7 minute read

Etüde und Exzess

Klaviermusik von Bach bis Ligeti

Wolfgang Stähr

Wie ein Haussegen

Wenn der Tag anbrach, begab sich Pablo Casals zum Klavier und spielte Bach, an jedem Morgen, ein geliebtes, in langen Jahren niemals vernachlässigtes Ritual. „Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen“, bekannte er. „Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue.“ In diesem Geist lässt sich das Leben offenbar glücklich bestehen, bis in ein hohes, biblisches Alter, wie es dem spanischen Cellisten beschieden war. Mit Dankbarkeit begann er seine Tage: mit Bachs Musik, die ihm Wegweisung war, Meditation, ein klarer Spiegel und ein Himmelszeichen.

Bach legt den Grund und bezeichnet den Anfang. Als er seine Englische Suite in a-moll BWV 807 schrieb, setzte er ein Prélude an den Beginn, das weniger ein Vorspiel als vielmehr selbst bereits die Hauptsache zu sein scheint – und obendrein wie der Kopfsatz eines imaginären Konzertes klingt. Ja, der Wechsel zwischen dem Ritornell und den Episoden (symbolisch zwischen Tutti und Solisten) gemahnt unverkennbar an die Concerti der italienischen Zeitgenossen Albinoni, Torelli und Vivaldi, auf deren Spuren Bach wandelte, nicht nur dies eine Mal. Dem verheißungsvollen Präludium folgt (der Name ist Programm) die Suite der Tänze, Allemande – Courante – Sarabande – Gigue, ein seit den 1670er Jahren in Deutschland etabliertes Satzmuster, das einer klugen Dramaturgie gehorchte, Abwechslungsreichtum versprach und zugleich das Formgefühl wahrte. Der Sarabande stellte Bach ein Double an die Seite, eine verzierte Wiederholung im reichen Ornamentalstil der französischen Clavecinisten. Und auch den nachfolgenden Satz, eine Bourrée, präsentiert er in zweierlei Gestalt. Es war guter Brauch, derlei Modetänze, „Galanterien“, wie man diese Stücke leichteren Charakters gelegentlich nannte, in die traditionelle Suite einzurücken: nach der Sarabande und vor der Gigue.

Doch warum um alles in der Welt wurde die sechsteilige Sammlung, der diese Suite entnommen ist, unter dem Namen Englische Suiten bekannt? Schon Bachs erster Biograph Johann Nikolaus Forkel wusste nur noch vom Hörensagen zu berichten, dass dieser Zyklus ursprünglich „für einen vornehmen Engländer“ bestimmt gewesen sei. „Fait pour les Anglois“ (also „die Engländer“ im Plural) vermerkte Bachs jüngster Sohn Johann Christian auf einer Abschrift der Suiten. Auch die Tatsache, dass in den Hauptquellen der Überlieferung das obere System im Violinschlüssel notiert ist, wie er damals nur in englischer Tastenmusik üblich war, während man im deutschsprachigen Kulturraum noch bis in Mozarts Tage den Diskantschlüssel favorisierte, lenkt die Vermutungen nach England. Und da die Mehrzahl der Suiten wahrscheinlich in Bachs Köthener Jahren entstanden ist, zwischen 1717 und 1723, und Bachs damaliger Dienstherr, der kunstsinnige Fürst Leopold, diplomatische Beziehungen mit Großbritannien unterhielt, schließt sich die Indizienkette. Wie auch immer: An den Suiten selbst ist rein gar nichts „englisch“ – bis auf den mutmaßlichen Auftraggeber.

Was zu sagen war

Im Unterricht bei Arnold Schönberg ging es, zwei Jahrhunderte später, noch immer recht barock zu: Gediegenheit, Handwerk und Gelehrsamkeit standen in höchstem Ansehen, und die großen historischen Vorbilder, vornehmlich die deutschen Meister von Bach bis Brahms, wurden eingehend studiert und ergründet. Der Fortschritt war, wie Schönberg wusste, eine ausgesprochen konservative Angelegenheit. Seine Schüler weihte er in die Geheimnisse Johann Sebastian Bachs ein, um ihnen so die Urgründe der Neuen Musik nahezubringen: das „instinktive Denken in mehrfachem Kontrapunkt“, die Technik der „entwickelnden Variation“, die Verfügungsgewalt über alle zwölf Töne der chromatischen Skala. Allen voran Alban Berg, der ab 1904 Schönbergs Lektionen empfing, zeigte sich begeistert und nachgerade besessen von dem Ideal einer „unerhörten Melodik, die sich’s an einer Stimme nicht genugtut, sondern im ununterbrochenen Kontrapunkt vieler gleich schöner Themen fortschreitet“. In diesem Geist und Anspruch komponierte Alban Berg vermutlich 1909 seine Klaviersonate op. 1, sein „Gesellenstück“, das eigentlich in drei Sätzen geplant war, doch wollte dem jungen Komponisten nach dem ersten „lange nichts rechtes einfallen“. Schönberg gab ihm den lebensklugen Rat: „Nun, dann haben Sie eben alles gesagt, was zu sagen war!“ Und dieser Eindruck stellt sich unweigerlich beim Hören der Sonate ein: dass „alles gesagt“ sei, in der komprimiertesten Form, unter äußerstem emotionalem und intellektuellem Hochdruck, dass jede Note spricht, jedes Intervall etwas zu besagen hat, jedes Motiv schwer an seiner Bedeutung trägt. Dieses Opus 1 erweist sich als ein Extremfall ambitionierter Tonkunst – eine Talentprobe von erdrückender Selbstdisziplin.

Subversive Studien

Übung macht den Meister. Dieser zeitlos spröde Satz ließe sich auch umkehren und von rechts nach links lesen: Der Meister denkt sich Übungen aus. Die können, wie die Bachschen Unterrichtswerke, „zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend“ ausgelegt sein. Wenn sie allerdings, wie namentlich die Études d’exécution transcendante des „Claviator maximus“ Franz Liszt, die avancierteste Virtuosität ausreizen, steht die Meisterschaft offenbar nicht am Ende, sondern am Beginn der Exerzitien: als deren Voraussetzung, nicht als fernes Ziel. Franz Liszts in jeder Hinsicht progressive Studien öffnen sich aber, nicht anders als die Études Symphoniques seines ungleichen Zeitgenossen Robert Schumann, dem kompositorischen Experiment, das sich freilich nicht vom primär pianistischen Wagemut trennen lässt. Weil es daneben jedoch (für Klavierschüler: in erster Linie) Etüden der mechanischen und stereotypen Art gibt, eintönige Stücke von lebensunfrohem Drill, provozierte die pädagogische Disziplin immer auch den Widerwillen, den Ungehorsam, subversiven Humor bis hin zu subtilen Sabotage- und Racheakten.

Wie in György Ligetis erstem, 1985 publiziertem Band mit Etüden für Klavier (dem noch zwei weitere folgen sollten). Gleich die allererste trägt wie zur Warnung die Überschrift „Désordre“, und der Eindruck von Chaos entsteht, indem die rechte Hand nach ein paar Takten nicht mehr weiß, was die linke tut. Die Akzente klappern und stolpern hinterdrein, der motorische Gleichlauf gerät zum Systemfehler, zumal die eine Hand ausschließlich auf den weißen, die andere auf den schwarzen spielt: Diatonische Skala und pentatonischer Modus behaupten ihr Eigenleben, die buchstäblich konkurrierenden Ordnungen sorgen für die größtmögliche Unordnung. Ligeti gibt in dieser wie in anderen seiner Etüden obendrein dem Reiz nach, der elementaren, beinah kindlich ursprünglichen Neugierde, die Klaviatur bis zum Extrem auszuprobieren: klirrende, klingelnde Höhe, krachende, knarzende Tiefe. In der dritten Etüde („Touches bloquées“) erlaubt sich Ligeti den hintersinnigen Spaß, einzelne Tasten zu „blockieren“, stumm niedergedrückt zu halten, um mit dieser obstruktiven Methode den fleißig fortlaufenden Achteln unregelmäßige Aussetzer einzukerben, negative Töne, bis am Ende fast nichts mehr zu hören ist, trotz aller Fingerfertigkeit. „Wie kam ich auf die Idee, hochvirtuose Klavieretüden zu komponieren? Der auslösende Umstand war vor allem meine ungenügende pianistische Technik“, gestand György Ligeti. „Ich wäre so gern ein fabelhafter Pianist! Ich verstehe viel von Anschlagsnuancen, Phrasierung, Agogik, vom Aufbau der Form. Und spiele leidenschaftlich gerne Klavier – doch nur für mich selbst.“ Die vierte Etüde exponiert die titelgebenden „Fanfares“ über einem Ostinato im „bulgarischen Rhythmus“ (3 + 2 + 3) aus der unbegrenzten balkanischen Volksmusik, und sie nutzt die wechselnde Dynamik („da lontano“, „näher“, „entfernter“), um den zwei Dimensionen der Notation eine dritte des Raumes hinzuzufügen. Die verfremdeten Hornquinten dieser vierten erschließen wie die „leeren Saiten“ der zweiten Etüde („Cordes à vide“) Perspektiven auf andere Instrumente – und auf einfache akustische Phänomene, aus denen sich wunderbar die versponnensten und verstiegensten musikalischen Gebilde ableiten lassen. Den „Regenbogen“ („Arc-en-ciel“) verstand Ligeti als ein Beinahe-Jazzstück und zugleich als Hommage an Chopin, auch wenn der Satz in der Blindverkostung womöglich der Farbenmusik des späten Skrjabin zugeordnet würde (und damit einem Komponisten, den Ligeti „abscheulich“ fand). Die sechste und letzte Etüde, „Automne à Varsovie“, die den Zyklus mit einem „einstürzenden Abschluss“ beendet, nannte Ligeti ein Lamento. Und „eine Art Fuge“ mit Diminutionen und Augmentationen. Und außerdem einen Versuch mit simultanen Geschwindigkeiten,

„wobei die entsprechenden Akzente nicht nur zwischen den zwei Händen des Spielers, sondern zwischen verschiedenen Fingern derselben Hand verteilt werden“. Der Titel der Etüde, „Herbst in Warschau“, war aber auch als politisches Bekenntnis gedacht. Der ungarische Emigrant komponierte sie in Gedanken an die polnischen Freunde, an die verbotene Gewerkschaft Solidarność, an das vom Kriegsrecht gedemütigte Land. Keine Parolen – nur der Widerstand einer von Grund auf unbotmäßigen Kunst.

Feuriger, brausender, stürmischer

„Die Meisterwerke der Musik nehmen mehr und mehr die Meisterwerke der Literatur in sich auf.“ Getreu diesem Grundsatz wagte sich Franz Liszt, der 1848 ein rastloses Virtuosendasein gegen das ortsgebundene Amt des Großherzoglichen Hofkapellmeisters in Weimar getauscht hatte, an langgehegte, oft erwogene und verschobene Pläne und schrieb außer einer Symphonie zu Dantes Divina Commedia auch Eine Faust-Symphonie in drei Charakterbildern nach Goethes Tragödie: monumentale Vorhaben, die nur ein Musiker in Angriff nehmen konnte, der alle Selbstzweifel an seiner musikalischen Vollmacht überwunden hatte. Als „Parerga“ oder, wie er scherzhaft behauptete, „als Dessert“ zur Faust-Symphonie komponierte Liszt in den späten 1850er Jahren noch zwei Episoden nach dem Faust-Gedicht des Österreichers Nikolaus Lenau. Die zweite, „Der Tanz in der Dorfschenke“, erschien 1862 zunächst jedoch als Konzertstück für Klavier (zu zwei und zu vier Händen) unter dem Haupttitel Mephisto-Walzer. Und obgleich Liszt diese Fassung nominell zu einer „Pianoforte Transcription“ herabstufte, war sie doch mehr oder minder gleichzeitig und gleichberechtigt mit der Version für großes Orchester entstanden.

Faust und Mephistopheles – davon handelt die Lisztsche Tondichtung – mischen sich unter die Hochzeitsgesellschaft in einem Landgasthaus. Mephisto bringt die biederen Dorfmusikanten zum Schweigen und greift selbst nach der Violine. Mit seinem Spiel, mit seiner betörenden, verstörenden, unheilvoll enthemmenden Musik versetzt er die Tänzer in besinnungslose Verzückung: „Und feuriger, brausender, stürmischer immer, / Wie Männergejauchze, Jungferngewimmer, / Erschallen der Geige verführende Weisen, / Und Alle verschlingt ein bacchantisches Kreisen.“ Franz Liszt war ohne Zweifel der berufene Komponist, eine solche musikalische

Verführungskunst zu zelebrieren. Er hatte in Paris die magische Wirkung des „Teufelsgeigers“ Nicolò Paganini auf das Publikum erlebt. Vor allem aber wusste er selbst, aus eigener Erfahrung, wie ein Auditorium zu gewinnen und gewissermaßen zu hypnotisieren war. Amy Fay, Liszts amerikanische Schülerin, berichtete aus ihrer Studienzeit: „Liszt fasziniert die Menschen schon durch seine ganze Art, wie er die Bühne betritt. Er reckt sein stolzes Haupt ruckartig in die Höh’, wirft einen zündenden Blick aus seinem Adlerauge und setzt sich mit einer Miene, als wolle er sagen: ‚Jetzt werde ich genau das mit euch machen, was mir beliebt, und ihr seid nichts als meinem Willen unterworfene Marionetten.‘“ Zwar fällt es schwer, angesichts der Güte, der menschlichen Größe, die Liszt auszeichneten, seinem Charakter einen „diabolischen“ Zug zu unterstellen. Doch dass er um die dunklen, demagogischen Seiten der Musik wusste, eine Macht, zu verlockend, um ihr zu entsagen, steht außer Frage.

Das Zauberwort

Sonate oder Fantasie? „Was liegt am Namen!“, rief Robert Schumann selbstbewusst aus. Im Laufe des Jahres 1836 komponierte er eine „Große Sonate für das Pianoforte“, und die Satzüberschriften, die ihm anfangs vorschwebten – „Ruinen, Trophaeen, Palmen“ –, lassen schon erkennen, wohin die Reise ging. Für den zweiten Satz zog er später die Titel „Triumphbogen“ oder „Siegerbogen“ in Erwägung; der dritte sollte zeitweilig „Sternenkranz“ oder „Sternbild“ heißen. Schließlich rückte Schumann von der Klassifizierung der drei Stücke als „Sonate“ ganz ab und entschied sich – nach einer vorübergehenden Vorliebe für den Namen „Dichtungen“ – zugunsten der angemesseneren Bezeichnung als „Phantasie“, unter der die drei (jetzt nur noch mit Tempo- und Vortragsangaben überschriebenen) Sätze 1839 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschienen: Schumanns Opus 17.

In einem Brief an Clara Wieck betonte der Komponist: „Die Phantasie kannst Du nur verstehen, wenn Du Dich in den unglücklichen Sommer 1836 zurückversetzt, wo ich Dir entsagte; jetzt hab’ ich keine Ursache, so unglücklich und melancholisch zu componiren“ – wie in der Entstehungszeit dieser Musik, als Friedrich Wieck, Schumanns künftiger Schwiegervater wider Willen, jeglichen Kontakt zwischen seiner Tochter und seinem Schüler unterband und Schumann damit in schiere Verzweiflung stürzte. Der erste Satz der C-Dur-Fantasie sei, verriet Schumann seiner Braut, „wohl mein Passionirtestes, was ich je gemacht – eine tiefe Klage um Dich“.

Schumann stellte seiner Fantasie ein Motto voran, das sich eher wie ein Rätsel liest, ein Zitat aus dem Gedicht Die Gebüsche, das er in Friedrich Schlegels Zyklus Abendröte entdeckt hatte. „Durch alle Töne tönet / Im bunten Erdentraum / Ein leiser Ton gezogen / Für den, der heimlich lauschet“. Bedenkt man, wie reich Schumanns Musik an geheimen und verschlüsselten, exklusiv für Clara Wieck bestimmten Botschaften ist, so erschließt sich ein autobiographischer Sinn dieser Zeilen: „Der ‚Ton‘ im Motto bist Du wohl? Beinahe glaub ich’s“, erklärte ihr Schumann. Aber Schlegels Worte beschreiben vor allem den zentralen Gedanken der romantischen Musikanschauung, wie er auch aus Eichendorffs Wünschelrute vertraut ist: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ E.T.A. Hoffmann nannte die Musik eine „geheimnisvolle, in Tönen ausgesprochene Sanskritta der Natur“. Das ganze Werk Robert Schumanns war eine einzige Suche nach jenem „leisen Ton“, dem „schlafenden Lied“, der „Sanskritta der Natur“. Die Antwort eines Romantikers auf die Frage, was das eigentlich bedeute: Musik zu verstehen.

This article is from: