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Carolyn Sampson und Kristian Bezuidenhout

Du Echo meiner Klagen

Liebesleid und Liebeslieder aus dem 18. Jahrhundert

Michael Horst

Große Gefühle brauchen in der Musik nicht unbedingt eine große Bühne. Abseits von Oper und Musiktheater entwickelte sich in der Kammermusik insbesondere das Lied zu einer der emotionalsten Gattungen – und das nicht erst in der Romantik. Schon im 18. Jahrhundert, im Gleichklang mit der bürgerlichen Emanzipation, beflügelten leidenschaftliche Gefühle – meist eher die traurigen – die Fantasie von Dichtern und Komponisten, kämpften empfindsame „Frauenzimmer“ und „Mannsbilder“ im intimen Rahmen gleichermaßen mit den Tränen. Einen überaus facettenreichen Eindruck davon vermittelt der heutige Liederabend, der ganz um die Themen Trennung, Abschied und Verlassensein kreist. Und im gleichen Atemzug nicht nur von der Emanzipation der Gefühle, sondern auch der des „Claviers“ erzählt, jenes Tasteninstruments, das zunächst noch als Cembalo, dann immer häufiger als Fortepiano bzw. Hammerklavier dazu diente, diesen Emotionen klanglich Ausdruck zu verleihen.

Bereits im ersten Stück des Programms, der ausgedehnten musikalischen Erzählung Montan und Lalage, lässt August Bernhard Valentin Herbing das Clavier zum Protagonisten der herzzerreißenden Geschichte des in Seenot geratenen Liebespaares werden. Die Vorlage fand der früh verstorbene Herbing, der vermutlich bei Telemann in Hamburg studiert hatte und später am Magdeburger Dom als Kantor tätig war, bei einem berühmten Zeitgenossen: dem Dichter der Fabeln und Oden, Christian Fürchtegott Gellert, der auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Beethoven hoch angesehen war.

Nicht nur der stürmische Beginn der Erzählung bietet Herbing reichlich Gelegenheit, musikalisch Wellen zu schlagen. Auch das beständige Hin und Her zwischen Hoffnung und Todesangst, Treueschwur und zärtlicher Liebe spiegelt sich eindrucksvoll in der Singstimme wie im Klavierpart. Dramatische Formen nimmt der in gewaltigen Tremoli dargestellte Untergang des Bootes an. „Ängstlich geschwind“, mit hektischen Punktierungen, schreit Montan seine Angst heraus: Das übrig gebliebene Brett reicht nur für einen von beiden! Das folgende Accompagnato-Rezitativ, schwankend zwischen „langsam“ und „beherzt“, beschreibt eindringlich die fatale Situation, die mit dem Sturz Lalages ins wütende Meer ihr Ende findet. Ein Arioso mit überreichen Verzierungen beschreibt ihre wundersame Rettung, ein lakonisch-kurzes Rezitativ berichtet vom Wiedersehen mit Montan, für den Lalage nur dürre Abschiedsworte übrig hat („Verlasse mich nunmehr, / Weil mich ein Herz betrübt, / Das in der Ruhe zwar, / Doch in Gefahr nicht liebt“). Die kleidet Herbing jedoch in eine Kette von weit ausschwingenden Sechsachtelbewegungen. Der Schluss ist endgültig: „Dich werd ich niemals hassen, / Bestrafen will ich dich!“ Gesagt, getan – und bürgerlich-bescheiden endet das Drama mit einem letzten Rezitativ.

Welches neue Ansehen das Clavier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewonnen hatte, lässt sich an den beiden Liedern von Christian Michael Wolff und Friedrich Gottlob Fleischer eindrücklich nachvollziehen. Wolff publizierte seine Sammlung von Oden und Liedern „zum Singen beym Clavier und Harfe“ 1777 auf eigene Kosten in seiner Heimatstadt Stettin, wo er über Jahrzehnte als Organist an St. Marien wirkte. Neben poetischen Texten über „Romeo und Julie“, die „Blondine“, den „Westwind“ und die „Gemüthsruhe“ hat Wolff hier auch dem Clavier ein musikalisches Denkmal gesetzt. Der Text zählt alle Vorzüge des Instruments auf: Es erquickt die kummerbeschwerte Seele, es geleitet das Herz zur Ruhe und versüßt das menschliche Leid. Mit seinen „weichgedämpften Chorden“ berührt es die Seele genauso wie „im holden Lautenklang“ – all das darf auch der Clavier-Part mit einem langen Vorspiel, einfühlsamer Begleitung und einem lautenartigen Mittelteil demonstrieren.

Ein ausgewiesener Bewunderer des Claviers war auch der aus Köthen stammen Friedrich Gottlob Fleischer, der nicht nur als herausragender Pianist seiner Zeit gelobt wurde, sondern selbst einige Clavier-Sonaten veröffentlicht hat. Was ihm an dem Instrument besonders lieb war, spricht das Lied Das Clavier auf Verse „vom Herrn Zachariae“ aus: Auch hier ist es das „getreue Echo meiner Klagen“, das „in sanfter Harmonie“ erklingt. Allein dieser Klang reicht aus, um die Seele zu trösten. Der Schmerz bleibt, doch lässt er sich leichter ertragen.

Der Clavier-Großmeister seiner Zeit war allerdings Carl Philipp Emanuel Bach, der neben einer Fülle von Sonaten mit seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753/62) eine wegweisende Mischung aus theoretischem Traktat und Leitfaden zum richtigen Musizieren verfasste. Mit „Clavier“ bezeichnete der BachSohn wie seinerzeit üblich noch sämtliche Tasteninstrumente; darüber hinaus unterschied er zwischen „Flügel“ (= Cembalo) und Clavichord. Erst in den späteren Auflagen trat auch das Fortepiano mehr und mehr in den Vordergrund.

Drei Dinge stellte Bach beim richtigen Musizieren in den Mittelpunkt: „die rechte Finger-Setzung, die guten Manieren [Verzierungen], und der gute Vortrag“. Reichlich Anschauungsmaterial dazu bietet auch die Sonate e-moll Wq 59 Nr. 1, die allerdings aus sehr viel späterer Zeit stammt, von 1784, als der Komponist, längst in Hamburg zu Ruhm und Ehre gekommen, als Resümee seines langen Lebens die Sammlungen „Für Kenner und Liebhaber“ herausgab. Vor allem die „rechte Fingersetzung“ ist im virtuosen Presto-Satz gefragt, der von seiner mitreißenden Motorik und einer intensiven Nutzung des gesamten Tonumfangs lebt. Einige wie improvisiert hingetupfte Akkorde markieren den Übergang zum kurzen Adagio, das in die Gefilde freier Fantasie mit ständigen rhythmischen Verschiebungen führt. Das abschließende Andantino lebt von kräftigen Kontrasten zwischen luftiger Anmut in hoher Lage und rustikalen Arpeggien und klingt in aller Schlichtheit mit drei galanten Seufzern aus.

Die Schmerzen der Trennung hat auch Wolfgang Amadeus Mozart vielfach und vielfältig komponiert – nicht nur in seinen großen Opern. Gerade die Lieder zeigen auf engstem Raum seine Fähigkeit, den Rahmen des Theaters ins Intime und Persönliche zu verdichten. Das Lied der Trennung steht sicher nicht zufällig in f-moll, der Tonart zahlreicher Klagearien. Im Frühsommer 1787, im Umfeld des Don Giovanni und der „Kleinen Nachtmusik“, entstand eine größere Gruppe von Liedern, zu denen alle vier Werke des heutigen Programms zählen. Das Lied der Trennung, vom Text her eigentlich von einem Mann zu singen, umkreist in unzähligen Versen – Carolyn Sampson hat davon sechs ausgewählt – den Jammer des Verlassenseins: „Ein Fremdling allen Freuden, / Leb’ ich fortan dem Leiden!“ Mit den Worten „Vergessen raubt in Stunden“ verlässt Mozart die strenge Strophenform, changiert beständig zwischen Dur und Moll, baut kleine dramatische Gesten ein („vergessen Gott und dich“) – um zuletzt doch zur f-moll-Klage des Anfangs zurückzukehren.

Die Wonnen der Liebesseligkeit schildert dagegen An Chloe. Immer mehr steigert sich die Musik in die Ekstase, man vernimmt das Herzklopfen und die Aufregung des Liebhabers – und die Ermattung nach dem „Sturm“, die in stockenden Melodiefetzen zum Ausdruck kommt. Große Gefühle auf kleinster Fläche: Das ist auch das Rezept für Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte. Brillant spielt Mozart hier mit den Mustern, die er ansonsten einer Donna Anna oder Fiordiligi zugedacht hat. Empörung, mitleiderregende Seufzer, herbe Chromatik: alles mischt sich zu einer Szene voll komischer Ironie. Ein unübertrefflicher Hauch von Melancholie liegt schließlich über der Abendempfindung an Laura. Die Beschreibung der abendlichen Stimmung weitet sich zu einer Reflexion über Tod und Erinnerung, für die Mozart eine breite Palette von Farben und Zwischentönen findet – nicht nur im chromatischen Übergang zu den Worten „Werd’t ihr dann an meinem Grabe weinen“. Bemerkenswert auch, wie feinsinnig der Komponist den Klavierpart mit der Singstimme verzahnt, ohne ihn über Gebühr in den Vordergrund zu rücken.

Joseph Haydn und die Klaviersonate – das ist in der Tat „ein weites Feld“, das vom frühen Divertimento bis zu den großen Sonaten aus der Londoner Zeit reicht und eine nicht minder spannende Entwicklung als im Streichquartett oder in der Symphonie zeigt. Haydn selbst ist jedoch, anders als Mozart und Beethoven, nie als virtuoser Interpret eigener Werke in Erscheinung getreten, insofern scheint sein Ehrgeiz, auch in dieser Gattung wirklich neue Wege zu weisen, eher gebremst gewesen zu sein.

Ganz in der Tradition Carl Philipp Emanuel Bachs steht noch die Sonate g-moll Hob. XVI:44, die allgemein in die Zeit um 1771 datiert wird. Sie zeigt noch nicht die „klassische“ Dreisätzigkeit, sondern beschränkt sich auf zwei Teile. Dabei lässt sich Haydn vor allem im ersten Satz (Moderato) von der „melancholischen“ Tonart g-moll zu einem höchst intensiven thematischen Spiel inspirieren, das mehr oder weniger vollständig vom Beginn des Hauptthemas getragen wird. Anstelle von virtuoser Geläufigkeit stehen kontrapunktische Dichte und intensive Chromatik im Zentrum, wobei der Klaviersatz durch wasserfallartig rauschende Ornamente und das Springen des Themas zwischen rechter und linker Hand kreativ bereichert wird. Dem galanten Zeitalter ist das Menuett mit seiner Vielzahl von Verzierungen verpflichtet. Interessanterweise bleibt Haydn bei der Tonart g-moll, die sich erst im Trio nach G-Dur aufhellt. Zusätzliche Ausschmückungen prägen die Wiederholung des Moll-Teils, der durch eine überraschende Coda – mit Bezug auf den G-Dur-Teil – abgerundet wird.

Haydn ist nicht unbedingt als Liedkomponist in die Musikgeschichte eingegangen. Das konnten auch die zwei Sammlungen von Kompositionen auf deutsche Texte nicht befördern, die der Komponist 1781 und 1784 in Wien veröffentlichte – und sich damit einer pro-deutschen Initiative anschloss, die von höchster Stelle, nämlich Kaiser Joseph II., stark gefördert wurde. Haydn selbst hatte eine gute Meinung von seinen Liedern, schrieb er doch an seinen Verleger Artaria, dass sie „durch den mannigfaltigen, natürlichen, schönen, und leichten gesang vielleicht alle bisherigen übertreffen“ würden. Außerdem ließ es sich der Komponist nicht nehmen, sie selbst in den vornehmen Salons des Wiener Adels vorzutragen und sich dabei auch noch zu begleiten.

Wenig förderlich für ihre Verbreitung war vor allem die Wahl von eher zweitklassigen Texten, in denen sich Naivität und Koketterie abwechseln, wie es dem Zeitgeist des späten 18. Jahrhunderts entsprach. Einige wenige Ausnahmen zeigen einen erstaunlich eigenständigen Charakter, so Die Verlassene, das in ursprünglich sieben Strophen (von denen am heutigen Abend drei erklingen) den Klagen eines Mädchens breiten Raum gibt, wobei Haydns Vertonung gekonnt zwischen Moll und Dur changiert. Eine bemerkenswerte Vertonung ist auch Das Leben ist ein Traum, das mit dramatischen

Steigerungen und ausgefeilter Klavierbegleitung dem gleichnishaften Gedicht des Halberstädter Aufklärers und Anakreontikers Johann Ludwig Gleim nachspürt. Ein Nachzügler der besonderen Art ist dagegen Antwort auf die Frage eines Mädchens von 1796, das voller charmanter Koloraturen ein Loblied auf die treue Liebe singt.

Das Werk, mit dem Carolyn Sampson und Kristian Bezuidenhout ihren Abend beschließen, firmiert unter der Bezeichnung Solokantate, lässt sich aber ebenso gut zur Gruppe der Klavierlieder Haydns rechnen. So mythologisch der Stoff, so ungewöhnlich die Länge von fast 20 Minuten: Arianna a Naxos ist dennoch alles andere als eine verkappte Arie im Klavierauszug, zeigt doch der abwechslungsreiche Instrumentalpart Charakteristika, die sich auch in vielen von Haydns Klaviersonaten wiederfinden.

Entstanden ist das ungewöhnliche Werk wohl Anfang 1790, in den letzten Monaten von Haydns jahrzehntelangem Dienst beim Fürsten Esterházy. Gedacht war es – darauf deuten der eher begrenzte Tonumfang der Singstimme und die wenigen Koloraturen hin – weniger für reisende Primadonnen als für ambitionierte Sängerinnen auf gehobenen Liebhaberniveau. Jedenfalls machte Arianna a Naxos seinerzeit schnell die Runde: In London wurde die Kantate 1791 von einem Kastraten dargeboten, und als im Jahr 1800 Lord Nelson, Held der Schlacht von Trafalgar, Fürst Esterházy seine Aufwartung machte, war es niemand Geringeres als Lady Hamilton, Nelsons Geliebte, welche die Kantate vor geladenem Publikum sang.

Der Stoff der von Theseus verlassenen Ariadne durchzieht wie ein roter Faden von Monteverdi bis Richard Strauss die Musikgeschichte. Haydn nutzt die Einteilung in jeweils zwei Rezitative und Arien geschickt, um nicht nur die verschiedenen Stimmungslagen der minoischen Prinzessin musikalisch in Szene zu setzen, sondern auch die gesamte Komposition wie ein großes Crescendo zu gestalten. Der Es-Dur-Beginn gibt sich noch zurückhaltend und schwelgt in ausführlichen Beschreibungen der Morgendämmerung („Già sorge in ciel la rosea Aurora“), die Haydn mit farbigen Modulationen unterstreicht. Ariadne erwartet voll sinnlicher Ungeduld den griechischen Prinzen, und ihr immer heftigeres Sehnen, das von unruhigen Klavierfiguren untermalt wird, mündet schließlich in eine Largo-Arie, deren melodische Anmut nach und nach immer mehr durch Pausen und unerwartete Moll-Rückungen verdunkelt wird.

Ariadnes Ungeduld macht sich im folgenden Rezitativ Luft. Hier wird die Kantate schließlich zur großen Opernszene, zuerst mit einem als Tonleiter vorgeführten „Aufstieg“ auf einen Felsen, von wo Ariadne die Abfahrt des Treulosen entdecken muss. Immer neue Tempowechsel und dramatische Tremoli begleiten ihre Entrüstung, die sich zu einem veritablen Furor steigert. Großartig gelingt es Haydn, diese Entwicklung aufzufangen und Ariadnes Zusammenbruch in einem taumelnden Arioso („Già più non reggo“) mit Seufzern und Chromatik Musik werden zu lassen. Die abschließende Arie bringt den standesgemäßen den Todeswunsch der verlassenen Prinzessin zum Ausdruck: erst ein gemessenes F-Dur-Larghetto, dann der Wechsel ins düstere f-moll, in dem der Schmerz der Verlassenen („Misera abbandonata“) Hand in Hand mit der Verwünschung des Treulosen („Barbaro ed infedel“) zu einem brillanten Kantatenende führt.

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