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Das Chiaroscuro Quartet
Streichquartette von Haydn, Hensel und Schubert
Wolfgang Stähr
Der Scherz und die Klassik
Auf der Suche nach den klassischen Quartetten schlechthin, dem Ideal, dem Maßstab, dem Muster, führt kein Weg an Joseph Haydns Opus 33 vorbei. Diese sechs Kompositionen aus dem Jahr 1781 erweisen sich als klassisch bereits in Hinblick auf die durchgängige Viersätzigkeit mit einem Scherzo an zweiter oder dritter Stelle der Satzfolge: daher einer der beliebten Beinamen des Zyklus, „Gli scherzi“. Charles Rosen, der amerikanische Musikhistoriker und Pianist, wies mit der gebührenden Begeisterung darauf hin, dass in diesem Quartettzyklus der „klassische Kontrapunkt“ erfunden wurde. Haydns Opus biete „die erste umfassende und konsequente Anwendung dieses Prinzips, dass nämlich die Begleitung gleichzeitig thematisch und untergeordnet entworfen wird. Auf diese Weise wird das Gewebe des Streichquartetts unvergleichlich reicher, ohne dass die für das spätere 18. Jahrhundert typische Hierarchie von Melodie und Begleitung beeinträchtigt würde.“
Als Joseph Haydn, noch ehe der Erstdruck des Zyklus bei Artaria in Wien herauskommen sollte, Abschriften der Werkreihe einem ausgewählten Kreis vornehmer Musikliebhaber zum Kauf anbot, kündigte er seine Quartette mit den vielzitierten Worten an: „sie sind auf eine gantz neu Besondere Art, denn zeit 10 Jahren [seit den Quartetten op. 20] habe keine geschrieben.“ Wesen und Grad des „Neuen“ dieser Kompositionen sind und bleiben in der HaydnForschung ein Thema endloser Kontroversen. Neben dem Dialog der Instrumente kultivierte Haydn das kompositorische Verfahren der „durchbrochenen Arbeit“: Ein Motiv bleibt nicht exklusiv einem Instrument vorbehalten, sondern wandert von Stimme zu Stimme, wird aufgeteilt oder „weitergereicht“. Doch neu, besonders und klassisch dürfen die sechs Quartette nicht zuletzt deshalb genannt werden, weil in diesem Zyklus höchste Kunst – oder, um es mit einem Begriff Haydns zu sagen, „größte Compositionswissenschaft“ – mit menschenfreundlicher Mitteilsamkeit im Einklang steht. Haydns Kollege Johann Friedrich Reichardt urteilte 1782 in einer Besprechung der Quartette op. 33: „Es hat wohl nie ein Komponist so viel Eigenheit und Mannigfaltigkeit mit so viel Annehmlichkeit und Popularität verbunden als Haydn, und wenig angenehme und populäre Komponisten haben auch zugleich einen so guten Satz wie Haydn ihn die meiste Zeit hat.“
Als untrügliches Zeichen für die Popularität eines Werkes kann die Erfindung einprägsamer Beinamen gelten. Das Es-Dur-Streichquartett Hob. III:38, das zweite aus Opus 33, ist als „Der Scherz“ bekannt, ein inoffizieller Titel, der von dem überaus originellen Finalrondo inspiriert wurde, von einem Schluss, der „vorgibt, schon vor dem Ende zu Ende zu sein“ (Charles Rosen). Der Zyklus im Ganzen wurde – in Anspielung auf die Titelzeichnung der 1782 im Verlag von Johann Julius Hummel erschienenen Ausgabe – auch „Jungfernquartette“ genannt. Der vertrauteste jener seit Generationen kursierenden Beinamen aber lautet „die Russischen“. Im Winter 1781 weilte der russische Großfürst Pawel Petrowitsch, der spätere Zar Paul I., zu einem Besuch in Wien. Seine Frau, die Großfürstin Maria Feodorowna, eine Tochter des Herzogs von Württemberg, lud am Weihnachtstag zu einem Privatkonzert, in dessen Rahmen wahrscheinlich eines der Quartette aus Opus 33 zur Aufführung kam. In der frühesten Wiener Edition sämtlicher Streichquartette Joseph Haydns findet sich überdies der Hinweis: „Dédiés au gran Duc de Russie“.
Die Welt und das Nichts
Joseph Haydn komponierte an die 70 Streichquartette, Fanny Hensel nur ein einziges, oder jedenfalls ist eines nur erhalten geblieben, ein denkbar unklassisches Werk. Aber was sagen diese Zahlen aus? Dass auch die größte Begabung verkümmern muss, wenn die Zeit, die Kultur, die Eltern, die Gesellschaft ihr jeden Spielraum versagen. Fanny Hensel, Jahrgang 1805, wuchs in derselben Berliner Familie auf, unter denselben Vorzeichen einer frühen Förderung, mit denselben Privilegien wie ihr jüngerer Bruder Felix Mendelssohn. Sie spielte das Wohltemperierte Klavier mit „Bachschen Fugenfingern“, erhielt Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter, trat in die Singakademie ein und stand überhaupt dem Bruder in nichts nach, schon gar nicht in der musikalischen Berufung. Doch allzu bald trennten sich ihre Wege. 1820 schrieb der Vater, der Bankier Abraham Mendelssohn, in einem Brief an seine Tochter: „Die Musik wird für ihn [Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Wenige Jahre später ermahnte er sie sogar: „Du mußt Dich mehr zusammennehmen, mehr sammeln. Du mußt Dich ernster und emsiger zu Deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau, bilden.“
1829 heiratete Fanny den Königlichen Hofmaler Wilhelm Hensel, im folgenden Sommer brachte sie ihren einzigen Sohn Sebastian zur Welt. Als sie in dieser Zeit über einen Mangel an musikalischen Ideen, ein schöpferisches Zwischentief, klagte, reagierte ihr Bruder, ebenso wohlmeinend wie belehrend, mit den Worten: „Wenn Du Lust hättest, würdest Du schon componieren was das Zeug hält. Das Kind ist noch kein halbes Jahr alt, und Du willst schon andere Ideen haben, als Sebastian? (nicht Bach).“ Felix Mendelssohn hatte einige wenige Lieder seiner Schwester in Sammelalben veröffentlicht – unter seinem Namen. Selbständigen Publikationen, bei nicht länger verheimlichter Urheberschaft, stand er skeptisch bis ablehnend gegenüber: „Zu einer Autorschaft hat Fanny, wie ich sie kenne, weder Lust noch Beruf“, behauptete er, „dazu ist sie zu sehr eine Frau, wie es recht ist, erzieht den Sebastian und sorgt für ihr Haus, und denkt weder ans Publicum, noch an die musikalische Welt.“
Wie lebt es sich so in der Welt, wenn die Welt nichts von einem weiß oder wissen soll? Auf Fanny Hensel übte die Nichtachtung eine demoralisierende Wirkung aus, was denn sonst, sie untergrub ihr Selbstbewusstsein. „Daß sich jemand hier etwas abschriebe oder nur eine Sache zu hören verlangte, das kommt kaum einmal im Jahr vor“, gestand sie einem Freund, „und man verliert am Ende selbst mit der Lust an solchen Sachen das Urteil darüber, wenn sich nie ein fremdes Urteil, ein fremdes Wohlwollen entgegenstellt.“ Einen neuen Flügel wollte sie sich gar nicht mehr zulegen, „da ich mir gegen all die modernen Sprühteufel und Tausendsassas in meinem Spiel unbeschreiblich veraltet vorkomme, und mich immer mehr in meinen Käse und mein Nichts zurückziehe“. Schließlich bezweifelte sie sogar, auch nur ein einzelnes Lied noch komponieren zu können: „Ob das wohl noch wieder kommt, oder ob Abraham alt war? Was ist übrigens daran gelegen? Kräht ja doch kein Hahn danach und tanzt niemand nach meiner Pfeife.“ Als sie endlich einmal mit der Familie nach Italien reisen durfte – eine Unternehmung, die Felix Mendelssohn bereits in jungen Jahren vergönnt war –, blühte sie auf in der Begegnung mit anderen Musikern in Rom: „Ich schreibe auch jetzt viel; nichts spornt mich so an als Anerkennung, wogegen mich der Tadel mutlos macht und niederdrückt.“ Der Franzose Charles Gounod erinnerte sich später in seinen Memoiren an Fannys Bekanntschaft: „Madame Hensel war eine außergewöhnliche Musikerin, eine große Pianistin, eine sehr intelligente Frau, klein, schmächtig, aber mit einer Energie, die man aus ihrem tiefsinnigen und lebhaften Blick herauslesen konnte. Als Komponistin war sie äußerst begabt.“
Fanny Hensels Streichquartett Es-Dur begann seine Existenz 1829 zunächst als Klaviersonate, deren erste beide Sätze sie fünf Jahre später für Quartett umschrieb, ohne dass je der Eindruck eines Arrangements oder einer gegen die Instrumente entworfenen Komposition entstünde – im Gegenteil: Die Vorgeschichte ist nicht einmal zu erahnen. Das Scherzo, der zweite Satz, geht auf ein „Souvenir à Paganini“ zurück, eine Reminiszenz an das CampanellaRondo aus dem Violinkonzert op. 7 des „Teufelsgeigers“, den Hensel in Berlin erlebt hatte („als wolle er sich seine ganze Seele ausspielen, u. zugleich der armen Violine das Herz ausreißen“). In der Quartettfassung von 1834 rückte sie aber noch ein ungestümes Fugato als Trio ein, das typologisch auch als furioses Fugenfinale durchgehen könnte und nicht nur die Balance dieses einen, sondern gleich die Architektur und Dramaturgie des gesamten Quartetts umwirft – dieses unklassischen Streichquartetts. Mit einer AdagioIntroduktion fängt es an, auf die jedoch nie ein Allegro-Hauptteil folgt: Die Musik klingt vielmehr wie eine offene Frage ohne Antwort, sie findet ihr Ziel nicht, kennt kaum den Weg, bricht jählings mit einer Generalpause ab – ein radikal romantisches Stück. Die Romanze tendiert ihrem Namen zum Trotz keineswegs zur sentimentalen Pièce oder zum melodieseligen Intermezzo: Dieser dritte Satz berührt eine unerwartet düstere, ja depressive Sphäre, im verzweifelten Festhalten an den immer gleichen Motiven. Deshalb muss er nicht zum tönenden Tagebuch oder Psychogramm der Komponistin umgedeutet werden, aber der Satz hat sich unverkennbar vom guten Ton des Salons und dem überkommenen Konversationsideal der Quartettkunst weit und unumkehrbar entfernt. Wie ein Walzerdelirium, wie ein irrwitziges Perpetuum mobile rast das Finale auf und davon, der atemberaubende Schluss einer furchtlos eigensinnigen und experimentellen Komposition. Bruder Felix mochte sich nicht recht anfreunden mit dem Schwesterwerk: Ihm gefiel das Scherzo am besten, ansonsten störte ihn die „neue oder ungewöhnliche Wendung der Form und Modulation“. Fanny zog aus der Kritik bittere Schlussfolgerungen: „Ich habe nachgedacht, wie ich eigentlich gar nicht excentrische oder hypersentimentale Person zu der weichlichen Schreibart komme? ich glaube, es kommt daher, daß wir gerade mit Beethovens letzter Zeit jung waren, u. dessen Art und Weise, wie billig, sehr in uns aufgenommen haben, u. die ist doch gar zu rührend u. eindringlich. Du hast das durchgelebt u. durchgeschrieben, u. ich bin drin stecken geblieben, aber ohne die Kraft, durch die Weichheit allein bestehn kann u. soll. Daher glaube ich auch, hast Du nicht den rechten Punct über mich getroffen oder ausgesprochen. Es ist nicht sowohl die Schreibart, an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längeren Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche.“
Fanny Hensel starb mit nur 41 Jahren in Berlin, wenige Monate vor ihrem Bruder. Wie hätte ihr Leben aussehen können, wenn es jemand gewusst und verstanden und vor allem ausgesprochen hätte, dass die Musik dieser Komponistin nicht bloß neue Formen und ungewöhnliche Modulationen, sondern ganz andere Gedanken, Geschichten, Räume, Zeitbegriffe und Gefühle erschließt?
Der Tod und das Mädchen
Als Franz Schubert im März 1824 sein Streichquartett d-moll D 810 komponierte, wusste er bereits seit Monaten, dass er an einer venerischen Krankheit litt. Er sah sich zu einer stationären Behandlung im Wiener Allgemeinen Krankenhaus gezwungen, zu einer widerwärtigen und qualvollen Therapie. Im Spital musste sich Schubert Dampfbädern aus giftigen Quecksilberdünsten aussetzen, die zu Fieberschüben, Speichelfluss und Haarausfall führten, weshalb sich seine Erkrankung auch keineswegs geheim halten ließ: Einige der sogenannten Freunde, die davon erfuhren, zogen es vor, den Kontakt zu ihm abzubrechen. Es ist gewiss kein Zufall, dass Franz Schubert damals von der Erinnerung an ein Lied ergriffen wurde, das er sieben Jahre zuvor geschrieben hatte: Der Tod und das Mädchen, die Vertonung eines Gedichts von Matthias Claudius.
Das Mädchen Vorüber! Ach, vorüber! Geh, wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh Lieber! Und rühre mich nicht an.
Der Tod Gib deine Hand, Du schön und zart Gebild! Bin Freund, und komme nicht, zu strafen. Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Dieses Lied wurde für Schubert jetzt, da er sein d-moll-Quartett schuf, zum inspirierenden Dreh- und Angelpunkt. Als Thema im kompositionstechnischen Sinne des Wortes liegt es dem Andante con moto zugrunde. Die erste Variation erscheint darin mit ihren Seufzerfiguren wie die ängstliche, um Schonung bittende Klage des Mädchens. Zu dem peitschenden, unerbittlich vorantreibenden Rhythmus der dritten Variation bildet die zerbrechliche Musik der vierten einen tief bewegenden Kontrast. In der fünften verdichtet Schubert das musikalische Geschehen zu unerhörter, schmerzerfüllter Ausdrucksgewalt – ehe der Satz, wie das Lied, mit einem friedvollen und verklärten Dur-Schluss ausklingt.
Doch die Ausstrahlung des Liedes auf das Quartett reicht über den Variationensatz hinaus. Der markante Triolenrhythmus, der zu Beginn des einleitenden Allegro mit äußerster Wucht herausgeschleudert wird und der den Kopfsatz auch im weiteren Verlauf als ein dramatischer Faktor durchwirkt, lässt sich unschwer auf die nervös pochenden Begleitfiguren zurückführen, die im Lied die Todesangst des Mädchens vergegenwärtigen. Die sich unmittelbar anschließenden Pianissimo-Takte dagegen beschwören mit ihren ruhigen Melodieschritten die Sphäre der Todesverkündigung herauf. Sperrige Synkopen, schroffe und schneidende Klänge beherrschen die Musik des dritten Satzes, der seine Bezeichnung als Scherzo in jeder Hinsicht Lügen straft. Ein befreundeter Künstler aus dem
Schubert-Kreis, der Maler Moritz von Schwind, hatte 1823, also in dem Jahr, das der Komposition des d-moll-Quartetts unmittelbar vorausging, einen Zyklus von Zeichnungen unter dem Titel Gräber oder Todesgedanken geschaffen. Darin findet sich auch das Bildnis eines Skeletts, das in jagendem Galopp auf einem Pferd voranstürmt: In der Rechten hält es die Sense, in der Linken die Sanduhr. Eine solche Schreckensvision des Todes könnte durchaus mit dem Presto-Schluss des Schubertschen Streichquartetts assoziiert werden, wie überhaupt galoppierende Rhythmen in allen Sätzen des Quartetts auffallen. Man muss das Werk nicht für die Programmmusik reklamieren, um gleichwohl feststellen zu können, dass Der Tod und das Mädchen mehr als nur den Stoff für eine Variationenfolge lieferte: Schuberts Lied ist als musikalischer, poetischer und psychologischer Quellgrund in diesem Streichquartett von Anfang bis Ende präsent. Neben der – jedes kammermusikalische Normalmaß übersteigenden – Dimension der Sätze und ihrem zum Orchestralen tendierenden Klangcharakter war es gewiss auch diese geglückte zyklische Konzeption des Werkes, die Schubert den „Weg zur großen Sinfonie“ bahnte. Denn Franz Schubert verstand das Quartett als eine Station, ein Versprechen auf die Zukunft, um die ihn das vergiftete Leben betrügen sollte.