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Jörg Widmann und Mitsuko Uchida
Tönende Romantik
Werke für Klarinette und Klavier von Schubert bis Widmann
Michael Kube
„Ach wenn wir nur auch clarinetti hätten! – sie glauben nicht was eine sinfonie mit flauten, oboen und clarinetten für einen herrlichen Effect macht!“ Voller Begeisterung notiert Wolfgang Amadeus Mozart diese Worte am 3. Dezember 1778 in einem Brief an seinen Vater aus Mannheim, dessen Hofkapelle damals eines der berühmtesten Orchester Europas war. Tatsächlich war die bautechnisch erst wenige Jahrzehnte zuvor aus dem Chalumeau hervorgegangene Klarinette zu jener Zeit noch ein vollkommen neues Instrument. Mit ihrer klanglichen Vielfalt in gleich drei charakteristischen Registern stellte sie bald eine willkommene Bereicherung des Orchesters dar. In der Konzert- und Kammermusik konnte sich die später als Soloinstrument beliebte und in vielen unterschiedlichen Stilen heimisch gewordene Klarinette allerdings zunächst nicht durchsetzen. Sie avancierte vielmehr in den Militärkapellen nach einer Einschätzung aus dem Jahre 1841 zu einem der „gebräuchlichen und auch wichtigen Blasinstrumente.“ So mag es kein Zufall sein, dass nahezu alle großformatigen Kompositionen für Klarinette (nicht nur Konzerte, sondern auch Quintette und Sonaten) erst durch das versierte Spiel virtuoser Interpreten angeregt werden mussten – bei Mozart (durch Anton Stadler) und Carl Maria von Weber (durch Heinrich Joseph Baermann), wie auch später noch bei Louis Spohr (durch Simon Hermstedt) und Johannes Brahms. Entstanden ist auf diese Weise ein Repertoire, das die Sphäre der Romantik geradezu idealtypisch verkörpert.
Reife Klangfarben Johannes Brahms: Sonate für Klarinette und Klavier f-moll
Dass Brahms sich am Ende seines Lebens in den 1890er Jahren nochmals der Kammermusik zuwandte und einen Reigen von Werken mit obligater Klarinette komponierte, ist auf die Bekanntschaft mit Richard Mühlfeld, dem Klarinettisten der Meininger Hofkapelle zurückzuführen. Von Brahms als „der beste Meister seines Instruments“ beschrieben, machte er den Komponisten mit den technischen und klanglichen Möglichkeiten dieses an Farben so reichen Instruments vertraut. Aus den so empfangenen Anregungen gingen im Frühsommer 1891 zunächst das Trio für Klarinette, Cello und Klavier op. 114 und das Klarinettenquintett op. 115 hervor, im Sommer 1894 folgten die beiden Klarinettensonaten op. 120 – überhaupt zwei der letzten von Brahms vollendeten Kompositionen. Nach mehr als 40 Jahren schöpferischer Tätigkeit gelang dem Komponisten mit diesen Werken noch einmal Herausragendes, was sicherlich auch damit zusammenhängen mag, dass ihm die Klarinette als ideales Instrument erscheinen musste, die ihm eigene Melancholie in allen Facetten auszudrücken. In der Sonate geschieht dies in f-moll – einer Tonart, die einen dunklen, wenn nicht gar tragischen Charakter in sich birgt und bei Brahms selten Verwendung fand, etwa in der Klaviersonate op. 5 und dem Klavierquintett op. 34. Auf Streichinstrumenten nicht sonderlich bequem zu spielen, liegt sie auf der Klarinette sehr gut und kommt ihrer Seele sehr nahe – so wie auch Brahms seine Melodien ganz aus ihrem Klang und den Registerwechseln entwickelte, vom nachdenklichen Kopfsatz bis zur verhaltenen Gelöstheit des Finales. Oder wie Max Kalbeck es in seiner zeitlich noch ganz nahe stehenden Biographie beschreibt: „Brahms brauchte den schneidenden und schluchzenden Klang des damit verbundenen, der Klarinette erlaubten, ihr besonders eigentümlichen jähen Registerwechsels, um der Klage seiner Melodie den tiefergehenden Ausdruck zu geben.“
Romantische Wurzeln Alban Berg: Vier Stücke für Klarinette und Klavier
Wie sehr die Klangsprache der Romantik in der Musik Alban Bergs fortlebt, lässt sich in geradezu berückender Klarheit an den 1913 vollendeten Vier Stücken für Klarinette und Klavier op. 5 erkennen. Sie entstanden nach dem regelmäßigen Kompositionsunterricht in einer Zeit der stilistischen Orientierung, in der ganz unterschiedliche Gattungen und Besetzungskonstellationen bedacht wurden: von der einsätzigen Klaviersonate op. 1, den Vier Liedern op. 2 und dem zweisätzigen Streichquartett op. 3 (alle 1910 veröffentlicht) über die zwei Jahre später komponierten Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg op. 4 bis zu den großformatigen Drei Stücken für Orchester op. 6 von 1914. Der verhältnismäßig geringe schöpferische Ertrag dieser Jahre hat freilich verschiedene (auch ökonomische) Ursachen, wie die zeitraubende Anfertigung der Klavierauszüge zu Schönbergs epochalen GurreLiedern und Franz Schrekers psychologisierender Oper Der ferne Klang. Mit einer Spieldauer von nur knapp acht Minuten hat Berg in der direkten Nachfolge von Schönbergs Klavierstücken op. 11 vier Sätze geschrieben, die von einer verblüffenden Kürze sind (und teilweise motivisch auf das Werk des Lehrers Bezug nehmen); dennoch handelt es sich der Idee nach nicht um Miniaturen, wie sie etwa Anton Webern geradezu radikal entwarf. Vielmehr löst Berg in seiner Komposition jene Idee ein, die Schönberg schon im August 1909 in einem Brief an Ferruccio Busoni formulierte: „Meine Musik muss kurz sein. Knapp! In zwei Noten: nicht bauen, sondern ausdrücken!! Und das Resultat, das ich erhoffe: keine stylisierten und sterilisierten Dauergefühle. Die giebts im Menschen nicht: dem Menschen ist es unmöglich, nur ein Gefühl gleichzeitig zu haben. Man hat tausende auf einmal. Und diese Buntheit, diese Vielgestaltigkeit, diese Unlogik, die unsere Empfindungen zeigen […], möchte ich in meiner Musik haben. Sie soll Ausdruck der Empfindung sein, so wie die Empfindung wirklich ist, die uns mit unserem Unbewußten in Verbindung bringt und nicht ein Wechselbalg aus Empfindung und ‚bewusster Logik‘.“
Aus dem Innersten Jörg Widmann: Fantasie für Klarinette solo
Noch im frühen 19. Jahrhundert gehörte für jeden profilierten Musiker die Improvisation, das freie „Fantasieren“, zum selbstverständlichen Handwerkszeug. Sie war nicht allein auf die durch eine Fermate angezeigte Solokadenz innerhalb eines Konzerts mit Orchesterbegleitung beschränkt, sondern beim Musizieren im privaten Kreis ebenso üblich wie bei öffentlichen Darbietungen. Der Unterschied zur komponierten Fantasie ist dabei nur ein geringer, wenn auch entscheidender: Während Notentext, Tempo, Ausdruck und Artikulation wie bei jedem anderen Werk festgelegt oder durch eine gängige Aufführungspraxis bestimmt sind, besteht eine grundsätzliche Ungebundenheit gegenüber den üblichen Takt-, Form- und Satzmodellen. Für Carl Philipp Emanuel Bach hat diese Art der Fantasie (ob improvisiert oder notiert) „nicht in auswendig gelernten Passagien oder gestohlnen Gedanken“ zu bestehen, sondern muss „aus einer guten musikalischen Seele herkommen.“ Sie zeichnet sich „durch das Sprechende, das hurtig Ueberraschende von einem Affeckte zum andern“ aus. Das solchermaßen im Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753) beschriebene Prinzip gilt ebenso für die Fantasie von Jörg Widmann – auch wenn das Stück 240 Jahre später entstanden und für die Klarinette bestimmt ist. Der Komponist und Interpret schreibt selbst darüber: „Die Fantasie für Klarinette solo ist mein erstes eigentliches Stück für mein eigenes Instrument, die Klarinette. In ihrer überdrehten Virtuosität und in ihrem heiter-ironischen Grundcharakter reflektiert sie die Erfahrungen mit Strawinskys ‚Drei Stücken für Klarinette solo‘ aus dem Jahr 1919 und die klanglichen Neuerungen, wie sie erst mit Carl Maria von Webers Schreibweise für die Klarinette in die Musik kamen und denkt diese auf neue Weise weiter. Es ist eine kleine imaginäre Szene, die im Geiste der Commedia dell’arte die Dialoge verschiedener Personen auf engstem Raum vereint.“
Gestalterische Freiheit Franz Schubert: Impromptu c-moll
Klavierstücke kleinen Formats hat Schubert in den knapp 18 Jahren seines kompositorischen Wirkens eigentlich nicht geschrieben – es sei denn, man will all die Walzer, Deutsche, Ländler und Ecossaisen als solche zählen. Zwischen ihnen und den ausgewachsenen Klaviersonaten stehen die Moments musicaux von 1823/24 und die beiden Serien der Impromptus aus dem Jahr 1827 – wobei jedoch die Veröffentlichung der Impromptus aufgrund mangelnder Nachfrage nach der Nr. 2 ausgesetzt wurde; im Druck erschienen sie vollständig erst 1839.
Tatsächlich passen die Impromptus nicht recht zu dem sich in jenen Jahren wandelnden, das kleine Klavierstück bevorzugenden Publikumsgeschmack. In Umfang und Ausdruck erinnern sie eher an Sätze einer Sonate; dies gilt auch für die Zusammenstellung von jeweils vier Nummern. Nur so konnte später Robert Schumann die originale Werkbezeichnung in Zweifel ziehen. Schubert indes wird sich bei der Wahl des Titels wohl konkret an einem Werk des tschechischen Komponisten Jan Václav Voříšek orientiert haben. Denn bei dessen Sechs Impromptus von 1822 handelt es sich ebenfalls nicht um knapp gefasste Bagatellen, sondern um ausgewachsene Sätze von jeweils weit über einhundert Takten. Nicht vergessen werden sollte überdies die Bedeutung der Bezeichnung „Impromptu“, die sich aus „Improvisation“ ableitet – nicht jedoch als spontane Erfindung, sondern vielmehr im Sinne gestalterischer Freiheit, wie man sie vor allem in den vier Stücken D 899 antrifft, insbesondere in der Nr. 1 mit ihrem fast zeitverloren anmutenden Aussingen einer einstimmig eingeführten Melodie.
(K)ein leichtes Spiel Jörg Widmann: Sonatina facile
Dass sich ein vermeintlich „leichterer“ Zugang zu Musik – wie er in unseren Tagen etwa in der Bezeichnung „easy listening“ zum Ausdruck kommt – keinesfalls in einer vordergründig „einfacheren“ Art des Komponierens spiegeln muss, zeigt das ebenso intensive wie lebendige Schaffen von Jörg Widmann, das gleichermaßen zeitgenössisch wie historisch reflexiv ist. Ablesbar ist dies an Werken mit charakteristischen Titeln und Anklängen an Schubert (Idyll und Abgrund, 2009), Schumann (Elf Humoresken, 2007) und Brahms (Intermezzi, 2010), ebenso wie an der 2016 im Auftrag der Elbphilharmonie, der Carnegie Hall und der Pianistin Mitsuko Uchida entstandenen Sonatina facile. Widmann greift hier nicht nur die Bezeichnung und Tempoangaben der drei Sätze aus Mozarts 1788 komponierter sogenannter „Sonata facile“ KV 545 auf, sondern spielt auch mit ihr selbst – mit einzelnen Themen, den für die Musik jener Zeit typischen Gesten und all den harmonischen Wendungen, die in immer wieder neuer, überraschender Weise gebrochen werden. „Leicht“ (facile) ist Widmanns Sonatina damit keineswegs – ebenso wenig wie übrigens Mozart selbst sein Werk mit dem Zusatz „Sonata facile“ versah: Er findet sich erst auf der posthum gedruckten Erstausgabe von 1805, während die Komposition im eigenhändigen Werkverzeichnis als „Eine kleine Klavier Sonate für anfänger“ bezeichnet ist.
Schwärmerisch und melancholisch Robert Schumann: Fantasiestücke
Im Februar 1849 entstanden, bilden die Fantasiestücke op. 73 den Auftakt zu einer Reihe kleinformatiger Werke, mit denen Schumann nach einem fast schon enzyklopädischen Plan all jene Instrumente bedenken wollte, die zu seiner Zeit im Kammermusikrepertoire unterrepräsentiert waren. So folgten den Fantasiestücken für Klarinette noch im selben Jahr das Adagio und Allegro op. 70 für Horn, die Fünf Stücke im Volkston op. 102 für Violoncello und die Drei Romanzen op. 94 für Oboe, 1851 ergänzt durch die Märchenbilder op. 113 für Viola und abermals zwei Jahre später durch die Märchenerzählungen op. 132 für Klarinette und Viola (alle jeweils mit Klavier).
In keinem Takt ist diesen Werken anzumerken, dass es sich bei den Jahren 1848/49 um die bewegte Zeit der großen europäischen Revolution handelt, die nach der Ablehnung der von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen Reichsverfassung durch den sächsischen König Friedrich August II. im Frühjahr 1849 auch Dresden erreichte. Doch während sich Gottfried Semper (als Professor für Baukunst) und Richard Wagner (als Hofkapellmeister) am Maiaufstand aktiv beteiligten und nach der Niederschlagung als steckbrieflich Gesuchte außer Landes flüchteten, verließen die Schumanns in Anbetracht der Barrikaden und Kampfhandlungen die Stadt, um zunächst bei der befreundeten Familie Serre in Maxen und später im Dorf Kreischa die weitere Entwicklung abzuwarten. Ein gewisser Rückzug Schumanns scheint allerdings nicht erst durch diese Ereignisse motiviert worden zu sein, worauf die im autographen Manuskript der Fantasiestücke notierte ursprüngliche Bezeichnung „Soiréestücke“ hinweist. Die drei attacca aufeinander folgenden Sätze entstanden in nur zwei Tagen höchster Konzentration. Öffentlich erklangen sie erstmals am 14. Januar 1850 in Leipzig anlässlich einer musikalischen Abendunterhaltung des Tonkünstlervereins. Nur einen Monat später erschien in der Jahre zuvor von Schumann selbst gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik eine Rezension des Werkes von Eduard Bernsdorf, der auch die hervorragenden Eigenschaften der idiomatisch für die Klarinette maßgeschneiderten Komposition benennt: „Ein schwärmerisches Aufgeregtsein, bald von melancholischem Hauche angeweht, bald zu jubelnden Freudenklängen sich steigernd – das ist wohl der Charakter vorliegender Phantasiestücke.“