wird sie in einem Atemzug mit Nofretete und Kleopatra genannt. In musikalischer Hinsicht hat man sie als „arabische Maria Callas“ bezeichnet, aber auch mit Joan Sutherland und Ella Fitzgerald verglichen. Und bei ihrem Publikum, bemerkte eine amerikanische Feuilletonistin, löse sie eine ekstatische Begeisterung aus wie Elvis Presley. In Berichten über Umm Kulthum ist oft vom „Stern des Orients“ zu lesen. Arabischsprachige Bewunderinnen haben darüber hinaus andere Metaphern gefunden. Farida Mohamed Ali nennt Umm Kulthum lieber „kaukab el shark“, den „Planeten des Ostens“. Sterne können verglühen, Planeten bleiben ...
Bereits mit ihrer ersten internationalen Tournee 1932 eroberte Umm Kulthum den Nahen Osten. Zu diesem Zeitpunkt war sie 28 Jahre alt und sang unter anderem in Tripolis, Damaskus, Bagdad und Beirut. Wenig später begann sie ihre zweite Karriere als Schauspielerin und wirkte in den damals beliebten Musikfilmen mit. Bei öffentlichen Auftritten musste die Polizei Sondereinheiten einsetzen, um die Massen unter Kontrolle zu halten. Nicht zuletzt aufgrund der glanzvollen Auftritte Umm Kulthums werden die 1940er und 1950er Jahre in der arabischen Kulturwelt als ein „Goldenes Zeitalter“ bezeichnet.
Die Erinnerung an diese Ära lässt die Menschen in der Region über alle Ländergrenzen und Konflikte hinweg nostalgisch werden. „Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die vor allem die Lieder dieses goldenen Zeitalters liebte“, erinnert sich Waed Bouhassoun. Die Familie habe sie auch dabei unterstützt, Musikerin zu werden, und sie ermutigt, zum Studium nach Paris zu gehen. Mit Hilfe der Musik lasse sich immer etwas Schönes schaffen, sagt Bouhassoun – auch zusammen mit Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlicher Kulturen.
Mai Farouk spricht ebenso über den starken Rückhalt, den sie durch ihre Familie erfuhr. Bereits als Mädchen hat sie im Kinderchor der Kairoer Oper gesungen, damals auch schon Lieder von Umm Kulthum. Farida Mohamed Ali ging unterdessen neue Wege. Die irakischen Maqams, die sogenannten „maqam al-baghdadi“, die ihren Ursprung im alten Mesopotamien haben, wurden früher nur von Männern interpretiert, wie sie erklärt. Dennoch gelang es ihr, in diesem Genre als Frau akzeptiert und überaus erfolgreich zu werden. Später unterrichtete Farida Mohamed Ali die traditionelle Musikkunst als Hochschuldozentin in Bagdad. Inzwischen lebt sie in den Niederlanden, vertritt den Irak jedoch seit vielen Jahren auch bei internationalen Konzerten. Alle drei Musikerinnen verkörpern das Selbstbewusstsein starker, eigenständiger und unverwechselbarer Künstlerinnen.
Doch es war Umm Kulthum, die als Erste ihrer Zeit einen neuen weiblichen Künstlertypus in der arabischen Musikwelt prägte. Schon bald nach den frühen Erfolgen kontrollierte sie ihre Karriere selbst, überließ nichts dem Zufall, handelte persönlich ihre Verträge aus. Ihr musikalisches Talent sei ein Geschenk Gottes gewesen, sagt Naseer Shamma, aber Umm Kulthum habe auch konsequent an ihrem Erfolg gearbeitet und sich nur mit den Besten ihres Fachs zusammengetan. Der berühmte ägyptische Dichter Ahmed Rami, der sich auch als Shakespeare-Übersetzer einen Namen gemacht hat, schrieb allein 137 Lieder für sie. Die beiden sollen auch privat eng verbunden gewesen sein. Was die Sängerin nicht davon abhielt, seine und andere Lieder, Texte und Noten so lange umzuarbeiten, bis sie ihr persönlich zu hundert Prozent zusagten und ideal auf ihre Ausdrucksfähigkeiten abgestimmt waren.
Ihr Ruhm brachte Umm Kulthum immer wieder auch in die Nähe der Mächtigen. Sie sang vor dem ägyptischen König Faruk, der sie offenbar sehr verehrt hat, und gratulierte der Schwester des Königs mit einem Lied zu ihrer Hochzeit mit dem späteren Schah von Persien. Doch nach der ägyptischen Revolution 1952 trat Umm Kulthum ebenso vor Staatspräsident Gamal Abdel Nasser auf. Auch er bewunderte sie zutiefst. Ihre Popularität nutzte dem ehemaligen General – und als starke Frau genoss sie ganz sicher ihren Einfluss. Vor allem aber machte ihr Patriotismus die Sängerin zu einem unumstrittenen nationalen Symbol. „Umm Kulthum und die Pyramiden sind ewige Werte“, schwärmt man in Ägypten bis heute – und lässt so gut wie keine Kritik an ihr gelten. Mit ihren Liedern, die in der mehr als tausendjährigen arabischen Musiktradition wurzeln, stärkte sie auch die Verbundenheit zwischen den arabischen Staaten. Die Londoner Times schrieb über Umm Kulthum: „Abgesehen vielleicht von Nasser ist sie die stärkste Verkörperung panarabischen Fühlens.“
Nach der Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg von 1967 unternahm die Sängerin eine Tournee durch zahlreiche arabische Länder. Danach trat sie zweimal im Olympia in Paris auf – die einzigen Konzerte in Europa, die sie je gegeben hat. Mit den Gagen unterstützte sie den Wiederaufbau der ägyptischen Armee. Auch für den (auf israelischer Seite als Jom-Kippur-Krieg bezeichneten) Oktoberkrieg 1973 habe sie Millionen gesammelt, heißt es. Das Geld stammte zum Teil wohl auch von den Scheichs aus den Staaten am Persischen Golf, die es sich große Summen kosten ließen, Umm Kulthum bei ihren Auftritten in Kairo live zu erleben. Von Libyens Muammar al-Gaddafi wird berichtet, er habe den Staatsstreich gegen König Idris eigens verschoben, weil Umm Kulthum am ursprünglich geplanten Tag in Tripolis ein Konzert gab.
Trotz allem – was erstaunen mag – ist die Sängerin bis heute auch in Israel populär. „Es stand in Israel niemals zur Diskussion, sie wegen ihres Hintergrundes abzulehnen“, erklärte der bekannte Kanun-Spieler Elad Gabbay vom jüdischen Musikforschungszentrum in Jerusalem über Umm Kulthum in einem Interview. „Musik ist Kunst und Kunst ist Freude. Wir lieben sie, denn ihre Musik ist wunderbar.“
Über das Privatleben der viel bewunderten Künstlerin ist im Übrigen wenig bekannt. Sie war mit einem renommierten Arzt verheiratet, hatte aber keine Kinder. Stattdessen wurde sie zur Mutter des ägyptischen Volkes. Als sie 1975, zwei Wochen vor ihrem Tod, in ein Kairoer Krankenhaus eingeliefert wurde, boten sich Tausende als Spender für Nieren und Blut an. Während des Trauerzugs nahmen die Bewohner der Hauptstadt den offiziellen Trägern den Sarg aus den Händen und trugen ihn selbst stundenlang durch die Straßen und Gassen. Umm Kulthums Musik ist lebendig geblieben – nicht zuletzt dank ihrer Erbinnen, die ihr in diesen Tagen im Pierre Boulez Saal ein klingendes Denkmal setzen.